Odo von Papillon und das Insektenhotel im magischen Wald - Kreativ-Duo WunderOhnrich - E-Book

Odo von Papillon und das Insektenhotel im magischen Wald E-Book

Kreativ-Duo WunderOhnrich

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Beschreibung

Stell dir vor, du schrumpfst auf die Größe von Insekten und gewinnst ihre Freundschaft. Ein magisches Abenteuerbuch von Dirk Wunder (Autor) und Michael Ohnrich (Illustrator) mit vielen tollen Bildern. Die 13-jährige Odo von Papillon lebt in einem alten Schloss, zu dem auch ein geheimnisvoller Wald gehört. Als Odos Vater eines Tages spurlos verschwindet, will ihre habgierige Stiefmutter alle Bäume abholzen lassen und das wertvolle Holz verkaufen. Und das, obwohl der Wald seit Jahrhunderten unter dem Schutz der Papillons steht. Da Odo weiterhin weder weiß, wo ihr Vater ist, noch ob er überhaupt noch lebt, kann ihr nur noch einer helfen. Aber schon der Weg zu ihm ist mehr als seltsam und verlangt großen Mut. Wie gut, dass sie dabei von ihrem besten Freund Ben unterstützt wird. Keiner von beiden ahnt, dass sie schon bald auf ein fantastisches Geheimnis stoßen, das von Odos Vorfahren seit mehr als 800 Jahren streng gehütet wird und all ihre Vorstellungskraft übersteigt ... Begleite Odo und Ben auf ein magisches Abenteuer, in dem es um Freundschaft geht, um Respekt vor der Natur und warum es so wichtig ist, sie zu schützen. Danach wirst du Insekten mit anderen Augen sehen.

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dirk Wunder

Michael Ohnrich

Odo von Papillon

und das Insektenhotel

im magischen Wald

Band 1

www.odo-von-papillon.de

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Vorwort

Das Vermächtnis

Früher Ausritt in den Wald

Der Hinterhalt

Eine seltsame Botschaft

Das magische Portal

Unterwegs mit dem Insektenexpress

Sucellus

Ein Köder aus Gold

Die Falle schnappt zu

Endlich wieder vereint

Das neue Portal

Der Goldschatz der Insekten

Botschafterin und Botschafter

Odos Abenteuer gehen weiter

(Hinweis auf Band 2)

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser (und alle Insekten, die euch vielleicht gerade neugierig über die Schulter schauen und mitlesen),

vor vielen Jahren – wir waren noch Kinder – erzählte mir ein Freund, seine Großmutter würde jemanden kennen, der jemanden kenne, der einen Menschen gesehen hatte, der auf dem Rücken einer Libelle geflogen sein soll.

Es kam uns nicht darauf an, ob die Geschichte wahr war oder nicht. Viel wichtiger war, dass wir sie cool fanden. Und natürlich stellten wir uns vor, so einen Flug selbst einmal zu erleben und träumten lange davon.

Leider kann man ein solches Abenteuer nicht einfach im Reisebüro buchen oder im Internet. Und dann ist da ja auch noch das Problem mit der Größe. Also, dachten wir, müsste man am besten jemanden finden, der gerade auf einer Libelle reitet. Den oder die könnte man dann ja fragen, wie so was geht.

Obwohl wir wirklich die Augen aufhielten, besonders in der Nähe von Tümpeln, Teichen und anderen ruhigen Gewässern, erblickten wir zwar viele Libellen, aber keine mit einem Menschen auf dem Rücken. Das ist bis heute so geblieben. Das muss allerdings noch lange nicht heißen, dass alles erstunken und erlogen war. Was, wenn Magie im Spiel war? Ich gebe zu, dass mir diese Erklärung ziemlich gut gefällt. Euch nicht auch? Und würdet ihr nicht auch gerne wissen, um wen es sich bei dem Winzling wohl gehandelt hat und was seine Geschichte war?

Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren. Deshalb habe ich meinen alten Freund Michael Ohnrich gefragt, ob er nicht Lust darauf hat, dass wir uns hierzu eine eigene Geschichte ausdenken und er hat begeistert zugestimmt. Von ihm stammen auch die fantastischen Illustrationen, die unser Buch noch lebendiger machen, wie wir finden.

Die Titelheldin heißt Odo von Papillon, ein ebenso kluges wie tapferes Mädchen, das mit ihrem Freund Ben das wohl größte Abenteuer ihres Lebens erlebt. Darin geht es nicht nur um ihr eigenes Schicksal, sondern auch um den Fortbestand eines magischen Waldstücks und ein uraltes Geheimnis, das Odos Vorfahren seit über 800 Jahren hüten. Weil das Geheimnis für die Geschichte ziemlich wichtig ist, werdet ihr schon früh eingeweiht. Aber keine Sorge: Die Spannung wird darunter nicht leiden. Versprochen!

Einige unter euch werden vielleicht denken, dass das erste Kapitel trotzdem etwas lang geraten ist. Anderen wiederum ist die Geschichte von Odos Vorfahren möglicherweise nicht ausführlich genug. In beiden Fällen bitten wir um Nachsicht. Denn wir sind davon überzeugt, dass diese Geschichte erzählt werden muss. Natürlich so kurz wie möglich, aber auch so lang wie nötig. Wenn zu Beginn des zweiten Kapitels Odo dann in aller Frühe mit ihrem Vater in den magischen Wald reitet, weil er ihr etwas wirklich Wichtiges zeigen muss, etwas, das ihr Leben für immer verändern wird, hoffen wir, dass ihr alle noch dabei seid.

Übrigens: Wir selbst haben noch immer keinen Menschen auf einer Libelle reiten sehen. Aber vielleicht hat jemand unter euch ja mehr Glück. Dann vergesst nicht zu fragen, wie so was geht. Möglicherweise verhält es sich ja ganz ähnlich wie bei Odo von Papillon. Würde uns nicht überraschen. Euch etwa?

In jedem Fall wünschen Michael und ich euch mit Odos erstem Abenteuer spannende Lesestunden.

Dirk Wunder

Frankfurt am Main, Juni 2025

1. Das Vermächtnis

Jakob traute seinen Augen nicht. Der junge Bauer war wie jeden Tag von der Feldarbeit auf dem Weg nach Hause, als er am Grund des Baches, den er überqueren musste, etwas glitzern sah.

In den vergangenen Tagen hatte es viel geregnet und der Bach führte deutlich mehr Wasser als gewöhnlich. Zwar war es an dieser Stelle nicht sonderlich tief, nur etwa dreißig bis vierzig Zentimeter, doch um einfach mit einem langen Satz drüber zu springen, war der Bach zu breit. Um ihn zu überqueren, ohne nasse Füße zu bekommen, hatte Jakob deshalb schon vor langer Zeit vorsorglich ein paar große Steine in das Bachbett geworfen, die jetzt wie kleine Inseln über die Oberfläche hinausragten. Es hatte ihn einige Anstrengung gekostet, die großen Brocken aus der Umgebung heranzuschaffen, doch wie man jetzt sah, hatte sich die Mühe gelohnt.

Geschickt sprang Jakob von einem zum anderen und war schon fast auf der anderen Seite, als ihm das Glitzern zwischen dem feinen Kies am Grund des Baches auffiel. Neugierig hielt er inne und versuchte zu erkennen, um was es sich wohl handelte, doch die Oberfläche war dafür zu unruhig.

Eigentlich hatte Jakob keine Lust, in das kalte Wasser zu steigen, doch nur so konnte er an das glitzernde Ding gelangen. Also öffnete er die Schnüre seiner einfachen Bauernschuhe, krempelte seine Hose hoch und stieg barfuß in den Bach.

Er watete zwei Schritte und tauchte dann seinen Arm ins Wasser. Es reichte ihm bereits über die Ellenbogen, bis er endlich den Grund fühlte und das glitzernde Ding zu fassen bekam. Kurz darauf hielt er einen gelb glänzenden Stein ins Licht der untergehenden Sonne. Eigentlich war es kein Stein, sondern fühlte sich eher an wie Metall.

Der kleine Brocken war nicht größer als der entzündete Backenzahn, der Jakob unlängst geplagt hatte. Als er es vor Schmerzen nicht mehr ausgehalten hatte, war er zum Barbier auf den Markt gegangen. Der hatte eine große Zange genommen und den Zahn mit einem kräftigen Ruck herausgezogen. Das war für einen Augenblick zwar ziemlich unangenehm gewesen, doch dafür hatte Jakob danach auch Ruhe gehabt.

Man schrieb das Jahr 1198. Jakob lebte mit seiner Frau und sechs Kindern in einem kleinen Fürstentum im Bayerischen Wald, unweit der tschechischen Grenze. Jakob war kein Leibeigener, sondern ein freier Bauer, worauf er stolz war. Frei zu sein war im Mittelalter nicht selbstverständlich. Erst kürzlich hatte sein Nachbar nach einer schlechten Ernte die Abgabe an den Fürsten nicht mehr aufbringen können, wodurch er mitsamt seiner Familie in Leibeigenschaft geraten war. Und da aus eigener Kraft wieder herauszukommen, war so gut wie unmöglich.

Jakob wog den kleinen Fund auf der flachen Handfläche. Er war erstaunlich schwer. Viel schwerer als ein normaler Kiesel. Jakob hatte nie eine Schule besucht, doch was er da in der Hand hielt, musste Gold sein, da war er sich sicher.

Eilig zog er seine Schuhe wieder an und setzte seinen Heimweg fort. Als Jakobs Frau das Stück Gold sah, machte sie ebenfalls große Augen. Das müsse er dem Kaufmann zeigen, was Jakob gleich am nächsten Morgen tat.

Der staunte ebenfalls nicht schlecht und bestätigte dem Bauern, dass es sich tatsächlich um Gold handelte.

»Und es stammt wirklich aus dem Bach?«, hatte sich der Kaufmann mehrmals vergewissert, und Jakob hatte dazu stets genickt. Am Ende hatte Jakob dem Kaufmann sogar die genaue Stelle am Bach erklärt. Als sich später herausstellte, dass es im Bach noch viel mehr Gold gab, hatte Jakob seine Offenheit zwar bereut, doch immerhin brachte ihm sein Fund auf einen Schlag soviel Geld ein, dass er sich um seine Freiheit vorerst keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

Das Fürstentum war nicht sehr groß, zudem fast ausschließlich von Wald bedeckt und zählte nur wenig Einwohner. Die meisten von ihnen waren Bauern, die ihre Äcker und Wiesen dem Wald mühevoll abgetrotzt hatten. Entsprechend gering waren die Abgaben an den Fürsten, der dadurch eben nicht gerade reich war. Mehrmals hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Steuern zu erhöhen, doch das hatte ihm seine Tochter Alis, die er über alles liebte, verboten.

Alis befand sich im heiratsfähigen Alter und war mit ihrer schlanken Figur, den langen blonden Haaren und den großen, dunkelbraunen Augen auch ausgenommen hübsch. Alles was fehlte, um sie zu verheiraten, war eine ordentliche Mitgift, die der Fürst mit seiner klammen Kasse aber nicht bieten konnte.

Als ihm zu Ohren kam, dass unweit seiner Burg Gold gefunden worden war, hatte er sein Glück daher kaum fassen können. Kurzerhand zog er etliche seiner Bauern von den Feldern ab und stattete sie mit Schaufeln und Goldpfannen aus. Als der Fürst schon nach wenigen Tagen zwei faustgroße, prall gefüllte Beutel voll mit Goldnuggets in der Hand hielt, packte ihn, wie so viele vor und nach ihm, das Goldfieber.

Weil die Erträge im Bach jedoch rasch weniger wurden, ließ der Fürst einen Teil des Waldes roden, um weiteres Gold aus dem Sand unter den Wurzeln waschen zu lassen. Zudem wurden Stollen in den Berg getrieben, in der Hoffnung auch hier auf Gold zu stoßen.

Dass innerhalb kurzer Zeit große Flächen des Waldes abgeholzt wurden, nahm der Fürst gleichgültig in Kauf. Was interessierte ihn der Wald, von dem ohnehin genug da war, gegen das viele Gold, das nur darauf wartete, in seine Schatzkammer zu wandern.

Je länger Alis das Treiben ihres Vaters mitansehen musste, umso unglücklicher wurde sie. Inzwischen hatte der Fürst so viele Bauern von den Feldern abgezogen, dass die Nahrung für die Bevölkerung knapp wurde und schließlich gar nicht mehr reichte. Als Alis hörte, dass nun auch noch die Kinder der Bauern in die Stollen geschickt werden sollten, war für sie das Maß voll.

Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte der Fürst seiner Tochter zuliebe den Abbau des Goldes vielleicht eingestellt. Doch in seiner Gier hatte er jedes Maß verloren. Dabei war nach mehr als zweieinhalb Jahren die Schatzkammer so voll und der Fürst so reich, dass um die Gunst seiner Tochter inzwischen jede Menge Verehrer buhlten.

Natürlich hätte er seine Tochter einfach verheiraten können, doch das wollte er ihr nicht antun. Zudem war er stolz darauf zu sehen, wie auf einmal die jungen Söhne der anderen Adelshäuser zu Bittstellern wurden. Sollten sie doch ruhig ein wenig zappeln, dachte er. Irgendwann würde schon der Richtige kommen, Auswahl gab es ja nun genug.

Alis hatte es jedoch alles andere als eilig, denn sie hatte etwas viel Wichtigeres zu tun. Ihr Land hatte sich dramatisch verändert. Wo früher dichte Wälder standen, die voller Wild und Vögel waren, gähnte nur noch leere Ödnis. Außerdem bahnte sich eine Hungersnot an.

Um die Not der Bauern in ihrem Fürstentum zu lindern, hatte sich Alis vorgenommen zu helfen, wo sie nur konnte. Hin und wieder stahl sie aus den Vorratskammern der Burg etwas Getreide und Gemüse, um es jenen Familien zu geben, die besonders litten. Allerdings musste sie achtgeben, die kleinen Diebstähle nicht zu übertreiben, denn ihr Vater durfte davon keinesfalls erfahren. Also schlüpfte sie so oft es ging in ihr Jagdkostüm, schnappte sich ihre Armbrust und ritt in den Wald. Doch sie erlegte nicht wahllos irgendein Tier, sondern wählte sorgfältig aus, suchte nach Tieren, die unheilbar verletzt waren und litten, oder welche, die bereits so alt und schwach waren, dass sie den nächsten Winter nicht überleben würden.

Eines Tages verfolgte Alis einen lahmenden Eber. Als sie schließlich eine Chance sah, ihn zu erlegen, legte sie einen Pfeil in die Armbrust und zielte. Plötzlich traf sie am Arm ein Tannenzapfen, worauf sich der Schuss löste. Der Pfeil verfehlte sein Ziel und bohrte sich in einen Baum. Der Eber floh ins dichte Gebüsch. Überrascht schaute sich Alis um und erblickte einen jungen Mann, der ungefähr ihr Alter hatte. Er war allerdings nicht wie ein Bauer gekleidet, sondern trug einen weißen, in der Hüfte gegürteten Wams aus edlem Leder, der zudem überraschend sauber war. Seinem frechen Gesichtsausdruck nach war der Bursche zweifellos derjenige, der den Zapfen geworfen hatte.

»Hey«, rief Alis. »Was fällt dir ein? Weißt du nicht, wer ich bin?«

Der junge Mann hatte dichtes, dunkles Haar, das leicht gelockt war und ihm bis zur Schulter reichte. Aus seinem Gesicht leuchteten wache, grüne Augen. Er wirkte gesund und kräftig und hatte noch alle Zähne, die in der Sonne strahlten.

»Und ob ich das weiß«, antwortete er. »Ihr seid die Tochter des Fürsten.«

»Dann weißt du auch, dass ich dich für diese Frechheit bestrafen lassen kann.«

»Dafür müsst Ihr mich aber erstmal fangen«, rief der Bursche lachend und lief davon. Das ließ Alis sich nicht zweimal sagen. Sie riss ihr Pferd herum und preschte hinterher. Bald zwang das Dickicht sie, abzusteigen und zu Fuß weiterzugehen. Je länger die Verfolgung dauerte, umso mehr sah es aus, als würde der junge Mann gar nicht versuchen, ihr zu entkommen. Vielmehr wirkte es, als würde er mit ihr spielen, was sie nur noch mehr anspornte. Mehr als einmal glaubte Alis, ihn verloren zu haben. Dann tauchte er plötzlich wieder auf und streckte ihr einmal mehr frech die Zunge heraus.

»Ich krieg dich noch«, rief sie erhitzt, während es immer tiefer in den Wald ging. Schließlich holte sie den jungen Mann doch noch ein. Er stand mit dem Rücken zu einer dichten Brombeerhecke, die ein Weiterkommen unmöglich machte, da sich auf der einen Seite des Pfads eine steile Felswand befand und der Weg auf der anderen Seite einige Meter steil zu einem Bachlauf herabfiel.

»Sackgasse«, lachte Alis triumphierend und legte ihre Armbrust an. »Jetzt hab ich dich! Sag mir, wer du bist, dass du glaubst, dir solche Frechheiten erlauben zu können. Außerdem ist es Bauern ohne Erlaubnis des Fürsten streng verboten, den Wald zu betreten. Du spielst mit deinem Leben!«

»So wie Ihr mit der gespannten Armbrust herumfuchtelt, ist es ohnehin gleich mit mir vorbei«, rief der Mann.

Alis, die auf keinen Fall vorhatte, ihn zu töten, senkte die Armbrust ein wenig. Das nutzte der Mann aus. Rasch ging er in die Knie und verschwand kurzerhand durch eine Lücke im Gebüsch.

Alis brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was geschehen war. Die Lücke war ihr gar nicht aufgefallen. Kurz zögerte sie, ob sie dem Mann folgen sollte. Immerhin war es nicht ausgeschlossen, dass er ihr im dichten Gebüsch auflauerte. Andererseits hatte er auf sie keinen gefährlichen Eindruck gemacht. Im Gegenteil – eigentlich fand sie ihn sogar recht interessant. Ganz anders, als die langweiligen Typen, mit denen sie sonst zu tun hatte. Nein! Sie musste erfahren, wer dieser junge Mann war und woher er den Mut hatte, sich ihr gegenüber so unverschämt zu verhalten. Fluchend warf sie sich die Armbrust auf den Rücken und schlüpfte ebenfalls durch die Lücke.

Als der Fürst erfuhr, dass seine Tochter im Wald vermisst wurde, war er außer sich vor Ärger über den Ungehorsam, den seine Tochter sich leistete, aber auch aus Sorge. Unverzüglich schickte er einen Trupp Soldaten hinterher, die den Wald durchkämmen sollten, doch sie blieben erfolglos. Nach drei Tagen ließ der Fürst die Suche einstellen.

Das spurlose Verschwinden von Alis befeuerte den Aberglauben, der im 12. Jahrhundert ohnehin weit verbreitet war. Rasch kam das Gerücht auf, dass im Wald vielleicht eine böse Hexe oder ein Zauberer ihr Unwesen trieben.

Da tauchte am Hofe ein junger Mann auf, der zwar wie ein fahrender Händler gekleidet war, sich aber selbstbewusst gab wie ein Adliger. Sein Name sei Arvid und er wisse, dass die Tochter des Fürsten noch am Leben sei und wo sie sich befände. Sie sei übrigens noch immer im Wald, allerdings an einem besonderen Ort, der nicht ohne Weiteres zu finden sei.

»Also wurde meine Tochter entführt?«, schloss der Fürst und musterte argwöhnisch den jungen Burschen, der da so unverschämt kühn vor ihm stand, als könne ihm niemand und nichts etwas anhaben.

»Niemand hat Eure Tochter entführt und sie wird auch nicht gegen ihren Willen festgehalten«, entgegnete Arvid. »Ich wurde gesandt, um Euch zu ihr zu bringen, so dass Ihr sie holen könnt.«

»Warum hast du sie nicht gleich mitgebracht?«, wunderte sich der Fürst.

»Das war nicht meine Aufgabe«, antwortete Arvid. »Ich soll Euch nur zu ihr bringen, denn der Weg ist nicht leicht zu finden. Die einzige Bedingung ist, dass Ihr niemanden Eurer Leute mitnehmen dürft. Ihr müsst mich alleine begleiten.«

»Allein?«, fragte der Fürst skeptisch. »Wer garantiert mir, dass das keine Falle ist?«

»Niemand. Und doch bleibt Euch keine Wahl, wenn Ihr Eure Tochter wiedersehen wollt.«

»Wer hat diese Bedingung gestellt?«, fragte der Fürst, dem die Geheimnistuerei des jungen und ihm viel zu überheblichen Burschen gehörig missfiel.

»Derjenige, bei dem sie zu Gast ist – und auch Eure Tochter selbst«, antwortete Arvid.

»Meine Tochter?«, wiederholte der Fürst ungläubig. »Ich warne dich, mir ist nicht nach Späßen zumute!«

»Es ist so, wie ich sage. Solltet Ihr nicht persönlich zu ihr gehen, will sie nicht nach Hause zurückzukehren.«

»Dann lasst uns aufbrechen«, sagte der Fürst entschlossen und griff nach seinem Schwert.

»Das braucht Ihr nicht. Es wird Euch nur eine Last sein«, riet Arvid dem Fürsten.

»Im Gegenteil, es ist meine Versicherung. Und falls du gelogen hast, bist du als erster des Todes!«

»Wie Ihr wollt«, sagte Arvid unbeeindruckt.

Der Fürst ließ zwei Pferde satteln und sie ritten los. Unterwegs versuchte er unablässig, Arvid in ein Gespräch zu verwickeln, doch der blieb verschlossen wie ein versiegeltes Buch. Irgendwann erreichten sie den Ort, wo die Brombeeren den Weg versperrten. Der Fürst vermutete eine Falle und griff zu seinem Schwert.

»Wo sind wir? Wo hast du mich hingeführt?« Arvid beachtete ihn nicht weiter, sondern stieg ruhig von seinem Pferd und ging auf das Gebüsch zu.

»Hier müssen wir durch«, rief er, nachdem er einige Ranken schwungvoll beiseite geschoben und einen Tunnel offengelegt hatte. Die Öffnung war etwas mehr als einen halben Meter hoch und ebenso breit. Gerade groß genug, dass ein normal gebauter Erwachsener auf allen Vieren hindurch passte.

Der Fürst blickte ihn skeptisch an. »Da durch? Du scherzt!«

»Keinesfalls. Es ist der Weg, den Ihr gehen müsst, wenn Ihr Eure Tochter wiedersehen wollt. Alis ist übrigens auch hier durchgegangen. Fehlt Euch etwa der Mut, den Eure Tochter bereits bewiesen hat?«

»Was erlaubst du dir«, rief der Fürst empört, zog sein Schwert vollends aus der Scheide und richtete die Spitze auf Arvids Brust.

»Natürlich habe ich keine Angst. Ich bin nur vorsichtig. Deshalb gehst du voran. Ich werde dir folgen. Und zwar mit gezogenem Schwert.«

Arvid zuckte mit der Schulter, ohne sich vom Schwert des Fürsten auch nur im Geringsten einschüchtern zu lassen. »Tut, was Ihr nicht lassen könnt.« Daraufhin ließ er sich auf alle Viere fallen und verschwand im Tunnel.

Der Fürst zögerte kurz und folgte ihm.

»Am Anfang ist es noch etwas beschwerlich«, rief Arvid nach hinten. »Ihr werdet aber sehen, dass es weiter vorne schnell breiter und komfortabler wird.«

»Für mich sieht es aus, als würde es nicht breiter, sondern im Gegenteil eher schmaler«, schnaufte der Fürst. Mit dem Schwert in der Hand war das Kriechen auf allen Vieren natürlich noch wesentlich anstrengender. Doch er dachte nicht daran, die Waffe zurück in die Scheide zu schieben.

»Der Schein trügt«, sagte Arvid. »Schon bald werden wir sogar aufrecht gehen können.«

Sie krochen noch ein paar Schritte weiter, da meinte der Fürst, dass sein Schwert schwerer geworden war, was ja eigentlich kaum sein konnte. Auch schien es länger, was genauso unmöglich war. Aber zwei weitere Meter war es bereits so lang und schwer, dass er es nur noch mit Mühe vor sich herschieben konnte.

»Wartet, was geschieht hier?«, rief der Fürst mit aufkommender Panik in der Stimme. Doch Arvid dachte gar nicht daran, zu warten. Er verlangsamte sein Tempo nicht einmal, sondern kroch weiter zügig voran.

Der Fürst versuchte mitzuhalten, während sein Schwert mit jedem zurückgelegten Meter immer größer und schwerer wurde. Und nicht nur das, auch seine goldene und mit Edelsteinen besetzte Halskette war auf einmal so schwer, wie die Ketten in einem Kerker.

Der Fürst befreite sich von der Last und ließ Schmuck und Schwert notgedrungen hinter sich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Arvid recht gehabt hatte. Der Tunnel war wirklich höher und breiter geworden. Inzwischen hatte Arvid sich aufgerichtet und schritt zügig voran.

»So warte doch!«, rief der Fürst außer Atem.

Endlich konnte er ebenfalls aufrecht gehen. Dafür war der Boden nun so steinig und uneben geworden, dass er, während er vorwärts hastete, ständig stolperte.

Weiter vorne hatte Arvid es sich auf einem mit Flechten bewachsenen Stein gemütlich gemacht und wartete dort mit einem frechen Lachen im Gesicht.

Als der Fürst schnaufend vor Anstrengung und nass geschwitzt endlich eintraf, schaute er sich um und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass die Gräser, Pilze und andere Pflanzen, die normalerweise kaum bis zum Knöchel reichten, ihn nun um Längen überragten. Und das Blätterdach der Bäume, durch das die Sonne blitzte, wirkte so unerreichbar hoch wie der Himmel.

»Was ... was geht hier vor?«, stammelte er. »Wo sind wir?«

»Seht Euch doch um«, forderte Arvid ihn gelassen auf. »Ist das nicht offenkundig?«

»Alles um uns herum ist auf einmal riesengroß«, stellte der Fürst einmal mehr fest, während er sich um die eigene Achse drehte. Dabei warf er auch einen Blick zurück in den Tunnel, in dem in einiger Entfernung sein Schwert lag. Allerdings war es so groß wie eine Burg. Als der Fürst sah, dass seine Goldkette nicht minder gigantisch war, entflammte in seinen Augen wieder die Gier.

»Meine Kette«, rief er freudig, »nie besaß ein Herrscher mehr Gold und Edelsteine von solcher Pracht und Größe.« Dann kam ihm ein ernüchternder Gedanke. »Oder sind wir etwa nur kleiner geworden?«

»Bravo«, sagte Arvid und klatschte verhalten Beifall. »Es hat ein wenig gedauert, aber immerhin seid Ihr von selbst darauf gekommen. Bravo!«

»Aber wie ist das möglich?«, fragte der Fürst, der sich weiter verwundert umsah. »Ich verstehe nicht, was das alles bedeutet. Was geschieht hier? Bist du etwa ein Zauberer?«

Arvid erhob sich von dem Stein. »Ich verspreche euch, dass alle eure Fragen beantwortet werden. Aber zuvor müsst Ihr euch noch etwas gedulden. Wir haben noch einen kleinen Fußmarsch vor uns. Seid Ihr wieder bei Kräften?«

Der Fürst nickte.

»Dann los«, sagte Arvid. »Haltet Euch stets in meiner Nähe. So winzig wie wir jetzt sind, lauern im Wald zahlreiche Gefahren. Ich will nicht, dass Ihr gefressen werdet.«

»Gefressen?«, wiederholte der Fürst erschrocken. »Von wem denn?«

»Wenn ich alle Geschöpfe aufzähle, die nur darauf warten, solch einen fetten Leckerbissen wie Euch zu erwischen, würden wir morgen noch hier stehen. In der folgenden Zeit wäret Ihr gut beraten, meinen Anweisungen zu folgen.«

Es dauerte nicht lange, da stießen sie auf einen großen grünlich schimmernden Käfer, der aufrecht gehend ihren Weg kreuzte und dabei eine streng riechende Kugel vor sich her rollte.

Instinktiv griff der Fürst nach seinem Schwert. Doch das hatte er ja nicht mehr. Vorsichtshalber ging er hinter Arvid in Deckung.

»Habt keine Angst«, beruhigte Arvid ihn. »Der Käfer ist uns freundlich gesinnt.« Er wandte sich dem riesigen Insekt zu und grüßte fröhlich: »Wie geht‘s, wie steht‘s?«

Der Käfer blieb kurz stehen und glotzte die beiden Fremdlinge neugierig an. »Wie soll’s schon gehen? Vor mir liegt noch jede Menge Arbeit. Das Lager ist erst halb voll, und bis zum Winter ist es nicht mehr weit. Und ihr? Wohin des Wegs?«

»Zum alten Baum«, antwortete Arvid.

»Oho«, sagte der Käfer beeindruckt. »Dann lasst euch von mir nicht aufhalten.«

Sie verabschiedeten sich und der Käfer setzte seinen Weg fort.

»Der ... der Käfer wirkte so menschlich. Und er ... er hat gesprochen«, stotterte der Fürst fassungslos. Um seine Nase herum war er ganz blass geworden.

»Natürlich«, sagte Arvid wie selbstverständlich. »Es sind zwar Insekten. Doch das heißt nicht, dass sie nicht sprechen, denken und fühlen.«

»Aber der Käfer wirkte dabei so ...«, er suchte nach dem richtigen Wort. »so ... menschlich, gar nicht furchtbar.«

»Seid doch froh darüber«, entgegnete Arvid. »Stellt Euch vor, es wäre so, wie Ihr es erwartet hattet.«

Als der Fürst sich ein monsterhaftes Insekt vorstellte, schüttelte er sich vor Grauen und versuchte, den Gedanken rasch wieder zu verdrängen.

»Was erwartet uns am alten Baum?«, fragte er Arvid stattdessen, während sie nebeneinander weitergingen.

»Dort befindet sich der Sitz der souveränen Regierung dieses Staates.«

»Regierung?«, entfuhr es dem Fürst.

»Ja. Aber weshalb seid Ihr schon wieder so überrascht? Denkt Ihr, dass eine Welt wie diese – nur weil sie klein ist – keine Regierung braucht?«

»Es ist nur ...«, suchte der Fürst nach Worten, »ich war nicht darauf vorbereitet, dass Insekten eine Regierung haben.«

»Nun, jetzt wisst Ihr es«, sagte Arvid. »Und ich rate Euch dringend, dem Souverän dieses Staates so respektvoll gegenüberzutreten, wie es sich unter Staatsoberhäuptern geziemt.«

Nach einer Weile und weiteren Begegnungen mit verschiedenen Insekten, die allesamt vermenschlicht wirkten und sprechen konnten, erreichten sie schließlich den alten Baum. Es war eine riesige, knorrige Linde, die schon hunderte Jahre alt sein musste. Ihr Stamm war so dick, dass er aus der Perspektive eines Insekts mit dem Umfang einer Stadt des Mittelalters vergleichbar war.

Der Fürst kam aus dem Staunen nicht heraus. Ständig erblickte er neue fantastische Wesen und Dinge, die alles bisher gesehene übertrafen. Regelmäßig kniff er sich in den Arm, denn es konnte kein Zweifel bestehen, dass er das alles nur träumte.

Rund um den Stamm herum wimmelte es nur so von den verschiedensten Insekten. Den Fürsten erinnerte die Szenerie an das bunte Treiben, wenn vor seiner Burg Markttag war. Einmal mehr traute er seinen Augen nicht, als er sah, dass die Insekten untereinander sogar Handel trieben.

Es gab Stände für Waren aller Art, Gelegenheiten zum Essen und Trinken und sogar Gaukler, die Kunststücke vorführten. Ein Käfer zum Beispiel jonglierte mit vier seiner Gliedmaßen zwanzig bunte Bälle, die ihm ein anderer Käfer nacheinander zugeworfen hatte. Schließlich verlagerte er sein Gewicht auf ein Bein und fing mit dem anderen auch noch einen Ring auf, den er eine Weile kreisen ließ.

Die Menge war begeistert. Sogar der Fürst applaudierte. Als er sah, dass Arvid ihn schmunzelnd beobachtete, fühlte er sich ertappt und hörte auf.

»Es muss Euch nicht peinlich sein«, sagte Arvid. »Wie Ihr selbst seht, unterscheidet sich das Volk der Insekten gar nicht so sehr von den Menschen. Auch Insekten wollen nur ihr Leben leben, mit einem normalen Alltag, in dem sie sich um ihren Unterhalt kümmern. Manche haben Familie, andere nicht. Sie verlieben sich und bekommen Nachwuchs. Sie erleben Freude und kennen genauso Kummer und Sorgen.«

Während Arvid erzählte, steuerte er auf einen mit einem Kreuz gekennzeichneten Platz zu.

»Sicher hat man uns bereits bemerkt und gemeldet, dass wir eingetroffen sind. Wir sollten den Souverän nicht warten lassen, das wäre unhöflich.«

Arvid richtete seinen Blick gen Himmel und bewegte seinen Arm so, als winke er jemandem zu. Noch bevor der Fürst fragen konnte, was er da trieb, nahte sich ein lautes Brummen, und im nächsten Augenblick landete direkt auf dem Kreuz vor ihnen eine große, blau schillernde Libelle.

Erschrocken wich der Fürst einen Schritt zurück. Das Tier war groß wie ein Pferd und ausgestattet mit zwei auf den Rücken geschnallten Sätteln.

»Na, los, steigt auf!«, forderte Arvid ihn auf.

»Auf ... auf die Libelle?«, fragte der Fürst, unsicher, was er davon halten sollte.

»Natürlich!«, bekräftigte Arvid. »Wir müssen hoch bis zur Baumkrone. Es gibt zwar auch eine Treppe, aber die zu nehmen würde den ganzen Tag dauern. Und bei eurer Ausdauer bezweifle ich, dass wir überhaupt oben ankommen.«

Weil der Fürst weiterhin zögerte, schwang sich Arvid kurzerhand auf die Libelle. Als er im Sattel saß, zeigte er auf den Platz hinter sich. »Kommt endlich. Wir werden erwartet.«

Endlich kletterte der Fürst die kleine Strickleiter hinauf, die für diesen Zweck extra ausgerollt worden war. Als auch er sicher saß, zog Arvid die Leiter ein und klopfte mit dem Fingerknöchel auf den Rückenpanzer unterhalb vom Hals der Libelle. Eine Sekunde später ertönte erneut das Brummen der Flügel. Dann hob die Libelle ab und schraubte sich elegant in die Höhe. Das ging so rasant schnell, dass dem Fürsten für einen Moment die Luft weg blieb und im Bauch ganz blümerant wurde. Zum Glück dauerte der Flug nur wenige Sekunden.

Hoch oben setzte die Libelle auf einem überraschend großen Plateau wieder auf. Dabei handelte es sich um einen halbrunden, ausladenden Baumpilz, der den Stamm zierte wie Balkone. Auf der flachen Oberseite des holzigen Pilzes herrschte ein nicht minder lebhaftes Treiben wie am Boden. Auch hier war der Landeplatz mit einem Kreuz gekennzeichnet.

In der Nähe wartete bereits das Empfangskomitee. Es bestand aus einem Silberfisch und sechs bewaffneten Ameisen. Kaum waren die Passagiere die Strickleiter heruntergestiegen, wurden sie von dem Silberfisch, der sich äußerst gewählt ausdrückte, förmlich begrüßt. Seine silbrig schimmernde Haut erinnerte an eine Galauniform und machte den förmlichen Auftritt perfekt. Wie fast alle Insekten in dieser Welt ging auch er aufrecht, wobei er seinen Körper in einer so geraden Linie hielt, als habe er einen Stock verschluckt. An seiner Brust baumelten mehrere glänzende Orden. Noch so ein absurdes Detail, das sich der Fürst nicht erklären konnte.

Der Silberfisch forderte Arvid und den Fürsten auf, ihm zu folgen. Zusätzlich wurden sie von den sechs bewaffneten Ameisen eskortiert.

Was nun folgte, sollte alles bisher Erlebte nochmals übertreffen. Als die Gruppe von der Plattform ins Innere des Baumstamms trat, der wohl in Teilen hohl war, hatte der Fürst eine dunkle Höhle erwartet. Doch die Räumlichkeiten, durch die er geführt wurde, waren zu seinem Erstaunen prächtiger und kostbarer ausgestattet als alle Burgen und Paläste, die er je gesehen hatte.

Schließlich blieb der Silberfisch vor einer großen, geschlossenen Doppeltür stehen. Bewacht wurde sie von zwei grimmig dreinblickenden Ameisen, die links und rechts der Tür praktisch reglos standen.

»Er will Euch zunächst alleine sprechen«, sagte der Silberfisch zum Fürsten gewandt. Noch bevor der etwas erwidern konnte, ließen die Wächter gleichzeitig die Türflügel aufschwingen.

»Tretet ein«, forderte der Silberfisch den Fürsten auf, der sich daraufhin in Bewegung setzte. Hinter ihm fielen die Flügel mit lautem Krachen wieder ins Schloss. Augenblicklich war es stockdunkel.

»Hallo?«, fragte der Fürst unsicher in die Dunkelheit. Auf einmal flammten überall im Raum blaue, kugelförmige Lichter auf, die an Ort und Stelle zu schweben schienen und die Dunkelheit vertrieben. Zur Überraschung des Fürsten war der Raum ansonsten völlig leer. Er hatte einen prächtigen Thronsaal erwartet, doch hier gab es nicht einmal Möbel.

Dann lösten sich einige der leuchtenden Kugeln aus ihren Positionen und verschmolzen im Zentrum des Raums miteinander zu einer gleißend hellen, schemenhaften Lichtgestalt. Das Licht wurde schwächer und die Gestalt immer klarer erkennbar, bis ein Hirschkäfer mit eindrucksvollem Geweih vor dem Fürst stand und ihn interessiert musterte. Er trug eine Art Frack und ging ebenfalls aufrecht.

»Fürst Albrecht von Winden«, erhob der Käfer schnarrend seine Stimme. Sie klang weder weiblich noch männlich, noch jung oder alt. »Seid willkommen!« Er räusperte sich, was sich anhörte als würde ein Hobel über ein raues Holzbrett gezogen. »Mein Name ist Sucellus. Ich bin das, was manche Menschen in Eurer Welt als Naturgeist bezeichnen. Seit Jahrhunderten verkörpere ich mit meiner Energie das Leben aller Insekten in diesem Wald.« Er räusperte sich erneut. »Hin und wieder nehme ich aber die Gestalt eines Hirschkäfers an. Einen Körper zu haben und zu spüren, ist eine interessante Erfahrung.«

Der Fürst bemerkte, dass sich die Kauwerkzeuge des Käfers ein wenig auseinander bewegten. Es sollte wohl ein Schmunzeln sein.

»Der wesentliche Grund ist aber, dass ein Körper die Kommunikation erleichtert. Er macht sie persönlicher. Würdet Ihr mir da zustimmen?«

»Schon ... schon möglich«, antwortete der Fürst eingeschüchtert. In was für einen Alptraum war er da nur geraten? Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen. »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er frei heraus. »Mir wurde gesagt, ich würde zu meiner Tochter geführt, damit ich sie nach Hause holen kann. Und nun bin ich hier. Aber bin ich das wirklich oder träume ich das alles nur?«

»Ihr träumt nicht«, antwortete Sucellus. »Was Ihr hier gerade erlebt, geschieht tatsächlich. Ihr wurdet durch einen speziellen Zauber verkleinert. Genau wie zuvor Eure Tochter. Es geht ihr übrigens gut und sie ist wohlauf. Ihr werdet sie gleich sehen. Doch zuvor lasst mich erklären, warum Euch die Begegnung mit den Insekten hier ... wie soll ich sagen ... so merkwürdig vorkommt.

In den Augen vieler Menschen sehen die meisten Insekten nämlich nicht gerade liebreizend aus. Das liegt vor allem an der Beschaffenheit ihrer Körper und Gesichter, die im Vergleich zu dem eines Menschen kaum unterschiedlicher sein können und deshalb auf manchen sogar Angst einflößend wirken. Erst recht, wenn ein Insekt plötzlich so groß ist wie ein Mensch. Oder genauer gesagt: wenn ein Mensch auf die Größe eines Insekts verkleinert wurde. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass Ihr euch mit allen Insekten nicht nur in Eurer Sprache unterhalten könnt, sondern Euch die Insekten insgesamt menschlicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Nehmt zum Beispiel die aufrechte Haltung der Insekten: Tatsächlich bewegen sie sich alle nach wie vor auf ihren sechs Beinen. Selbstverständlich tragen sie auch nicht wirklich Waffen oder Kleidungsstücke oder nutzen irgendwelche Gegenstände. Das alles ist nur eine Illusion, die in Eurem Kopf stattfindet.«

»Nur eine Illusion? Aber ich konnte den Sattel auf der Libelle fühlen, und die spitzen Piken der Wachen draußen vor der Tür können sicher auch sehr schmerzhaft sein«, wandte der Fürst ein. »Alles schien mir ganz wirklich.«