Ohne Strom - Jenseits deiner Grenzen (Band 3) - Markus Mattzick - E-Book

Ohne Strom - Jenseits deiner Grenzen (Band 3) E-Book

Markus Mattzick

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Beschreibung

44 Tage ohne Strom. 44 Tage ohne Regen. Bei einem kurzen Sommergewitter schlägt der Blitz in den Wäldern nahe Umbach ein. Der Waldbrand bedroht das Dorf und seine Nachbarorte. Kaum haben die völkischen Freyristen Umbach verlassen, wird Nadine mit der bröckelnden Solidarität der Landwirte konfrontiert: Johannes Orloff radikalisiert sich mit seinen religiösen Fanatikern und gefährdet damit den Dorffrieden. Gordon erlebt, wie Simones Wanderung sie verändert hat. Kann die Familie wieder zusammenfinden? Darüber hinaus wird er selbst zum Ziel von Hass und muss sich fragen, wer seine Gegner sind. Der Major macht sich auf den Weg zu seinem Versteck, in der Hoffnung dort auf seine Töchter zu treffen. Doch was er in Wahrheit vorfindet, wird ihn zu einem anderen Menschen machen. Drei Menschenschicksale, die jenseits deiner Grenzen liegen werden.

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Seitenzahl: 381

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Für meine Grundschullehrerin Edith Hirschhäuser, die mir das Lesen und Schreiben beigebracht und so unendliche Welten eröffnet hat. Vielen Dank auch für das Verzaubern der Druckbuchstaben zur Schreibschrift, an dass ich mich bis heute gerne erinnere.

Vorwort

Willkommen zurück in Umbach! Mit Simones Ankunft im fiktiven mittelhessischen Dorf Umbach habe ich Leserinnen und Leser vor über 18 Monaten zurückgelassen. Schon meine Testlesenden wollten wissen, wie es weitergeht – dabei hatte ich eigentlich schon damit begonnen, einen Psychothriller zu schreiben. Den habe ich in die virtuele Schublade gelegt, um ein Spin-Off zu schreiben, das parallel zur bisherigen Geschichte spielt. Als mir der Chiemsee Verlag dann die Übernahme von „Ohne Strom – Wo sind deine Grenzen?“ angeboten und eine Fortsetzung angefragt hat, wanderte auch der Spin-Off Roman in die virtuelle Schublade und ich überlegte, an welcher Stelle ich die Geschichte forsetze. Statt direkt in den folgenden Winter zu gehen, setzt „Ohne Strom – Jenseits deiner Grenzen“ direkt am Ende von „Ohne Strom – Bis über deine Grenzen“ (Band 2) an.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal kurz die bisherigen Ereignisse zusammenfassen: Die völkische Sekte der Freyristen unter Frau Odrell hat nach kurzem Kampf das Hofgut am Rande von Umbach ver- und dem Dorf überlassen. Simones Rückkehr wird vom Tod ihres Sohnes Lukas, der wenige Tage zuvor bei einer Auseinandersetzung zwischen dem Ratsmitglied Carl Holzer und Florian, getötet wurde, überschattet. Der Streit zwischen beiden Männern eskalierte, nachdem Florians Affäre mit Holzers Frau Iris bekannt wurde. Nach einem misslungenen Selbstmordversuch von Holzer übernimmt Nadine Bodner, Landwirtin und beste Freundin von Jutta, Florians Frau, die Rolle der Bürgermeisterin. Florian flüchtet aus dem Dorf, nachdem ihm Malte, der Vater des getöteten Lukas, ein Ultimatum gestellt hat, das Dorf zu verlassen. Laura, die Tochter von Malte und Simone, und ihr Freund Gordon planen, gegen die radikaler werdenden Johannisten, die dem neuen Ratsmitglied Johannes Orloff folgen, vorzugehen. Bernd Schmidt, im Dorf meistens „Der Major“ genannt, hat die Umbacher Miliz aufgebaut. Die Sorge um den Verbleib seiner Töchter lässt ihn aber nicht ruhig.

Für diesen Band habe ich als Protagonisten Figuren Bernd, Nadine und Gordon ausgewählt, die einerseits den Figuren aus den ersten Bänden nahestehen und so auch deren Geschichte weiter erleben, die aber auch andererseits neue Sichtweisen mitbringen.

Ich wünsche gute Unterhaltung in Umbach und immer genug Licht und Wärme zum Lesen!

Markus Mattzick, Hüttenberg

Im Dezember 2022

Prolog

Zwanzig Jahre auf der Straße hatten Oliver auf das Leben ohne Strom extrem gut vorbereitet. Am Anfang war das zumindest so. Aber dann hatte er schnell gemerkt, dass die Menschen noch misstrauischer wurden als vor dem Stromausfall. Und je weniger sie hatten, desto weniger gaben sie ab.

Die beiden Einkaufswagen, in denen er seine Habseligkeiten transportiert hatte, waren nach dem Blackout Ziel der Zerstörungswut von Halbstarken. Nichts, was Oliver nicht schon vorher mal hatte erdulden müssen, aber er hatte geahnt, dass es schlimmer werden würde.

Er hatte die Chance genutzt und sich in bereits geplünderten Geschäften mit einem großen Rucksack, einem modernen Schlafsack und Outdoor-Kleidung ausgestattet. Zu seiner Verwunderung waren diese Läden nicht vollständig ausgeräumt worden. Während er bei der Ausrüstung Glück hatte, war er beim Erbeuten von Nahrungsmitteln zunächst fast ganz leer ausgegangen, aber er hatte schon einige Male vier oder fünf Tage ohne etwas zu essen aushalten müssen. Eine Fähigkeit, die ihm im Laufe der Wochen nach dem Stromausfall einen Vorteil verschaffte, denn viele hatten Hunger vorher überhaupt noch nicht erlebt.

Zunächst hatte er Gießen nicht verlassen, immerhin war ihm die Universitätsstadt vertraut wie seine Westentasche und er kannte dort hilfsbereite Menschen. Erst waren aber die Sozialarbeiter nicht mehr an den üblichen Treffpunkten erschienen und dann blieben die anderen Clochards aus. Es dauerte nicht lange, bis Schreckensnachrichten die Runde machten, dass Banden Jagd auf Obdachlose wie ihn machen würden, und als er der Stadt den Rücken zukehrte, hörte er immer wieder Schüsse aus verschiedenen Vierteln.

Ohne konkretes Ziel wanderte er durch das Umland, mied die Dörfer und Städte und war froh, wenn er mal eine Nacht in einer Schutzhütte hatte verbringen können. Das war nicht ungefährlich, denn einerseits wachten die Dörfer über alles in ihrem Umfeld und andererseits konkurrierten viele der Flüchtlinge aus den Städten mit ihm um die begehrten Plätze.

Vor dem Blackout hatte er manchem, der ihn beim Betteln ignoriert hatte, den Absturz gewünscht, und nun waren viele von ihnen genau wie er: ganz unten. Aber anstatt sich darüber zu freuen, sah er die Familien mit Kindern, und auch wenn er denen gerne geholfen hätte, so musste er sich um sein eigenes Überleben kümmern.

Oliver saß auf einer Bank vor der Grillhütte am Kühberg und konnte das Lahntal zwischen Wetzlar und Gießen überblicken. Im Nordosten war der Dünsberg zu sehen, im Nordwesten die Windräder, die mittlerweile total nutzlos waren. Die Dörfer wirkten fast unverändert, wenn man von den kleinen Wallanlagen absah. Die Wolken am Himmel kündigten Regen an und Oliver war sich sicher, dass es seit dem Stromausfall kaum geregnet hatte. Er nahm seinen Rucksack und begab sich zur Hütte, um Schutz zu suchen.

erster akt

Tag 45

Bernd

Das Bücherregal ließ sich wie eine Tür öffnen und Bernd freute sich darüber, wie leicht sich das selbst gebaute Konstrukt bewegte. Er hatte vor dem Bau berechnet, dass alles zusammen mehr als 100 Kilo wog, trotzdem ließ es sich bequem mit einer Hand bewegen. Richtig stolz war er auf die Öffnungsmechanik, die man mit dem Nachvornkippen eines Buches betätigte. Er hatte lange überlegt, welches Werk dazu passen würde, und seine Frau hatte ihn schließlich auf die Spur gebracht. Das Innere einer gebundenen Ausgabe von ›Tausendundeine Nacht‹ wurde ausgehöhlt, verklebt und mit dem Mechanismus verbunden. »Sesam öffne dich!«

Hinter der Tür war es dunkel und Bernd seufzte, als er, wieder mal erfolglos, den Lichtschalter betätigte. Er hatte so viel Energie und Geld in ein ausgeklügeltes System von Batteriespeichern und Notstromaggregaten gesteckt, aber in keinem Szenario, das er kannte, war der Strom komplett ausgefallen. Mit seinem Benzinfeuerzeug entzündete er den Docht der verzinkten Sturmlampe, senkte das Glas und hielt sie vor sich, als er in den versteckten Raum hinter der Regalwand ging.

Als er das Haus fünfzehn Jahre zuvor zusammen mit seiner Frau gekauft hatte, war dort noch kompakter Tonschiefer, und er hatte viel Zeit damit verbracht, unzählige Eimer Erde und Schiefer herauszutragen. Der Schein der Lampe erhellte sein etwa 16 Quadratmeter großes Vorratslager. Schwerlastregale verdeckten die Wände und schon vor dem Stromausfall war deren Inhalt einige Tausend Euro wert. Die Böden mit den Waffen hatte er bereits in den ersten Tagen geplündert und mit den Einwohnern von Umbach geteilt. Sein Vorrat an Munition, der einem Laien als unerschöpflich vorkam, war, bis auf seine eiserne Reserve, verbraucht.

Direkt daneben lagerten zwanzig Zehn-Liter-Kanister mit Trinkwasser. Normalerweise wäre es an der Zeit gewesen, den Inhalt auszutauschen. Umbach hatte zwar eine stabile Wasserversorgung, Bernd war sich aber nicht sicher, ob das Wasser hygienisch die gleiche Qualität hatte, und entschied sich gegen den Austausch.

Die Konserven waren nicht in Boxen verpackt, sondern in eigens konstruierten Spendern: Legte man oben eine Dose nach, rutschten die dann auf einer schiefen Ebene nach hinten, fielen auf eine weitere, um dort wieder nach vorn zu rollen. So hatte er einen rotierenden Vorrat, bei dem er das zuerst Eingelagerte auch als Erstes verbrauchte.

Zielstrebig steuerte er ein bestimmtes Regal an, zog eine der genormten Euroboxen heraus und öffnete den Deckel. Neben den Waffen war dies die einzige Box, die er in den letzten sechs Wochen immer wieder geöffnet hatte. Darin befanden sich mehrere Großpackungen seines Lieblingserdnussbutterriegels. Sein erster Plan, sich nur einen pro Woche zu gönnen, hatte er aufgegeben. Mittlerweile war er froh, wenn er Weihnachten noch eine Reserve übrig haben würde. Er öffnete eine weitere Großpackung, nahm einen Riegel heraus, schloss die Box und schob sie an ihren Platz zurück.

Dann verließ er sein Lager, stellte die Lampe auf seinen Schreibtisch, machte die Tür zu und kippte das Buch an seine normale Position im Regal. Er spürte, wie der Verriegelungsmechanismus griff, löschte das Licht in der Laterne und hielt ehrfürchtig den Schokoriegel in der Hand.

»Hast du den Vorrat bald komplett geplündert?«

Die Stimme seiner Frau ließ ihn zusammenzucken, er hatte nicht mitbekommen, dass sie in das Arbeitszimmer gekommen war.

»Ein paar Wochen wird er noch reichen«, grinste er.

»Und dann?«

»Dann muss ich mir ein neues Laster suchen.«

Ein Foto auf seinem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit. Darauf zu sehen war eine etwa zwanzig Jahre jüngere Version von ihm selbst und an jeder Hand hielt er ein Mädchen. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen und ihre Zahnlückenlächeln verrieten, dass sie Grundschülerinnen waren.

Seine Frau bemerkte seine Blicke.

»Ihnen wird es gut gehen. Sie haben zwar immer wieder gelächelt, wenn du ihnen gesagt hast, dass sie sich ein wenig vorbereiten sollen, aber du weißt, dass sie das nicht auf die leichte Schulter genommen haben.«

»Im Gegensatz zu ihrer Mutter«, sagte er.

»Für die bist du nicht mehr verantwortlich.«

»Aber die Mädels werden sich in der Verantwortung fühlen.«

Sie kam auf ihn zu und nahm ihn in den Arm.

»Das haben sie dann von dir.«

»Ich würde gerne schauen, ob sie bei der Hütte sind«, erklärte Bernd. »Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass sie im Fall einer Krise dorthin fahren sollen.«

Er spürte, wie sie sich leicht anspannte.

»Auch wenn das keine 50 Kilometer sind, ist es ein gefährlicher Weg.« Die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Und du kannst das Dorf nicht im Stich lassen! Kannst du nicht jemanden hinschicken?«

Das Dorf. Als der Strom ausfiel, hatte er vor der Entscheidung gestanden. Bleiben und helfen oder der Zivilisation den Rücken kehren, in die einsame Hütte in den Wald gehen und warten, bis sich die ersten Unruhen gelegt hatten? Sie hatten sich dafür entschieden, nicht zu gehen und die ersten Tage abzuwarten. Das Engagement um Robert Kempf, den mittlerweile verstorbenen Vorstand des Dorfrates, hatte ihn dazu bewegt, in Umbach zu bleiben. In kurzer Zeit hatte man eine Eigenverwaltung aufgestellt und Bernd war daran beteiligt, die Miliz des Dorfes aufzubauen.

»Zu unserem Versteck?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, außer uns muss das keiner sehen.«

»Soll ich dich begleiten?«

»Das würde dann wie eine Flucht aussehen«, lehnte er ab.

»Dass ich das recht verstehe: Du riskierst dein Leben, lässt mich hier alleine zurück und glaubst, dass ich das einfach schlucken werde?«

»Hier bist du sicherer und ich bin in zwei, spätestens drei Tagen wieder hier.«

Er hatte nicht mit so viel Gegenwehr gerechnet.

»Lass uns das doch mit dem Dorfrat und Alex besprechen.«

Seinen Adjutanten hatte er schon einige Tage zuvor in seinen Plan eingeweiht, nicht wissend, dass dieser selbst eine Strategie für die Konfrontation der Russlanddeutschen gegen die Freyristen in der Tasche hatte. Trotzdem vertraute er Alex.

Mit dem Dorfrat würde das etwas schwerer werden, zumal mit dem Johannisten dort eine neue Richtung vertreten war.

»Unsere Vorräte wollen wir immer noch nicht teilen?«, wechselte sie plötzlich das Thema.

Er hatte sie zwei Jahre nach der Trennung von seiner Exfrau kennengelernt und auch wenn sie keine Militärlaufbahn hinter sich hatte, schätzte er ihren Pragmatismus. Hin und wieder dachte sie aber zu viel an andere Menschen.

»Das hatten wir doch schon mal. Das ist unsere eiserne Reserve. Selbst wenn morgen auf einmal der Strom da wäre, würde es Wochen oder Monate dauern, bis die Versorgung wieder funktioniert. Falls das überhaupt gelingen würde. Wir haben zwar noch einige Ernten vor uns, aber schon jetzt ist klar, dass wir zu viele Menschen im Dorf haben. Der Winter wird hart werden und wenn nicht ein Wunder passiert, werden wir viele Menschen verlieren.«

»Wir haben so viel in den Regalen!«

»Für dich und mich reicht das vielleicht für drei Monate«, erklärte er. »Wenn wir nur zwei Leute mit versorgen würden, sind es nur noch sechs Wochen.«

»Das hast du mir schon mehrmals erklärt. Trotzdem finde ich, dass wir anderen mehr helfen sollten.«

Ihm fiel keine gute Antwort ein und er starrte sie an.

»Vielleicht brauchen wir ja auch mal Hilfe von anderen?«

»Das sogar ganz sicher. Aber es bringt auch nichts, wenn wir das jetzt mit der Gießkanne verteilen.«

»Wenn du meinst.«

Sie drehte sich um und verließ das Arbeitszimmer. Bernd blieb stehen, überlegte kurz, ob er ihr folgen sollte, hatte aber keine Lust, diese Diskussion erneut zu führen. Vermutlich wollte seine Frau das auch nicht.

Bernd seufzte und setzte sich an seinen Schreibtisch und überflog seine Notizen für seinen Trip zum Versteck im Westerwald. Die Hütte mitten in einem gepachteten Waldstück war unscheinbar und nur aus direkter Nähe zu erkennen. Da keine Flugzeuge mehr flogen, brauchte man sich auch keine Gedanken darüber zu machen, dass sie jemand aus der Luft finden würde. Oder gar mit einem der Kartenprogramme. Wehmütig fuhr er mit den Händen über das geschlossene Gehäuse seines Notebooks. Er hatte beim Kauf auf die Outdoortauglichkeit geachtet, nicht ahnend, dass es einen Stromausfall wie diesen geben könnte. Sämtliche Versuche, Strom zu erzeugen, schlugen fehl. Und so stand dieses elektrische Gerät, das ihn viertausend Euro gekostet hatte, auf der Tischplatte und schien ihn auszulachen.

Die Waldhütte hatte er gekauft, als klar wurde, dass er seinen Ruhestand in Umbach verbringen würde, und sie sollte das Ziel für seine Familie werden, wenn die Zivilisation am Zusammenbrechen war. Dass Umbach sich so schnell an die neue Situation anpasste, hatte ihm imponiert, und er hatte sich entschieden, in der Gemeinschaft zu bleiben und sie zu unterstützen. Wie er es Jutta seinerzeit erklärt hatte: Gehen konnte er immer noch.

Die Erinnerung an die Aktion, bei der er zusammen mit Nadine, Jutta, Ralf und Norder, deren Jungen sie aus dem Pflegeheim in Werdorf geholt hatten, kam zurück und er machte sich immer noch Vorwürfe. Mit etwas besserer Planung hätte er den Tod von Ralf vermutlich verhindern können. Allerdings war er damals nicht allein unterwegs, das würde bei diesem Trip anders werden.

Auf dem Schreibtisch lag die Liste mit der Inventur des auf dem Hofgut gefundenen Materials. Die Freyristen hatten einiges an Waffen und Munition zurückgelassen, aber die kampferfahrenen Männer und Frauen würden schmerzhaft fehlen. Auch wenn das Dorf bisher gut durch die postapokalyptische Welt gekommen war, stieg die Bereitschaft, das Eigene notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Die Verluste in den eigenen Reihen waren bisher niedrig geblieben, trotzdem hatten die Angriffe auf den Ort viele Lücken in Familien und Freundeskreise gerissen. Die Herausforderungen waren nun die Ausbildung und Bewaffnung der Miliz, und die Beute aus dem Hofgut half zwar, war aber nur wenig mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.

Jemand klopfte laut an die Haustür, was Bernd daran erinnerte, dass er einen Türklopfer montieren wollte. Als er die Tür öffnete, salutierte eine junge Milizionärin vor ihm.

»Hallo«, begrüßte er sie und entgegnete den Salut.

»Herr Major« Sein letzter militärischer Rang war hängen geblieben, und er vermutete, viele kannten seinen richtigen Namen gar nicht. »Ich soll Ihnen melden, dass gestern Abend Simone Kinzig nach Hause gekommen ist.«

Im ersten Moment freute er sich über die Nachricht, dann ging ihm auf, wie knapp sie ihren Sohn verpasst hatte, der bei einem Streit zwischen zwei Männern erschossen worden war.

»Danke. Hat sie schon einen Bericht über ihren Heimweg gegeben?«

Er hatte die Frage nicht fertig ausgesprochen, als er sich selbst darüber ärgerte. Das war definitiv unsensibel. Aber im Krieg - und in den kriegsähnlichen Verhältnissen, in denen sie lebten - gab es oft wenig Zeit für Trauer.

»Ich weiß es nicht.« Das fragende Gesicht der jungen Frau schaute ihn an. »Ich sollte Ihnen nur die Meldung überbringen.«

»Verstehe. Wegtreten.«

Die junge Frau, die vor wenigen Wochen vermutlich noch regelmäßig ihre Mahlzeiten auf Instagram gepostet hatte, salutierte, ging zu ihrem Fahrrad und ließ ihn in der Tür stehend zurück.

»Wie tragisch«, hörte er die Stimme seiner Frau hinter sich. »Ob sie das mit ihrem Sohn verkraften wird?«

»Sie ist von Hamburg bis hierher gekommen«, sagte er. »Nach allen Informationen, die wir bisher haben, wird sie viel Schreckliches erlebt haben. Vielleicht hat sie das auch etwas abgestumpft. Ich bin gespannt, was sie berichten wird.«

Seine Frau sah ihn kurz vorwurfsvoll an, sagte jedoch nichts.

»Ich weiß«, kam er ihr zuvor. »Das wirkt unsensibel, aber jede Information, die wir bekommen können, hilft uns.«

»Du kannst ja Malte oder Jutta fragen, die werden wissen, ob sie dir berichten kann?«

Ein Blitz kündigte ein Sommergewitter an und nur wenige Sekunden später war der Donner zu hören.

»Es wird auch Zeit für Regen, seit dem Stromausfall hat es kaum geregnet.«

Er schaute zu den fast schwarzen Wolkenbergen in der Ferne und dort war bereits ein dunkler Regenschleier zu erkennen. Erste Tropfen fielen auf den Boden und verdunsteten schnell auf dem durch die Mittagssonne aufgeheizten Asphalt.

Seine Frau stellte sich neben ihn.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wenn das zu heftig herunter kommt, hat es keine Zeit, in den Boden einzusickern. Es wird auch nicht lange dauern, und die Quelle, die das Reservoir versorgt, wird nicht mehr genug Wasser führen. Der Bach führt auch schon merklich weniger Wasser.«

Bernds Gedanken wanderten zum Brunnen, der im Keller ihres alten Hauses war, aber ein sinkender Grundwasserspiegel würde die Entnahme dort erschweren.

»Man müsste das Rückhaltebecken nutzen, um Wasser zu sammeln«, dachte er laut. »Filtern kann man es dann immer noch. Ich mache mich auf den Weg!«

»Meinst du nicht, dass du das Gewitter abwarten solltest?«

Die Sorge in ihrer Stimme entging ihm nicht.

»Wegen der Blitze?«

Er hatte nicht fertig gesprochen, als vier Blitze nacheinander Wetzlar erhellten.

»Man muss ja nicht unbedingt im Haus bleiben, aber auf offenem Feld herumlaufen ist auch nicht sinnvoll.«

»Ich will da nur kurz hinfahren, den Ablass schließen und dann bin ja wieder auf dem Weg zurück.«

»Und du weißt, wie das geht?«

Da würde schon irgendein Regler sein, mit dem sich der Ablass verschließen ließ. Allerdings wusste er es tatsächlich nicht.

»Ich werde Dirk mitnehmen.«

Der Umbacher Wehrführer hatte zwar einen Nervenzusammenbruch hinter sich, die Herausforderungen des neuen Alltages hatten ihm aber dabei geholfen, wieder Fuß zu fassen.

»Abhalten kann ich dich ja eh nicht. Passt einfach auf euch auf!«

Sie gab ihm einen Kuss und verschwand dann im Haus, während er sich sein vor der Haustür geparktes Fahrrad schnappte und wenige Hausnummern weiter anhielt. Dirk stand in seinem eigenen Vorgarten und beobachtete das Gewitter.

»Hallo Dirk.«

»Hallo Major«, grüßte Dirk zurück.

»Können wir das Rückhaltebecken verschließen? Es wäre unverzeihlich, wenn wir das Wasser einfach abfließen lassen würden.«

Dirk nickte.

»Da wird zu viel auf einen Schlag herunter kommen und das meiste wird einfach wegfließen.«

Ohne weitere Worte schnappte er sich sein Fahrrad. Sie ließen sich erst bis zur Hauptstraße hinunterrollen, um dann den Anstieg zum Rückhaltebecken zu fahren. Bernd hatte sich auch vor dem Stromausfall schon körperlich fit gehalten, Dirk hatte vermutlich seitdem 15 Kilo verloren und konnte mühelos und ohne außer Atem zu kommen sein Tempo mithalten.

Das Talbecken vor ihnen wurde durch einen unscheinbaren Damm in ein unteres und oberes Becken getrennt. Trotz der unnatürlich geraden Form und des betonierten Auslasses auf der einen Seite fügte er sich unauffällig in die Landschaft ein.

Aus den vereinzelten Tropfen war mittlerweile ein kleiner Regenschauer geworden und ihre T-Shirts klebten an ihren Körpern fest. Über einen Weg auf dem Damm gelangten sie zum Regler für den Schieber, mit dem der Abfluss verriegelt werden konnte. Dirk zauberte aus seiner Hose mit den unzähligen Taschen einen Schlüsselbund und es dauerte nicht lange, bis er den richtigen gefunden hatte, mit dem sich ein kleines Vorhängeschloss am Regler entfernen ließ.

»Direkt im ersten Jahr hatten sich ein paar Jugendliche daran zu schaffen gemacht und sich einen Badesee aus dem Becken gemacht. Als ob wir nicht schon Freibad und Löschteich hätten!«

Bernd hatte die Erklärung schon mehrmals gehört, grinste aber trotzdem.

»Waren wir als Jugendliche anders?«

»Vermutlich nicht«, lachte Dirk.

Mit einem Knall schlug ein Blitz in dem kleinen Unterholz neben ihnen ein. Die beiden Männer versuchten auszumachen, ob sie eine Einschlagstelle sahen, die Bäume verdeckten aber die Sicht.

»Wir sollten zurück ins Dorf fahren«, schlug Dirk vor. »Hier kann es ungemütlich werden.«

Starke Windböen wehten durch die Bäume, der Regen klatschte von der Seite gegen die beiden Männer und auf dem unbefestigten Weg auf dem Damm entstanden die ersten Pfützen. Sie schwangen sich auf ihre Räder und Bernd war froh, als sie wieder einen asphaltierten Weg unter sich hatten. Das Wasser floss über die Straße und vermischte sich mit dem seit Wochen angesammelten Staub, der den Weg in eine rutschige Oberfläche verwandelte. Schon in der ersten Kurve bemerkte Bernd, wie ihm die Kontrolle über das Hinterrad entglitt. Hektisch versuchte er gegenzusteuern, verlor dann ganz die Kontrolle und machte sich auf den Sturz gefasst. Während seine Beine durch die lange Hose geschützt waren, spürte er einen stechenden Schmerz, als sein Ellenbogen Bodenkontakt bekam. Das Rad rutschte in die Böschung, er selbst versuchte sich abzurollen und lag nach einigen Metern mit dem Rücken auf dem Boden. Dirk hatte sein Fahrrad abgestellt und war zu ihm gerannt.

»Alles klar mit dir?«

Benommen schüttelte Bernd den Kopf.

»Wie gut, dass ich nicht auf den Kopf gefallen bin.«

Seinen Fahrradhelm hatte er daheim liegen lassen und er ahnte, dass er sich von seiner Frau eine Predigt würde anhören müssen. Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten, bemerkte schmerzhaft, dass er den linken Arm nicht belasten konnte.

»Wir gehen jetzt erst mal direkt zu Haarberg.«

Erneut schlug mit lautem Knall ein Blitz hinter ihnen ein. Der Regen selbst ließ aber bereits nach.

»Zumindest scheint das ganz große Unwetter an uns vorbeizuziehen«, versuchte Bernd etwas von seiner Verletzung abzulenken. Er hatte es geschafft, aufzustehen und Dirk hatte sein Rad aufgerichtet.

»Scheint bis auf ein paar Kratzer nichts abbekommen zu haben.«

Die Fahrräder schiebend gingen sie zurück nach Umbach.

Nadine

Als Kind hatten Gewitter Nadine fasziniert und auch als Jugendliche hatte sie Stunden damit verbracht, sie von ihrem gemütlichen Zimmerfenster aus zu beobachten. Jetzt stand sie am gleichen Fenster und spürte nichts von dieser Faszination. Das Überleben vieler Menschen, die ihr vertrauten, hing davon ab, wie viel vom noch auf dem Feld stehenden Getreide durch das Unwetter beschädigt werden würde.

»Daran hätte ich denken sollen.«

Der vorwurfsvolle Unterton war nicht zu überhören.

»An das Gewitter?«, fragte ihr Vater.

Der Tod seiner Frau schien ihn kaum verändert zu haben, sie wusste aber, wie sehr er darunter litt. Sie selbst hatte einen der gefangenen Angreifer aus nächster Nähe erschossen und es hatte ihr zunächst die erhoffte Befriedigung gegeben, etwas getan zu haben. Die war schnell verschwunden und der Schmerz um den Verlust ihrer Mutter blieb. Wie hatten das die Generation ihrer Großeltern und die davor ausgehalten? Alle hatten Verluste durch Krieg und Hungersnöte erlitten, und trotzdem hatten die es geschafft, einen Alltag zu leben?

»Das Gewitter ist ungünstig«, antwortete sie. »Aber damit werden wir zurechtkommen. Uns fehlen allerdings die präziseren Wettervorhersagen und die Regeln aus den Bauernkalendern helfen nur eingeschränkt. Nein. Ich habe nicht an das Hybridsaatgut gedacht.«

»Dank dir haben wir das nicht verwendet.«

»Wir nicht, aber alle anderen Landwirte aus Umbach.«

Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich.

»Dann nehmen wir das Saatgut von den Ernten unserer Felder und verbrauchen das Getreide der anderen«, schlug er vor.

Nadine legte den Kopf gegen die Schulter ihres Vaters.

»Das ist eine gute Idee. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können.«

»Manchmal hilft es einfach, über etwas zu sprechen. Und du musst ja auch nicht auf alleine auf jede Lösung kommen.«

»Aber …«

»Scht!«, ermahnte sie ihr Vater. »Du kennst die vielen Berichte aus anderen Orten und Gegenden. Wir haben das hier bisher ziemlich gut hinbekommen.«

Tränen füllten seine Augen.

»Auch wenn wir auch unsere Verluste haben.«

Ihr Vater war nicht der Mensch, der Berührungen mochte. Trotzdem setzte sie sich neben ihn und nahm ihn in den Arm.

»Ich vermisse Mama auch so sehr.«

Ihr Vater erwiderte die Umarmung.

»Jeden Tag. Aber was ich sagen wollte, ist, dass wir jetzt erst mal durch den Winter kommen müssen.«

»Und das Wintergetreide muss bald ausgesät werden. Wo sollen wir das hernehmen? Mehr als die Hälfte wird normalerweise hinzugekauft.«

Als ob ihr Vater das nicht wüsste, ging es ihr durch den Kopf.

»Wie sieht es in den Silos des Hofgut aus?«, fragte er.

»Wir sind da noch am Inventarisieren«, antwortete Nadine. »Da die auch ökologische Landwirtschaft betrieben haben, dürfte es auch normales Saatgut sein.«

»Und es ist ja auch nicht so, dass Hybridsaatgut im zweiten Jahr gar nichts wachsen lässt.«

Sie wusste, dass ihr Vater recht hatte und auch, dass sie noch etwas Zeit bis zur Aussaat des Wintergetreides hatten. Da quasi keine Maschinen zur Verfügung standen, musste umso besser geplant werden.

»Es wird aber wesentlich weniger sein und wir werden jedes Zentner brauchen. Jedes Kilo.«

Ein lauter Knall ließ beide zusammenzucken.

»Der hat in der Nähe eingeschlagen«, bemerkte Herr Bodner.

»Den Regen brauchen wir dringend«, sagte Nadine. »Aber wenn das als Unwetter herunterkommt, fließt das meiste einfach nur weg.«

»Wir können es ohnehin nicht ändern.« Ihr Vater hatte sich neben sie gestellt und nun schauten sie gemeinsam nach draußen. Riesige Regentropfen fielen auf den trockenen Boden, erzeugten bizarr schöne Formen, ließen kleine Krater entstehen, als ob sie Meteoriten wären. Schnell entstanden auf dem abgeernteten Feld Pfützen und das Prasseln auf den Dächern war nun allgegenwärtig.

Immer wieder erhellten Blitze die von den Regenwolken verdunkelten Felder und grollender Donner ließen die Szene bedrohlich wirken. Nach fünf Minuten lichteten sich die Wolken bereits und der Niederschlag wurde weniger.

»Das reicht nicht mal, um die Zisterne auch nur halb zu füllen«, sagte Nadine.

Kurz nacheinander knallte es dreimal, wieder mussten irgendwo Blitze eingeschlagen sein. Nadine rannte ins Dachgeschoss des zum Aussiedlerhof gehörenden Wohnhauses und spähte nach Umbach. Sie konnte nicht erkennen, ob der Blitz irgendwo eingeschlagen hatte und beschloss, mit dem Fahrrad ins Dorf zu fahren.

Der Anblick war immer noch ungewohnt. Da keine Maschinen zur Verfügung standen, hatten die Dorfbewohner mit reiner Muskelkraft eine Wallanlage mit einem Palisadenzaun errichtet, der zwar zweckmäßig aber nicht wirklich schön war. Auf dem Weg der Straße, die von Norden auf Umbach zuführte, sah sie zwei Männer, die ihre Fahrräder schoben. Mit zugekniffenen Augen erkannte sie Dirk und den Major, der humpelte. Sie wartete an der Pforte, bis die beiden ebenfalls angekommen waren.

»Hallo. Was ist passiert?«, fragte Nadine.

»Hallo Nadine«, antwortete der Major zackig. »Ich habe versucht Fahrrad zu fahren und es ging nicht gut aus.«

»Hallo«, grüßte auch Dirk. »Der ganze Staub auf den Straßen wird mit dem bisschen Regen so rutschig wie Schmierseife. Ich bringe ihn zu Doktor Haarberg.«

»Was habt ihr draußen gemacht?«

Nadine hatte die Frage ausgesprochen und war überrascht, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, dass man sich nur mit vernünftigem Grund außerhalb der Dorfbefestigung aufhielt.

»Wir haben den Regler für das Rückhaltebecken geschlossen. In der Hoffnung, ein wenig Regen sammeln zu können«, antwortete der Major.

Er schaute nach oben und kniff die Lippen zusammen.

»Aber wirklich geholfen hat es wohl nicht. Das Wenige ist ja schon bald wieder verdunstet.«

Nadine nickte zustimmend.

»Die Idee war trotzdem gut.«

»Und wo willst du hin?«, fragte Dirk.

»Ich wollte schauen, ob irgendwo der Blitz eingeschlagen hat.«

Er streckte sich ein wenig und ließ seinen Blick über die Dächer wandern.

»Da hätten wir sicher schon was …« Ein weiterer Blitzeinschlag irgendwo Richtung Blasbach ließ ihn zusammenzucken. »… hätten wir sicher schon was gehört.«

»Dann werde ich mich mal zum Hofgut machen. Oder soll ich euch zu Haarberg begleiten?«

»Danke dir, so schlimm ist es nicht«, antwortete der Major.

Sie sah den beiden noch kurz hinterher, bevor sie sich auf ihr Fahrrad schwang, um sich auf den Weg zum vor wenigen Tagen von den Freyristen übernommenen Hofgut zu machen. Überraschenderweise hatte die Gemeinschaft diesen nach einem kurzen, aber heftigen Kampf gegen eine Koalition aus Russlanddeutschen um Alexander, dem Adjutanten des Majors, aufgegeben. Das Dorf war seitdem damit beschäftigt, die Hinterlassenschaft zu erfassen und zu verwalten.

Als sie durch das riesige Hoftor fuhr, kamen ihr Andreas Pape und Johannes Orloff entgegen.

»Hallo Nadine«, begrüßte sie Andreas freundlich.

Orloff beließ es bei einem schlichten Nicken.

Das Gewitter entfernte sich langsam, trotzdem hörte man immer wieder einschlagende Blitze und lauten Donner.

»Da scheint Gottes Strafe ja an uns vorbeigezogen zu sein.«

Andreas verkniff sich nicht den Blick in Richtung des anderen Mannes, der sich zum geistigen Führer einer größer werdenden religiösen Gemeinschaft entwickelte.

Orloff sah ihn an, öffnete den Mund und schloss ihn nach kurzer Zeit wieder. Gerade als Nadine etwas sagen wollte, brach es aus ihm heraus.

»Du wirst noch sehen, was du davon hast, über den Herren zu lästern.«

»Wenn du meinst.« Andreas quittierte die Bemerkung mit einem spöttischen Lächeln. »Wir haben die erste Inventur nun durch und es gibt einiges zu verteilen.«

»Das war auch zu erwarten, allerdings frage ich mich, ob wir es nicht besser zentral lagern sollten?«

Beide Männer schüttelten den Kopf.

»Du erinnerst dich, was mit den Vorräten aus dem Supermarkt passiert ist?«, fragte Orloff.

Die Bilder des brennenden Gebäudes kamen Nadine sofort in Erinnerung. Das Dorf hatte dabei wertvolle Ressourcen verloren.

»Wir müssen es nicht alles direkt verteilen, aber auch nicht an einer Stelle lagern. Besser, wir verteilen es an verschiedenen Orten im Dorf«, schlug sie vor.

Orloffs Gesichtsausdruck sprach Bände. Auch er hatte den Drang, ihr zu widersprechen, hatte aber vermutlich ebenfalls keine schlüssigen Argumente parat.

»Dann sollten wir uns bald überlegen, wo wir was lagern«, sagte er. »Hier gibt es einige kühle Kellergewölbe und wir könnten einen der alten Eiskeller wieder in Betrieb nehmen.«

»Oder mehrere«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu.

»Ohne Eis?«, fragte Andreas.

»Zumindest ist es dort kühler als in den meisten Häusern.«

Auch damit hatte Orloff recht.

»Das nehmen wir mit in die nächste Ratssitzung und überlegen dann, welche Sachen wir wo am besten einlagern können.«

»Und wir sollten überlegen, wer dauerhaft ins Hofgut zieht. Ohne Bewachung kann man das nicht lassen«, sagte Andreas.

In Nadines Kopf überschlugen sich die Bilder. Wenn Orloff mit seinen Leuten das Hofgut für sich beanspruchen würden, hätten sie den Teufel mit dem Beelzebub ersetzt. Sie nickte Andreas zu.

»Ja, du hast recht. Zumal es mich wundert, wieso die Freyristen dem Angriff nicht abwehren konnten. Wenn die sich hier eingeigelt hätten, wäre auch eine Übermacht vergeblich gegen Tor und Mauern angerannt?«

»Vielleicht kann Alex das erklären«, sagte Orloff. »Der wird da eine Schwachstelle gefunden haben.«

»Das klingt zumindest einleuchtend«, reagierte Andreas. »Und wenn wir die kennen, werden wir sie beseitigen.«

»Vorausgesetzt, sie lässt sich beseitigen.«

»Nadine«, konterte Andreas, »du musst nicht alles negativ sehen!«

»Tu ich auch nicht. Aber zu optimistisch mag ich eben auch nicht sein.«

Andreas setzte zu einer Antwort an, kniff stattdessen aber die Augen zusammen und starrte an Nadine vorbei.

»Rauch. Richtung Blasbach.«

Die anderen beiden drehten sich und sahen weit hinter den Hofgutmauern dunklen Rauch fast senkrecht aufsteigen. Gemeinsam eilten sie vor das Hoftor, von dort konnte man über Felder und Wiesen hinweg bis zum Wald zwischen dem Nachbarort und Umbach schauen.

»Entweder ist das in Blasbach oder im Wald dahinter«, sagte Andreas. »Vermutlich hat der Blitz da eingeschlagen und etwas entzündet.«

»Wir können kaum einen Hausbrand löschen.« Nadines Stimme klang besorgt. »Wie sollen wir gegen einen Waldbrand kämpfen?«

»Gott wird das entscheiden.« Nadine konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. Meinte Orloff das wirklich ernst?

»Wir können aber Gott etwas unter die Arme greifen! Ich fahre ins Dorf und versuche ein paar Leute zusammenzutrommeln.«

Andreas rannte zurück zu seinem Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und fuhr den Weg ins Dorf zurück. Nadine betrachtete skeptisch den Wald, der das Hofgut auf zwei Seiten umgab und durch den ausgebliebenen Regen der letzten Wochen vermutlich viel zu trocken war.

»Wart ihr hier fertig?«, fragte sie Orloff.

»Wenn es nicht noch irgendwo Verstecke gibt«, antwortete er, »dann ja. Der Major und die Miliz haben Waffen und Munition schon sichergestellt. Beim Rest müssen wir erst noch entscheiden, wohin wir es verteilen.«

»Kümmerst du dich bitte darum, dass jemand als Wache auf dem Hofgut bleibt?«

»Das hat der Major schon für die nächsten Tage geregelt.«

Als Bürgermeisterin hätte sie das eigentlich planen sollen, ärgerte sie sich.

»Ich werde Andreas folgen und mit nach Blasbach reiten«, erklärte sie. »Ich möchte mir da selbst einen Überblick verschaffen. Bis später.«

Mit dem Fahrrad erreichte sie nach wenigen Minuten den Bodnerhof. Die Spuren des Angriffs waren noch zu sehen und sie sah die Stelle, an der sie einen der gefangenen Angreifer erschossen hatte. Tränen schossen ihr in die Augen und sie musste kurz anhalten, um sich zu sammeln. Der unnötige Tod ihrer Mutter tat ihr weh, aber sie waren nicht die einzige Familie, die Verluste zu verarbeiten hatte. Sie hörte, wie ihr Vater in der Scheune hämmerte, und stieg zurück auf das Rad.

Am Scheunentor angekommen, sah sie ihn und hatte wieder den Drang, mit ihm über den Überfall zu reden, aber er hatte bisher jeden Dialog zu dem Thema abgeblockt.

»Was machst du?«

Er stand an der Werkbank und hämmerte.

Gordon

Gordon saß auf der Couch im Wohnzimmer und las ein Buch, als er die Tür des Schlafzimmers hörte. Er sprang auf, legte den Roman, den er gelesen hatte, zur Seite und eilte auf die Treppe zu, als er auf den obersten Stufen schon Simone sah.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Hallo Gordon.«

Simones Stimme war fest, ihre Körperhaltung aufrecht, ihr Gesicht zeigte keinerlei Emotion, aber auch keine Erschöpfung.

»Wir dachten, du würdest noch länger schlafen. Die anderen sind arbeiten und wir wechseln uns bei dir ab«, erklärte Gordon.

»Wobei abwechseln?«

»Auf dich aufzupassen«, sagte er.

»Das ist nicht nötig.«

Sie war die Treppe heruntergekommen und stand ein wenig unentschlossen vor der Küchenzeile.

»Suchst du etwas?«

Statt zu antworten griff sie nach dem Wasserhahn und öffnete ihn. Sie schien überrascht zu sein, dass er Wasser spendete.

»Kann man das trinken?«

»Die Feuerwehr und der Medizinerrat machen da wohl etwas mit dem Wasser, aber fast alle kochen es trotzdem ab. Trinkwasser ist in der Vorratskammer, in den Kanistern und Flaschen.«

Nichts erinnerte ihn an die Frau, die am Tag zuvor überraschend vor der Tür gestanden und bei der Nachricht über den Tod von Lukas zusammengebrochen war.

»Ich möchte zu Lukas gehen.«

Gordon erschrak. Hatte sie vergessen, was ihr berichtet wurde?

»Bringst du mich bitte zu seinem Grab?«

Einerseits fühlte er sich erleichtert, gleichzeitig war im nicht wohl dabei.

»Soll ich nicht Malte holen, damit ihr das gemeinsam machen könnt?«

Statt zu antworten drehte sie sich und begab sich zur Haustür. Gordon beeilte sich, um hinterherzukommen. Die Mutter seiner Freundin war schon zu normalen Zeiten schlank gewesen, in den Wochen ihrer Wanderung von Hamburg nach Hause hatte sie an Gewicht verloren und Muskeln aufgebaut. Mehr noch als die meisten Bewohner von Umbach.

Schnellen Schrittes lief sie vor ihm und zögerte erst, als sie den Friedhof erreichte.

»So viele?«

Gordon ließ den Blick über die Reihen schlichter Holzkreuze schweifen. Auch wenn er wusste, dass der Tod seit dem Stromausfall öfter zugeschlagen hatte: So deutlich war ihm das nicht bewusst gewesen.

»Ja«, antwortete er. »Auch wenn wir viel besser dran sind als viele andere Orte, haben wir durch Unfälle, Überfälle und Krankheiten viele beerdigen müssen.«

Sie betraten den Friedhof und Simone ging von Kreuz zu Kreuz, bis sie das letzte erreichte.

›Lukas Kinzig‹ stand darauf und auf dem frisch zugeschaufelten Grab lagen wenige Blumen. Kränze oder Gestecke hatte kaum eines der neuen Gräber und eine weitere Grube wartete schon auf den nächsten Verlust.

»Wie ist es passiert?«

Wieder wünschte sich Gordon, dass nicht ausgerechnet er dieses Gespräch mit Simone führen musste.

»Es gab einen Streit zwischen Florian und Holzer. Der hatte ein Gewehr dabei und als die beiden um das Gewehr gerungen haben, löste sich ein Schuss. Lukas stand an der falschen Stelle.«

»Wieso haben die sich gestritten?«

Laura hatte ihm erzählt, dass Malte ihr am Bett berichtet hatte, was im Dorf alles seit dem Stromausfall passiert war, aber entweder hatte sie da unter Medikamenteneinfluss gestanden oder Malte hatte Details ausgelassen.

»Gordon!«

Ihr Stimmfall schüchterte ihn ein.

»Florian hatte ein Verhältnis mit Holzers Frau gehabt.«

»Warum war Lukas bei dem Streit dabei?«

»Er kam mit der Trennung von Jutta und Florian nicht zurecht. Vermutlich wollte er auf Florian einreden. Der hatte ihn kurz zuvor bei den Freyristen herausgeholt.«

»Wo ist Florian jetzt?«

»Malte hat ihm ein Ultimatum gegeben, das Dorf zu verlassen. Er hat sich daran gehalten und ist weg.«

»Und Holzer?«

»Der …« Gordon schluckte. »Der hat versucht sich selbst zu erschießen.«

Simone drehte sich vom Grab weg und verließ den Friedhof, wieder in einem sehr schnellen Tempo. Gordon hielt Schritt und erst als Holzers Haus in Sicht kam, war ihm das Ziel klar. Fordernd klopfte sie an der Haustür und es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde.

Iris Holzer sah um Jahre gealtert aus. Die Augen waren eingefallen, die Haare offen und ungekämmt und auch wenn die Kleidung aller nicht mehr so sauber war wie noch vor dem Stromausfall, war ihr Kleid doch extrem verschmutzt.

»Hallo Iris«, sagte Simone kühl. »Ich möchte mit Carl sprechen.«

»Hallo Simone.« Iris stimme zitterte. »Es tut mir so leid …«

Simone schob die andere Frau ungeduldig zur Seite, die gab sich nicht mal die Mühe, sich zu wehren. Gordon schaute Iris unsicher an, die nur nickte, und folgte der Mutter seiner Freundin, die im Wohnzimmer stand und auf den auf der Couch liegenden Holzer herabschaute. Sein Gesicht war bandagiert, die Verbände von Blut durchtränkt. Ein Berg Bandagen neben dem Sofa deutete an, wie oft Iris sie schon gewechselt haben musste. Sie hatte die Haustür geschlossen und war ebenfalls ins Wohnzimmer gekommen.

»Simone«, krächzte Holzer schwer verständlich und schien dabei Schmerzen zu haben. »Gut, dass du wieder hier bist. Es tut mir lei …«

»Sei still«, fuhr sie ihn an. »Wegen dir ist mein Junge tot, und glaube nicht, dass du dich so einfach aus der Verantwortung stehlen kannst.«

Tränen füllten das nicht verbundene Auge von Holzer.

»Ich werde dafür sorgen, dass du dafür bezahlst.«

»Simone«, Iris hatte sich zwischen Simone und ihren Mann gestellt. »Es war ein Unfall und Carl konnte …«

»Ohne dich wäre es nicht passiert«, unterbrach Simone Iris. Dann drehte sie sich um.

»Gordon, wir gehen. Ich halte es in diesem Haus nicht aus.«

»Simone«, versuchte es Iris und legt ihre Hand auf Simones Schulter. »Bitte, lass uns reden.«

Blitzschnell ergriff Simone Iris Hand und drückte sie von sich weg. Der Gesichtsausdruck von Iris ließ vermuten, dass Simone nicht zärtlich zugegriffen hatte.

»Wir haben nichts zu bereden.«

Ohne Verabschiedung ließ sie Simone stehen, stürmte zur Tür heraus und stand unentschlossen auf der Straße.

Gordon folgte ihr, hätte ihr gerne etwas gesagt, wusste aber nicht, was.

Im Norden sah er Rauch aufsteigen, kurz danach fing die Kirchturmglocke an zu schlagen und es hallten ›Feurio‹-Rufe durch das Dorf. Simone sah ihn fragend an.

»Alle sollen am besten mit Eimern zur Feuerwache kommen«, erklärte er.

»Am ersten Tag hatte es in Hamburg angefangen zu brennen. Die Feuerwehr wusste nicht, wie sie den Brand löschen sollte. Als wir geflüchtet sind, haben wir dann in der Nacht das Leuchten am Himmel gesehen. Vermutlich sind große Teile der Stadt einfach abgebrannt.«

»In Wetzlar sind große Teile der Altstadt den Flammen zum Opfer gefallen«, berichtete Gordon. »In Umbach hatten wir bisher Glück und es hat nur der Supermarkt und ein Haus gebrannt.«

»Der Supermarkt?«

»Ja, das war am Abend des Sonnenwendfeuers. Vermutlich war es jemand vom Hofgut. Lukas hatte da etwas herausgefunden, während er dort war.«

Simone sah ihn lange an und nickte dann.

»Lass uns zur Feuerwache gehen.«

Wieder musste Gordon sich Mühe geben, mit Simone Schritt halten zu können. Aus den Häusern kamen Frauen und Männer, die alle einen Eimer bei sich trugen. Manche erkannten Simone und umarmten sie, die blieb aber wortkarg.

Bei der Feuerwehr hatte sich das halbe Dorf versammelt und unter den Wartenden waren auch Malte und Laura, die auf Simone und Gordon zukamen.

»Simone.« Die Sorge in Maltes Stimme war nicht zu überhören. »Du sollst dich doch ausruhen.«

»Ich …« Sie machte eine kurze Pause. »… musste etwas erledigen.«

Mehr sagte sie nicht und Malte schien auch nicht nachfragen zu wollen, schaute aber Gordon neugierig an. Der formte mit den Lippen nur das Wort ›später‹ und Malte schien sich damit zufriedenzugeben.

»Wo brennt es denn?«, fragte Simone.

»Entweder in oder hinter Blasbach«, antwortete Laura.

Dies schien sich bereits herumgesprochen zu haben, denn die ersten Umbacher verließen den Platz vor der Feuerwacher wieder. Dirk kam ihnen auf dem Fahrrad entgegen, stieg ab, stellte das Rad ab und sprang auf einen der großen Waschbetonblumenkübel.

»Wie es scheint, hat uns das Gewitter verschont«, rief er. »Dafür scheint es in oder bei Blasbach zu brennen. Lasst uns schauen, ob wir denen helfen können.«

Nach kurzem Zögern verließen weitere Menschen den Platz und Gordon konnte Reaktionen wie »Die würden uns auch nicht helfen!« oder »Das ist doch nicht unser Problem!« hören. Die Menge wurde kleiner und am Ende standen etwa fünfzig Personen um sie herum. Eine Kutsche, gezogen von zwei Pferden, kam an und zwei Feuerwehrleute und der Kutscher öffneten eines der großen Rolltore und hängten die alte Feuerspritze an die Kutsche.

»Kann ich mitfahren?«, fragte Gordon Dirk, der sich gerade auf den Kutschbock setzte.

»Klar.«

Gordon drehte sich zu Malte, Simone und Laura um, die ihm zunickte.

»Ich bleibe bei Mama.«

»Danke Kleines, ich kann aber auf mich selbst aufpassen. Wenn du mitwillst, lass dich von mir nicht aufhalten.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe mich 400 Kilometer durchgeschlagen, einige davon alleine. Um mich musst du dir keine Sorgen machen.«

Gordon erinnerte sich an den Tod seiner Eltern, die von Plünderern kurz nach dem Stromausfall überfallen worden waren. Ob sich Simone so ähnlich fühlte wie er? Vermutlich war aber der Tod des eigenen Kindes um ein Vielfaches schmerzhafter als der Tod der Eltern. Selbst wenn der viel zu früh war.

Gemeinsam mit Laura und drei anderen Umbachern setzte er sich auf die Ladefläche der Kutsche und die seltsame Prozession setzte sich in Bewegung. Das Gespann wurde von wenigen Radfahrern begleitet, viele mussten erst nach Hause laufen und ihre Räder holen, und an der Stelle als der Weg den Wald erreichte, holte sie Nadine auf ihrem Pferd ein. Ihr Blick suchte die Radfahrer ab.

»Nach wem schaust du?«, fragte Laura ihre Tante.

»Andreas.«

»Der ist da drüben.« Dirk deutete auf den einstigen Banker, der zusammen mit Nadine und Malte einen Teil des Dorfrates bildete.

Als der Weg den Wald verließ, konnten sie den Ursprung der Rauchsäule sehen. Direkt hinter einigen Häusern, wo der Sportplatz lag, brannten die Bäume lichterloh. Flammen und Funken hatten sich zu den ersten Gärten durchgefressen und bedrohten die dort stehenden Gebäude.

»Mein Gott«, hörte Gordon Dirk leise sagen.

Gordon erinnerte sich an die Brände in Umbach und wie schwer der Feuerwehr und den Helfern der Kampf gegen ein brennendes Haus gefallen war. Aber das, was er da sah, war größer. Die Flammen fraßen sich den Hang hinauf, suchten neues Futter an den Seiten und würden sich wenn man sie nicht aufhalten konnte, sich auch in das Dorf fressen.

»Was können wir gegen so ein Feuer ausrichten?«, fragte Nadine Dirk.

»Nichts.« War die kurze Antwort. »Wir können nur hoffen, dass es von selbst ausgeht.«

»Nichts?« Nadine hatte vermutlich eine andere Reaktion erwartet. »Können wir nicht irgendwelche Schneisen schlagen?«

»Wie denn? Wir haben keine Maschinen, keine Motorsägen und selbst wenn …«, erklärte Dirk, »… der Wald ist viel zu trocken.«

Nadine nickte und brauchte eine Weile, um ihre Gedanken zu sortieren.

»Wie können wir den Blasbachern helfen? Und was können wir machen, um Umbach zu schützen?«

»Helfen?« Die Kutsche hatte wieder Fahrt aufgenommen und die Gruppe sich dem Ort weiter genähert. »Evakuieren.«

Mit aufgerissenen Augen schaute Nadine Dirk an.

»Das ganze Dorf?«

»Wir haben dem Feuer nichts entgegenzusetzen. Vielleicht erreichen die Flammen nicht das ganze Dorf, aber wetten würde ich darauf nicht. Und Umbach: Selbst die kleine Schneise, die wir in den Umbacher Wald geschlagen haben, ist noch nicht breit genug. Außerdem liegt da auch noch viel zu viel brennbares Material herum.«

Als sie im Dorf ankamen, wurden sie von den Einwohnern kaum registriert. Die liefen in verschiedene Richtungen, einige zum Feuerwehrhaus, andere zum Feuer. Die Umbacher Gruppe folgte dem Weg zur Feuerwehr und dort trafen sie Dirks Kollegen, den Blasbacher Wehrführer.

»Hallo Sebastian«, grüßte Dirk.

Der beäugte die angekommene Gruppe, bevor er reagierte.

»Hallo! Danke, dass ihr gekommen seid. Ich weiß aber nicht, wo ihr uns helfen könntet.«

»Bei der Evakuierung?«, fragte Dirk.

Die Blicke aller Umstehenden richteten sich auf ihn. Bis dahin schien das für niemanden eine Option gewesen zu sein.

Sebastian brauchte einen Moment, bis er reagierte.

»Ich bin nicht dazu bereit, das Dorf aufzugeben.«

»Das können alle verstehen«, sagte Dirk. »Aber wenn wir zögern, verlieren wir wertvolle Zeit.«

»Wohin sollen wir alle bringen?«

Lange sagte niemand etwas. Die einen richteten den Blick auf den Boden, andere reckten die Köpfe nach oben, um die Rauchwolken zu sehen.

»Erst mal nach Umbach«, entschied Nadine. »Einen Teil in die Scheune, ein weiterer in das Hofgut. Dann noch welche in die Turnhalle, Schule und den Kindergarten.«

»Nadine.« Andreas sah wesentlich schockierter aus, als Sebastian vorher bei der Erwähnung von ›Evakuierung‹. »Das kannst du nicht alleine entscheiden. Da muss zumindest der Dorfrat befragt werden. Besser das ganze Dorf.«

»Ich werde doch mein Haus nicht verlassen«, sagte einer der Männer, der neben Sebastian stand.

»Ja! Es braucht mehr als ein kleines Feuer, um mich aus meinem Haus zu vertreiben!«, meldete sich ein weiterer zu Wort und viele der anwesenden Blasbacher stimmten dem zu.

Gordon sah, wie Andreas sich Nadine näherte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Ich tu mal so, als ob ich das nicht gehört hätte.« Ihr Blick in Richtung Andreas war abfällig, der zuckte nur mit den Schultern.

»Du wirst sehen, dass das nicht funktionieren wird.«

»Andreas, du kannst hier helfen oder denen, die helfen wollen, aus dem Weg gehen.«

»Mach doch, was du willst.«

Er drehte sich um, schnappte sein Rad und fuhr weg, gefolgt von einzelnen weiteren Umbachern. Nadine wandte sich an die Dagebliebenen.