Odenwald - Frank Schuster - E-Book

Odenwald E-Book

Schuster Frank

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Beschreibung

Eine rätselhafte Krankheit breitet sich im Odenwald aus: Bäume und Pflanzen stellen ihr Wachstum ein. Rasch springt sie auf andere Regionen der Erde über. Der Sauerstoff in der Atmosphäre droht, knapp zu werden. Eine lebensbedrohliche Situation für die Menschen. Sind es Anzeichen des Klimawandels? Die Frankfurter Botanik-Professorin Monika Weber ist mit Untersuchungen im Odenwald betraut. Sie und der Michelstädter Revierförster Bernd Heidereiter stoßen auf Ungeahntes: Im nahegelegenen Friedwald ist der berüchtigte Klima-Terrorist Florian "Greenhood" Keller bestattet. Zufall – oder führt der ehemalige Serienmörder über seinen Tod hinaus einen mörderischen Plan aus? "Odenwald" ist ein Klima-Thriller, der uns in Erinnerung ruft, wie zerbrechlich unser Ökosystem ist und wer die eigentlichen Herrscher der Erde sind: die Pflanzen.

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Seitenzahl: 169

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Das Buch

Botanik-Professorin Monika Weber und der Revierförster Bernd Heidereiter erforschen ein neuartiges Waldsterben im Odenwald. Während ihre alte Liebe zueinander wieder aufblüht, verdorren die Bäume. Liegt der Grund für die rätselhafte, bedrohliche Pflanzenkrankheit im Friedwald in Michelstadt? Silvia Sörries kümmert sich dort inzwischen mehr um tote Bäume als um tote Menschen. Frustriert flüchtet sie sich in ihre Hippie-Vergangenheit. Vor einem Geheimnis kann sie allerdings nicht fliehen: dem früheren Kontakt zum berüchtigten Klima-Terroristen Florian „Greenhood“ Keller. Nach seinem Abtauchen in den Untergrund kappte er alle Verbindungen, selbst zu seiner Schwester Diana. Kann sie ihn finden, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen sterben?

Der Autor

Frank Schuster lebt in Darmstadt, Redakteur des Darmstädter Echos, zuvor Öko-Test und Frankfurter Rundschau. Studium der Germanistik, Anglistik, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Frankfurt, Marburg und Oxford. Mitglied der Literaturgruppe Poseidon, www.literaturgruppe-poseidon.de. Veröffentlichungen: Sternenfutter (2018), Roman, (mainbook); Das Haus hinter dem Spiegel (2014), Jugendbuch, (mainbook); If 6 was 9 (2003), Roman, (Grübeltäter Verlag). Kurzprosa in Literaturzeitschriften (Am Erker u.a.) und Anthologien, darunter Tatort Darmstadt (2022), Co-ro-na (2020), Fotosynthesen (2006).

eISBN 978-3-948987-71-8

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor – www.100covers4you.de

Bildrechte: Wald © Adobe Stock/ Leonid Andronow, Mann © Adobe Stock/ Wirestock

Auf der Verlagshomepage www.mainbook.de finden Sie weitere spannende Bücher.

Frank Schuster

Odenwald

Klima-Thriller

Wasser, Boden und der grüne Mantel der Erde aus Pflanzen bilden die Welt, die das Tierleben auf unserem Planeten erhält. Obwohl der moderne Mensch sich dieser Tatsache selten bewusst ist, könnte er ohne die Pflanzen nicht existieren.

Rachel Carson, Der stumme Frühling (1962)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Nachbemerkung

1.

Zuerst kamen die Kirchen, dann die Naturschützer.

Seit mehr als zwanzig Jahren leitete Silvia Sörries den Friedwald Michelstadt. Und immer wieder musste sie sich gegen Kritiker wehren.

Sie liebte ihren Job, tat ihn aus Überzeugung. Schon bevor die ersten Bestattungswälder in Deutschland eröffneten, hatte sie mit großem Interesse die Medienberichte über das neuartige, aus der Schweiz stammende Konzept verfolgt. Sie fand die Idee sofort einleuchtend: Für Bewohner von Hoch- und Mittelgebirgsregionen gab es kaum eine schönere Vorstellung von einer letzten Ruhestätte, als unter einem Baum begraben zu sein. Oben an der Küste mochten sie davon träumen, ihre Asche im Meer verstreut zu sehen. Hier unten im Süden war es das Wurzelwerk von mächtigen Baumriesen, die die Asche aufnahmen und an die Natur zurückgaben.

Sie und ihr Mann Volker waren in den 1980er-Jahren aus dem Speckgürtel von Frankfurt am Main in eine Landkommune im Odenwald gezogen. Richtige Hippies waren sie damals. Raus aus dem Smog und zurück in den Garten Eden – ganz so wie es Joni Mitchell in einem von Silvias Lieblingssongs, Woodstock, sang. Wenn es schon nicht der Laurel Canyon in Kalifornien sein konnte, dann zumindest das sagenumwobene Mittelgebirge südlich von Darmstadt. Wo sich der Legende nach Riesen von Gipfel zu Gipfel Felsbrocken zugeworfen hatten und so das Felsenmeer entstanden war. Wo sich Siegfried an einer Quelle gelabt und Hagen von Tronje ihn hinterrücks ermordet hatte. Der Odenwald. Odins Wald. Das klang mystisch. Nach einem guten Ort für magische Pilze. Und Hanf. Illegal angebaut an geheimen, gut versteckten Plätzen. Abgeschirmt von dichtem Unterholz und Brombeerhecken, aber stets so, dass die wärmeliebenden Pflanzen noch genügend Sonne abbekamen.

Nach mehreren Jahren des Dealens mit Drogen (softe, harte kamen für sie nicht in Frage) hatte sie das ständige Auf-der-Hut-vor-der-Polizei-Sein satt. Nach ein paar Aushilfsjobs begann sie eine Ausbildung zur Kauffrau. Sie wollte eine sichere Stelle, ein geregeltes Einkommen. Ein paar Jahre arbeitete sie in einem Bioladen. Als sie von der Nachricht hörte, dass eine siebzig Hektar große Fläche nahe Michelstadt als Bestattungswald erschlossen werden sollte, bewarben sie und Volker sich um die Geschäftsführung. Künftig sollten östlich des Mossautals unter Ahorn, Birken, Blutbuchen, Ebereschen, Eichen, Kastanien, Kiefern, Lärchen und Weiden Menschen ihre letzte Ruhestätte finden. Volker hatte zwar vor Jahren sein BWL-Studium geschmissen, verfügte jedoch über solide Kenntnisse in der Buchführung. Seinen Job in der Fabrik eines Farbenherstellers im vorderen Odenwald hatte er ohnehin satt. Er suchte nach etwas Neuem.

Es wurde Zeit, dass das Friedhofsmonopol in Deutschland endlich verschwand. Silvia zumindest hatte keine Lust, in einem Eichensarg unter kitschigem Blumenschmuck und einem seelenlosen Grabstein aus Granit, den Kinder aus einem indischen Steinbruch geschlagen hatten, beerdigt zu werden. Dass sie mit ihren Wünschen nicht alleine war, dass Baumbestattungen den Zeitgeschmack trafen, zeigte der rege Zuspruch, den das Konzept von Beginn an erfuhr. Alle in Deutschland eröffneten Bestattungswälder erlebten einen Run. Ihre Kapazitäten waren schnell erschöpft, sodass an jeder Ecke neue entstanden.

Der Erfolg rief schnell die Neider auf den Plan. Steinmetze und Friedhofsgärtner sorgten sich um ihre berufliche Existenz. Friedhofsverwaltungen fürchteten, dass ihnen Gebühreneinnahmen entgingen. Lobbyverbände und Interessenvertretungen übten öffentlich scharfe Kritik. Silvia hatte alle damaligen Berichte, auf die sie stieß, aus den Zeitungen ausgeschnitten oder dem Internet ausgedruckt und in einer Mappe abgeheftet.

Die Kirchen, die rapide Mitglieder verloren, bangten um den Verlust einer ihrer letzten Bastionen. Am lautesten schrien zunächst die Vertreter der katholischen Kirche. Aber auch die evangelische reihte sich in den Chor der Kritiker ein.

Der Erzbischof von Bamberg monierte wenige Monate nach der Eröffnung des Friedwalds Michelstadt, einem der ersten in Deutschland, dass die Beerdigungskultur zunehmend verflache. Er wetterte gegen Beerdigungen „ohne Kreuz, ohne christliche Liturgie“. Diese müssten für Christen tabu sein. „Wir müssen den Leib der Toten ehren, sie würdig im Sarg betten und beerdigen“, hob er in einer Predigt hervor. In einem Hirtenbrief, wiederum nur wenige Monate später, warnte die Deutsche Bischofskonferenz vor den „pantheistischen oder naturreligiösen Vorstellungen“ von Friedwäldern. Der Lebensbaum der Christen sei „kein noch so schöner naturaler Baum“, sondern das über den Gräbern aufgerichtete Kreuz Jesu Christi.

Ein evangelischer Dekan aus Donauwörth gab der Diskussion einen neuen Dreh. Naturbestattungen erschienen zwar natürlich, ließ er verlautbaren. Es müsse jedoch zunächst einiges an technischem Aufwand betrieben werden, um die Verstorbenen einzuäschern. Wenn es nach Silvia ginge, wäre dies sowieso nicht nötig. Von ihr aus könnten die Toten unverbrannt in die Erde. Doch die strengen Verordnungen in Deutschland ließen das in Friedwäldern nicht zu. Ob eingeäschert oder nicht – die Schwermetalle, die der menschliche Körper im Lauf seines Lebens einlagerte, gelangten so oder so in den Erdboden. Das war auf einem Friedhof nicht anders als in einem Bestattungswald. Insofern konnte Silvia auch die Umweltschutzverbände nicht verstehen, die sich um Grundwasser, Böden und Pflanzen sorgten und gegen die Erschließung von weiteren Wäldern protestierten. Nachdem die Kirchen ihren Frieden mit der Naturbestattung gemacht hatten, kamen die Naturschützer.

Silvia erinnerte sich noch gut an jenen Tag im Dezember 2014, als ein Sachverständiger unter mehreren Bestattungsbäumen Bodenproben an Urnenstellen entnahm. Ein paar Monate lang musste sie um den Weiterbetrieb ihres Friedwalds bangen. Doch die Universität Freiburg, die die Proben aus Michelstadt und anderen Friedwäldern untersucht hatte, gelangte schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Verlagerung von Schwermetallen aus der Kremationsasche in die darunter liegenden Bodenschichten nicht messbar sei.

Das Ergebnis der Studie bekam Silvias Mann Volker nicht mehr mit. Er starb im Frühjahr 2015. Herzinfarkt mit vierundsechzig Jahren. Viel zu früh. Dabei hatte er sich sein Leben lang gesund ernährt und viel Sport getrieben. Sie hatte ihn stets dafür bewundert, mit welchem Eifer er täglich seine Yogaübungen machte und raus in den Wald zum Joggen ging. Er hatte in frühen Jahren zwar geraucht. Aber später drehte er sich seine Joints nur noch ohne Tabak, gefüllt mit purem Gras. Spliffs nannte er sie. Wie die Rastafaris auf Jamaika.

Silvia musste innerlich lachen. Volker und Reggae. Das war schon eine tiefe Liebe. Eine Zeit lang experimentierte er trotz seines dünnen Haares damit, sich Dreadlocks wachsen zu lassen. Er hatte gelesen, dass sich die Rastas mit ihren dicken Filzzöpfen mit fruchtbaren Bäumen verglichen. Menschen ohne Locks waren für sie kraftlose Bäume.

„Das sieht bei dir aber eher wie wirres Wurzelgeflecht aus“, sagte sie, als sie das dürftige Ergebnis auf seinem Kopf sah. Schon nach wenigen Monaten schnitt sich Volker die Dreadlocks wieder ab.

Zumindest blieben Volker durch seinen frühen Tod die ersten sichtbaren gravierenden Anzeichen des Klimawandels erspart. Sie setzten auch dem Friedwald zu. Doch nie war es so schlimm wie in diesem Jahr.

Überall diese toten Bäume. Totes Holz. Totholz.

Angehörige hatten sich schon beschwert. Sie wollten ihre Toten unter lebendigen Bäumen beerdigt wissen.

Silvia konnte es sich nicht erklären. So trocken war der Sommer in diesem Jahr doch gar nicht. Sie hatte es satt, die Verstorbenen ständig umbetten oder Ersatzpflanzungen vornehmen zu müssen. Wenn das so weiterginge, musste sie bald dichtmachen.

Der Forstbeamte, der heute zu Besuch war, um die Baumschäden zu inspizieren, hatte ihre letzten Hoffnungen zunichte gemacht.

„Wir müssen das an eine höhere Stelle weitermelden“, sagte der Förster nach dem Rundgang. „Könnte auf eine vorläufige Schließung hinauslaufen.“

Er wirkte müde. Seine Stimme klang besorgt. Silvia wusste, dass sich die Schäden nicht auf ihren Friedwald beschränkten. Bevor er das Gelände verließ, fragte sie: „Was passiert hier gerade mit meinen Bäumen und mit denen da draußen?“

Der Förster zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es noch nicht genau.“

2.

Sie hatte ihn enttarnt. Sie hatte ihn verraten.

Ihren eigenen Bruder.

Als der Staatsanwalt am Oberlandesgericht Frankfurt am Main vor Florian Kellers Verurteilung zu lebenslanger Haft die Anklageschrift verlas und seine Vergehen aufzählte, ließ Diana das seltsamerweise ungerührt. Solange sie sich zurückerinnern konnte, war ihr Bruder rebellisch. In der Rückschau kam es ihr vor, als schien sein ganzes Leben zwangsläufig darauf hinauszulaufen, dass sich sein Wesen einst in einem Terrorakt entladen würde.

Das erste Mal, dass sie eine Ahnung davon bekam, wie trotzig ihr Bruder sein konnte, war nach der Sache mit den Ameisen.

Florian hatte sich im Alter von zwölf Jahren für sein Taschengeld ein Was ist was-Buch mit dem Titel Wunderwelt der Bienen und Ameisen auf dem Flohmarkt gekauft. Er besaß schon eine ganze Menge aus der Wissensreihe. Eine Zeit lang war sein Lieblingsband derjenige über Dinosaurier. In dieser Phase quälte er Diana mit schier unendlich langen Vorträgen über das, was er in dem Buch gelesen hatte. Tyrannosaurus, Giganotosaurus, Brontosaurus, Diplodocus, Stegosaurus, Triceratops – er kannte alle schwierigen Namen auswendig. Er wusste alles über ihre Lebensweise, ihr Verhalten, ihre Größe und ihre Eigenschaften. Er wusste, ob sie Fleisch- oder Pflanzenfresser waren, ob sie auf vier oder zwei Beinen gingen, ob sie im Meer oder auf dem Land lebten, ob sie flugfähig waren, ob sie Panzerplatten, einen Nackenschild oder Hörner trugen.

Die Welt der Dinosaurier schien Diana ein steter Kampf ums Überleben. Ein Kampf aller gegen alle. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie froh, dass die Riesenechsen ausgestorben waren. Sie dankte heimlich dem Kometen oder den Vulkanen dafür, dass sie sie von der Erde hatten verschwinden lassen.

Als er sich in das Ameisenbuch vertiefte, war sie froh, dass er sich nun auf eine Welt voller kleiner, harmloser Insekten stürzte. Sie hätte niemals damit gerechnet, dass er ihnen noch mehr Zeit als den ausgestorbenen Urzeitechsen widmen würde. Anders als bei den Sauriern hatte er nun sein Anschauungsobjekt direkt vor der Haustür. Er begann, sie im Garten, in den Feldern, Wiesen und Wäldern zu beobachten und zu erforschen.

Einmal ertappte Diana ihn dabei, wie er auf dem Boden vor ihrem Elternhaus im Taunus lag und unter einen kleinen Eimer schielte, der mit der Öffnung nach unten auf den Verbundsteinen der Garageneinfahrt stand. Als sie wissen wollte, was er da trieb, hob Florian den Eimer hoch wie ein Zauberer seinen Zylinder, unter dem das Kaninchen sitzt. Dianas Blick fiel auf zwei miteinander kämpfenden Ameisen. Die eine der beiden wehrte sich verzweifelt gegen die andere. Sie war der Erschöpfung nahe. Dem Tode, wie sie aus den anderen, bereits leblos auf dem Boden liegenden Ameisen in der Garageneinfahrt schloss. Ihr Bruder hatte dort in den vergangenen Stunden ein wahres Massaker angerichtet.

Florian ließ den Rand des Eimers wieder herab auf den Boden sinken. Diana war klar, dass die beiden Ameisen darunter ihren tödlichen Kampf fortsetzten.

„Äußerst interessant“, sagte Florian mit einer seltsam abwesend klingenden Stimme, „immer gewinnt die Schwarze Wegameise gegen die Rote Gartenameise, obwohl sie doch kleiner ist.“

Diana ging nicht darauf ein. Sie beschäftigte nur eine einzige Frage: „Warum sperrst du sie da drunter ein?“

Florian grinste schief. Es sah irgendwie verrückt aus. Er hatte die Augen nach oben verdreht. Es war seine dumme Art, ihren Blicken auszuweichen.

„Du bist ganz schön grausam. Du lässt ihnen keine Chance zu fliehen. Nur damit du zusehen kannst, wie sie miteinander kämpfen!“

Ihr Bruder schwieg, hob den Rand des Eimers an und schielte darunter. Still beobachtete er den Ringkampf im Halbdunkel. Er hätte bestimmt viel Freude an den Gladiatorenkämpfen im antiken Rom gehabt, dachte Diana.

Als ihr Bruder auf ihre weiteren Fragen nicht reagierte, ließ sie ihn alleine in der Einfahrt sitzen und ging ins Haus.

Nach diesem Vorfall genügte es Florian nicht mehr, die Ameisen draußen zu beobachten. Er holte sie sich in sein Zimmer und baute, wie es in einem seiner Bücher beschrieben war, eine Ameisenfarm, ein Formicarium, ein speziell für die Insekten bestimmtes Terrarium.

Er befestigte zwei Plexiglasscheiben eng übereinander in einem Rahmen. Den wenige Millimeter tiefen Zwischenraum füllt er mit Erde. So konnte er die Gänge und Nestkammern sehen, die die Ameisen zwischen den beiden Scheiben gruben. Er deckte die Glasscheiben mit roter Farbfilterfolie ab. Als Diana ihn fragte, weshalb, erklärte er ihr, dass Ameisen rot-blind seien. Ihnen erscheine der Bau dadurch dunkel, wie in der Natur. Dahinter gingen sie ungestört weiter ihrer Tätigkeit nach und er konnte sie von außen heimlich beobachten. Diana wurde klar, dass Tierfilmer den gleichen Trick anwenden mussten. Sie erinnerte sich an eine Tiersendung vor ein paar Wochen im Fernsehen. Bei den Innenaufnahmen der Ameisengänge hatte sie sich gefragt, wie sie entstanden waren.

Florian konnte von nun an rund um die Uhr das ganze Ameisenleben beobachten. Er konnte sehen, wie die Königin Eier ablegte, wie der Nachwuchs schlüpfte, wie die Arbeiterinnen das Honigwasser, das er mit einer Pipette in sein Formicarium träufelte, an die Brut und an die Königin weiterverfütterten.

Es blieb nicht bei einem Nest. Florian baute weitere Ameisenfarmen. Irgendwann stand sein ganzes Zimmer voll mit Formicarien, bevölkert von roten, schwarzen und gelben Garten-, Weg- und Waldameisen. Ein einziges großes Gekrabbel und Gewimmel in seinen vier Wänden.

Seine Mutter ekelte sich davor. Sie mochte die Insekten nicht. Angewidert warf sie Blicke auf sie. Sie duldete jedoch Florians Beschäftigung, war froh, dass er ein Hobby gefunden hatte. Sie bat lediglich: „Aber saubermachen musst du.“

Sein Vater dagegen zeigte eine deutlich stärkere Abneigung. „Du holst uns noch Krankheiten in die Wohnung“, war einer seiner harmloseren Sprüche. Er war der Einzige in der Familie, der sich regelmäßig um den Garten vor dem Haus kümmerte. Er machte ihm jedoch nur Arbeit und brachte ihm keine Freude. „Der Garten ist klein, macht aber viel Dreck“, sagte er immer wieder.

„Warum lässt du ihn denn nicht einfach zuwuchern?“, hatte Florian einmal entgegnet und dafür eine Backpfeife kassiert.

Der Garten war für seinen Vater ein strikt nach geordneten, menschlichen Maßstäben funktionierendes System. Darin hatten „Schädlinge“ und „Unkraut“ keinen Platz. Wie in jedem Frühling streute er auch im Jahr von Florians Ameisenbeschäftigung Gift in den Beeten und auf dem Rasen sowie in den Ritzen zwischen den Steinen der Terrasse und der Einfahrt. Alle Argumente Florians, dass Ameisen alles andere als Schädlinge seien, halfen nichts.

„Die holen uns nur Blattläuse in unseren Garten“, sagte sein Vater. Ein paar Tage später wollte er eine Nachbehandlung mit Ameisengift vornehmen. Doch er kam mit leeren Händen aus seiner Kammer im Keller zurück, wo er die Insektizide aufbewahrte.

„Das Ameisengift ist weg“, sagte er mit ratlosem Blick. „Auch das Schneckenkorn und die Mottenkugeln, einfach alles.“

Der Verdacht fiel sofort auf Florian. Als er die Tat nicht gestehen wollte, zog sein Vater seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose. Schon nach zwei Schlägen auf den blanken Po sprudelte es aus Florian heraus und er gab es zu.

Wohin er die Insektizide gebracht hatte, erfuhr nie jemand. Sein Vater kaufte neue und zog die Ausgaben von Florians Taschengeld ab.

Wenige Tage später hörte Diana ihren Vater laut im Flur brüllen. Sofort sprang sie auf und lief vor die Tür zum Zimmer ihres Bruders. Dort wütete ihr Vater aufgebracht herum. Die Schläge mit dem Gürtel und die Taschengeldkürzung hatten ihm offensichtlich nicht genügt. Er musste seinen Sohn noch härter bestrafen.

„Sofort raus mit dem ganzen Viehzeug – auf der Stelle! Wenn ich in einer Stunde zurück bin, ist das alles weg, hast du verstanden!“

Florian parierte. Was blieb ihm auch anderes übrig. Die Strafen seines Vaters konnten brutal sein. Der Ledergürtel auf den nackten Hintern zählte noch zu den milderen Formen.

Florian griff mechanisch nach dem ersten seiner Formicarien. Er versuchte nicht zu weinen, doch die Tränen fanden ihren Weg. Er zog die Nase hoch und hob das Formicarium in die Höhe. Die Ameisen bemerkten sofort die Positionsänderung. Sie witterten die Gefahr. Ein Teil von ihnen nahm Habachtstellung ein, ein anderer Teil stob geschäftig auseinander.

„Soll ich dir helfen?“, fragte Diana.

Er schlug ihre Hand weg.

„Lass mich alleine!“, herrschte ihr Bruder sie an. Er verließ mit dem Formicarium in den Händen das Zimmer. Unten hörte man die Haustür zuschlagen.

Ein paar Tage später entdeckte Diana die zertrümmerten Rahmen und Scheiben in einem Schuttberg auf einer Baustelle in der Nachbarschaft. Wo Florian die Ameisen freigelassen hatte, brachte sie niemals in Erfahrung. Hatte er sie an einer einzigen Stelle oder an verschiedenen Orten ausgesetzt? Hatte er versucht zu vermeiden, dass die Ameisenvölker gegenseitig um ihre Territorien kämpfen mussten – oder wollte er genau das? Und was hatte er mit den Ameisenköniginnen gemacht? Hatte er sie aus Wut im Bach ertränkt? Oder sie gar ins Feuer geworfen? Später hörte Diana, dass ein Ameisenvolk zugrunde geht, wenn ihre Königin abhandenkommt oder stirbt.

Als Diana am Abend in sein Zimmer kam, um ihn zu trösten und ihm eine gute Nacht zu wünschen, sagte ihr Bruder: „Ich hasse ihn. Eines Tages bringe ich ihn um.“

3.

Die Waldkiefer, Sandbirke, Silberweide und Winterlinde hatten sie schon hinter sich. Jetzt standen sie vor der Stieleiche. Dem Baum des Jahres 1989.

Bernd Heidereiter konnte sich noch gut an das Jahr erinnern. Er hatte gerade sein Studium angefangen und lernte Moni kennen. Moni. Mit ihr hatte er eine traumhaft schöne Zeit. Zumindest zu Beginn.

In den Fernsehnachrichten liefen damals die Bilder von DDR-Flüchtlingen in den Botschaften von Prag und Budapest, später von auf der Berliner Mauer tanzenden Menschen. Nicht mehr ganz so hoch kochte das Thema Waldsterben, das die Nachrichten der frühen 1980er-Jahre bestimmt hatte. Es ging im Taumel der Wiedervereinigung unter.

„Die Stieleiche wurde als erste zum Baum des Jahres gekürt. Die Aktion sollte von 1989 an jährlich den Wert von Bäumen herausheben“, erklärte Bernd seiner Gruppe. Sie bestand heute fast ausschließlich aus Senioren. Er blickte über eine Vielzahl von Köpfen mit Silberlocken, grau melierten Schläfen, Tonsuren, Haarkränzen und schlohweißen Mähnen.

Führungen mit Kindern mochte Bernd lieber. Die Kleinen waren sehr viel offener, ihre Neugier war groß und schnell geweckt. Unter Erwachsenen gab es immer wieder Teilnehmer, die nicht fragten, sondern es besser wissen wollten. Das hatte mit den Diskussionen um den Klimawandel und den zurückliegenden Trockensommern noch zugenommen. Es gab mittlerweile Tausende von Hobby-Waldexperten, die meinten, sie hätten nebenher Forstwirtschaft studiert.

„Die Stieleiche ist die in Mitteleuropa am weitesten verbreitete Eichenart“, fuhr Bernd fort. „Ihre knorrigen Äste bilden eine mächtige, weit ausladende Krone. In der Regel wird sie um die fünfhundert Jahre alt. Bis zu 1400 Jahre sind jedoch auch möglich. Sie kann bis zu vierzig Meter hoch wachsen, in Ausnahmefällen sogar sechzig. Ihre kräftige Pfahlwurzel reicht tief in die Erde. Das gibt ihr eine gute Standfestigkeit. Sie kann damit stark verdichtete Böden erschließen und tiefliegendes Grundwasser erreichen. Häufig schießen wenige Meter über dem Boden zahlreiche Äste aus dem Stamm, was ihr eine Art zweistöckiges Aussehen gibt. Das kann man hier an diesem Exemplar gut erkennen.“

Bernd zeigte auf einen Kranz aus Ästen. Er war froh, seinen Vortrag kurz unterbrechen zu können. Er spulte seine Worte heute allzu mechanisch ab. Dabei mochte er eigentlich den Baum-des-Jahres-Pfad, den das Forstamt vor wenigen Jahren angelegt hatte. Ein Rundwanderweg, wenige Kilometer lang, an der