Oh dear! Miss Mount und der Mord im Herrenhaus - Gilbert Adair - E-Book

Oh dear! Miss Mount und der Mord im Herrenhaus E-Book

Gilbert Adair

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Beschreibung

Weihnachten 1935. Ein verschneites Herrenhaus am Rande von Dartmoor in der englischen Graf­schaft Devon. Freunde des Hauses haben sich bei Colonel Roger ffolkes (sic!) zum Festessen versammelt – oben, im Dachgeschoss, liegt die Leiche von Raymond Gentry, einem Klatsch­kolumnisten und Erpresser. In seinem Herzen steckt eine Kugel. Aber die Tür zum Dachzim­ mer war von innen verschlossen, das einzige Fenster ist mit dicken Eisenstangen vergittert, und vom Täter oder seiner Waffe fehlt jede Spur. Glücklicherweise (wenngleich nicht für den Mörder) ist einer der Gäste an diesem Abend die fabelhafte Evadne Mount, erfolgreiche Au­torin zahlloser klassischer Krimis, ihre Speziali­tät: locked in mysteries. Wer also sollte geeigneter sein, den seltsamen Dachbodenmord zu lösen? Der unsympathische Scotland­-Yard­-Inspektor Trubshaw mit Schnauzbart und Pfeife? Eher un­wahrscheinlich.

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Oh dear!

Miss Mount und der Mord im Herrenhaus

Aus dem Englischen von Jochen Schimmang

Oktopus

Für Michael Maar

»Die wirkliche Welt ist nichts weiter

als die Gesamtsumme aller Wege,

die ins Nirgendwo führen.«

Raúl Ruiz

Erstes Kapitel

»So was kann man sich eigentlich nur in Büchern vor- stellen!«

Mit zitternder Hand zündete der Colonel seine Zigarre an und fügte dann hinzu: »Verd… noch mal, Evadne, es könnte eines von deinen sein!«

»Ah, ja!«, schnaubte die angesprochene Lady und rückte den Kneifer auf ihrer Nasenwurzel zurecht. »Das beweist nur, was ich mir schon lange gedacht habe.«

»Was soll das heißen?«

»Dass du geschwindelt hast, als du mir erzähltest, wie sehr du meine Sachen magst.«

»Geschwindelt? Also, von allen …«

»Wenn du meine Romane wirklich lesen und nicht nur so tun würdest, Roger ffolkes, würdest du wissen, dass ich nie etwas mit verschlossenen Räumen mache. Das überlasse ich John Dickson Carr.«

Der Colonel überlegte offenkundig, wie er sich am besten aus der Klemme befreien konnte, in die er sich hineingeredet hatte, als seine Tochter Selina, die bis zu diesem Augenblick, das Gesicht in den Händen vergraben, neben ihrer Mutter auf dem Sofa gesessen hatte, die beiden plötzlich aufschrecken ließ und schrie: »Um Gottes willen, ihr zwei, jetzt hört doch auf! Ihr seid einfach widerlich, wenn ihr euch benehmt, als ob wir hier ein Mörderspiel machen! Ray liegt da tot« – sie machte eine theatralische Geste irgendwie in Richtung Dachgeschoss –, »mitten ins Herz geschossen! Habt ihr denn überhaupt kein Gefühl?«

Diese letzten Worte waren vernehmlich in Großbuchstaben gesprochen: HABTIHRDENNÜBERHAUPTKEINGEFÜHL? Es stimmte zwar, dass Selina möglicherweise der falschen Berufung gefolgt war, als sie sich für das Studium der Kunst statt für die Bühne entschieden hatte, aber in dieser Situation konnte niemand an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln. Sie hatte eben erst aufgehört zu schluchzen, eine gute halbe Stunde nachdem die Leiche gefunden worden war. Und obwohl er und seine Frau alles getan hatten, was sie konnten, um sie zu trösten, hatte der Colonel in der Erregung und Verwirrung, die dieser Fund ausgelöst hatte, schon vergessen, wie stark die Gefühle waren, die seine Tochter für das Opfer hegte. Seine gesunden, rötlichen Gesichtszüge nahmen jetzt einen ziemlich schuldbewussten Ausdruck an.

»Sorry, mein Herz, sorry. Ich war reichlich gedankenlos. Es ist nur – also, dieser Mord ist so merkwürdig, da komme ich nicht so schnell drüber weg!« Er legte seinen Arm um ihre Schulter. »Verzeih mir, bitte verzeih mir.«

Dann, bezeichnend für ihn, schweiften seine Gedanken wieder ab.

»Hab noch nie im wirklichen Leben von einem Mord im verschlossenen Raum gehört«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Das sollte man eigentlich der Times schreiben.«

»Also wirklich, Vater!«

Während die Frau des Colonels ihrer Tochter weiterhin ohne große Wirkung das Knie tätschelte, schwebte Donald, der junge Amerikaner, den Selina an der Kunstschule kennengelernt hatte, beflissen über ihr. Aber er war einfach zu schüchtern, um zu tun, wonach er sich ganz gewiss sehnte: sie zärtlich in seine Arme zu nehmen. (Es handelte sich übrigens um Donald Duckworth, ein recht unglücklicher Name, was seine Eltern aber noch nicht wissen konnten, als sie ihn 1915 tauften.)

In Wahrheit war der Colonel keineswegs der einzige herzlose Übeltäter. Obwohl man gerechterweise sagen musste, dass in diesem Moment jeder Mitgefühl mit Selina hatte, einige ausdrücklich und andere im Stillen, kam man nicht um die Tatsache herum, dass von der ganzen Gesellschaft im Haus nur sie allein den Toten wirklich betrauerte. Selbst wenn ihre Aufmerksamkeit nicht von den erstaunlichen Begleitumständen des Verbrechens in Anspruch genommen worden wäre, hatten alle anderen ohne Ausnahme ihre ganz persönlichen Gründe, nicht zu viel Zeit auf konventionelle Bekundungen des Bedauerns über Raymond Gentrys Abschied von dieser Welt zu verschwenden. Kurz gesagt, niemand war bereit, Krokodilstränen zu vergießen, und nur Selina ffolkes vergoss echte.

Wenn deshalb ein Fremder am Morgen dieses zweiten Weihnachtstages in den holzgetäfelten Salon von ffolkes Manor gekommen wäre – in diese unauslöschlich männliche Aura, so durchdringend wie das Aroma der Zigarren des Colonels und etwas feminisiert nur durch eine Anzahl zierlicher Porzellanfiguren von Royal Doulton und die Petit-Point-Stickerei auf den Sesseln –, hätte er sicher die eindringliche Atmosphäre des Schreckens und der Angst gespürt. Aber er wäre auch irritiert gewesen durch das eigentliche Ausbleiben persönlicher Trauer.

Die Standuhr hatte eben Viertel nach sieben geschlagen. Die Diener, dicht aneinandergedrängt, waren schon in ihrer Uniform, während die Gäste noch ihre Nachtgewänder trugen – das heißt mit Ausnahme von Cora Rutherford, der Bühnen- und Filmschauspielerin, eine von Mary ffolkes’ ältesten Freundinnen. Sie trug ein auffälliges purpurgoldenes Kleid, das sie »Kimono« nannte und von dem sie behauptete, das gebe es »exklusiv« nur in Paris. Sie war es, die als Nächste das Wort ergriff.

»Warum tut nicht einer von euch Männern irgendetwas?«

Der Colonel sah jäh auf.

»Beherrsch dich, Cora«, warnte er sie. »Das ist jetzt nicht die Zeit, um die Nerven zu verlieren.«

»Herrgott noch mal, Roger, du Dummkopf«, antwortete sie in ihrem üblichen Ton herzlicher Verachtung. »Meine Nerven sind aus dickerem Stahl als deine.«

Als ob sie das demonstrieren wollte, holte sie ein schmales Zigarettenetui aus genarbtem Leder aus einer der Taschen ihres Kimonos, zog eine Zigarette heraus, steckte sie in eine schwarze Elfenbeinspitze, zündete sie an und sog tief den Rauch ein: das alles mit Fingern, die so ruhig waren, wie die des Colonels zittrig gewesen waren.

»Ich habe bloß gemeint«, fuhr sie gelassen fort, »dass wir nicht einfach ruhig sitzen bleiben können mit einer Leiche da oben über unseren Köpfen. Wir müssen uns etwas überlegen.«

»Gut, aber was?«, fragte der Colonel. »Farrar hat versucht anzurufen – wie oft, Farrar?«

»Etwa ein halbes Dutzend Mal, Sir.«

»Richtig. Die Leitungen sind zusammengebrochen und werden das vermutlich noch eine ganze Weile bleiben. Und wie du selbst bestens hören kannst, tobt der Schneesturm, der sie niedergemacht hat, da draußen noch immer. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Wir sind eingeschneit. Völlig abgeschnitten – wenigstens, bis der Sturm ein Ende gefunden hat. Die nächste Polizeistation ist mehr als dreißig Meilen weg von hier, und die einzige Straße, die dort hinführt, dürfte unpassierbar sein.«

Mit einem verstohlenen Seitenblick auf Selina schloss er:

»Und schließlich ist es nicht so, dass – also, ich meine, unser weihnachtliches Beisammensein ist ohnehin ruiniert und so weiter, und das ist alles unerfreulich, für jeden von uns, aber es ist nicht so, als ob der Leichnam – als ob er einfach weggehen könnte. Ich fürchte, wir müssen das aussitzen, so lange, wie es dauern wird.«

Das war der Augenblick, in dem sich aus dem Armsessel am Kamin, in dem sie sich eingerichtet hatte, behaglich und gestaltlos in ihrem wollenen Morgenmantel, Evadne Mount meldete, die Romanautorin, die wir schon kennengelernt haben, und zum Colonel mit einer gewissen Dringlichkeit in ihrer wenig weiblichen Stimme sagte: »Weißt du, Roger, ich frage mich, ob wir uns das leisten können.«

»Was?«

»Es einfach auszusitzen, wie du es genannt hast.«

Der Colonel warf ihr einen spöttischen Blick zu.

»Und warum nicht?«

»Nun, wir wollen mal überlegen, was hier passiert ist. Vor einer halben Stunde hat man Raymond Gentrys Körper tot in der Dachkammer gefunden. Du musstest die Tür aufbrechen, Roger, um zu ihm zu gelangen, eine Tür, die von innen verschlossen war mit einem Schlüssel, der immer noch im Schloss steckte. Und als ob das nicht genug wäre, war das einzige Fenster da oben verriegelt. Also kann beim besten Willen niemand in die Dachkammer eingedrungen sein – aber irgendjemand hat es getan –, und einmal drin, kann niemand wieder hinausgelangt sein – aber es gibt keinen Zweifel, dass jemand es geschafft hat, genau das zu tun.

Nun beschäftige ich mich, wie ich dir schon gesagt habe, Roger, nicht mit Morden in verschlossenen Räumen. Ich habe neun Romane und drei Theaterstücke geschrieben – mein letztes, Die falsche Stimme, läuft in diesem Moment im West End mit Riesenerfolg im vierten Jahr – Agatha Christie soll das bitte erst mal nachmachen! –, und in nicht einem davon geht es um einen Mord in einem abgeschlossenen Raum. Also kann ich nicht so tun, als hätte ich den leisesten Schimmer, wie dieser Mord ausgeführt wurde.

Aber, fuhr sie nach einer Pause von ein, zwei Sekunden fort, sichtlich beherrscht, damit ihre nächste Feststellung die größtmögliche Wirkung auf die Zuhörer hatte, »ich weiß, wer es getan hat.«

Tatsächlich war die Wirkung durchschlagend. Im Raum wurde es totenstill. Einige Sekunden vergingen, in denen die Zeit stillzustehen schien und nichts geschah. Die Diener hörten mit ihrem nervösen Schlurfen und Scharren auf. Cora Rutherford hörte auf, die makellos manikürten Finger auf dem durchsichtigen Rand ihres gläsernen Aschenbechers eine Pirouette tanzen zu lassen. Selbst die Standuhr hörte auf zu ticken – oder tickte gleichsam auf Zehenspitzen.

Die Stille wurde schließlich ganz trivial von dem plötzlich ausbrechenden schniefenden Geheul des tollpatschigen Aushilfsdienstmädchens Adelaide beendet, von den anderen Dienstmädchen Drüsen-Addie genannt, die schon in Tränen ausbrach, wenn ein Hut zu Boden fiel – oder wenigstens eine Porzellantasse. Aber Mrs Varley, die Köchin, machte dem mit einem deutlichen »Pssst!« ein Ende, und jeder wandte sich Evadne Mount zu.

Es war der Colonel, der die schicksalhafte Frage stellte.

»Ach so, du weißt es also. Dann erzähl es uns. Wer hat es getan?«

»Einer von uns.«

Merkwürdigerweise gab es keinerlei indignierte Äußerung des Protestes, von der sie geglaubt haben mochte, dass sie auf eine so dramatische Behauptung folgen würde. Im Gegenteil, es sah so aus, als ob die Logik dieser Feststellung alle als unwiderlegbar überzeugt hätte, auf der Stelle und jeden zur gleichen Zeit.

»Ich weiß, dass dieses Haus direkt am Rand von Dartmoor liegt«, fuhr sie fort, »und vermutlich habt ihr alle bereits über entlaufene Sträflinge phantasiert. Und es stimmt in der Tat, dass wir, wo die Telefonleitungen zusammengebrochen sind, nicht wissen können, ob nicht tatsächlich ein Ausbrecher durch die Gegend streift. Aber was mich anbelangt, so kommt das nicht infrage. Wie die Weiße Königin bin ich imstande, vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge zu glauben – oder besser, nach dem Frühstück«, korrigierte sie sich, »denn ich bin überhaupt nicht da, bevor ich nicht meinen Kaffee getrunken habe. Und als eifrige Leserin der Krimis meines lieben Freundes John Dickson Carr bin ich auch imstande zu glauben, dass sich jemand in diesem verschlossenen Zimmer zuerst materialisiert und später dematerialisiert und dazwischen Raymond Gentry getötet hat, und das alles ohne übernatürliches Einwirken. Meine Güte, ich muss es glauben, denn es ist schließlich passiert!

Aber keiner wird mir je einreden können, dass ein Häftling aus seiner Zelle in Dartmoor entwichen ist, raus aus dem ausbruchssichersten Gefängnis im ganzen Land, dann im heulenden Schneesturm quer durch die Moore geflüchtet ist, in dieses Haus eingedrungen, ohne dass einer von uns ihn gehört hätte, den armen Gentry in die Dachkammer gelockt und ihm da ein Ende bereitet hat, dann wieder raus ist, ohne die Tür oder das Fenster zu beschädigen, und sich in den Sturm davongeschlichen hat! Nein, da ist für mich Schluss – im Leben und im Roman. Wie man’s auch immer betrachtet, dieser Mord war das, was die Polizei einen inside job nennt.«

Wieder herrschte Schweigen, wieder setzten sich ihre Worte bei jedem heimtückisch fest. Sogar Selina nahm die Hände von ihrem verweinten Gesicht, um zu schauen, wie jeder Einzelne darauf reagiert hatte. Und wieder war es der Colonel, der als Erster sprach, breitbeinig vor dem großen, lodernden Kamin stehend und in einer Haltung, die bedrohlich an Charles Laughton in seiner Rolle als Heinrich VIII. erinnerte.

»Also, Evadne, ich muss sagen, das ist nun ein ganz heißes Eisen, das du eben angefasst hast.«

»Ich musste geradeheraus sein«, sagte sie in einem Ton, der nicht nach Entschuldigung klang. »Du selbst hast uns vorhin ermahnt, den Tatsachen ins Auge zu sehen.«

»Was du gerade ausgebreitet hast, war eine Theorie, keine Tatsache.«

»Kann sein. Aber wenn hier sonst jemand« – ihre Blicke schweiften einmal durch den Salon –, »wenn sonst jemand einen einleuchtenderen Schluss aus dem ziehen kann, was wir wissen, will ich das gern hören.«

Mary ffolkes, die bis dahin kein Wort gesagt hatte, wandte sich plötzlich ihr zu und rief: »Oh, Evie, du musst dich irren, das musst du einfach! Wenn es wahr wäre, dann wäre das – das wäre einfach zu grauenhaft, um darüber nachzudenken!«

»Tut mir leid, altes Mädchen, aber gerade weil es so grauenhaft ist, müssen wir darüber nachdenken. Darum habe ich gesagt, wir können es uns nicht leisten, hier herumzulungern, bis der Sturm aufhört. Allein die Idee, dass wir alle hier sitzen und uns fragen, wer von uns … mein Gott, ich muss nicht weiterreden, oder? Ich weiß sehr wohl, was solche gegenseitigen Verdächtigungen anrichten können.

Es war das Thema meines ersten Romans, Das Geheimnis des grünen Pinguins, wenn ihr euch erinnert, in der eine Frau so besessen ist von dem Gedanken, dass ihre Nachbarin langsam ihren verkrüppelten Mann vergiftet, dass ihr eigener Mann, zum Wahnsinn getrieben von ihrem zwanghaften Spionieren und Schnüffeln und Spürhundspielen, schließlich Amok läuft und ihr den Schädel mit einem antiken Messingdings aus Benares spaltet. Und natürlich stellt sich am Ende heraus, dass die Nachbarin völlig unschuldig ist.

Also, ich will nicht behaupten, dass so etwas auch hier passieren wird. Aber es muss etwas getan werden. Und zwar schnell.«

Vom äußersten Ende des Salons, wo er steif unter seinen anderen Kollegen aus der Dienerschaft gestanden hatte, trat nun Chitty, der Butler des Colonels – ein Mann, der es selbst zu so unchristlicher Stunde verstand, die Butlerwürde aufrechtzuerhalten –, einen Schritt nach vorn, presste die Faust an die Lippen und ließ ein verlegenes Hüsteln hören. Es war die Art Geräusch, die Stückeschreiber in ihren Regieanweisungen als »ahem« anzugeben pflegen, und in der Tat konnte man die beiden Silben »a« und »hem« in Chittys Hüsteln hören.

»Ja, Chitty«, sagte der Colonel, »was gibt’s?«

»Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Sir«, sagte Chitty umständlich, »mir fiel ein, dass – also …«

»Nun los, sprechen Sie doch weiter, Mann!«

»Nun, Sir. Chefinspektor Trubshawe, Sir.«

Die Miene des Colonels hellte sich sofort auf.

»Natürlich, ich glaube, da ist was dran! Trubshawe, natürlich!«

»Trubshawe? Den Namen kenne ich«, sagte Doktor Rolfe, der praktische Arzt des Ortes. »Ist das nicht der pensionierte Scotland-Yard-Mann? Vor zwei oder drei Monaten hierhergezogen?«

»Genau der. Witwer. Ein bisschen einsiedlerisch. Ich habe ihn zu der Party eingeladen – als guter Nachbar, versteht sich. Er sagte, er ziehe es vor, Weihnachten allein zu verbringen. Aber wenn man erst mal mit ihm spricht, ist er ein ganz umgänglicher Bursche – und er war wer ganz oben im Yard. Guter Gedanke, Chitty.«

»Danke, Sir«, murmelte Chitty mit sichtbarer Befriedigung, bevor er geräuschlos wieder seinen Platz einnahm.

»Das Problem ist«, fuhr der Colonel fort, »dass Trubshawes Cottage sechs oder sieben Meilen die Postbridge Road hinunter liegt. Beim Bahnübergang. Selbst bei diesem Sturm sollte es aber für irgendwen machbar sein, da hinzukommen und ihn hierherzubringen.«

»Colonel?«

»Ja, Farrar?«

»Wäre das nicht eine Belästigung? Zu dieser Stunde. Und dann noch zu Weihnachten. Schließlich ist er wirklich im Ruhestand.«

»Ein Polizist ist niemals wirklich im Ruhestand, nicht einmal nachts«, widersprach der Colonel. »Wenn mich nicht alles täuscht, käme ihm ein bisschen Aufregung gerade recht. Er muss sich ja zu Tode langweilen, wenn er den ganzen Tag keinen zum Reden hat außer einem blinden alten Labrador.«

Er riss sich aus seiner bisherigen Unbeweglichkeit los und wandte sich jedem der Männer zu, die im Salon standen, saßen oder sich lümmelten.

»Irgendwer bereit, sich auf den Weg zu machen?«

»Ich werde fahren«, sagte der Doktor, bevor auch nur irgendjemand sonst etwas sagen konnte. »Mein alter Klapperkasten verträgt noch das mieseste Wetter. Um ehrlich zu sein, er ist dran gewöhnt.«

»Lassen Sie mich mitkommen«, sprang ihm Don sofort zur Seite.

»Danke. Ich denke, ich brauche einen kräftigen Beistand, wenn er bockt.«

»Wenn Sie Muskeln brauchen, Doktor«, sagte Don und warf – als er halb scherzhaft seinen Bizeps aufpumpte – einen hoffnungsvollen Blick zu Selina hinüber, »dann bin ich Ihr Mann!«

»Gut, gut. Also, wenn wir fahren wollen, dann jetzt gleich.«

Dann beugte sich Henry Rolfe über den Armsessel, in dem seine Frau Madge saß, ihre unbestrumpften Beine wie bei einer Katze unter sich verschlungen, und küsste sie geziert auf die Stirn.

»Bitte, Liebling«, sagte er, »ich möchte nicht, dass du dir Sorgen um mich machst. Mir passiert nichts.«

Madge Rolfe, die immer so aussah, als sei die größte Sorge ihres Lebens die, wie lange sie warten musste, bis irgendein schmachtender Salonlöwe ihr Feuer für die nächste Zigarette gab, trug das alles mit bezaubernder Fassung und schenkte ihm für seinen Kuss nicht mehr als ein blasses Lächeln.

Als er, gefolgt von Don, aus dem Raum stiefelte, wünschte jeder den beiden viel Glück. Dann klatschte der Colonel auf orientalische Art in die Hände, bot so viel grimmige Munterkeit auf, wie es ihm unter den gegebenen Umständen noch zulässig schien, und fragte: »Hat irgendwer außer mir noch Lust auf ein kleines Frühstück?«

Zweites Kapitel

Es war ein paar Minuten nach neun am selben Morgen, als man hörte, wie ein Auto auf dem Vorplatz vor der Verandatür vorfuhr, und ein rascher Blick zwischen den schweren Samtvorhängen des Salons hindurch bestätigte, dass es das von Dr. Rolfe war. Es sickerte durch (so, wie es die Hausgemeinschaft beschrieben bekam), dass vor allem die Hinfahrt ein Albtraum gewesen war. Nach dem, was der Doktor erzählte, war sein Rover auf lebensgefährliche Art und Weise von einer Schneewehe in die nächste geschlittert, und der arme Don schien mehr Zeit damit verbracht zu haben, ihn zu schieben, als in ihm gefahren zu werden. Trotz allem hatten sie es schließlich bis zu Trubshawes Cottage geschafft. Zum Glück war er schon auf, saß am Kamin und wiegte einen Becher heißer Schokolade in seinen Händen – vielleicht wiegte er in seinem Herzen auch die eine oder andere einsame Erinnerung –, während Tobermory, sein alter Labrador, auf Trubshawes von Pantoffeln gewärmten Füßen döste.

Zuerst einmal musste der Chefinspektor seine verständliche Überraschung überwinden, nicht nur im Morgengrauen eines eisigen Dezembertages, sondern dazu auch noch am zweiten Weihnachtstag zwei Fremde an seiner Haustür vorzufinden. Nachdem er das verdaut hatte, war er erneut höchst überrascht, als er hörte, was der Grund für diesen Besuch war. Aber einmal Polizist, immer Polizist: Er willigte ohne Zögern ein, mit den beiden nach ffolkes Manor zurückzufahren. In der Tat mochte der Colonel nicht ganz unrecht gehabt haben, als er prophezeite, dass Trubshawe in seinem neuen, völlig ereignislosen Leben, nach vier Jahrzehnten ehrwürdigen Dienstes beim Yard, einen Schuss Aufregung durchaus willkommen heißen würde. Don berichtete, er habe in seinen Augen ein erregtes Flackern ebenso wahrgenommen wie eine gespannte und beinahe katzengleiche Munterkeit, als Rolfe und er einen knappen Überblick über die seltsamen Ereignisse des Morgens gaben.

Nachdem sie in der düsteren Diele angekommen waren, entledigten sich die drei ihrer Mäntel, Schals und Handschuhe. Schließlich, als sich der Chefinspektor energisch den Schnee aus dem Seehundschnurrbart wischte, schüttelte Tobermory, der nicht hatte allein gelassen werden können, weil zu diesem Zeitpunkt keiner genau wissen konnte, wann sein Herrchen wieder nach Hause kommen würde, seinen unförmigen Körper einmal unerwartet heftig und trottete dann in den Salon, wo er, nach einem kurzen, desinteressierten Blick auf die dort Versammelten, vor dem Kamin in sich zusammensackte und sofort seine schleimtrüben Augen schloss.

Die Gesellschaft, das muss gesagt werden, war in den zurückliegenden Stunden mehr als trübsinnig geworden. Selina ffolkes hatte sich ein paar Minuten nach dem Aufbruch des Doktors ins Bett zurückgezogen oder wenigstens in ihr Schlafzimmer, und mit Ausnahme von Chitty, dessen Idee es gewesen war, den Chefinspektor zu holen, sodass es undankbar gewesen wäre, ihm das Schauspiel von dessen Ankunft nicht zu gönnen, war das gesamte Personal – der Koch, die beiden Hausmädchen, das Aushilfsmädchen und der Gärtner-Chauffeur-und-Mädchen-für-alles – in die Küche zurückgeschickt worden, weil der einzige Beitrag, den insbesondere die drei Mädchen zu der Situation leisteten, ein nervöses Geschnatter gewesen war, von dem man nicht annehmen konnte, dass es in absehbarer Zeit nachlassen würde.

Was die Gäste der ffolkes’ betraf, die nicht wussten, ob sie in ihre Zimmer nach oben gehen oder im Salon warten sollten, hatten sich alle dafür entschieden – alle außer Selina, versteht sich –, an Ort und Stelle zu bleiben.

»Dafür entschieden« ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Obwohl niemand, nicht einmal der Colonel, sich anmaßte, eine entsprechende Anordnung zu geben, herrschte bei der ganzen Gesellschaft die unausgesprochene Empfindung, dass, so beschämend es auch sein mochte, in Morgenmänteln herumsitzen zu müssen, mit zerzaustem Haar und ohne Make-up, es doch klüger war, wenn sie sich alle im Blick behielten, bis dieser Trubshawe eintraf, wenn er denn jemals eintraf. Natürlich vertraute jeder vorbehaltlos den anderen Gästen und den Gastgebern, alles alte, liebe und enge Freunde. Aber, konnte man sie förmlich denken hören, wenn Evie wirklich recht hatte …

Da die Zeit so langsam verging, wie sie es immer tut, wenn man sich wünscht, dass sie fliegt, hatte Madge Rolfe eine Partie Bridge vorgeschlagen, um die Zeit bis zur Rückkehr ihres Mannes totzuschlagen – eine Zeit, die einige Stunden betragen konnte, wie jeder wusste. Und weil Mary ffolkes es schon lange aufgegeben hatte, mit ihrem cholerischen Gatten Bridge zu spielen, war es Madge selber, die mit dem Colonel zusammenspielte, während Evadne Mount den Vikar als Partner hatte.

Aber es war ein Spiel ohne Saft und Kraft geworden, bei dem, enttäuschend für alle, die gegenseitige Kabbelei fehlte, an der jeder sonst insgeheim seine Freude hatte. Es war klar, dass sie spürten, wie geschmacklos und wie taktlos es gewesen wäre, wenn sie sich in einer ihrer krakeelenden und fetzigen Streitigkeiten ergangen hätten. Deshalb legten sie die Karten mit unverhohlener Erleichterung beiseite, als endlich der ausgesandte Spähtrupp mit dem Chefinspektor im Schlepptau auftauchte.

Von Don und Rolfe flankiert, betrat der stämmige Ex-Scotland-Yard-Mann den geräumigen Salon, dessen Helligkeit und Wärme ihn unmittelbar nach dem Dämmer der engen Diele einmal kurz blinzeln ließen.

Der Colonel machte ein paar Schritte auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ah, Trubshawe, man hat Sie also heil hierhergebracht? Hören Sie, es tut mir wirklich leid, alter Knabe, dass ich Sie am Weihnachtstag von Heim und Herd weghole – und was für ein mieser Weihnachtstag, oder? Aber wir waren wirklich mit unserem Latein am Ende – wir wussten einfach nicht mehr, was …«

Der Chefinspektor ergriff die Hand des Colonels und drückte sie so kräftig, dass dieser unwillkürlich zusammenzuckte. Dann nahm er das halbe Dutzend Gäste in Augenschein, das am Kaminfeuer saß – dessen Flackern ihren müden, leicht verängstigten Augen einen Anschein von Lebendigkeit verlieh –, wobei sein eigener scharfsichtiger Blick auf jedem von ihnen nur ein paar Sekunden verweilte.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte er, während er geistesabwesend eine seiner buschigen Augenbrauen zwirbelte. »Ich sehe ja selber, dass Sie Hilfe holen mussten, wo immer Sie sie bekommen konnten. Klingt nach einer sehr unangenehmen Angelegenheit.«

»In der Tat, in der Tat. Aber nun kommen Sie doch erst mal rein, direkt an den Kamin. Wärmen Sie sich die Hände auf.«

»Danke. Das mache ich«, antwortete er und ging unter angedeuteten leichten Verbeugungen, die den versammelten Damen galten, zum Kamin hinüber.

»Meine Damen«, sagte er leise und tauchte beinahe seine Fingerspitzen in die Flammen.

Dann drehte er sich zum Colonel um und setzte hinzu: »Ich glaube trotzdem, ich sollte jetzt direkt an den Ort des Verbrechens geführt werden.«

»Soll ich Sie nicht erst vorstellen?«

»Nein – bitte.«

Er wandte sich an die anderen.

»Ich möchte nicht unhöflich sein, meine Damen – und Herren«, nickte er wieder und bezog diesmal beide Geschlechter ein, »aber in Anbetracht der extremen Schwere des Falles gilt: das Wichtigste zuerst. Die Leiche, würde ich sagen.«

»Ja, natürlich, Sie wollen den Leichnam sehen«, sagte der Colonel. »Sicher, sicher, wenn Sie eben mitkommen wollen. Aber, Sie verstehen, es ist ein bisschen seltsam, wenn Sie sich noch nicht einmal bekannt gemacht …«

»Die Leiche zuerst«, beharrte der Chefinspektor.

»Wie Sie meinen, ja. Sie – ich meine die Leiche –, sie ist immer noch oben in der Dachkammer. Wir haben sie – wir haben ihn – genau so liegen gelassen, wie wir ihn vorgefunden haben. Wenn Sie mir folgen wollen.«

»Danke. Und vielleicht sollten Sie sich uns anschließen, Mr Duckworth? Sie waren ja beim Colonel, als er die Dachkammer aufbrach.«

»Ja, sicher, selbstverständlich«, betonte Don mit Nachdruck. »Ich habe Ihnen im Auto alles erzählt, was ich weiß, aber sicher, wenn Sie meinen.«

»Es könnte auch von Nutzen sein, wenn Farrar mit uns käme«, warf der Colonel ein. »Um Notizen zu machen. Was meinen Sie, Chefinspektor? Er ist mein Sekretär und mein Verwalter. Sehr guter Mann.«

»Damit habe ich kein Problem. Obwohl ich meine eigenen Notizen zu machen pflege« – er tippte sich an die Stirn –, »im Kopf, wenn Sie verstehen. Aber gut, warum nicht.«

Die kleine Gruppe wurde dann in die Empfangshalle geführt, einen zugigen, gut proportionierten Raum mit hoher Decke, den man allerdings auch schon ohne den unheilvollen Einfluss der aktuellen Tragödie düster gefunden hätte. An den Wänden hatte der Colonel die ausgestopften Häupter jeder erdenklichen Wildtierart angebracht, vom Hirsch aus den Highlands mit seinem prachtvollen Geweih über einen gewaltigen grauen Elefanten aus dem indischen Hügelland bis zu einer gemischten Schar kleinerer und verspielterer Kreaturen, jede von ihnen eine Reminiszenz an seine Reisen in glücklicheren Zeiten. Ganz oben an der breiten mittleren Treppe, die sich in beiden Richtungen in zwei von Geländern gesäumten Galerien fortsetzte, stand eine ägyptische Mumie in ihrem grellvergoldeten Sarg, und als der Colonel Trubshawe daran vorbeiführte und das irritierte Interesse wahrnahm, das der Polizist für einen Augenblick zeigte, bemerkte er:

»Gehört meiner Frau. Ist ihr von irgendeinem Cousin geschenkt worden, der Archäologe ist. Er – wie soll ich das sagen? –, er, äh, hat sie bei einer Ausgrabung in Luxor geborgen, die er geleitet hat im Jahr – warten Sie –, müsste 31 gewesen sein.«

Er unternahm dann eine seiner typischen halbherzigen Bemühungen, die Situation etwas zu entspannen.

»Wie gesagt, es ist die Mumie meiner Frau. Man könnte sie auch meine Schwiegermumie nennen. Hahaha!«

»Sehr amüsant«, sagte Trubshawe höflich.

(Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war das ein Witz, den Roger ffolkes ausnahmslos jedem Fremden gegenüber machte, der die Schwelle seines Hauses überschritt, und inzwischen war er so alt und brüchig geworden wie die Mumie selbst.)

Der Colonel nahm die rechter Hand gelegene Galerie und ging an zwei Gästeschlafzimmern vorbei, die durch ein gemeinsames, zwischen ihnen liegendes Badezimmer miteinander verbunden waren, bog dann erneut nach rechts in einen engen Flur, an dessen Ende eine Wendeltreppe nach oben auf den spartanischen Steinkorridor führte, wo die Dienerschaft in verschiedenen Räumen untergebracht war. Dort, wie ein Geschenkband, dessen festliche Schnörkel glatt gebügelt worden sind, begradigte sich die Treppe und lief in eine kleine Flucht von Stufen aus, an deren oberem Ende, der letzten Stufe gegenüber, sich bedrohlich die Tür der Dachkammer abzeichnete.

Schon bevor der Chefinspektor die letzte Stufe erreicht hatte, konnte er sehen, dass in der Kammer ein abscheuliches Verbrechen verübt worden war. Nicht nur, dass die Tür gewaltsam aufgebrochen worden war, sie war auch durch ein großes, unbewegliches Objekt blockiert, das sie nicht weiter als einen Spaltbreit geöffnet sein ließ, ein Objekt, das nur zu offensichtlich ein menschlicher Leichnam war, der auf dem Boden so zufällig angeordnet lag wie ein Würfelwurf. Und unter der Tür hatte ein Rinnsal geronnenen Bluts einen Fleck von unangebracht lebhafter Farbe auf den düsteren Steinfliesen des Treppenabsatzes gebildet.

Trubshawe verschwendete auf das Blut keine Zeit. Behutsam, als wolle er den Leichnam nicht mehr als unbedingt nötig stören, und doch entschlossen, weil er andernfalls überhaupt nicht in das Zimmer gekommen wäre, stieß er die Tür mit der Schulter so weit wie möglich auf, stieg über die nun sichtbaren Überreste von Raymond Gentry hinweg und betrat den Raum.

Die Dachkammer war von einer kahlen, zellenähnlichen Schlichtheit, mehr hoch als lang, außer dort, wo die Decke auf die halbe Höhe der vom Chefinspektor am weitesten entfernten Wand abfiel. Und sie war spärlich ausgestattet. Die Möblierung bestand alles in allem aus einem reichlich angeschlagenen Holztisch und dem dazugehörigen klapprigen Stuhl mit einer Binsensitzfläche sowie einem traurigen, einsamen Armsessel in der Ecke. Das Gewebe des Letzteren, das man einstmals vielleicht als Chintz bezeichnet hätte, war inzwischen so abgenutzt, dass eine gelblichweiße Füllung unappetitlich aus dem ausgeblichenen Bezug hervortrat und der Chintz selbst so abgewetzt war, dass es beinahe unmöglich schien, sich das ursprüngliche Muster vorzustellen.

Außerdem befand sich über und hinter dem Sessel das einzige Fenster der Dachkammer, rechteckig und mit zwei eisernen Gitterstäben versehen.

Es war jedoch der Anblick des toten Raymond Gentry, der jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zog. Er trug die faszinierende Kombination eines rabenschwarzen Seidenpyjamas mit einem flauschigen weißen Frotteebademantel und lag ausgestreckt auf dem Boden, wobei seine kränklichen und unmännlichen Gesichtszüge in einer Grimasse unbeschreiblichen Schreckens verzerrt waren. Zwischen seinen Händen, die verzweifelt seinen Hals umspannten, flossen kleine Bächlein von Blut über die langen, spitz zulaufenden Finger, als wären es lauter exotische Rubinringe.

Trubshawe hockte sich hin, um den Leichnam zu untersuchen, und knöpfte behutsam Gentrys eingerissene und versengte Pyjamajacke auf, um die Schusswunde in Augenschein zu nehmen, was Don angewidert zurückschrecken ließ.

Dann richtete er sich wieder auf, zog eine knorrige alte Pfeife aus der Tasche, steckte sie kalt in den Mund und wandte sich an den Colonel.

»Ich nehme an«, sagte er ernst, »genau so haben Sie ihn gefunden?«

»Genau so. Nichts ist bewegt oder auch nur angerührt worden. Stimmt’s, Don?«

»Ähm … was?«, murmelte der junge Amerikaner, der noch immer reichlich durcheinander war, weil man ihn so brüsk mit den grausigen Details von Gentrys Schussverletzung konfrontiert hatte.

»Ich sagte, genau so haben wir ihn gefunden?«

»Ja, das stimmt. Genau so, wie er jetzt hier liegt, direkt an der Tür.«

»Schon tot?«, fragte der Chefinspektor.

»Oh ja«, sagte der Colonel. »Daran gibt’s keinen Zweifel. Wir haben den Doktor gerufen, damit er nach ihm sieht, aber da war nichts mehr zu machen. Nach dem, was Rolfe gesagt hat, war er gerade erst getötet worden. Was mir einleuchtet, weil ich den Schuss selbst gehört habe.«

»Verstehe«, sagte Trubshawe nachdenklich. »Gut, auf unserer Rückfahrt hat mir Mr Duckworth seine Version erzählt, wie Sie beide den Leichnam gefunden haben. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Colonel, möchte ich das Ihnen jetzt noch einmal erzählen, um sicher zu sein, dass es da keine Abweichungen gibt.«

»Ja, sicher. Schießen Sie los.«

»Also, wie ich von Mr Duckworth gehört habe, haben Sie sich gerade ein Bad eingelassen, als Sie den Schuss hörten.«

»Einen Schuss und dann einen Schrei. Einen Schrei, Chefinspektor, der mir wirklich bis ins Mark ging, und mit Schreien kenne ich mich aus.«

»Einen Schuss und einen Schrei, von dem Sie sofort wussten, dass er aus der Dachkammer kam. Ist das richtig?«

»Ja, ich hörte beide direkt über mir. Da wusste ich, dass sie nicht aus den Unterkünften der Dienerschaft kommen konnten, verstehen Sie, weil die Diener alle in benachbarten Zimmern auf dem gegenüberliegenden Flügel schlafen. Die Dachkammer ist der einzige Raum im Haus, der direkt über unserem Schlafzimmer liegt.«

»Also sind Sie sofort aus dem Schlafzimmer gestürmt …«

»Nun, nicht sofort. Ich musste mir erst ein paar mehr Sachen anziehen, als ich in dem Moment anhatte.«

»Nachdem Sie ein paar Sachen übergestreift hatten, sind Sie aus dem Schlafzimmer auf die Galerie gestürzt, dann diese Stufen hoch, die wir gerade hochgekommen sind, und …«

»Wenn ich noch einmal unterbrechen darf, Chefinspektor?«

»Ja, Colonel?«

»Damit wir in allen Punkten dasselbe sagen, denke ich, Sie sollten wissen, dass ich gerade anfing, die Treppe hochzusteigen, als ich mit Don zusammenstieß, dessen Schlafzimmer am nächsten an der Treppe liegt.«

»Genau. Das stimmt exakt mit dem überein, was Mr Duckworth mir erzählt hat. Dann haben Sie, wenn ich mich recht erinnere, beide Blut unter der Tür hindurchsickern gesehen und entschieden, dass Sie sofort die Tür aufbrechen mussten?«

»So ist es«, sagte Don. »Bei den ersten, weiß nicht, drei oder vier Versuchen, als wir uns mit den Schultern gegen die Tür warfen, hat sie sich kaum bewegt. Aber Sie sehen ja selbst, dass das Holz wirklich alt und morsch ist, einige Stellen sind sogar durchgefault – hier, sehen Sie mal, wenn Sie da mit dem Finger kratzen, bröckelt es einfach so weg –, also jedenfalls haben wir es schließlich geschafft, sie aufzukriegen. Aber auch dann konnten wir uns nur in den Raum hineinzwängen, indem wir über Gentrys Leiche stiegen.«

Während Don die Geschichte des Colonels ergänzte und bestätigte, beugte sich der Chefinspektor nach vorn, um die Tür genauer zu untersuchen. Dann richtete er sich wieder auf und sagte:

»Ich sehe obendrein, dass die Tür von innen verschlossen ist und der Schlüssel immer noch im Schloss steckt. Ist das auch so, wie Sie es vorgefunden haben?«

»Genau so!«, antwortete der Colonel. »Das ist das verdammt Merkwürdige an dieser Geschichte. Fenster verriegelt, Tür von innen abgeschlossen, Schlüssel steckt immer noch im Schloss! Von so einer Sache habe ich noch nie was gehört, wie der Schotte über die Kreuzigung sagte.«

»Und die Dachkammer war leer, als Sie sie betraten?«

»Vollkommen leer – abgesehen natürlich von Gentry hier. Ich will verflucht sein, wenn ich wüsste, wie er es gemacht hat – der Mörder, meine ich –, und ich nehme mal an, dass es ein Er ist. Ich habe unten schon vor ein paar Stunden gesagt, das ist die Art von Mord, die man eigentlich nur aus Büchern kennt. Der Witz ist der, dass unter unseren Gästen Evadne Mount ist. Die Krimiautorin, wissen Sie.«

»Ja«, sagte Trubshawe, »Mr Duckworth hat mir schon erzählt, dass sie hier ist. Ich war sehr beeindruckt.«

»Dann sind Sie ein Fan ihrer Bücher?«, fragte der Colonel.

»Nun, ich weiß nicht«, antwortete Trubshawe ausweichend, »ob ich mich einen Fan nennen würde. Sie selbst war nie dafür bekannt, ein Fan von Scotland Yard zu sein. Inspector Plodder – das wäre der Spitzname, den Sie mir aufhalsen würde, wenn ich das Pech hätte, in einem ihrer Bücher aufzutauchen. Ich wäre der Trottel, der sich anstrengen und die ganze Kleinarbeit leisten würde. Dann kommt so ein Schlauberger von Amateurdetektiv und …«

Eine Stentorstimme ertönte hinter ihm.

»Wenn Sie von meinem Amateurdetektiv sprechen, dann bleiben Sie wenigstens bei den Geschlechtern korrekt, Chefinspektor. Schlaubergerin, bitte, nicht Schlauberger.«

Auf der Schwelle stand, eingewickelt in ihren Morgenrock, der Inbegriff einer jener verrückten und unzähmbaren Damen aus den Home Counties, die so unverzichtbar zum Inventar der sanften und gewellten englischen Landschaft gehören wie Beduinenfrauen zur ebenso sanften und gewellten Wüste Sahara: Evadne Mount.

»Schlaubergerin?«, wiederholte der Chefinspektor, im Moment zu verblüfft, um den harschen Rüffel zu erteilen, den sie seiner Ansicht nach zweifellos dafür verdient hätte, ihm ohne seine Erlaubnis in die Dachkammer gefolgt zu sein.

»Wenn Sie, wie Sie vorzugeben scheinen, meine Bücher gelesen hätten«, sagte sie und stieß mit einem dicklichen Zeigefinger in seine Richtung, »und ganz egal, ob Sie sich zu meinen Fans rechnen oder nicht, sollten Sie wirklich den Namen meines Detektivs kennen.«

»Und der wäre?«

»Baddeley. Alexis Baddeley.«

»Ah ja, natürlich!«, rief Trubshawe. »Jetzt erinnere ich mich wieder an alles. Alexis Baddeley. Alleinstehende Dame – überragender Intellekt – in einem gewissen Alter, wie man so sagt. Wenn ich mich recht erinnere, war sie es, die in Faber oder Faber den Brudermord bei den eineiigen Zwillingen aufgeklärt hat?«

»Sie erinnern sich richtig. Es ist schon komisch. Ich hatte schon immer mal etwas mit dieser abgenutzten Konstellation mit eineiigen Zwillingen machen wollen. Als ich mich schließlich daranmachte, entschied ich mich getreu meinem Markenzeichen dafür, den Grundeinfall so weit wie gerade noch möglich zu strapazieren.«

»Verstehen Sie«, schwatzte sie weiter und bezog nun Don und den Colonel in ihre Ausführungen ein, »die beiden Hauptpersonen des Romans sind eineiige Zwillinge, die Brüder Faber – Kenneth und George. Sie sehen nicht nur gleich aus, sie kleiden sich auch gleich. Sie verständigen sich sogar in einer seltsam codierten Sprache, die außer ihnen keiner versteht, und spielen ihren Nachbarn, die selbstverständlich nicht in der Lage sind, sie auseinanderzuhalten, einen Streich nach dem anderen.«

»Aber ich …«

»Das Merkwürdigste ist«, fuhr die Autorin fort und schenkte Trubshawes Versuch, sie zu unterbrechen, keinerlei Aufmerksamkeit, »dass sie sich auch untereinander ständig streiten – der Leser erfährt bald, dass sie sich insgeheim gegenseitig verachten –, und als einer von beiden ermordet wird, ist es ziemlich klar, dass der andere es getan haben muss. Da aber der Überlebende von den beiden über seine Identität beharrlich schweigt, ist die Frage, der sich Alexis Baddeley gegenübersieht: Wer ist wer? Sie muss ihren ganzen herausragenden Intellekt bemühen, wie Sie es so freundlich ausgedrückt haben, Chefinspektor, um herauszufinden, ob Kenneth George ermordet hat oder George Kenneth.«

»Und wer war es?«, fragte Trubshawe, dem buchstäblich der Kopf schwirrte.

»Sie haben gesagt, dass Sie das Buch gelesen haben«, konterte Evadne Mount trocken. »Sie werden es mir erzählen.«

Er starrte sie beinahe grob an, bis er sich daran erinnerte, dass jetzt nicht die Zeit für literarische Reminiszenzen war.

»Miss Mount, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden, also nehme ich das selbst in die Hand. Mein Name ist Trubshawe, Chefinspektor Trubshawe. Oder ich sollte vielleicht sagen, Ex-Chefinspektor Trubshawe.«

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, antwortete die Autorin.

»Ganz meinerseits. In der Tat fühle ich mich geehrt. Dennoch muss ich darauf bestehen, dass Sie sofort wieder nach unten gehen zu den anderen Gästen. Dies ist kein Ort für eine Lady.«

Evadne Mount warf einen leidenschaftslosen Blick auf die Gestalt von Raymond Gentry am Boden.

»Papperlapapp. Ich kann nicht für meine Geschlechtsgenossinnen sprechen, aber ich selber bin sehr wohl in der Lage, einen toten Körper zu sehen, ohne in Ohnmacht zu fallen wie irgend so ein dummes Huhn. Und für mich als Autorin von Kriminalromanen könnte es lehrreich sein, den korrekten – wie nennt Scotland Yard das? Prozess? –, nein, das korrekte Vorgehen bei der Aufklärung zu verfolgen, oder?

Und außerdem, wie Roger gerade bemerkte, ist dies die Art von Verbrechen, von der man glaubt, es gebe sie nur in Büchern, und es ist, nebenher bemerkt, eine meiner Theorien, dass es auch im richtigen Leben rätselhafte Mordfälle gibt, die wir Schriftsteller eher aufklären können als ihr Polizisten. Natürlich erwarte ich von Ihnen nicht, dass Sie diese Ansicht teilen, aber sicher stimmen Sie zu, wenn ich sage: Je mehr, desto besser.«

»Je mehr, desto besser, sagen Sie?«, sagte der Chefinspektor nachdenklich. »Finden Sie nicht, dass das ein etwas unglücklicher Satz ist, wenn man ein paar Schritte von einer Leiche entfernt steht? Und da wir bei dem Thema sind, Colonel, muss ich Ihnen Folgendes sagen: Einerseits habe ich sehr wohl den Schrecken und die Angst gespürt, die jede Gruppe ehrbarer Bürger erfährt, wenn sie entdeckt, dass mitten unter ihnen ein brutaler Mord begangen wurde. Auf der anderen Seite ist es mir nicht entgangen, dass niemand von Ihnen vom Kummer über den Tod des jungen Mannes überwältigt worden ist.«

Auf Trubshawes Bemerkung hin wusste der Colonel zunächst nichts Rechtes zu antworten.

»Nun …«, murmelte er. »Es ist … es ist einfach … Geradeheraus, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Schließlich war der arme Kerl Ihr Gast.«

»Das ist es ja gerade. Er war es nicht.«

»Er war es nicht?«

»Ich fürchte, nein«, sagte der Colonel.

»Und was hatte er dann hier zu suchen?«

»Die Wahrheit ist die, Trubshawe: Ich bin Raymond Gentry nie zuvor in meinem Leben begegnet. Nicht, bis er am Heiligabend hier auftauchte. Er kam zusammen mit meiner Tochter Selina – und mit unserem Freund Don hier. Er war Selinas Gast, nicht meiner oder der von meiner Frau. Das war eine dieser Änderungen des Ablaufs in allerletzter Minute, die junge Leute so attraktiv finden, vermutlich weil sie sich dadurch besonders bohemienhaft und freigeistig vorkommen.

Ich bete meine Tochter an, wissen Sie, aber sie ist wie alle in ihrem Alter heute. Sie meint es nicht böse, aber sie denkt auch nicht daran, wie unpassend der eine oder andere ihrer ›amüsanten‹ spontanen Einfälle für die anderen sein kann. Als ich so alt war wie sie, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, meiner Familie zu Weihnachten einen Wildfremden aufzudrängen, irgendeinen jungen Mann, der nicht eingeladen worden war und den überhaupt keiner von uns je gesehen hatte.

Aber was will man machen, das ist die junge Generation. Der Chelsea-Set und so weiter. Sie tun, was ihnen passt, nicht wahr, und stecken dabei genauso in ihren eingefahrenen Gleisen wie wir in unseren. Und wenn Sie auch nur eine Andeutung machen, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie erst mal gefragt hätten, dann sind Sie gleich als engstirniger Pedant abgeschrieben.«

»Sie hat Sie nicht vorgewarnt?«

»Nicht im Geringsten.«

»Und dieser Raymond Gentry, hat der sich nicht unwohl gefühlt, als er sich unter lauter Leuten wiederfand, die ihre Abneigung gegen seine Anwesenheit nicht verhehlen konnten oder wollten?«

Der Colonel schnaufte laut.

»Gentry? Ha! Ich will Ihnen was sagen, Trubshawe, ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn ich erführe, dass die ganze Idee hierherzukommen ursprünglich von Gentry selbst stammte.«

»Aha. Ich merke, Sie haben – Sie hatten – für den jungen Mann nicht sehr viel übrig?«

»Nicht sehr viel übrig?«, sprudelte der Colonel hervor. »Gentry war der fieseste Kerl, den ich je kennenzulernen das Pech hatte. Wissen Sie, womit er sich seinen sogenannten Lebensunterhalt verdiente? Er war, jetzt raten Sie mal, professioneller Klatschkolumnist für dieses widerliche Schmierenblatt The Trombone. Also, tiefer kann man nicht sinken!

Ja, sicher, ich sehe natürlich, der Mann liegt tot zu unseren Füßen, aber es gab Zeiten, da war ich fast entschlossen, ihn mit der Peitsche aus dem Haus zu jagen und ihn die ganze Auffahrt hinunterzuschleifen. Und wenn man’s bedenkt: Hätte ich das wirklich in die Tat umgesetzt, wäre der junge Klugscheißer heute noch am Leben!«