Ohne den Vater: Erzählung aus dem Kriege - Agnes Sapper - E-Book
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Ohne den Vater: Erzählung aus dem Kriege E-Book

Agnes Sapper

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Beschreibung

Dieses eBook: "Ohne den Vater: Erzählung aus dem Kriege" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Agnes Sapper (1852-1929) war neben Johanna Spyri und Ottilie Wildermuth eine der erfolgreichsten und meistgelesenen deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Ihr mit Abstand größter Erfolg gelang Sapper 1907 mit dem Roman Die Familie Pfäffling und dessen Fortsetzung Werden und Wachsen von 1910. Aus dem Buch: "Im gemütlichen Wohnzimmer eines Forsthauses in Ostpreußen saß ein kleiner Familienkreis eng und traulich beisammen: der Förster Stegemann mit seiner noch ganz jungen, lieblichen Frau, die ihr Kindchen in den Armen hielt und versuchte, mit zärtlichen Worten und dem Spiel ihrer Finger dem kleinen Geschöpf das erste Lächeln zu entlocken. Neben ihr lehnte Gebhard, ein kräftiger, etwa zehnjähriger Junge; er sah nach dem Schwesterchen, das so wohlig in der Mutter Armen ruhte, und wartete gespannt, ob es noch einmal gelänge, das Lächeln hervorzuzaubern, das vorhin wie ein Sonnenstrahl über das Kindergesichtchen gehuscht war. Als es gelang, sah er die Mutter beglückt an und wandte sich lebhaft an seinen Vater: "Hast du es diesmal gesehen?"

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Agnes Sapper

Ohne den Vater: Erzählung aus dem Kriege

Historischer Roman: Erster Weltkrieg (Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur)

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-2570-8

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel

Erstes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Im gemütlichen Wohnzimmer eines Forsthauses in Ostpreußen saß ein kleiner Familienkreis eng und traulich beisammen: der Förster Stegemann mit seiner noch ganz jungen, lieblichen Frau, die ihr Kindchen in den Armen hielt und versuchte, mit zärtlichen Worten und dem Spiel ihrer Finger dem kleinen Geschöpf das erste Lächeln zu entlocken. Neben ihr lehnte Gebhard, ein kräftiger, etwa zehnjähriger Junge; er sah nach dem Schwesterchen, das so wohlig in der Mutter Armen ruhte, und wartete gespannt, ob es noch einmal gelänge, das Lächeln hervorzuzaubern, das vorhin wie ein Sonnenstrahl über das Kindergesichtchen gehuscht war. Als es gelang, sah er die Mutter beglückt an und wandte sich lebhaft an seinen Vater: "Hast du es diesmal gesehen?"

Nein, er hatte es wieder nicht gesehen, weil ihm etwas anderes noch anziehender war, als das erste Lächeln seines Töchterchens. Er hatte auf Mutter und Sohn gesehen. Ihn freute, daß diese beiden sich so gut verstanden. Es war noch nicht lange her, daß er diese junge Frau heimgeführt hatte, nachdem seine erste Frau, Gebhards Mutter, gestorben war. Eine lange Reihe stiller Jahre hatte er mit dem Knaben verlebt, den eine treue Magd schlicht und streng erzog. Innig nah standen sich Vater und Sohn, ernst und pflichttreu war der Förster, anspruchslos der Junge. Kräftig wuchs er in der frischen Waldluft heran und machte von seinem sechsten Lebensjahr an täglich einen stundenlangen Weg, um auf einem benachbarten Gut an dem Unterricht mit den Knaben des Gutsbesitzers teilzunehmen. Auf diesem Weg begleitete ihn ein treuer Hund des Försters, der schon immer sein Spielkamerad gewesen und jetzt sein Beschützer auf einsamen Waldwegen war.

Bei einem Besuch seiner Mutter, die in Süddeutschland lebte, hatte der Förster das fröhliche, liebevolle Mädchen kennen gelernt, das dann seine zweite Frau geworden war. Noch immer war's ihm wunderbar und erfreute ihn in tiefster Seele, daß solch ein neues Familienglück in seinem Forsthaus erblüht war; und so sah er auch jetzt mit Wonne auf die junge Frau, ohne daß diese es bemerkte, denn sie war ganz von der Kleinen hingenommen.

Jetzt stund sie auf und legte das Töchterchen sorgsam in den Korbwagen. "So Jüngferlein," sagte sie, "nach dieser großen Leistung, nachdem du zweimal gelächelt hast, wirst du herrlich schlafen, draußen am offenen Fenster!" Sie fuhr sachte den Wagen in das Schlafzimmer.

Gebhard wandte sich dem Vater zu. "Es ist so nett, wenn die Mutter "Jüngferlein" sagt zu einem so kleinen Kind, hörst du das nicht auch so gern, Vater? Überhaupt ist es jetzt so eine schöne Zeit! So soll's immer bleiben, wie es jetzt ist!"

Stegemanns Gedanken wurden durch diesen Wunsch herausgerissen aus der friedlichen Umgebung.

"Gebhard, du denkst nicht an den Krieg, sonst könntest du nicht von einer schönen Zeit reden, die bleiben soll."

"Aber wir siegen doch, und das gibt dann die allergrößte Freude."

"Vorher werden viele Tausende von unsern deutschen Soldaten sterben!"

"Viele Tausende?" Gebhard wiederholte sinnend diese Worte und blieb eine Weile ganz nachdenklich. Dann aber trat er dicht an den Vater heran und begann mit eifrigen Worten: "Das darf man doch nicht so traurig sagen, Vater? Die Soldaten ziehen doch gern in die Schlacht und wollen fürs Vaterland sterben? Wenn ich nur schon älter wäre, und wenn du noch jünger wärst, dann zögen wir miteinander in den Krieg, du wärst ein Offizier und ich dein liebster Soldat und wenn du befiehlst: 'Freiwillige vor!' komme ich zu allererst. Aber mit zehn Jahren geht das noch nicht, und du, Vater, gelt du bist schon zu alt, du hast doch schon ein wenig graue Haare!"

"Die grauen Haare machen nichts; vielleicht komme ich doch noch daran. Aber sei still, wir wollen damit der Mutter nicht angst machen."

Sie sahen beide nach der Türe, durch die die junge Frau eben wieder hereintrat. Es lag noch der Schimmer mütterlicher Zärtlichkeit auf ihrem Gesicht, als sie sagte: "Mein Jüngferlein schlummert schon."

"Dein Jüngferlein, Helene? Mir gehört es auch!" Er zog seine Frau zärtlich an sich.

"Und ein wenig gehört es auch mir, nicht, Mutter?"

"Freilich. Du wirst sehen, die kleinen Mädchen mögen die großen Brüder am allerliebsten, lustig wird's, wenn sie erst mit dir spielen kann!"

Das konnte sich nun Gebhard noch nicht recht vorstellen, aber lustig war's ihm schon jetzt zumute und er sprang hinaus und hinunter in den Hof, mit seinem Leo zu tollen, seinem liebsten Kameraden. Bald ging auch der Förster, den sein Beruf oft halbe Tage lang abrief, und Helene blieb allein.

Der Forsthof lag einsam am Waldessaum, nahe der russischen Grenze; nur ein paar Niederlassungen waren in der Nähe, von denen die eine dem Straßenwärter gehörte, der die Grenzstraße zu hüten hatte, die andere einem alten Waldhüter, der mit seiner Familie da hauste. Sonst waren weit und breit keine menschlichen Ansiedelungen zu sehen, dunkler Wald nach allen Seiten und große Stille.

Die da heimisch waren—wie der Förster und sein Junge—, die liebten diese Waldeinsamkeit, aber Fremden kam sie unheimlich vor. Auch Helene, als sie aus ihrer süddeutschen Heimat, aus städtischen Verhältnissen hieher versetzt worden war, hatte anfangs furchtsam nach dem Waldesdunkel hinübergeschaut und die Stille, während ihres Mannes und Gebhards Abwesenheit, hatte sie bedrückt. Aber in ihren vier Wänden war es ihr doch bald wohl geworden, denn da war sie von rührender Liebe und Verehrung umgeben. Nicht nur Mann und Sohn, auch Knecht und Magd, ja sogar die Hunde, vom großen Kettenhund bis herunter zum kleinen Dackel, alle zeichneten sie aus, wie wenn sie sich immer daran freuten, daß etwas so feines, sonniges, fröhliches in ihre Waldeinsamkeit gekommen war. Und jetzt, seitdem sie Mutter geworden und ihr Kindchen jede Stunde um sich hatte, jetzt konnte das Gefühl der Einsamkeit gar nicht mehr aufkommen. Sie war voll Glück und Wonne, ja so sehr, daß sie manchmal das schwere Geschick des Vaterlandes fast vergaß. Kam es ihr dann in den Sinn, so machte sie sich im stillen Vorwürfe, sagte sich: kannst du denn gar nicht unglücklich sein mit den vielen, die jetzt in Sorge und Herzeleid sind? Dann legte sie schnell das Tragröckchen beiseite, das sie besticken wollte, nahm den groben Soldatenstrumpf zur Hand, setzte sich neben den Kinderwagen, strickte und strickte, sah dabei auf das kleine Menschenknöspchen, das neben ihr schlummerte, und war eben wider Willen doch glücklich. Aber der Krieg mit seinen Schrecken und Ängsten, mit Sorgen und Jammer kam bald genug, ihr Glück zu stören.

Zweites Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Es war eine stille Sommernacht zu Ende August, der Forsthof lag friedlich, Mensch und Tiere hatten sich zur Ruhe begeben. Der Förster allein war noch auf; die Zeitungen, die er diesen Abend erhalten hatte, lagen vor ihm. Sie sagten ihm, wie nahe die Gefahr eines feindlichen Einbruchs für das Grenzland war. Auch einen amtlichen Brief hatte er von seiner vorgesetzten Behörde erhalten, den Befehl, zunächst noch auf seiner Stelle zu verharren.

"Zunächst;" demnach konnte in Bälde die Anweisung kommen, den Forsthof zu verlassen. Darauf wollte er alles vorbereiten. Er ordnete Papiere und Wertsachen, um im Notfall alles Wichtige rasch bei der Hand zu haben, und dann schrieb er an seine Mutter. Sie stand ihm sehr nahe, hatte jedes Jahr in der Zeit seiner Vereinsamung die weite Reise von Süddeutschland unternommen, um nach ihm und seinem mutterlosen Kleinen zu sehen. Bei ihr fragte er an, ob Frau und Kinder Zuflucht finden könnten, wenn sie die Heimat verlassen müßten und er selbst sich dem Vaterland zur Verfügung stellen würde. Er hatte einst gedient und es war ihm selbstverständlich, daß er an dem großen Kampf Teil nehmen würde, sobald ihn sein Amt im Forsthaus nicht mehr zurück hielt.

So saß er heute bis spät in die Nacht hinein am Schreibtisch, während seine Frau sorglos schlief. Er hatte ihr nichts mitgeteilt von seinen Vorbereitungen. Sie kam ihm so jung und zart vor, besaß nicht die starke Natur, die er selbst von seiner Mutter geerbt hatte, schien so recht für Glück und Sonnenschein geschaffen. Wie sie mit Schwerem zurecht käme, wie sie Leid und Entbehrungen ertragen würde, konnte er sich nicht vorstellen. So wollte er ihr keine Last auflegen, so lange er allein sie tragen konnte.

Mitternacht war es geworden, aber nun lagen auch alle Briefe und Papiere geordnet und überschrieben vor ihm. Er hatte getan was geschehen konnte und griff nun nach dem Neuen Testament; denn es trieb ihn, eines von den Jesusworten zu lesen, die ihm oft schon Kraft gegeben hatten. "Nicht mein sondern dein Wille geschehe." Er versenkte sich in die Erzählung vom Kampf Jesu in Gethsemane.

Plötzlich wurde die Stille des Forsthofes gestört durch das Bellen des Hofhunds. Stegemann horchte auf, hörte nichts, was den Hund beunruhigt haben konnte. Aber das Bellen wurde lauter und auch die andern Hunde taten mit. Stegemann öffnete das Fenster, schaute hinaus in die stille Sommernacht, ging dann hinunter in den umzäunten Hof, rief die Hunde, die unwillig knurrten, zur Ruhe und lauschte. Jetzt unterschied auch sein Ohr das Geräusch von sich nähernden schweren Tritten draußen auf der Landstraße. Wer kam da bei Nacht? War es Freund oder Feind? Ihm ahnte nichts Gutes. Er eilte rasch ins Haus zurück und nahm den Revolver zu sich. Auch den Knecht wollte er rufen; der war aber durch das Gebell schon wach geworden und trat mit der Laterne in der Hand zum Förster.

"Wenn's Russen sind, dann gnad uns Gott!" sagte der Knecht.

"Mach die Kettenhunde los; sie lassen keinen über den Zaun."—

Wütend bellten die zwei großen losgelassenen Hunde und liefen aufgeregt am Zaun hin und her. Von außen am geschlossenen Hoftor ertönte die Glocke. Herr und Knecht sahen sich an. Wie aus einem Munde riefen sie: "Russen sind das nicht, die klingeln nicht, die schlagen mit dem Kolben an."

Der Förster trat näher.

"Wer ist draußen?" rief er. Und gut deutsch klang die Antwort: "Preußische Infanteristen mit einem Befehl an den Förster."

Noch ein paar Fragen und Antworten wurden zu größerer Sicherheit gewechselt. Dann rief der Förster dem Knecht zu: "Mach die Hunde fest."

Erst als die aufgeregten Tiere angekettet waren, konnte man wagen, das Hoftor zu öffnen und die Soldaten einzuladen, die draußen harrten. Eine Patrouille von fünf Männern war es, angeführt von einem jungen Leutnant. Statt der gefürchteten Feinde unverhofft einen Trupp wackerer Feldgrauer auf dem einsamen Forsthof zu haben, das war ein Hochgefühl, vor allem auch für die geängstigte junge Frau, die wie auch Gebhard vom Lärm der Hunde erwacht war und mit dem Knaben am Fenster stehend den Vorgang im Hof beobachtet hatte.

"Preußen sind's, Preußen!" rief Gebhard, der zuerst beim Laternenschein die Uniform erkannte.

"Wirklich! Gott Lob und Dank," antwortete die Mutter und machte sich in fliegender Eile zurecht, um die unverhofften Gäste zu begrüßen und für sie zu sorgen. Aber noch ehe sie so weit war, suchte ihr Mann sie auf.

"Ich komme schon," rief sie ihm eifrig entgegen, "wollen die Soldaten bei uns übernachten? Soll ich Betten richten?"

"Das nicht, sie halten nur kurze Rast; dann geht ihr Marsch weiter und ich, ich muß sie begleiten."

"In der Nacht? Wohin?"

"Das darf ich dir nicht sagen; es ist eine Vertrauenssache, ein geheimer Befehl, von dem auch nur der Offizier weiß."

"Wie unheimlich, Rudolf! Wann kommst du wohl wieder?"

"Vielleicht schon in ein paar Stunden.—Wenn du nur schnell helfen wolltest, Tee für die Leute zu machen. Die Soldaten haben schon Auftrag erhalten, den Herd zu heizen und Wasser aufzusetzen."

"Die Soldaten heizen unsern Herd? Das muß ich sehen. Komm, Gebhard, geh' mit mir hinunter! Ich habe noch nie Soldaten kochen sehen. Mit fünf Köchen, das muß ja schnell gehen!"

Ja, nach zehn Minuten war der Tee auf dem Tisch und nach weiteren zehn Minuten war gegessen und getrunken, was eiligst aufgetragen worden; und die fünf Mann bedankten sich bei der jungen, fröhlichen Förstersfrau.

Der Förster mit Flinte und Jagdhund sah aus, als wenn er auf die Jagd ginge. Im letzten Augenblick nahm er seine Frau beiseite: "Behalte Knecht und Magd bei dir, stelle dich ängstlich, rufe sie herein, laß sie Tee trinken. Ich will nicht, daß uns jemand folgt. Kein Mensch soll wissen, in welcher Richtung wir gehen."

Er gab rasch seiner jungen Frau einen Abschiedskuß—das war nichts besonderes; aber daß er im Vorbeigehen auch Gebhard einen Kuß gab, das kam dem Kind sehr verwunderlich vor, denn Zärtlichkeiten waren zwischen Vater und Sohn nicht üblich.—

"Wegen ein paar Stunden Trennung küßt man sich doch nicht?" sagte sich Gebhard und war sehr nachdenklich, während er in sein Schlafzimmer ging, um sich wieder zu legen. Zum erstenmal waren Soldaten ins Haus gekommen; der Offizier hatte mit dem Vater Kriegsgeheimnisse besprochen, die kein anderer Mensch erfahren durfte. Ein wenig unheimlich war die Sache, aber doch sehr spannend. Heute Nacht war der Krieg ins eigene Haus gedrungen, jetzt erst fing er so recht an für Gebhard.