Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen? (Band 1) - Markus Mattzick - E-Book

Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen? (Band 1) E-Book

Markus Mattzick

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Beschreibung

Das mittelhessische Dorf Umbach an einem Sommernachmittag. Der Strom fällt aus und die meisten glauben erst an eine vorübergehende Störung. Schnell wird klar, dass es kein gewöhnliches Ereignis ist: Auch Batterien und Akkus funktionieren nicht mehr und es entwickelt sich ein Albtraum. Die Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser bricht zusammen, die Kommunikationsnetze sind ausgefallen. Malte versucht, seine Familie und sein Dorf durch die Krise zu bringen und merkt schnell, dass er zwischen Magen und Moral entscheiden muss. Jutta befindet sich in einer 767, als der Strom ausfällt. Simone sitzt nach dem Blackout in Hamburg fest und hat keine Möglichkeit, Kontakt mit ihrer Familie in Mittelhessen aufzunehmen. Sie macht sich zu Fuß auf den 400 Kilometer langen und gefährlichen Weg nach Hause. Florian überwacht während einer Herz-OP die Herz-Lungen-Maschine, als das Stromnetz und die Notstromsysteme im Krankenhaus ausfallen. Lukas befindet sich in einem Wetzlarer Einkaufszentrum und wird Zeuge eines großen Verkehrsunfalls. Laura bemerkt schnell, dass sie mit dem plötzlichen Verlust ihres Smartphones nicht zurechtkommt. Wann wird Hilfe von außen kommen? Gibt es überhaupt ein »außen«? Unsere moderne, zivilisierte Gesellschaft scheint in sich so fest verankert zu sein, wie man es sich nur wünschen kann. Wenige Tage eines unerklärlichen landesweiten Stromausfalls reichen jedoch aus, diese hauchdünne Decke zu zerreißen. Zuvor lapidare Selbstverständlichkeiten werden schnell zu einem gefährlichen Abenteuer.

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Seitenzahl: 632

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Für meine Eltern, die mir den Spaß am Lesen vorgelebt haben.

Danke dafür und für so vieles mehr

Prolog

Tansania

Das Lager mit den bienenkorbartigen Hütten wurde von Mille und den anderen Frauen in weniger als zwei Stunden aufgebaut. Nsalu drehte den Stock in ihren Händen, bis Rauch und Funken entstanden. Nebenbei warf sie einen Blick auf die anderen Frauen. Flink bogen diese für die Rundhütten an der neuen Stelle Zweige, die sie verwoben und mit Gras abdeckten. Sollten die jüngeren Frauen nach dem Aufbau Beeren und Wurzelknollen suchen, Nsalu als Gemahlin des Ältesten bewachte währenddessen das Lagerfeuer.

Als Mädchen und junge Frau hatte sie sich oft darüber aufgeregt, dass nur die Männer jagten oder den Honig besorgten. Mittlerweile war es ihr nicht mehr wichtig und sie gönnte den, ihr oft fast kindisch vorkommenden, Männern den Jagderfolg. Genau wie den beiden, die zwar zerstochen, aber lachend und mit einem Topf voller Honig zurückgekommen waren und sich dafür feiern ließen.

Nsalu wusste nicht, dass ihre Lebensweise als ›Jäger und Sammler‹ bezeichnet wurde, sie kannte keine andere.

Die Frauen brachten genug Beeren für die fünfundzwanzig im Lager lebenden Menschen mit. Bis vor wenigen Wochen waren es siebenund­zwanzig gewesen, zwei hatten das Lager verlassen und sich einer anderen Gruppe angeschlossen. Das war nicht ungewöhnlich: Viele Kon­flikte, auch die Trennung von Paaren, wurden so gelöst und einer der Männer, der die Gruppe verlassen hatte, war Milles ehemaliger Lebens­partner Ngaola. Vermutlich würden beide bald wieder neue Partner haben.

Als Mille Ngaola und seinem Begleiter nachgeschaut hatte, hatte sich Nsalu neben sie gestellt: »Sei froh, dass du den letzten Kerl los bist. Vielleicht schaust du besser nach einem, der wirklich mit Pfeil und Bogen umgehen kann.«

Zeit hat keine große Relevanz für die Hadza und auch wenn es immer wieder zu Kontakten mit der ›Außenwelt‹ kam, für die meisten des Volkes gab es keine Vorstellung über die Welt jenseits des afrikanischen Buschs. Dass ihr Stammesgebiet in Tansania lag, war für Nsalu ebenso unwichtig wie die Tatsache, dass die (vermutete) Wiege der Menschheit, Olduvai Gorge, nur knappe fünfzig Kilometer entfernt lag. Dass sie die einzige Volksgruppe in Tansania waren, die keine Steuern zahlen mussten, war für sie ebenfalls bedeutungslos. Von was auch: Allen Besitz konnten sie mit sich herumtragen.

Nsalu kannte Autos von Besuchern und Flugzeuge hatte sie über einen Lagerplatz fliegen sehen. Ein Tourist hatte ihr erklärt, dass die geraden Wolken am Himmel Kondensstreifen seien, die von großen Maschinen gemacht wurden. Flugzeuge, die so groß waren, dass mehr als einhundert Menschen hineinpassten. Für sie und die meisten anderen Hadza war das im Grunde unwichtig, denn sie waren mit ihrem Leben, so wie es war, zufrieden.

ISS

Die vierhundertfünfundfünfzig Tonnen schwere Internationale Raumstation schwebte keine vierhundert Kilometer über Afrika. Aus den sieben Fenstern des Cupola-Moduls sah Ben Lennard den großen afrikanischen Grabenbruch, der in ein paar Millionen Jahren ein neuer Ozean sein würde.

Ganz so lange würde sein Aufenthalt auf der ISS nicht mehr dauern, trotzdem länger als damals der kurze Hopser, bei seinem ersten Space Shuttle Flug. Mittlerweile war er bereits zwei Monate dort, zwei wei­tere würden folgen. Sechzehn Sonnenaufgänge pro Tag empfand er am Anfang überwältigend, aber irgendwann wurden die zur Gewohnheit.

Ihn trennten nur wenige Zentimeter von der extremen Kälte, Hitze und dem Vakuum des Alls und ein kompliziertes System lebenserhaltender Technik ermöglichte den Astronauten überhaupt den Verbleib auf dem extraterrestrischen Vorposten der Menschheit. Die Tage an Bord der ISS waren straff durchorganisiert, trotzdem gab es immer wieder Zeit, um zu träumen.

Ben stieß sich ab und bewegte sich wie ein Taucher im Wasser durch die Schwerelosigkeit. Sein Weg führte ihn erst durch das Tranquility-Modul, das den Crewmitgliedern unter anderem als Badezimmer diente. Neben einer von zwei Toiletten an Bord befanden sich in dem Segment der Raumstation Systeme zur Abwasseraufbereitung und zur Sauerstoffproduktion. Von dort aus gelangte er in das Unity-Modul, welches zusammen mit der zwei Wochen vorher in den Orbit gebrach­ten russischen Komponente Sarja den Anfang der ISS bildete. Hier befand sich der Ofen der ISS, mit dem sich die Astronauten ihre Nahrung erwärmten. Ben würde später dorthin zurückkommen, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten. Leider war der letzte Versorgungsflug schon einige Wochen her, »frische« Ware gab es erst wieder mit dem nächsten Dragonflug.

Er drehte sich so, dass er den Übergang zum russischen Teil der Station im Rücken hatte und bewegte sich in das Destiny-Modul. Die Fitnessgeräte erinnerten ihn daran, dass für den Tag ein Work-out eingeplant war, das dem Abbau von Knochen und Muskelmasse entgegenwirken sollte. Der Schwung, den er sich im Unity-Modul gegeben hatte, reichte aus, um ihn durch Destiny bis zum Harmony-Segment schweben zu lassen. Neben einer kleinen Werkstatt befanden sich hier vier Crew-Kojen. Er bog rechts ab und gelangte in das europäische Forschungsmodul Columbus, in dem er während der nächsten Erdumrundung Experimente durchführen würde.

Erster Akt

Tag 1

Malte

Der Einkaufswagen war wesentlich voller als geplant und die ›alte‹ Weisheit ›Kaufe nicht hungrig ein‹ schien sich bestätigt zu haben. Auf dem Weg zur Kasse ärgerte sich Malte darüber, dass sich die Obst- und Gemüseabteilung am Eingang des Supermarktes befand, weshalb man ständig genötigt war, alle Sachen im Wagen umzuräumen, um die Früchte nicht zu zerdrücken.

Er erinnerte sich, einen Bericht über Verkaufspsychologie gelesen zu haben. Das eine oder andere war sogar hängengeblieben. Ziel eines jeden Geschäftes war es, den Kunden so lange wie möglich im Laden zu halten. Die Obstabteilung am Markteingang und die Hintergrundmusik bremsten den eiligsten Feierabendeinkäufer aus.

Dass er den Einkaufskorb im Auto hatte liegen lassen, rundete seinen Frust ab, denn das bedeutete, dass ihm am Fahrzeug nichts anderes übrig blieb, als alles erneut umzupacken.

Dann war er mit seinen Gedanken zurück im Supermarkt und irgendwie schlichen immer wieder dieselben Leute in denselben Gängen wie er herum. Das hatte etwas von einer Verschwörung, war aber bei genauerem Nachdenken logisch. Die meisten Käufer hatten einen ähnlichen Weg durch den Markt, durch die gleichen Verkaufsfallen. Man musste sich zwangsläufig immer wieder be­gegnen. Beim Versuch, die nervigen Mitkunden mit einem längeren Aufenthalt in der Zeitschriftenabteilung zu umgehen, stellte er fest, dass das Problem grundsätzlich dasselbe blieb, es waren nur andere Leute, die ihm jetzt im Weg standen. Andererseits war er für diese selbst ›andere Leute‹.

An der Kasse angekommen, traf er seinen Freund Robert Kempf und dessen Frau Birgit, die ein Paket Toilettenpapier auf das Band legte, als das Licht ausging.

Er sah Birgit nur noch als Silhouette und hörte überraschte Rufe. Dosen fielen scheppernd aus den Regalen, vermutlich hatte jemand seinen Wagen hinein gelenkt. Vom Parkplatz ertönte das Ge-räusch des Aufeinandertreffens von Metall und zersplitterndem Glas. Ein weiterer Schlag von Metall gegen Glas, diesmal ohne dass das Letztere zerbrach, kam vom Eingang. Die automatische Schie­betür hatte sich nicht mehr geöffnet und ein Kunde war mit dem Einkaufswagen dagegen gefahren.

»Habt ihr eure Stromrechnung nicht bezahlt?«, witzelte Robert.

»Natürlich«, reagierte die Verkäuferin, »wir möchten unseren Kunden ein neues Einkaufserlebnis bieten: den Dunkelsupermarkt!«

Malte sah sich um: Nicht nur die Deckenbeleuchtung war ausgefallen, auch die sonst beleuchteten Tiefkühl- und Kühlregale waren dunkel, selbst das vertraute Surren der Kühlaggregate war nicht mehr zu hören.

»Bestimmt haben die bei den Straßenarbeiten an der Hauptstraße ein Kabel erwischt«, mutmaßte Robert.

Der junge Mann, der hinter Malte stand, meldete sich zu Wort: »Wir haben vor einer halben Stunde Feierabend gemacht.«

»Bestimmt habt ihr irgendwas angeknackst und das ist nur eine Spätfolge.«

»Wenn Sie meinen, dann wird das wohl so sein! Mein Handy geht übrigens auch nicht, da haben wir wohl noch ein Kabel erwischt.«

»Mein Handy geht auch nicht mehr«, wunderte sich die Verkäuferin.

Malte holte sein eigenes Mobiltelefon heraus und stellte fest, dass es ebenfalls nicht funktionierte. Sonderbar, dass die Akkus von drei Handys gleichzeitig leer waren, und dass die Notausgangsbeleuchtung ebenfalls dunkel war.

Am Ausgang hatte sich mittlerweile ein kleiner Auflauf ge­bildet, Robert hatte sich durchgedrängelt und versuchte, die Tür aufzuschieben.

»Warten Sie, Herr Kempf, man muss die Tür erst entriegeln. Ich hole eine Leiter«, erklärte ein Verkäufer.

Das war der Vor- und Nachteil, wenn man im Dorf lebte, dachte Malte, man war schnell mit Namen bekannt.

Der Verkäufer kehrte mit der Leiter zurück, entfernte die Verschalung und zog am Entriegelungsbolzen.

»Versuchen Sie es bitte noch einmal«, bat er.

Robert schob die Tür auseinander und die Menschen drängten durch den Ausgang. Die warme Luft von draußen drückte in den Supermarkt.

»Könnt ihr ohne Strom überhaupt kassieren?«, fragte Malte die Verkäuferin.

»Die Scanner gehen nicht, wir müssen warten, bis der Strom wieder geht. Außerdem verriegelt die Kasse elektronisch.«

»Kartenzahlung dürfte ausgeschlossen sein?«

»Witzbold«, antwortete die Kassiererin, aber Malte sah sie lächeln. »Eigentlich haben wir ein Notstromaggregat. Ich weiß nicht, ob damit die Kassen versorgt werden.«

»Werden sie nicht«, erklärte Ralf Müller, der Supermarktleiter. »Die sollen Tiefkühl- und Kühlregale versorgen. Ich schaue mal nach.«

Die Augen gewöhnten sich langsam an den dunklen Markt. Malte warf einen Blick in den eigenen Einkaufswagen und erkannte schemenhaft die darin liegenden Artikel. Bis auf die Tiefkühlpizza war alles nicht von einer Kühlung abhängig und er überlegte, die Pizzen zurück ins Regal zu bringen und den Wagen stehen zu lassen. Wenn der Strom gleich wieder funktionierte, wäre das unnötig und er hatte den Eindruck, dass dieses Spiel nicht zu gewinnen war: Ginge er weg, würde der Strom schnell wieder funktionieren, blieb er in der Schlange, würde es Stunden dauern. Die ersten Kunden ließen ihre Wagen stehen und strebten zum Ausgang.

Ein paar Minuten werden die Pizzen noch durchhalten, dachte Malte und folgte der Menge hinaus.

Der Unfall, den man eben gehört hatte, hatte sich zwischen einem Audi A3 und einem Land Rover ereignet. Glücklicherweise gab es nur Materialschaden auf beiden Seiten.

Interessanterweise schüttelte Carl Holzer, der Fahrer des Land Rover, ebenfalls sein Handy.

So wie es schien, war der Audi aus der Parklücke herausgefahren und hatte den Land Rover hinten eingedrückt. Andreas Pape, der Fahrer des Audi, musste den Geländewagen übersehen haben. Malte kannte ihn ebenfalls aus dem Gemeinderat.

»Du hättest aber noch bremsen können«, warf Pape seinem Gegner vor und schob seine Brille nach oben, die ihm sofort wieder den Nasenrücken herunterrutschte.

»Hab ich, aber der Motor ging aus und weder die Servolenkung noch der Bremskraftverstärker haben funktioniert«, erklärte Holzer, der sicherlich das ein oder andere Feierabendbier getrunken hatte. Das würde auch erklären, wieso sie erst jetzt über die Ursache des Unfalls grübelten. Leicht angetrunken war Holzer sehr redselig und wiederholte seine Argumente gerne mehrmals.

Die beiden diskutierten über die Reparatur der Schäden und Holzer gab sich Mühe auszuhandeln, dass die Angelegenheit an der Versicherung vorbei und ohne Polizei geregelt wurde.

Malte ließ seinen Blick über den Parkplatz streifen und erst jetzt fiel ihm auf, dass sich kein Fahrzeug bewegte. Nicht nur das, die Landstraße, die direkt am Supermarkt vorbeiführte, war unbefahren und die sonst üblichen Fahrgeräusche waren verstummt. Er wollte sich den Unfallschaden genauer anzuschauen, als er eine junge Frau bemerkte, die tränenüberströmt vor ihrem Seat Ibiza stand. In der rechten Hand hielt sie den Schlüssel, auf den sie wiederholt drückte, mit der linken rüttelte sie an der Fahrertür.

»Hab keine Angst«, schluchzte sie, »Mama ist gleich bei dir!«

Malte hob die Brauen. Offensichtlich war dort ein Kind einge­schlossen. Er und andere, die das mitbekommen hatten, eilten, zu der Frau.

»Bitte helft mir, meine Lara ist im Auto eingeschlossen!«, flehte die junge Frau.

Beim Auto angekommen sah er den Kindersitz, darin lag ein schlafendes Mädchen und die Abendsonne brannte auf das Auto herunter.

»Man lässt kein kleines Kind alleine im Fahrzeug!«, tadelte Ro­bert. »Wieso hat der kein Schloss? Warum bauen die so etwas?«

Die junge Frau schaute verzweifelt aus: » Mein Mann hat den selber so umgerüstet.«

»Wieso … ach egal. Es wird doch irgendeine Möglichkeit geben, ohne Fernbedienung in das Auto zu kommen!«, sagte Robert.

»Ich habe nur die Einkäufe eingeräumt, Lara ins Auto gelegt und den Einkaufswagen zurückgebracht. Das waren keine zwanzig Sekunden«, stammelte die Mutter.

Robert schlug vor: »Wir können mit einem Hammer eine Scheibe einschlagen. Vielleicht fällt aber jemand etwas Besseres ein?«

Malte holte sein Handy heraus, um nach ›Seat Ibiza öffnen ohne Türschloss‹ zu googeln. Das dunkle Display erinnerte daran, dass sein Smartphone den Dienst versagt hatte.

Robert drehte sich um und ging in Richtung seines eigenen Autos. »Ich hole jetzt den Hammer aus meinem Werkzeugkasten und wir befreien Lara!«

Sie einigten sich, dass das Fahrerfenster am weitesten vom Kind entfernt war. Mit einem flinken Schlag drückte Robert die Scheibe ein.

Holzer bemerkte trocken: »Carglass repariert hier nichts mehr!«

Robert beseitigte mit dem Hammer die Glasreste, entriegelte die Tür und gab den Platz frei, damit die junge Frau zu ihrem Kind gelangen konnte.

»Und was nun?«, fragte Pape.

Stromausfall, kam Malte der Gedanke, kompletter Stromausfall. Alles, was Elektrizität benötigt, funktioniert nicht mehr! Prüfend sah er sich um, es musste so sein.

»Totaler Stromausfall«, sagte er, erst leise.

Dann erneut etwas lauter hinterher: »Totaler Stromausfall!«

Fast alle drehten sich um und schauten ihn an.

»Was?«, fragte Robert.

»Totaler Stromausfall«, wiederholte Malte, »schau dich um: Der Strom im Supermarkt, kein Handy funktioniert, die Motoren sind ausgegangen und die Funkfernbedienung versagt. Habt ihr nicht bemerkt, dass da seit Ewigkeiten kein Auto vorbeigekommen ist? Man hört keine Motorengeräusche, nicht einmal die von der A 45!«

»Warum sollten Autos nicht mehr fahren? Die haben Verbrennungsmotoren«, warf Andreas Pape ein.

»Der Zündfunke ist elektrisch«, erklärte Robert, »außerdem sind die Autos heute voller Elektronik, ohne die sie nicht fahren. Malte hat recht, der Strom ist komplett weg!«

»Wie soll das denn passiert sein? Das gesamte Stromnetz und alle Akkus und Batterien? Die sind komplett unabhängig voneinander«, wunderte sich Pape.

Robert vermutete: »Es könnte ein EMP gewesen sein.«

»Ein was?«, fragte Holzer.

»Ein EMP, Elektromagnetischer Impuls, so was entsteht bei einer Atombombenexplosion und zerstört elektrische Bauteile. Glaube ich«, erklärte Robert.

Holzer sah nach oben und schmunzelte: »Eine Atombombenexplosion müsste man gesehen haben, oder? Und ist Elektronik in einem Gehäuse nicht geschützt? Faradayscher Käfig und so?«

»Kommt wahrscheinlich auf die Stärke des EMP an«, fuhr Robert fort, »das Militär hat Waffensysteme entwickelt, die mit Mikrowellen arbeiten.«

»Klingt irgendwie weit hergeholt und vor allem: Wer soll denn dahinterstecken?«, fand Pape.

»Die CIA!«, schlug Holzer vor.

»Al-Qaida!«, vermutete Birgit Kempf.

»Ein kleines Nest in Mittelhessen wäre mein erstes Ziel, wenn ich Terrorist oder Geheimdienstagent wäre!«, reagierte Malte leicht amüsiert.

Sie konterte: »Das macht Terrorismus aus! Die Leute sollen Angst haben und merken, dass sie überall getroffen werden können, und dafür eignet sich ein unbekannter Ort besser als eine Metropole. Frankfurt, Berlin oder Hamburg kann jeder treffen!«

»Was ist mit Sonnenstürmen? Die können auch elektrische Geräte beeinflussen«, schlug Holzer vor.

»Zumindest Funkwellen. Und das Magnetfeld kann davon be­einflusst werden, wer weiß, was noch möglich ist«, ergänzte Robert.

»Magnetfeld …«, grübelte Pape, »steht nicht auch ein Polsprung an?«

»Ihr Schlaumeier wisst aber schon«, meldete sich Birgit Kempf, »dass Menschen ebenfalls mit Elektrizität funktionieren?«

Die fragenden Blicke aus der Runde schien sie ein wenig auszukosten: »Nervenimpulse sind elektrische Signale.«

»Dann ist es doch offensichtlich: Nur Strom, der künstlich erzeugt wird, funktioniert nicht«, überraschte Holzer alle mit einer Theorie.

»Das beschreibt es recht gut«, gestand Malte.

»Wir gehen in den Schatten und warten, bis der Strom wieder da ist«, schlug Robert vor.

Zustimmendes Nicken von jeder Seite und die Gruppe bewegte sich in Richtung des Eingangs. Lara bedrückte das alles nicht, sie schlief friedlich in ihrem Kindersitz und war nicht einmal beim Einschlagen der Autoscheibe aufgewacht.

Jutta

Die Boeing 767 war im Landeanflug auf den Frankfurter Flughafen und musste, wegen des verspäteten Abflugs, auf einen tieferen Flugkorridor ausweichen. Jutta Dietz überprüfte die Instrumente, spürte das leichte Vibrieren des Steuers und war in Gedanken ein paar Stunden weiter, denn dies war ihr letzter Flug vor ihrem eigenen Urlaub.

Sie hatte sich für die nächsten Wochen vorgenommen, den Garten neu anzulegen. Ihrem Vermieter war der zu groß geworden.

Unter ihnen zogen die Mittelgebirge vorbei und wenn sie mit einem Fallschirm hätte abspringen können, würde sie vor der eigenen Haustür landen. Zumindest fast.

Ihr Blick glitt wieder über die Instrumente, Geschwindigkeit und Sinkrate waren exakt wie erwartet, als plötzlich die Anzeigen ausfielen.

»Was ist das?«, fragte Steffen, ihr Co-Pilot, während er sich vorbeugte und nacheinander mit dem Zeigefinger auf verschiedene Anzeigen tippte.

Er lehnte sich nach hinten, durchsuchte eine der Seitentaschen, holte einen kleinen Hefter zu sich und durchblätterte ihn.

»Non Normal Checklist«, kündigte er die Liste an, »dann lass uns die mal abarbeiten.«

Punkt für Punkt diktierte Steffen, Jutta wiederholte sie und versuchte die Stromkreise und die Staudruckturbine zu überprüfen.

»Geht sie?«, fragte der Co-Pilot nach der Staudruckturbine.

Die 767 wehrte sich zwar, aber Jutta hielt die Maschine stabil. Die Turbine musste automatisch ausgeklappt sein und das Hydraulik­system mit Druck versorgen. Jutta warf dem Co-Piloten einen schnellen Seitenblick zu. »Ich denke es hat funktioniert.«

Steffen diktierte weiter von der Checkliste, bis Jutta aufgab: »Nein, nichts. Ist das die richtige Checkliste?«

»Plan to land at the nearest suitable Airport«, beendete der Copilot die Liste. »Welcher ist denn der naheliegendste passende Flughafen?«

Panisch ging Jutta im Kopf die erreichbaren Landeplätze durch, gab sich aber Mühe Ruhe auszustrahlen: »Lützellinden!«

»Lützewas?«, fragte Steffen.

»Lützellinden«, sie warf einen Blick auf den Standby-Kompass, »ein kleiner Flugplatz. Die Landebahn ist kurz, aber es liegt direkt auf unserem Weg.«

»Ein Flugplatz?« Steffens Stimme überschlug sich. »Ist die Bahn lang genug und hält die uns überhaupt aus?«

»Ganz bestimmt.« Dabei versuchte Jutta optimistisch zu klingen.

Hastig blätterte Steffen durch die Notfallchecklisten: »Wir müssen improvisieren.«

»Total loss of power«, stellte Jutta fest, »und somit keine Chance die Flugverkehrskontrolle zu erreichen.«

Ohne Kontakt waren sie fast blind und auf sich allein gestellt. Steffen beschäftigte sich weiter mit dem Überfliegen der Listen und schüttelte regelmäßig den Kopf. Die Schwerkraft drückte das Kerosin in die Turbinen und da sie sich ohnehin im Sinkflug befanden, liefen diese im Leerlauf.

Ein Klopfen an der Cockpittür ließ Steffen merklich zusammenzucken. Jutta schaffte es, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.

»Ja?«, rief Jutta und warf einen Blick auf einen kleinen Monitor, der normalerweise die andere Seite der Tür zeigte. Ohne Strom blieb diese Mattscheibe schwarz.

Sabine, die Chefflugbegleiterin dieses Fluges, fragte: »Was ist los?«

»Stromausfall, aber die Hydraulik funktioniert, wir haben keinen Kontakt zur Flugverkehrskontrolle«, berichtete Steffen. »Bereite die Passagiere auf eine Notlandung vor!«

»Ohne Strom?«, hörte sie die durch die Tür gedämpfte Stimme.

»Lauter reden«, entgegnete er leicht gereizt.

»Wie schlimm ist es?«, brüllte Sabine.

Jutta antwortete: »Wir werden es nicht bis zu einem großen Flughafen schaffen und müssen einen geeigneten Platz zum Landen finden. Da alle Instrumente ausgefallen sind, fliegen wir blind. Die Steuerung ist schwerfällig und wenn wir einen Strömungsabriss haben … nein, darüber mag ich nicht nachdenken. Selbst wenn wir nicht abstürzen, haben wir das Problem, dass wir den Vogel bei der Landung kaum steuern können. Wenn du gläubig bist … jetzt wäre die Zeit für ein Gebet!«

»So schlimm? Okay, wir werden die Passagiere einweisen.«

Hoffentlich würden Sabine und ihre Kolleginnen es schaffen, die Insassen zu beruhigen.

Die Minuten verstrichen und die beiden hielten das Flugzeug zumindest stabil. Wie schnell sie waren und wie viel Höhe sie verloren hatten, konnten sie nur schätzen.

»Was ist das?« Sie entdeckte einzelne Punkte vor sich.

»Vögel!«, stellte Steffen überrascht fest.

»Du hast recht«, ihre Stimme klang entgeistert und sie sah keine Möglichkeit, dem auszuweichen, ohne die ohnehin schon fragile Stabilität ihres Landeanfluges zu gefährden.

Schnell näherten sie sich dem Vogelschwarm und unvermeidlich registrierte sie die dumpfen Aufschläge, die die Steuerung erzittern ließen, und dass bis eben beruhigende Summen der Turbinen erstarb. Vogelschlag mit Triebwerksausfall. Dazu gab es auch eine Checkliste, erinnerte sich Jutta.

»Welche Ironie«, flüsterte Jutta, »Kraniche gegen den Condor. Das wäre eine Titelzeile im Boulevardmagazin wert!«

»Das kann man sich nicht ausdenken.« Steffen versuchte hektisch aus dem Fenster nach den Triebwerken zu schauen, obwohl er doch wissen musste, dass die aus dem Cockpit nicht zu sehen waren.

»Es ist gar nicht die Jahreszeit für Zugvögel. Warum fliegen die so hoch?«, versuchte Jutta ihn abzulenken. Woher auch immer sie das hatte: Wenn jemand in ihrer Nähe in Hektik oder Panik geriet, schaffte sie es meist, dies auszugleichen.

»Das ist nicht wichtig.« Steffen hatte die Panik in der Stimme, die sie selbst fühlte. »Wie bekommen wir das Flugzeug ohne Strom auf den Boden?«

Jutta versuchte ihn abzulenken: »Na der ›Gimli Glider‹ hat es ge-

schafft und der war in fast 11.000 Meter Höhe, als denen der Sprit ausging!«

»Den Namen habe ich schon gehört«, grübelte der Co-Pilot, »an Details erinnere ich mich nicht.«

»Das war ebenfalls eine Boeing 767. Die Piloten hatten eine spektakuläre Notlandung hingelegt«, erklärte Jutta weiter, »wegen eines Umrechnungsfehlers war die Maschine nur zur Hälfte betankt. Der Pilot war auch Segelflieger, sein erster Offizier ehemaliger Kampfflieger. Und die waren wesentlich höher als wir.«

Steffen schien zumindest etwas beruhigt zu sein: »Zumindest kennst du die Piste!«

Sie überlegte verzweifelt, wie sie vor dem Flugplatz die Geschwindigkeit reduzieren konnte und ob das Feld hinter der Landebahn und die Landebahn selbst die 767 aushalten würden.

»Wir können uns an der A 45 orientieren, die führt direkt am Flugplatz vorbei. Kurz hinter Wetzlar, das müssten wir gut erkennen«, erläuterte Jutta.

Es erforderte erhebliche Kraft, das Flugzeug nur mit den Seilzügen und der Hydraulik zu steuern. Wenn sie einen Fehler machen würde und die Strömung abriss, würden sie abstürzen.

»Herborn«, meldete Jutta, »noch knappe drei Minuten, wenn wir nicht zu schnell an Höhe verloren haben.«

Die fehlenden Turbinengeräusche und das schweigende Funkgerät machten die Szene fast surreal. Fallwinde ließen das Flug-zeug erzittern und leicht absacken, aus der Kabine waren Schreie zu hören, die kurz darauf wieder verstummten.

»Ohne Strom haben wir keine Landeklappen, wir werden viel zu schnell sein.« Steffen sah blass aus.

Er schaute aus dem Fenster und beobachtete den fast wolkenlosen Himmel.

»Siehst du, dort im Westen? Ich glaube, die haben die Maschine nicht mehr unter Kontrolle!«

Jutta warf einen Blick nach rechts aus der Scheibe und erkannte ein Flugzeug, das dem Boden entgegen trudelte.

»Was ist bei denen los?«, fragte sie, »haben sie die gleichen Pro-bleme wie wir?«

»Es sieht so aus«, vermutete Steffen.

Sie spürte einen Kloß im Hals, denn ihr war klar, was mit dem anderen Flugzeug passieren würde. Beide wandten den Blick ab und fokussierten sich wieder auf die eigene Maschine, die sich widerstrebend kontrollieren ließ.

Das Flugzeug verlor weiter an Höhe und sie erkannte Wetzlar mit dem nie vollendeten Dom: »Über den Hügel, dann sehen wir den Flugplatz.«

»Auf der Autobahn bewegt sich nicht ein einziges Fahrzeug«, kommentierte Steffen.

Mittlerweile erkannte sie, dass sich die Autos nicht nur nicht mehr bewegten, sondern dass sich zahlreiche Unfälle auf der Autobahn ereignet hatten. Einige kleinere Auffahrunfälle, Fahrzeuge, die wohl in die Böschung gefahren waren und teilweise auf dem Dach lagen. Auf einer Autobahnabfahrt hatte es eine Massenkarambolage gegeben.

Konnten sie bisher das Flugzeug im Anflug auf gerader Linie halten, leiteten sie nun eine leichte Linkskurve ein. Insgesamt hatten sie Glück im Unglück: Die Landebahn war frei, die Maschine war mit ihr auf einer Linie und der Sinkflug passte.

Konzentriert arbeiteten sie die Checkliste für eine Landung ab und improvisierten wieder, da viele Punkte nicht abzuarbeiten waren.

»Wollen wir hoffen, dass das Fahrwerk ordentlich ausfährt und einrastet«, sagte Jutta. »Gravity Drop!«

Sie betätigte den entsprechenden Hebel.

Jutta hatte keinen Zweifel, dass die Räder ausgefahren waren. Die Fahrwerke verringerten die Leistung der Staudruckturbine und ausgerechnet für den letzten Teil des Anfluges ließ sich die Maschine deswegen noch schlechter steuern. Sie überquerten die Autobahn und Jutta vermutete, dass sie es bis zur Landebahn schaffen könn­ten. Sie war sich sicher, dass sie nicht auf ihr zum Stehen kommen, sondern darüber hinaus rollen würden. Ohne Schubumkehr sogar um einiges weiter. Sie waren nur wenige Meter über dem Boden und Jutta bemerkte das Luftkissen, das sich unter dem Flugzeug aufgebaut hatte. Die Maschine bekam dadurch mehr Auftrieb und wurde weitergetragen.

»Nur noch ein paar Meter«, murmelte Jutta, als sie mit aller Kraft versuchte, die 767 in einer Linie mit der Landebahn zu halten.

Durch den Auftrieb verlangsamte sich der Jet, die Nase stieg in die Höhe und Jutta setzte vor der Bahn auf.

Der erste Bodenkontakt presste sie in die Sitze, aus der Kabine konnten sie Schreie hören. Die Maschine fing nicht an zu rollen, sondern sprang. Beide umklammerten die Steuer und strengten sich an, den Flieger gerade zu halten. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzten die Hinterräder das zweite Mal auf, diesmal auf der Piste und das Flugzeug rollte. Jutta spürte, dass bei der ersten Bodenberührung ein Rad geplatzt sein musste. Das war schlecht, denn so ließ sich die Maschine schwieriger lenken. Es war wiederum gut, weil dadurch der Bremsweg kürzer war. Sie ließen die Nase sin­ken, bis das Bugrad ebenfalls aufsetzte. Alle Fahrwerke schienen or-dentlich eingerastet zu sein.

Jutta bremste stärker. Viel zu schnell näherten sie sich dem Ende der Landebahn. Juttas Hand krampfte sich um den Hebel. Hielt das Flugzeug die Spur? Das Bugrad rollte über die Bahn hinaus, der Rest folgte schnurgerade. Wenigstens etwas. Noch einmal rüttelte die Maschine und verlangsamte sich auf dem weichen Untergrund der Wiese. Dann standen sie. Geschafft.

Simone

Simone saß in einem nobel ausgestatteten Konferenzsaal im Hanseatic Trade Center in Hamburg. Ihre Aufgabe war es, ihren Kunden zu überzeugen, dass ihr Bankhaus am besten geeignet war, sein ohnehin schon beachtliches Vermögen zu vergrößern. Das Ganze mit möglichst wenig Risiko und großen Renditen, die Quadratur des Kreises.

Der Tag hatte extrem früh angefangen: Ihr Kollege Arne und sie waren gegen sieben Uhr von Frankfurt Richtung Hamburg geflogen und mit drei Kundenterminen war der Tag großzügig geplant. Während die ersten beiden seit Jahren Kunden ihrer Bank waren, war ausgerechnet der letzte Termin des Tages eine Neuakquise. Auf den konnten sie sich am schlechtesten vorbereiten, denn sie wussten zu wenig vom potenziellen Klienten, dem Chef einer Firma für umweltfreundliche Energiegewinnung.

Dessen Büroräume waren im Turm des Columbus Hauses untergebracht und die Aussicht aus dem 18. Stockwerk war faszinierend. Die Elbphilharmonie stand in unmittelbarer Nähe, die Elbe und Teile des Hafens waren gut zu beobachten. Harald Burk hatte innerhalb von zwei Jahren mit wenig Startkapital eine Firma aus dem Boden gestampft, die Solaranlagen verschiedener Art aus aller Welt importierte und installierte.

Nach einer Stunde Gespräch hatte sie den Eindruck, dass er genau wusste, was er wollte: Keinen Honig um den Mund geschmiert bekommen, sondern direkt zum Kern der Sache kommen. Die hochwertige Broschüre des Bankhauses hatte er dementsprechend kaum beachtet und sich sofort die von Arne angefertigte Präsentation über verschiedene Produkte angeschaut. Mit einem Kennerblick blätterte er die unwichtigen Seiten fast ungelesen weiter und überflog die anderen nur wenig länger.

»Gefällt mir.« Herr Burk legte die Präsentationsmappe auf den großen Konferenztisch.

»Und wie …« Der Bildschirm seines Laptops wurde plötzlich dunkel. Er wandte sich um und schaute aus dem Fenster.

Simone folgte seinem Blick: »Nach was schauen Sie?«

Burk erklärte: »Die Frachtkräne bewegen sich nicht mehr. Da scheint das Stromnetz nicht mit den Belastungen durch die vielen Klimaanlagen zurechtzukommen.«

Simone hatte den Eindruck, dabei Eurozeichen in seinen Augen zu sehen. Sie stellte sich vor, dass jeder Stromausfall ein Verkaufsargument für seine Produkte sein musste.

»Was ist mit Ihrem Notebook?«, fragte sie.

Herr Burk ging zu seinem Laptop und drückte auf einen Schalter: »Okay, das ist seltsam.«

»Na toll«, ließ sich Arne hinreißen, »wenn das länger dauert, werden wir durch das Chaos unseren Rückflug verpassen. Oder hat die U-Bahn eine eigene Stromversorgung?«

»Da bin ich überfragt«, gestand Herr Burk, »Ihr Zeitproblem fängt schon hier an. Die Aufzüge dürften nicht mehr funktionieren und mit Ihrem Schuhwerk wird der Abstieg ins Foyer keine wirkliche Freude sein.«

Dabei deutete er auf Simones High Heels, die zwar nicht die höchsten Absätze hatten, jedoch einen Treppenabstieg erschwerten.

Erst ärgerte sie sich über diesen Kommentar, konterte dann: »Die Schuhe kann ich ausziehen, das Treppenhaus wird irgendwann gewischt worden sein!«

Burk reagierte mit einem kurzen, stoßartigen Lachen. »Sehr gut! Ich würde vorschlagen, dass wir unseren Termin für heute beenden. Ich melde mich die nächsten Tage telefonisch bei Ihnen, dann können wir weitere Details besprechen.«

Burk schaute stirnrunzelnd aus dem Fenster: »Schauen Sie, da vorne.«

Simone stellte sich neben ihn und sah, wie ein Ausflugsboot, im Hafenbecken vor dem Büroturm, die Kontrolle verloren zu haben schien: Das Schiff fuhr geradeaus in die Uferbefestigung. Da es ohnehin kurz vor dem Anlegen war, würde es einen relativ kleinen Materialschaden geben.

»Eigentlich wird das Schiff von einem sehr erfahrenen Kapitän gesteuert, wir hatten schon Events auf dem Kahn«, teilte Herr Burk mit, »aber …«

Er schaute wieder aus dem Fenster und Simone folgte seinem Blick, auf der Elbe sah sie eines dieser großen Passagierschiffe.

»Sehen Sie oben am Mast die Radaranlagen? Die sollten sich normalerweise drehen«, erklärte Burk.

»Vielleicht ist es nicht eingeschaltet?«, vermutete Arne.

Der Kunde musterte ihren Kollegen und kam Simone dabei wie ein Lehrer vor, der über die Frage eines Grundschülers lächelt: »Möglicherweise, aber eher unüblich.«

»Ich kann mich täuschen«, setzte Herr Burk fort, »aber das Schiff scheint nicht den normalen Weg zu nehmen.«

»Glauben Sie, es könnte auch außer Kontrolle sein?«, befürchtete Simone.

»Wie kommen Sie darauf und vor allem wieso ›auch‹?«, reagierte Burk auf ihre Frage.

Sie antwortete: »Sie betonten vorhin, dass der Kapitän des Ausflugsbootes normalerweise sehr viel Erfahrung hat, als ob Sie vermuten, dass es eine andere Ursache geben könnte.«

»Gut aufgepasst.« Burk nickte, nahm seinen Blick kaum vom Ozean­riesen, der sanft eine Kurve fuhr. »Das Schiff sollte mittlerweile einen engeren Radius fahren. Wenn sich das nicht ändert, rammt es die Elbphilharmonie. Sie haben sich für Ihren Besuch einen er-eignisreichen Tag ausgesucht!«

»Zwei Havarien sind nichts, was man unbedingt sehen müsste«, wandte Simone mit etwas Empörung in der Stimme ein.

»Sie haben recht«, entschuldigte sich Herr Burk.

Die Spitze des Schiffes verschwand hinter der Elbphilharmonie aus ihrem Sichtfeld, ein Ruck signalisierte, dass das Gefährt auf Widerstand gestoßen war. Ob es die Fassade des Gebäudes berührt oder gar beschädigt hatte, konnte Simone nicht erkennen.

Burk wurde wieder Geschäftsmann: »Zurück zu uns: Ich melde mich bei Ihnen. Ihnen wünsche ich eine angenehme Rückreise, das nächste Mal sehen wir uns in Frankfurt.«

Er öffnete die Tür: »Herr Schröder, können Sie meinen Besuch bitte zum Foyer herunterbringen? Machen Sie Feierabend, dann müssen Sie nicht wieder die Treppen hochsteigen!«

»Gerne«, sagte der etwa 30 jährige Angestellte und wandte sich an Arne und Simone: »Zwei Minuten bräuchte ich noch, könnten Sie bitte an unserem Empfang auf mich warten?«

Grübelnd wartete sie am Tresen, während Arne die dort aufgehängten Kunstwerke begutachtete. Wenig später kam Schröder und geleitete sie aus dem Büro in Richtung der Fahrstühle. Er drückte auf die Ruftaste des Aufzuges und schlug sich nach einem kurzen Moment mit der flachen Hand an die Stirn.

»Die Gewohnheit.« Er führte sie direkt zum Treppenhaus.

Charmant hielt er die Tür auf und Simone und Arne schlüpften durch.

»Wann geht Ihr Rückflug«, fragte er.

»Gegen 19:30 Uhr«, antwortete sie.

»Das sollte zu schaffen sein«, gab sich Schröder zuversichtlich, »aber wer weiß, ob die U-Bahnen fahren. Dann los!«

Er führte die Gruppe das Treppenhaus hinunter. Simone hatte die Schuhe ausgezogen und in ihrer Handtasche verstaut und der Abstieg gelang zügig. In den Gesprächsfetzen, die sie, auf dem Weg nach unten, aufschnappten, ging es um Unfälle: Autos, Schiffe, Boote, ausgefallene Ampelanlagen und nicht mehr funktionierende Telefone.

Sie nahm ihr eigenes Mobiltelefon aus der Tasche. Vor Kunden-terminen schaltete sie es aus Gewohnheit aus, jetzt ließ es sich nicht wieder einschalten. Das hatte sie den Gesprächen im Treppenhaus entnommen: Anscheinend funktionierten auch Handys nicht mehr.

Im Foyer angekommen, warfen sie einen Blick auf die Straße und auf Teile des Hafens. Simone erkannte einige Unfälle und das von oben beobachtete Ausflugsschiff war nicht das Einzige, welches Probleme hatte. Menschen mit leichten Wunden an Kopf und Armen wurden von Helfern versorgt, das Foyer selber war mit Menschentrauben gefüllt, die angeregt diskutierten.

»Kein Verkehrslärm, kein Hupen und vor allem keine Sirenen«, bemerkte Schröder, »ich weiß nicht, was da draußen los ist, aber wenn es in der ganzen Stadt so aussieht, wie hier auf der Straße, sollten Sie damit rechnen, dass Sie Ihren Rückflug nicht pünktlich erreichen.«

»Vielleicht fährt die U-Bahn noch«, hoffte Simone.

»U-Bahn? Nein, die blieb auf einmal stehen, fünfzig Meter vor Baumwall«, erklärte ein Mann im Vorübergehen.

»Ich bringe Sie bis zum Bahnhof, das sind keine zwei Kilometer. Von da aus kommen Sie bestimmt weiter«, bot sich Schröder an.

Er hatte bei Simone schon beim Eintreffen in Burks Büro einen entgegenkommenden Eindruck gemacht.

»Ist das kein Umweg für Sie?«, fragte sie.

»Es liegt nicht direkt auf meiner Strecke, aber« und er deutete nach draußen, »ich habe den Eindruck, dass Sie im Moment jemanden mit Ortskenntnissen benötigen könnten.«

»Wir nehmen Ihr Angebot gerne an«, sagte Arne und die drei verließen den Columbus Komplex.

Auch wenn die Klimaanlage im Gebäude ausgefallen war, traf sie die drückende Abendhitze vor der Tür mit voller Wucht. Arne lockerte seine Krawatte, Schröder war weiter und hatte seine bereits ausgezogen.

Florian

Das monotone Auf und Ab der Herz-Lungen-Maschine nervte und beruhigte Florian gleichzeitig. Er hatte einige Operationen damit durchgeführt, fand den Gedanken, dass das Leben des Patienten auf dem OP-Tisch komplett davon abhing, faszinierend und erschreckend zugleich. Obwohl er den Geräten vertraute, hoffte er, dass er nie selbst darauf angewiesen sein würde. Jeder Eingriff war ein Risiko, auch wenn sich für das Personal im OP im Laufe der Zeit so etwas wie Routine eingestellt hatte.

Nach seiner Ausbildung zum Krankenpfleger war er ins Ope­rationsteam gewechselt. Die Arbeit mit den Patienten auf den unterschiedlichen Stationen hatte ihm nicht zugesagt und mit der Zusatzausbildung zum Kardiotechniker hob er sich von den Krankenpflegern ab.

Den Mann auf dem Tisch vor ihm berührte das eintönige Geräu­sch der Herz-Lungen-Maschine im Moment nicht. Es handelte sich schließlich um sein Herz, das sie stillgelegt hatten und dessen Funktion nun die Maschine übernahm.

»Warum muss es immer der letzte Bypass sein …. Tupfer! …«, Kai Hense, der Chefarzt, streckte der OP-Assistentin die Stirn entgegen, »der Probleme macht.«

»Zwei von drei«, grinste Florian unter seiner Maske, »beschwer dich mal nicht, das ist doch gar kein schlechter Schnitt. Der Tag von unserem Patienten war definitiv schlechter.«

»Ganz sicher hat der sich den anderes vorgestellt«, sagte die Assistenzärztin, »und beim ersten Sodbrennen hat der sicher auch nicht an einen Herzinfarkt gedacht.«

»Fertig.« Kai lehnte sich etwas zurück und begutachtete sein Werk.

Florian freute sich auf den Feierabend und schaute sehnsüchtig nach der Uhr, deren Zeiger ihm 17:40 Uhr offenbarten. Er be-obachtete, wie Kai nach der Klemme griff, die auf der Hauptschlag­ader saß. Nach dem Lösen begann das Herz optimalerweise von allein an zu schlagen.

Plötzlich ging das Licht im Operationssaal aus.

»Was soll der Mist!«, fluchte Kai.

Florian blinzelte und schaute in jede Richtung. Der gesamte OP-Bereich war fensterlos, sodass kein Licht von außen eindrang. Der Saal wurde stockdunkel und nicht einmal schemenhaft war etwas zu erkennen. Flüchtig erinnerte er sich an seinen Besuch im ›Dunkelkaufhaus‹, eine ›Nichtsehenswürdigkeit‹ in Wetzlar. Schnell war sein Fokus wieder im OP.

»Kai, meine Maschine läuft nicht mehr, du musst schnell was machen.«

Die Stimme der Assistenzärztin klang panisch: »Wir haben kei-nen Puls mehr.«

»Ich versuche, die Klemme im Dunkeln zu lösen«

Kai beschrieb seine Handgriffe: »Ich suche die Klemme … da ist sie nicht … habe sie … und sie ist entfernt.«

Ein metallisches Scheppern belegte, dass er den Wagen für das Besteck verfehlt hatte.

»Daneben«, kommentierte Kai kurz und knapp, »ich kann nicht fühlen, ob Blut in sein Herz fließt.«

Nach einem gefühlt unendlich langen Moment: »Das Herz fängt nicht an zu schlagen, ich starte mit einer offenen Herzmassage.«

Florian hatte das schon einmal beobachtet: Dabei umfasst der Arzt das freiliegende Herz des Patienten und versucht, es mit rhythmischer Kompression wieder zum Schlagen zu bringen. Er wartete gespannt.

Einen Stromausfall während einer Operation hatte Florian selbst noch nicht erlebt: »Das Notstromaggregat braucht ewig.«

»Ich habe das Zeitgefühl verloren«, gestand Kai. »Hat jemand eine Ahnung, wie lange ich das Herz schon massiere?«

Nachdem niemand reagierte, gab er auf: »Ich kann hier nichts mehr tun außer den Tod des Patienten festzustellen.«

Nach einem Moment betretenen Schweigens erhob Florian die Stimme: »Draußen ist Licht!«

Schemenhaft war der OP-Saal zu erkennen. Von außen kam eine Krankenpflegerin mit einer Kerze hinein.

»Im ganzen Krankenhaus ist der Strom ausgefallen«, klärte sie das Team auf.

Doktor Hense schaute auf den Patienten und dann in Richtung Florian: »Hat deine verfickte Maschine denn keinen Akku? Was ist da los? Akku kaputt? Notstromaggregat springt nicht an? Sind wir hier in irgendeinem Entwicklungsland?«

Florian fühlte sich ungerecht behandelt und eine Antwort lag ihm auf der Zunge, Hense kam ihm jedoch zuvor: »Entschuldige bitte, wir werden die Notsysteme noch mal überprüfen müssen.«

»Kannst du uns mit mehr Licht versorgen?«, fragte Florian die Pflegerin.

»Ja. Dauert aber einen kurzen Moment«, reagierte die Angesprochene, gab die mitgebrachte Kerze der Assistenzärztin und verließ den Saal.

Lukas

Trotz des warmen Wetters war das Forum an diesem Tag belebt, weshalb Lukas und Sören öfter hintereinander statt nebeneinander liefen. Wie die meisten Jungen zwischen vier und vierundneunzig Jahren wurden die zwei wie magisch vom Elektronikmarkt angezogen. Sie ließen die weiße Ware gänzlich unbeachtet und strebten zu den Regalen mit den Spielen für die Playstation am hinteren Ende des Marktes. Dort verhielten sich die Jugendlichen typisch männlich und versuchten, sich gegenseitig mit ihren Fachkenntnissen über die Produkte zu übertrumpfen. Die waren, gesammelt, zumindest so fundiert, dass der anwesende Fachverkäufer keine Chance hatte.

»Lass uns ein Eis essen gehen!«, schlug Lukas vor.

»Wir waren eben erst bei Burger King«, widersprach Sören.

»Eben erst? Wir sind schon ewig hier«, reagierte Lukas, »und ein Eis passt immer rein.«

»In die Eisdiele oder unten?«, fragte Lukas.

»Unten«, beschloss Sören und sie machten sich auf den Weg zum Eisverkaufsstand im Erdgeschoss.

Erneut eilten sie durch das Obergeschoss, sodass sie von der Galerie aus die unten laufenden Leute beobachten konnten. Sie betraten die Rolltreppe und stellten sich hintereinander auf die Stufen. Lukas vorn, Sören hinten.

Lukas’ Blick fiel auf das grüne Logo des Buchladens im Obergeschoss: »Wird das eigentlich mit zwei oder mit drei Silben ausgesprochen?«

Sören sah in verständnislos an: »Was?«

Lukas deutete auf das Logo: »Zweisilbig oder drei?«

»Wen interessiert das? Über was Du Dir Gedanken machst! Wollen wir nachher noch zocken?«

Lukas überlegte laut: »Klar. Was wollen ….«

Als die Rolltreppe abrupt stoppte, mussten sich die Jungs fest-halten, Sören knallte leicht gegen Lukas.

»Mensch, pass doch auf«, schimpfte der und hielt sich krampfhaft am Handlauf fest.

Im ganzen Einkaufszentrum waren überraschte Rufe zu hören. Dem Mann, der auf der gleichen Rolltreppe fast unten angekommen war, gelang es nicht mehr, sich festzuhalten und er fiel die beiden letzten Stufen hinunter. Die Tüten, die er trug, platzten auf und ihr Inhalt verteilte sich am Ende der Treppe.

»Wow!«, war das Erste, was Sören herausbrachte.

Von seiner Position auf der Rolltreppe sah Lukas, wie von der linken Seite ein Lkw in sein Blickfeld auf die Straßenkreuzung raste und die auf der Kreuzung liegen gebliebenen Autos etwa zehn Meter vor sich her schob, bevor er komplett zum Stehen kam.

»Nein«, flüsterte Lukas, »nicht cool, gar nicht cool. Lass uns schauen, ob wir helfen können!«

Sören sah ihn entgeistert an: »Hast du das gesehen? Der Lastwagen hat die Autos einfach weggeschoben!«

»Es gibt bestimmt Verletzte, denen wir helfen können!«

Die Jungs verließen die Rolltreppe, rannten durch die geöffneten Türen nach draußen, blieben auf dem Platz vor dem Eingang stehen und sahen sich um. Die Ampeln waren ausgefallen und kein einzi­ges Fahrzeug lief. Überall hatten sich Autos ineinandergeschoben.

Sie näherten sich den Fahrzeugen, die vom Lkw zur Seite ge­schoben worden waren. Aus einigen Autos stiegen Menschen aus, andere blieben sitzen, wenige bewegten sich nicht.

»Ob die tot sind?«, flüsterte Sören.

Lukas erschauerte bei dem Gedanken und klopfte an die Scheibe des Skodas, neben dem sie standen. Auf dem Fahrersitz saß eine Frau und sie war entweder ohnmächtig oder tot. Nachdem eine Reaktion ausblieb, öffnete er die Tür, und die Fahrerin sackte ein wenig in seine Richtung, wurde aber vom Sicherheitsgurt gehalten. Eine sichtbare Verletzung erkannte er nicht.

Lukas griff nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls: »Sie lebt.«

Er beugte sich ins Auto, löste den Gurt und presste mit der anderen Hand die Schulter der Frau in den Sitz, damit sie nicht umfiel.

»Sören, holst du die Decke, die auf dem Rücksitz liegt«, bat er.

Der holte die Decke, während Lukas sich hinkniete und einen Arm hinter den Rücken der Ohnmächtigen schob. Dann umfasste er mit der durchgeschobenen Hand ihre Hüfte, wobei er sich nicht ganz wohl fühlte. Die Frau war vermutlich 15 Jahre älter als er, aber er fand sie attraktiv und durch den Stoff ihres eng anliegenden Kleides spürte er ihren Slip. Er schüttelte kurz den Kopf, als ob er eine auf seiner Nase sitzende Fliege vertreiben wollte, und konzen-trierte sich wieder darauf, die Frau aus dem Auto herauszubekommen.

Sören breitete die Decke auf den von der Sonne erwärmten Steinplatten aus und wartete hinter Lukas: »Sag Bescheid, wenn ich dir helfen soll!«

Lukas drückte mit der linken Hand gegen die Knie der Dame und drehte sie so zu sich, dass ihr Rücken ihm zugewandt war. Er griff mit den Armen unter die Achseln, ergriff mit der Rech­ten ihren linken Unterarm, den er vor ihrem Bauch platzierte und mit beiden Händen so festhielt, dass alle seine Finger und Daumen vorne waren. Hier spielten ihm seine Hormone wieder einen Streich, berührten seine Arme doch ihre Brüste. Er atmete tief durch, verlagerte das Körpergewicht nach hinten und zog die Frau so aus dem Auto heraus auf seinen Oberschenkel.

Sören hatte ihre Unterschenkel ergriffen, bevor diese auf den Boden fielen. Gemeinsam trugen sie sie zur vorbereiteten Decke und legten sie in die stabile Seitenlage.

Um sie herum waren auch andere damit beschäftigt, Verletzte zu versorgen und Lukas fiel auf, dass zwei Körper mit Decken abgedeckt auf dem Boden lagen.

»Seltsam.« Lukas drehte sich und wunderte sich »Wie kann das denn angehen?«

»Keine Ahnung, die Fahrzeuge scheinen alle gleichzeitig ausgegangen zu sein«, stellte Sören fest, »im gleichen Moment mit der Rolltreppe.«

»Das ist wie in dieser einen Serie, ›Revolution‹, da sind sämtliche elektrischen Geräte ausgefallen, alle Lichter gingen aus, Flugzeuge sind vom Himmel gefallen«, erinnerte sich Lukas und sie such-ten darauf den Himmel ab, zumindest den Teil, den man zwischen Gebäude und Hochtrasse sah.

»Kein Flugzeug zu sehen«, bestätigte Lukas.

»Was war denn die Ursache für den Stromausfall in der Serie?«

»Keine Ahnung, irgendwas Menschengemachtes.«

»Und wie kam der Strom wieder?«

»Ich soll Dich spoilern?«, neckte Lukas, »aber um ehrlich zu sein: Das weiß ich nicht mehr. Es ging um ein postapokalyptisches Amerika, aber nicht so krass wie bei ›The Walking Dead‹.«

Die von ihnen aus dem Auto gerettete Frau öffnete die Augen und richtete sich mit verwirrtem Blick auf.

»Können wir Ihnen helfen?«, fragte Lukas.

»Wie komme ich hierher? Was ist passiert?«

»Sie hatten einen Unfall«, antwortete Lukas, »und Sie waren wohl ohnmächtig. Wir haben Sie aus Ihrem Auto geholt.«

Mittlerweile hatte ein sportlicher Mann um die dreißig die Leitung der Versorgung der Unfallopfer übernommen und kam auf sie zu: »Ihr habt die Dame aus dem Auto geholt?«

Das war mehr Feststellung denn Frage: »Gut gemacht! Ich glaube, die Erstversorgung steht und Schwerverletzte scheinen wir nicht zu haben.«

Lukas entging nicht, dass der Mann dabei in die Richtung der Toten schaute.

»Vielen Dank für eure Hilfe, vielleicht mögt ihr irgendwann bei uns Maltesern vorbeischauen? Wir suchen ehrenamtliche Helfer!«

Lukas freute sich über das Kompliment: »Ich bin bei der Freiwil­ligen Feuerwehr aktiv, aber man weiß ja nie! Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen«, entgegnete der Mann und wandte sich wie­der den Verletzten zu.

»Wir werden nach Hause laufen müssen«, vermutete Lukas.

»Wir können warten, bis der Strom wieder da ist und mit dem Bus fahren«, schlug Sören vor.

»Ich glaube, es ist besser, jetzt zu gehen«, sagte Lukas, »wenn die Busse wieder fahren, können wir uns den Rest des Weges mitnehmen lassen. Sollte das die ganze Nacht dauern, sitzen wir hier fest. Bei mir sind es nur knappe fünf Kilometer, die schaff ich gemütlich in einer Stunde, aber bei dir sind es fünfzehn oder zwanzig Kilometer. Da brauchst du mindestens drei Stunden.«

Sören nickte: »Wir sehen uns morgen in der Schule!«

»Mach’s gut«, reagierte Lukas. »Lauf dir keine Blasen!«

Sie umarmten sich und jeder eilte in eine andere Richtung davon.

Laura

Okay, wir versuchen es noch einmal«, rief Laura in die kleine Schulturnhalle.

Endlich hatten sich ihre Mädels, achtzehn Stück, alle sechs bis acht Jahre alt, aufgestellt und Laura bückte sich, um den CD-Spieler zu starten.

Das gewohnte Anlaufen des CD-Tellers blieb aus und sie drückte noch mal. Wieder reagierte das Abspielgerät nicht. Sie kontrollierte den Stromanschluss am Player und den Stecker in der Steckdose.

»Na toll«, sagte sie, »ausgerechnet jetzt geht dieses Mistteil kaputt.«

Das Gerät hatte in letzter Zeit ohnehin das Abspielen einiger CDs verweigert, die meisten ihrer MP3-CDs hatte er erst gar nicht angenommen.

»Okay die Damen, wie ihr bemerkt habt, läuft die Musik nicht, wir werden das trocken üben.«

»Können wir nicht etwas spielen? Ohne Musik zu tanzen … macht keinen Spaß«, sagte Mariella.

»Wir üben das Stück noch einmal trocken, danach ist Schluss für heute.«

Sie hörte die Eingangstür, ein untrügliches Zeichen, dass die ersten Eltern zum Abholen gekommen waren.

»Los die Damen! Eins, zwei, drei, vier«, zählte Laura an und dann mit Betonung auf »Eins« weiter.

Da die Musik als Orientierung fehlte, sagte sie zwischendurch die Figuren an. Stolz beobachtete sie, wie ihr Team die Choreografie feh-lerlos meisterte. Sie kannte Tanzgruppen deren Tänzerinnen älter waren als ihre und die das nicht so gut hinbekamen.

»Wunderbar, das war ein gelungener Abschluss, ich würde sagen, wir machen Schluss für heute!« Sie rieb sich zufrieden die Hände.

Die Mädchen strömten in Richtung der Umkleidekabine, während drei Mütter die Halle betraten.

Laura wollte die kurze Gelegenheit nutzen, um die Neuigkeiten bei Instagram anzuschauen, aber ihr Handy ging nicht an.

War der Akku eben nicht fast dreiviertel voll gewesen?

Als die Mütter bei ihr ankamen, legte sie das Smartphone weg.

»Hallo Laura, alles klar bei euch?«, fragte Maike Zinn mit einem besorgten Unterton.

»Ja, heute haben die Mädels super mitgemacht, nur mein CD-Spieler hat sich endgültig verabschiedet.«

»Warte noch, bis du dir einen neuen kaufst, anscheinend ist im ganzen Dorf der Strom ausgefallen.«

»Wie gut, dass die Mädchen direkt nach dem Training noch nicht duschen und nicht föhnen müssen!«

»Laura!«, rief Mariella aus der Toilette, »die Spülung ist kaputt!«

»Wie? Kaputt? Da klemmt bestimmt nur etwas«, antwortete Laura, ging zur Toilette und drückte auf die Spülung. Außer einem leichten Rinnsal kam nichts.

»Das ist auf allen Klos so«, sagte eines der anderen Mädchen.

Ein Drittes stand vor dem Waschbecken und beobachtete, wie die Tropfen aus dem Wasserhahn kamen: »Hier kommt auch nix!«

Maike war Laura gefolgt und vermutete: »Es scheint kein Druck auf der Leitung zu sein.«

»Hängt das Wasser vom Strom ab?«, fragte Laura.

Maike runzelte die Stirn: »Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie das Wasser ins Haus kommt.«

»Wasserdruck?«, vermutete Laura, »Wird der nicht irgendwie durch Schwerkraft aufgebaut?«

»So oder so, die Toiletten sollten vorerst nicht mehr benutzt werden«, schlug Maike vor.

»Gute Idee«, stimmte Laura zu und rief lauter hinterher: »Habt ihr das alle gehört? Bitte nicht mehr die Toiletten benutzen, hebt es euch für daheim auf!«

Weitere Eltern kamen an und berichteten davon, dass ihre Autos nicht angesprungen waren.

»Keine Fernentriegelung und nicht mal ein Klacken, wenn man den Schlüssel umgedreht hat!«, erklärte Mariellas Vater.

Mittlerweile stand Laura mit den Eltern und den restlichen Kindern vor der Turnhalle. Bis dahin waren nur die Hälfte der Mädchen abgeholt worden. Das war ungewöhnlich, es kam zwar hin und wieder vor, dass sich jemand verspätete, aber nie so viele auf einmal.

»Vielleicht werden nicht alle Kinder abgeholt?«, vermutete Laura.

»Ich kann Kathrin mitnehmen, die wohnt direkt neben uns«, bot Mariellas Vater an.

Fünfzehn Minuten später wartete Laura nur noch mit zwei Mädchen vor der Halle, als Maike zurückkam.

»Ich habe Pauline nach Hause gebracht, die wird von der Oma versorgt«, erklärte sie, »und ich wollte nachschauen, ob du zurechtkommst.«

»Danke dir! Ich klemme gerade noch einen Zettel an die Tür, falls doch jemand kommt. Dann wollten wir loslaufen, Nadja nach Hause bringen. Emily kommt noch mit zu mir und wird dort von ihren Eltern abgeholt.«

Die Eltern des Mädchens arbeiteten beide in Frankfurt und Laura hatte ihnen angeboten, ihre Tochter nach dem Training mit nach Hause zu nehmen, bis beide von der Arbeit zurück waren.

»Was dagegen, wenn ich euch begleite?«

»Nein, im Gegenteil!« Laura klebte den Zettel an die Glastür, schloss ab und die vier machten sich auf den Weg.

Umbach hatte ungefähr 2.400 Einwohner und, wenn man von den paar Aussiedlerhöfen und dem Hofgut absah, gab es im Dorf keine weiten Wege. Die Tatsache, dass Nadja an einer vollkommen anderen Ecke als Laura wohnte, war deshalb nicht dramatisch.

Zwischen Wetzlar und Gießen gelegen war es bis kurz nach dem Krieg eine eher kleine Siedlung. Erst durch die Vertriebenen war die Bevölkerungszahl rasant angewachsen. Um den alten Ortskern mit Fachwerkhäusern und der Steinkirche aus dem 16. Jahrhundert wurden in den Fünfzigerjahren die typischen, gleichen, kleinen Siedlungshäuser gebaut, von denen mittlerweile viele mit Gauben und Anbauten individueller aussahen.

Die ursprünglich vielen kleinen Läden, der Metzger und der Bä­cker waren in den letzten Jahrzehnten verschwunden und durch den Supermarkt am Dorfrand ersetzt worden. Die alteingesessene Gastronomie war nicht mehr vorhanden, ein italienisches Restaurant und ein türkischer Imbiss boten sich als kulinarische Treffpunkte im Dorf an.

Auf ihrem Weg entfernten sich Laura und die anderen zunächst vom Dorfzentrum und waren relativ schnell bei Nadjas Haus. Sie drückte die Klingel, hörte diese nicht und klopfte deshalb sofort an die Tür.

»Kein Strom«, schlussfolgerte Maike.

Nach einer kurzen Weile hörten sie, wie jemand im Haus die Treppe hinunterkam, die Großmutter des Mädchens öffnete die Tür: »Hallo Nadja! Hallo, ihr drei!«

Sie umarmte ihre Enkeltochter und fragte: »Wo ist denn deine Mama?«

Laura antwortete: »Bis eben war sie nicht da, wir haben einen Zettel an der Turnhalle hinterlassen und bringen die Kinder nach Hause, die nicht abgeholt wurden.«

»Das ist lieb von euch! Bei uns ist der Strom ausgefallen!«

»Wohl im ganzen Dorf«, sagte Maike, »und kein Auto springt an.«

Sie verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg quer durch das Dorf. An der Hauptstraße angekommen, sahen sie einen Lkw, der einen Van in die Bushaltestelle geschoben hatte. Laura zuckte zusammen, denn sie erkannte den Ford Galaxy von Nadjas Mutter und so, wie das Fahrzeug verformt war, wollte sie, speziell mit Emily, nicht näher herangehen.

Sie griff nach Emilys Arm und Maike musste ähnlich gedacht haben, denn sie nahm ihre andere Hand und sagte: »Kommt, wir gehen an der Kirche vorbei!«

Die Straßen waren, bis auf wenige Spaziergänger und Fahrradfahrer, leer. Erst jetzt fiel Laura auf, dass von der A 45, die man normalerweise im halben Dorf hörte, kein Lärm wahrzunehmen war.

Jonas, ein ehemaliger Mitschüler von Laura, kam ihnen auf seinem Fahrrad entgegen und hielt an: »Habt ihr das Flugzeug vorbeisegeln sehen?«

»Hallo Jonas«, antwortete Laura kühl, »Nein. Was ist so Besonderes an einem Segelflugzeug?«

»Nein, kein Segelflugzeug, eine Passagiermaschine, zweistrahlig, aber groß, Airbus oder Boeing, die ist lautlos über die A 45 hinweggesegelt! Unglaublich! Ob die auch einen Stromausfall an Bord hatten?«

Er holte Luft und schaute in Richtung Süden. »Die flog so tief, bestimmt ist die in der Nähe gelandet!«

»Wo soll hier denn bitte ein Passagierflugzeug landen?«, fragte Laura.

»Auf der Autobahn? Es gibt Abschnitte, die als Landebahn nutzbar sind.«

»Und was ist mit dem Verkehr auf der Autobahn? Das wäre viel zu gefährlich!«

»Hörst du irgendwelchen Verkehr? Die Autobahn ist still, da rollt nichts mehr! Ich fahre rüber und schau mir das an«, erklärte Jonas, schwang sich auf sein Rad und fuhr los.

Als sie ihre Straße erreichten ließ Maike Emily los. »Ich mache mich wieder nach Hause. Ihr kommt zurecht?«

»Das bekommen wir hin.« Laura nickte zuversichtlich.

Gemeinsam mit Emily ging sie die paar Meter bis zu ihrem Haus. Da das Auto ihres Vaters nicht auf der Straße stand, wusste sie, dass er noch nicht daheim war. Sie öffnete die Tür und bat Emily hinein. Laura hängte ihren Schlüssel in den Schlüsselkasten, stellte ihre Tasche neben die Heizung und ging mit ihrem Gast ins Esszimmer.

»Magst du etwas trinken?«, fragte sie.

»Nein, jetzt nicht«, antwortete Emily, »ich muss mal aufs Klo.«

Sie öffnete die Tür zum Gäste-WC, öffnete den Wasserhahn des Waschbeckens und auch hier kamen nur wenige Tropfen heraus.

»Der Spülkasten müsste noch voll sein. Ich hole von draußen schon mal eine Gießkanne Wasser.«

»Kommt da denn Wasser aus der Leitung?«, fragte Emily.

»Vermutlich nicht, wir haben aber das Regenfass und da ist mit Sicherheit noch Wasser drin.«

Sie ließ das Mädchen zurück, begab sich in die Garage und fül­­l­te eine Gießkanne. Als sie die Garagentür schloss, hörte sie die Spülung und Emily kam ihr sichtlich erleichtert entgegen. Laura ging an ihr vorbei und hob den Deckel des Spülkastens an. Das vertraute Geräusch des Rauschens, wenn sich der Kasten auffüllt, fehlte. Sie goss Wasser hinein, senkte den Deckel und stellte die Gießkanne unter das Waschbecken.

»Hast du Hunger?«

»Ein klein wenig!«

»Mal schauen, ob wir etwas Schmackhaftes für dich finden!« Laura öffnete den Kühlschrank.

Keine Beleuchtung und auch kein Surren. Natürlich, ohne Strom.

Sie nahm Butter, etwas Käse, Wurst und das Gurkenglas heraus, machte zwei belegte Brote und gab Emily einen der Teller. Während die sich an den Tisch setzte und sofort anfing, die Gurken zu verdrücken, holte Laura Gläser, füllte sie mit Apfelsaftschorle, stellte eins vor Emily und ging mit dem anderen in der Hand durch den Raum.

»Lass es dir schmecken Süße!« Sie nahm wieder ihr Smartphone in die Hand. Das schwarze Display entmutigte sie. Irgendwie fühlte sie sich nicht komplett. Einer Eingebung folgend, wollte sie es in ihr Zimmer bringen und an das Ladegerät anschließen. Die Er­kenntnis, dass das ohne Strom ihr Handy nicht laden würde, traf sie erneut wie ein kleiner Schlag in die Magengrube.

Na gut, sprach sie sich Mut zu, erst um Emily kümmern, dann wollte sie nach ihrem Tablet schauen. Sie steckte das Telefon wieder in die Tasche und wanderte durch den Raum.

An der Wand hingen Bilder der Familie und von Freunden. Ihre Mutter hatte die freie Fläche im Esszimmer und das gesamte Treppenhaus mit Familienbildern zugepflastert. Sie schaute sich das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, Simone und Malte, an. Ihre Mutter war auf einem Geschäftstermin in Hamburg und sie hoffte, dass es ihr gut ging. Ihr Vater hätte schon daheim sein sollen. Direkt daneben hing das Hochzeitsbild ihrer Tante Jutta und deren Mann Florian. Fast ein Drittel der Bilder zeigten entweder sie selbst, ihren Bruder Lukas oder beide zusammen.

Malte

Die Gruppe schlenderte zum Eingang des Supermarktes, wo sich alle aus dem Markt versammelt hatten. Dort stand man weder direkt in der prallen Sonne noch im dunklen Gebäude.

Malte bemerkte, dass der Bauarbeiter in eine Diskussion mit dem Marktleiter, Ralf Müller, verwickelt war: »Du wirst mir ja wohl die paar Flaschen Wasser verkaufen können, vor allem wenn ich die passend bezahlen kann!«

»Ein paar Flaschen?«, reagierte Müller. »Das ist ein ganzer Einkaufswagen voll!«

»Stell dich nicht so an, du hast dein Geld und kannst es wegschließen.« Der Mann wurde ungeduldig.

Müller musterte den Wagen: »Das sind aber nicht nur ein paar Flaschen, du hast den ganzen Einkaufswagen voll!«

»Ich bezahle doch! Wo ist denn dein Problem?«

»Dann muss ich allen etwas verkaufen und ohne Kasse geht das nicht«, versuchte Müller seine Situation zu erklären.

Der Mann gab nicht auf: »Deshalb kaufe ich jetzt auch nur einen Artikel!«

»Ja, aber davon gleich den ganzen Wagen. Warte doch, bis der Strom wieder da ist, dann …«

Der Bauarbeiter schaute sich um, näherte sich Müller, griff nach dessen Oberarm und zog ihn so an sich, dass er ihm direkt ins Ohr sprechen konnte. Trotzdem war es laut genug, dass Malte mithören konnte: »Kannst du dir vorstellen, dass der Strom gar nicht wiederkommt?«

»Gar nicht?«

»Gar nicht!«, wiederholte der Bauarbeiter. »Ich habe einen Freund, der hat sich seit Jahren auf so etwas vorbereitet und ich habe immer über ihn gelächelt. Jetzt schau dich um: Kein Auto funktioniert, kein Handy, es gibt keinen Strom.«

»Ach Quatsch, du glaubst doch nicht, dass die Regierung nicht für so einen Fall vorgesorgt hätte. Bestimmt ist Hilfe von außen unterwegs«, reagierte Müller zuversichtlich.

»Von außen?«, fragte der Bauarbeiter nach.

»Ja, von außerhalb des betroffenen Gebietes, mit Sicherheit gibt es Notfallpläne und irgendwo sitzen jetzt ein paar Techniker und bringen die Stromleitungen wieder in Ordnung«, erklärte Müller.

Der Arbeiter schüttelte den Kopf: »Und was, wenn es kein ›Außen‹ gibt?«

Entnervt gab Müller auf: »Weißt du was, damit ich meine Ruhe habe … kassier ich dir den Wagen ab. Wie willst du das Zeug nach Hause bekommen?«

»Ich nehme den Einkaufswagen mit«, antwortete der Bauarbeiter, als ob es das Selbstverständlichste war.

»Du weißt schon, dass …«, fing Müller an, unterbrach sich selbst: »Bring den Wagen bei Gelegenheit wieder zurück.«

Im Anschluss zog er einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und zählte die Flaschen: »Wie viel, sagtest du, kostet die Flasche?«

»Neunzehn Cent.«

Müller nannte den Preis, nahm das Geld entgegen und be­obachtete, wie der volle Wagen vom Parkplatz geschoben wurde.

Er rief das Supermarktpersonal zu sich: »Tobias: Hol hinten bitte zwei Kirmes Garnituren und ein paar von den Einweg-Grills. Werfe sie an, ich hole Schwenksteaks und Bratwürstchen. Sandra kommt gleich mit mir ins Büro und holt die Geldkassette, wir verkaufen die Steaks mit Brötchen für zwei, die Würstchen für einen Euro … ach, Ketchup und Senf nicht vergessen!

Alle anderen: Wir räumen die Tiefkühlwaren zusammen, bitte mit etwas System: Schweres nach unten, Leichtes oben. Hauptsache es kühlt sich gegenseitig. Wenn die TK-Ware verstaut ist, machen wir das Gleiche mit der Kühlware. Falls jemand Ideen hat, wie wir die Tiefkühltruhen länger kühl halten können: her damit. Anja, du nimmst dir die andere Geldkassette und wir versuchen, ein paar Waren zu verkaufen.«

Die Angestellten verteilten sich und fingen an, die Aufgaben zu erledigen.

Dann wandte er sich an die Kundschaft: »Sehr geehrte Kunden, wegen des Stromausfalls können wir keinen normalen Betrieb auf­recht erhalten. Wir werden eine Kasse öffnen, bitte maximal fünf verschiedene Artikel pro Person, da wir durch den Markt gehen müssen, um die Preise abzulesen! Tiefkühlartikel gibt es zum halben Preis!«

Müllers Aktionismus löste etwas von der Anspannung und die meisten strömten zu ihren Einkaufswagen zurück. Obwohl es im Gebäude dunkel war, gewöhnten sich die Augen langsam an die dämmrigen Lichtverhältnisse. Fast alle räumten ihren Wagen aus und stellten die Produkte wieder an ihren richtigen Platz.

Malte hatte seinen Wagen komplett geleert und überlegte, was er für die Dauer des Stromausfalls am meisten benötigte. Da er sich nicht sicher war, ob sie Streichhölzer zu Hause hatten, fragte er sich bei den anderen Kunden durch und legte einen großen Packen in den Einkaufswagen. Kerzen hatten sie definitiv genug, die müsste er nicht kaufen. ›Tiefkühlware günstiger‹ klang verlockend, als er daran dachte, dass bei ihm daheim weder Tiefkühlschrank noch Ofen funktionieren würden, verwarf er den Gedanken wieder.

»Der ganze Laden voll und nur fünf Artikel«, amüsierte sich Robert, der ebenfalls bei den Streichhölzern angekommen war. In seinem Wagen stapelten sich 5-Liter Kanister Wasser, Kerzen und Brot.

Mittlerweile hatte der Marktleiter selbst die Aktionsartikel geplündert: Windlichterlaternen aus Blech sorgten für eine fast feierliche Atmosphäre im Markt.

Robert zeigte sich beeindruckt: »Tüchtig, tüchtig! Wenn du in der Schule so findig gewesen wärst!«

»Herr Kempf, manche Talente erwachen erst spät!«, konterte der junge Mann grinsend und stellte zwei der Laternen auf.

Malte bewunderte und mochte Robert, der einst einer seiner Lehr-er an der Gesamtschule in Atzbach war. Über die Jahre hatte er mit dem Pensionär eine Freundschaft entwickelt. Gerne erinnerte sich Malte an sein erstes Jahr im Unterricht bei Robert. Der hatte es verstanden, mit der gelungenen Mischung aus streng am Anfang, lockere Zügel später und vor allem einer mitreißenden Art die Schüler einerseits unter Kontrolle zu halten, andererseits für den Schulstoff zu begeistern. Bis heute hörte Malte ihm gerne zu, denn Robert hatte ein unheimlich breit gefächertes Wissen.

Nachdem beide ihre fünf Artikel hatten, standen sie zufällig wieder direkt hintereinander in der Schlange.

»Was mich wundert«, grübelte Malte, »ist, dass gar kein elektrisches Gerät funktioniert. Wenn es ›nur‹ die mit Mikroprozessoren wären, dürfte es sich um einen EMP oder etwas Ähnliches handeln, aber es funktioniert nicht mal mehr einfache Elektrik.«

»Was ist denn heute noch einfach«, erwiderte Robert. Malte wusste aus anderen Gesprächen, dass ihm die Entwicklung manch-mal zu schnell ging.