Werden und Wachsen & Die Familie Pfäffling - Agnes Sapper - E-Book

Werden und Wachsen & Die Familie Pfäffling E-Book

Agnes Sapper

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Beschreibung

In 'Werden und Wachsen & Die Familie Pfäffling', präsentiert Agnes Sapper eine faszinierende Erzählung über das Aufwachsen und die Veränderungen innerhalb der Familie Pfäffling. Mit einem klaren und prägnanten Schreibstil, der von Empathie und Feingefühl geprägt ist, führt Sapper den Leser durch die Wirren des Familienlebens im späten 19. Jahrhundert. Durch die detaillierte und realistische Darstellung der Charaktere und ihrer Beziehungen zueinander gelingt es ihr, ein lebendiges Bild einer vergangenen Zeit zu zeichnen. Die beiden Romane bieten einen Einblick in die sozialen und moralischen Konventionen der damaligen Gesellschaft, während sie gleichzeitig zeitlose Themen wie Liebe, Verlust und Veränderung behandeln.

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Agnes Sapper

Werden und Wachsen & Die Familie Pfäffling

Zwei Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0879-1

Inhaltsverzeichnis

Die Familie Pfäffling
Werden und Wachsen

Die Familie Pfäffling

Eine deutsche Wintergeschichte

Inhaltsverzeichnis
1. Wir schließen Bekanntschaft
2. Herr Direktor?
3. Der Leonidenschwarm
4. Adventszeit
5. Schnee am unrechten Platz
6. Am kürzesten Tag
7. Immer noch nicht Weihnachten
8. Endlich Weihnachten
9. Bei grimmiger Kälte
10. Ein Künstlerkonzert
11. Geld- und Geigennot
12. Ein Haus ohne Mutter
13. Ein fremdes Element
14. Wir nehmen Abschied

Meiner lieben Mutter zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.

Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was ihnen versagt war.

Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.

Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.

Herbst 1906.

1. Kapitel Wir schließen Bekanntschaft.

Inhaltsverzeichnis

Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.

Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.

Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern.

Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!

Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen, flink, Essig holen!"

Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten Kaufmann.

Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der Hausherr.

"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen."

"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch nicht übers Herz."

"Nein, nie! Aber du auch nicht."

"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.

Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."

Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.

So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"

Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in einem Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am öftesten."

"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen?

Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"

Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."

Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters.

"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."

"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich nimmer mitbringen."

"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."

"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."

"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."

"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."

So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.

Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?"

So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.

Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen.

"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir nicht leben."

"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.

In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug.

"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"

Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog.

Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur einen Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun wurde die Harmonika eingeschlossen.

War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"

Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.

"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und wieviel tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl.

Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: Frau Privatiere Vernagelding.

2. Kapitel Herr Direktor?

Inhaltsverzeichnis

November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit.

Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang.

Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte.

Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"

"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?"

Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.

So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte Zeugnisse nach Hause.

An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!"

Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!"

"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten.

Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund treten."

"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht," sagte Frau Pfäffling.

"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen Teetisch."

Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"

Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.

Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!"

"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.

"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab."

Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl.

Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen einen ungeschickten Rekruten!

Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.

"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hört man uns nicht."

Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.

In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_!

Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.

Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.

Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?"

"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer."

Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht".

Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.

Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.

Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, daß er stört.

Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."

"Gute Nacht, Karl."

Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen."

"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd.

"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."

"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns."

Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.

Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen.

In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!

In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus einem Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten!

In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: "Zu was brauchst du so etwas?"

"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen."

Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im November!

Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen.

Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.

Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein paar Jahre warten wolle!

Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.

O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!

Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher."

"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so—ich will gar nicht sagen wie, das kann man überhaupt gar nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!"

Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so sehr ferne gerückt!"

"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor bin ich gewesen."

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."

"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.

"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab."

Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.

Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht:

"'Drum rufen wir mit frohem Sinn: Es lebe die Direktorin!'

"Nun muß es heißen:

"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn Du wirst niemals Direktorin.'"

"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."

"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen."

Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.

Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"

"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut aufgenommen worden.

Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:

"'Direktor her, Direktor hin, Wir haben dennoch frohen Sinn.'"

Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding sein?"

"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa."

"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim für heute."

"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.

Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.

Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.

"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte Frau Pfäffling besorgt.

3. Kapitel Der Leonidenschwarm.

Inhaltsverzeichnis

Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden konnte.

Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."

"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"

"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."

Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit einem Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben.

Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.