Oktobernacht - Volker Backert - E-Book

Oktobernacht E-Book

Volker Backert

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Was geschah wirklich vor 30 Jahren. 3. Oktober 2020, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung. Überall wird gefeiert. Hannah Steiner steht kurz vor ihrem großen beruflichen Durchbruch: Sie soll eine renommierte Polit-Talkshow übernehmen und die Livesendung zum Jubiläum der deutschen Einheit am Brandenburger Tor moderieren. Doch dann wirft eine Offenbarung ihr Leben aus der Bahn: Sie wurde als Kind adoptiert – ihr leiblicher Vater war ein einflussreicher Stasi-Major. Und das ist nur der Anfang einer verstörenden Geschichte, deren einzige Konsequenz Rache sein kann...

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Seitenzahl: 281

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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, ebenso wie die meisten Personen. Wo reale Personen auftreten, ist auch ihr Handeln frei erfunden: So talkt Anne Will zum Zeitpunkt der Drucklegung weiterhin jeden Sonntagabend um 21:45Uhr in der ARD.

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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Hayden Verry/Arcangel Images Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-588-6 Originalausgabe

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Das ist auch ein Punkt, der mich ständig bewegt.

Was ist Wahrheit, und was ist nicht Wahrheit?

Alexander Schalck-Golodkowski

Im Dienstgebäude [der Stasi-Abteilung Kommerzielle Koordinierung, kurz KoKo] fanden sich 19,970Tonnen Gold, das seit Oktober 1988 gekauft worden war. In der Verwertungsmasse befanden sich Einfamilienhäuser, Kraftfahrzeuge, Bargeld, Schmuck, hochwertige Konsum- und Kulturgüter, Waffen und Munition.

Reinhard Buthmann, Die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung, MfS-Handbuch, Teil III/11, Berlin 2004, S.

Vorspiel

Der Weg zur EinheitHoneckers Highway to Hell– die Roadmap, die keiner kannte

19.01.1989:DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker versichert, die Mauer werde »in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben«.

05.02.1989: Chris Gueffroy (20) wird bei seinem Fluchtversuch an der Mauer von DDR-Grenzsoldaten erschossen. Er ist das letzte Maueropfer, das durch Schüsse stirbt.

08.03.1989: Winfried Freudenberg stürzt mit einem selbst gebauten Ballon bei seiner Flucht nach West-Berlin tödlich ab.

03.04.1989: Der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze wird ausgesetzt.

17.04.1989: In Polen wird die Gewerkschaft Solidarność legalisiert.

02.05.1989: Ungarn beginnt mit dem Abbau der Grenzbefestigungen nach Österreich.

07.05.1989:DDR-Kommunalwahlen: Nach offiziellen Angaben entfallen 98,85Prozent auf die Kandidaten der Einheitslisten. Erstmals werden von Bürgerrechtlern Kontrollen vorgenommen, vielerorts Wahlfälschungen festgestellt und publik gemacht.

25.05.1989: In der UdSSR wird Gorbatschow zum Staatspräsidenten mit besonderen Vollmachten gewählt.

04.06.1989: In Peking richtet das chinesische Militär auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Blutbad an unter Studenten, die dort seit Wochen für mehr Demokratie demonstrieren. Angaben über die Zahl der Toten schwanken zwischen 2.500 und 7.000Menschen. Dem Massaker folgt eine umfassende Verfolgungswelle.

04.06.1989: Bei den polnischen Parlamentswahlen sind erstmals Oppositionsparteien zugelassen.

07.06.1989: In Ost-Berlin löst der Staatssicherheitsdienst eine Demonstration gegen die Fälschung der Kommunalwahl vom 7.Mai auf.

12.–15.06.1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow wird bei seinem Staatsbesuch in Bonn von der Bevölkerung mit großem Jubel empfangen. Zum Abschluss erklärt er: »Die Mauer kann wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen entfallen, die sie hervorgebracht haben.«

27.06.1989: Der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock zerschneiden den Stacheldrahtzaun der gemeinsamen Grenze bei Sopron. Nur die Grenzkontrollen bleiben. In der DDR löst dies dennoch einen verstärkten Urlauber- und Flüchtlingsstrom nach Ungarn aus.

07.07.1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow gesteht in Bukarest auf der ersten Ostblock-Gipfelkonferenz seit 1968 jedem sozialistischen Staat eine eigene Entwicklung zu. Damit verliert die Breschnew-Doktrin vom November 1968 ihre Gültigkeit.

08.08.1989: Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin wird wegen Überfüllung für den Besucherverkehr geschlossen. Über 130 DDR-Bürger halten sich in der Vertretung auf, um ihre Ausreise zu erzwingen.

13.08.1989: Auch die Bonner Botschaft in Budapest muss wegen Überfüllung geschlossen werden. Dort wollen 180 DDR-Bürger ausreisen.

19.08.1989: In Sopron (Ungarn) kommt es zur größten Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau. Etwa 900Menschen nutzen das von Otto von Habsburg (Präsident der Paneuropa-Union) initiierte »Paneuropäische Picknick« zur Flucht über die grüne Grenze nach Österreich.

22.08.1989: Die Bonner Botschaft in Prag wird wegen Überfüllung geschlossen. Rund 140 DDR-Bürger wollen von dort in den Westen.

24.08.1989: In Budapest erhalten 108 DDR-Bürger in der deutschen Botschaft durch die ungarische Regierung als einmalige humanitäre Aktion die Ausreiseerlaubnis.

04.09.1989: In Leipzig findet die erste Montagsdemonstration im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche statt. Es werden Reisefreiheit und die Abschaffung der Stasi gefordert. Von nun an finden wöchentliche Montagsdemonstrationen statt.

07.09.1989: Auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin wird wieder gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7.Mai protestiert. Sicherheitskräfte unterbinden die Aktion und nehmen 80Personen vorübergehend fest.

09./10.09.1989: Das »Neue Forum« veröffentlicht seinen Gründungsaufruf.

10./11.09.1989: Ungarn lässt ohne vorherige Absprache mit der DDR-Regierung alle dort anwesenden DDR-Ausreisewilligen in den Westen ausreisen. Bis Ende September kommen auf diesem Weg ca.30.000Übersiedler in die Bundesrepublik.

12.09.1989: Gründungsaufruf der Bürgerbewegung »Demokratie jetzt« in der DDR.

12./13.09.1989: Die DDR protestiert gegen die Öffnung der ungarischen Grenze für DDR-Bürger und bezeichnet dies als »organisierten Menschenhandel«.

19.09.1989: Mit dem »Neuen Forum« beantragt erstmals eine Oppositionsgruppe in der DDR offiziell ihre Zulassung als Vereinigung. Der Antrag wird am 24.September abgelehnt.

19.09.1989: Auch die deutsche Botschaft in Warschau muss wegen Überfüllung durch ausreisewillige DDR-Bürger den Publikumsverkehr einstellen.

25.09.1989: Montagsdemonstration in Leipzig mit etwa 5.000Teilnehmern für Reformen und die Zulassung des »Neuen Forums«.

30.09.1989: 5.500Bürger, die sich in der völlig überfüllten Prager Botschaft befinden, erhalten die Genehmigung zur Ausreise. Offiziell werden sie aus humanitären Gründen »abgeschoben«, da die humanitären und medizinischen Zustände in der Botschaft unhaltbar geworden sind.

01.10.1989: Die ersten Sonderzüge aus Warschau und Prag mit ca.6.800 DDR-Flüchtlingen durchqueren die DDR. Ausreisewillige DDR-Bürger versuchen, auf die Züge aufzuspringen.

01.–03.10.1989: Vor der Botschaft in Prag versammeln sich erneut 7.600Menschen, obwohl die Polizei dies zu verhindern sucht. Am 3.Oktober gewährt die DDR-Regierung auch ihnen die Ausreise.

02.10.1989: In Leipzig demonstrieren 20.000Menschen für Reformen in der DDR. Die bisher größte Demonstration wird von DDR-Sicherheitsorganen gewaltsam aufgelöst. Erstmals wird der Ruf laut: »Wir sind das Volk!«

04.10.1989: Sonderzüge der DDR-Bahn bringen 7.600Flüchtlinge aus der Prager und Warschauer Botschaft in den Westen. In der DDR werden Bahnhöfe und Gleise gesperrt, um zu verhindern, dass Menschen auf die Züge aufspringen. Am Dresdner Hauptbahnhof kommt es zu den schwersten Auseinandersetzungen seit dem 17.Juni 1953. Mehr als 1.300Personen werden festgenommen.

07.10.1989: Die DDR feiert ihren 40.Jahrestag mit Militärparaden und Aufmärschen. Michail Gorbatschow betont in Ost-Berlin die Notwendigkeit von Reformen: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Zeitgleich demonstrieren Zehntausende in mehreren Städten der DDR für Meinungsfreiheit und Reformen. Die Demonstrationen werden brutal aufgelöst, über 1.000Menschen werden festgenommen.

08.10.1989: In Budapest löst sich als erste regierende kommunistische Partei die ungarischeKP auf.

09.10.1989: In Leipzig demonstrieren über 70.000Menschen. Erstmals greifen keine Sicherheitskräfte ein. Der Ruf »Wir sind das Volk– keine Gewalt!« setzt sich durch.

16.10.1989: Bei der bislang größten Demonstration seit dem Aufstand vom 17.Juni 1953 ziehen mehr als 120.000Menschen durch Leipzig. Erneut halten sich die Sicherheitskräfte zurück.

18.10.1989: Erich Honecker wird auf der 9.Tagung des Zentralkomitees »auf eigenen Wunsch« von allen Ämtern entbunden. Neuer Generalsekretär der SED wird Egon Krenz.

21.10.1989: Auf zentralen Dienstbesprechungen im MfS und im MdI wird der Sicherheitsapparat auf die »Wende« verpflichtet.

23.10.1989: Am Abend vor der Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden demonstrieren rund 300.000Menschen gegen eine »neue Machtkonzentration«.

24.10.1989: Die Volkskammer wählt Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Damit sind erneut die höchsten Ämter der DDR in einer Person vereinigt.

30.10.1989: Das DDR-Fernsehen nimmt nach fast 30Jahren die Sendung »Der schwarze Kanal« des SED-Chefkommentators Karl-Eduard von Schnitzler aus dem Programm.

04.11.1989: Mehr als 500.000Menschen demonstrieren auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin für demokratische Reformen und gegen das Machtmonopol der SED. Das Fernsehen der DDR überträgt live und unangekündigt.

06.11.1989: In Leipzig demonstrieren Hunderttausende DDR-Bürger für Reisefreiheit, freie Wahlen und gegen den Führungsanspruch der SED.

07.11.1989: Ministerpräsident Willi Stoph tritt zusammen mit der gesamten DDR-Regierung zurück.

08.11.1989: Auf der 10.Tagung des ZK der SED tritt das Politbüro zurück. Anschließend wird ein verkleinertes Politbüro gewählt und Egon Krenz als Generalsekretär bestätigt.

09.11.1989: Auf einer live übertragenen internationalen Pressekonferenz verliest das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski um 18:57Uhr auf eine Anfrage zur neuen Ausreiseregelung beiläufig einen Ministerratsbeschluss: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen– Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse– beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.« Auf Nachfrage erklärt Schabowski, dies trete nach seiner Kenntnis »sofort, unverzüglich« in Kraft. Noch am selben Abend drängen Tausende von Ost-Berlinern nach West-Berlin. Kurz vor Mitternacht öffnen sich die ersten Schlagbäume an der Mauer.

10.11.1989: Millionen von DDR-Bürgern besuchen die grenznahen Städte der Bundesrepublik und West-Berlin. Bundeskanzler Helmut Kohl bricht seinen Polen-Besuch ab, um abends auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus zu sprechen. Dort prägt der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt den Satz: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«

12.11.1989: In mehreren Städten der DDR finden Kundgebungen statt, auf denen die Basis eine »Erneuerung der Partei von unten« fordert.

13.11.1989: Der Präsident der DDR-Volkskammer, Horst Sindermann, tritt zurück. Nachfolger wird, erstmals nach geheimer Abstimmung, Günther Maleuda (Demokratische Bauernpartei Deutschlands). Der amtierende Ministerrat, dessen Mitglieder Willi Stoph und Erich Mielke sich vergeblich zu rechtfertigen suchen, wird abberufen. Die Volkskammer wählt den »Reformkommunisten« Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten.

13.11.1989: Die DDR hebt die Sperrzonen entlang der Berliner Mauer, der innerdeutschen Grenze und in den Küstengewässern auf.

17.11.1989: Die Volkskammer wählt einen neuen Ministerrat. Das MfS wird umbenannt in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), Leiter wird Generalleutnant Wolfgang Schwanitz. Ministerpräsident Hans Modrow kündigt »einschneidende Reformen« an mit dem Ziel einer »neuen sozialistischen Gesellschaft«. Der Bundesregierung schlägt er einen Ausbau der Beziehungen hin zu einer »Vertragsgemeinschaft« vor. Spekulationen über eine Wiedervereinigung erteilt er eine klare Absage.

18.11.1989: Die Volkskammer setzt einen »Untersuchungsausschuss Amtsmissbrauch« zur Überprüfung der Privilegien der SED-Funktionäre ein.

In Leipzig kommen 50.000Menschen zur Demonstration des »Neuen Forums«. Es ist die erste von der DDR-Regierung genehmigte Veranstaltung der Opposition.

20.11.1989: Die Montagsdemonstration fordert erstmals die deutsche Wiedervereinigung.

26.11.1989: Zahlreiche namhafte DDR-Intellektuelle und -Reformer treten mit dem Aufruf »Für unser Land« dafür ein, die Eigenständigkeit der DDR zu bewahren und eine »sozialistische Alternative zur Bundesrepublik« zu schaffen.

29.11.1989: Modrow und Krenz schließen sich dem Aufruf an.

01.12.1989: Die Volkskammer streicht den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung.

02.12.1989: Ein Bericht des Untersuchungsausschusses der Volkskammer legt Korruption in der SED-Spitze offen. Es kommt zu tumultartigen Szenen in der Volkskammer.

03.12.1989: Auf der 12.Tagung des ZK der SED erfolgt der Rücktritt des Politbüros und desZK mit Egon Krenz an der Spitze. Aus der SED ausgeschlossen werden Erich Honecker, Willi Stoph, Erich Mielke, Alexander Schalck-Golodkowski und weitere Spitzenfunktionäre. Die ehemaligen Mitglieder des Politbüros Günter Mittag und Harry Tisch werden wegen »schwerer Schädigung des Volkseigentums und der Volkswirtschaft« verhaftet.

Alexander Schalck-Golodkowski und seine Frau Sigrid fliehen nach West-Berlin.

04.12.1989: Erster Sturm auf eine Stasi-Zentrale in Erfurt.

05.12.1989: Weitere Stasi-Kreisdienststellen und -Bezirksverwaltungen werden von aufgebrachten Bürgern besetzt.

06.12.1989: Egon Krenz tritt als Staatsratsvorsitzender zurück. Nachfolger wird Manfred Gerlach (LDPD-Vorsitzender).

In West-Berlin stellt sich Alexander Schalck-Golodkowski der Polizei. In der DDR wird gegen ihn der Vorwurf der »Veruntreuung von Volkseigentum« erhoben.

07.12.1989: Erich Mielke wird verhaftet.

08.12.1989: Gegen Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph und weitere SED-Spitzenfunktionäre werden Ermittlungen wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs und der Korruption eingeleitet.

08./09.12.1989: Auf dem außerordentlichen SED-Parteitag wird die Auflösung der Partei abgelehnt. Zum neuen Vorsitzenden wird Gregor Gysi gewählt, Stellvertreter werden Hans Modrow und der DresdnerOB Wolfgang Berghofer.

Auf dem EG-Gipfel in Straßburg erkennen die Staats- und Regierungschefs prinzipiell das Recht der Deutschen auf Einheit an.

11.12.1989: Bei den traditionellen Montagsdemonstrationen wird erneut der Ruf nach Wiedervereinigung laut.

14.12.1989: Der DDR-Ministerrat beschließt die Auflösung des AfNS und den Aufbau eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes.

16./17.12.1989: Auf dem Sonderparteitag der SED wird die Umbenennung in SED-PDS beschlossen.

19./20.12.1989: Helmut Kohl trifft zu Gesprächen mit Hans Modrow in Dresden zusammen. Beide vereinbaren Verhandlungen über eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft. Bei seiner Ansprache vor der Ruine der Frauenkirche wird Kohl von der Bevölkerung umjubelt.

22.12.1989: In Berlin wird das Brandenburger Tor geöffnet, zunächst nur für Fußgänger.

24.12.1989: Erstmals können Bundesbürger und West-Berliner ohne Visum und Zwangsumtausch in die DDR reisen.

15.01.1990: Demonstranten stürmen die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße.

09.02.1990: Der Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (von 1966 bis zu seiner Flucht in den Westen im Dezember 1989 von Alexander Schalck-Golodkowski geführt) im Haus 41 des Stasi-Komplexes Normannenstraße wird geöffnet. Im Dienstgebäude werden u.a. 19,97Tonnen Gold gefunden, die seit Oktober 1988 gekauft worden waren.

31.03.1990: Entlassung fast aller Stasi-Mitarbeiter. Einige hundert, v.a. aus der Hauptverwaltung Aufklärung, bekommen auf drei Monate befristete Arbeitsverträge, um die Auflösung des MfS fortzusetzen.

31.05.

Nacht der deutschen Einheit

Rottenbach im Coburger LandEin kleines Dorf an der innerdeutschen Grenze

Vollmond.

Nein, nur fast. Leicht angestoßen ist er noch, der Lampion, der plötzlich über den alten Eichen draußen steht.

Sekunden nur starrt er ins Zimmer. Fahlweiß.

Bis ihn die nächsten Wolkenschwaden verdecken, die der Westwind erbarmungslos über den Nachthimmel treibt. Wieder heult eine Windbö ums Haus, lässt schwarze Schieferschindeln klappern, reißt und rüttelt an alten Fensterläden. Erbittert, wild, verzweifelt. Vergebens.

Plopp.

Ein dunkelrotes Loch. Zwischen ihren blondierten Ponyfransen.

Mitten in der Stirn der Frau. Lautlos kippt sie auf der Couch zur Seite.

Der Mann neben ihr keucht vor Angst, als sich der heiße Schalldämpfer gegen seine Schläfe presst.

»Nneeeeiiinnn!«

Plopp.

Seine Augen gefrieren zu glasig kleinen Murmeln. In Zeitlupe sackt er zusammen, rutscht vom Sofa und plumpst schwer auf den Fußboden. Im Schritt seiner grauen Jogginghose breitet sich ein dunkler nasser Fleck aus.

Ein Regenschauer pladdert an die Scheibe.

Plötzlich ein Geräusch aus dem Nebenzimmer.

Ein kleines Kind, eindeutig. Es beginnt zu weinen, immer heftiger.

Er huscht zur Tür, linst vorsichtig durch den schmalen Spalt.

Ein Bübchen.

In einem hellblauen Frottee-Schlafanzug steht es ganz verschwitzt in seinem Gitterbett, heult Rotz und Wasser.

»Scht!«

Sein gebieterisches Zischen erreicht das Gegenteil.

Der Kleine steht am Gitter und presst zwei gelbe Plüsch-Entchen gegen seine Brust. Ein richtiger Weinkrampf schüttelt ihn jetzt, seine Bäckchen glühen. Immer lauter brüllt er, übertönt schon fast die Böllerschüsse, die draußen einsetzen.

Plopp.

Die Wucht des schallgedämpften Schusses reißt das Bübchen einfach um. Seltsam verkrümmt liegt es auf seinem Rücken.

Nur ein Händchen bewegt sich, die Fingerchen zucken schwach.

Als ob sie seine herabgefallenen Entchen suchten.

Plopp!

Vorsichtig öffnet er die Haustür. Hält noch einmal ganz kurz inne: War da eben noch ein schwaches Wimmern?

Nein, unmöglich. Kann nicht sein.

Leise zieht er die Tür ins Schloss und schlüpft hinaus. Über den Dächern des Dorfes zerplatzen Feuerwerksraketen, es riecht nach Rauch und nassem Gras.

Der Fahrer lässt den Motor an. »Sach ma, das hat ja ewig gedauert! Was’n das, ’ne Trophäe?«

Er nickt wortlos. Steckt das Stofftierchen in eine Aldi-Tüte auf dem Rücksitz. Dann greift er nach einer zusammengerollten Fahne und schiebt sie durch sein halb geöffnetes Beifahrerfenster hinaus.

Schwarz-Rot-Gold entfaltet sich im feinen Nieselregen.

Im Schritttempo erreichen sie den Dorfplatz. Johlende, fähnchen- und fahnenschwenkende Menschen in Regenponchos, viele mit Bier- und Sektflaschen.

Der Fahrer blinkt völlig unnötig und fädelt sich mit in den Autokorso auf der Dorfstraße ein. Vergnügt unterstützt er das rhythmische Hupkonzert.

»Was soll das denn jetzt?« Er ist genervt.

1

Berlin, Hauptstadt der DDR

»Es lebe der 40.Jahrestag derDDR! Die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik wird auch in Zukunft das Werk des ganzen Volkes sein.«

Neues Deutschland vom 07.10.1989

Tagesbefehl vom 07.10.1989 an alle Diensteinheiten der Staatssicherheit:

»Feindlich-negative Aktivitäten sind mit allen Mitteln zu unterbinden. Es sind weitere Reservekräfte bereitzustellen. Sie sind gründlich einzuweisen und zu instruieren, damit sie kurzfristig zum Einsatz gelangen können. Keine Überraschung zulassen! Dem Gegner keine Möglichkeit geben, dort aktiv zu werden, wo er annimmt, dass wir nicht da sind!«

Aus dem tragbaren kleinen Junost 406W auf der Anrichte dröhnt die »Aktuelle Kamera«. Klaus Feldmann, mit Scheitel, schwarzer Hornbrille und unnachahmlich sonorer Stimme: »Der festlich erleuchtete Palast der Republik. Auf seine Art Symbol für vierzig erfolgreiche Jahre zum Wohl des Volkes. Offizielle ausländische Gäste und verdienstvolle Werktätige folgen der Einladung Erich Honeckers zu diesem Empfang. SED und Volk der DDR sind, wie Erich Honecker feststellte, einmütig in der Unterstützung der Umgestaltung in der UdSSR, die einen überaus schwierigen, aber notwendigen Prozess für die Festigung des Sozialismus und die Sicherung des Friedens in der Welt darstellt…«

Rolf-Peter Borkow schiebt die Wohnzimmergardine zur Seite, öffnet die Balkontür und dreht sich um: »Hol doch ma den Whisky ausm Kühler, Klaus! Gläser und Eis hab ich.«

Klaus lässt die Flaschen im DKK130 rumpeln. »Whisky? Was denn, was denn… Ach, Kirsch-Whisky vom VEB Bärensiegel? Nicht dein Ernst, Rolf!«

»Natürlich nicht!«, kommt es empört vom Balkon zurück. »Der ist von Moni, lass ihn den Frauen! Schau ma unten, ganz hinten!«

Es klappert, als Klaus eine Flasche herauszieht. Eckig, schräges Etikett. »Oh, Johnnie Walker!« Anerkennend pfeift er durch die Zähne. »Hat dich der dicke Alex auch mal mitbedacht?«

»Schenk dir die Ironie, Genosse! Denkst wohl, nur du als rechte Hand wirst exklusiv bedacht?«

Die Eiswürfel klackern, als Rolf die beiden Gläser auf dem Balkontischchen füllt.

»Genosse…«

»Na dann… Auf vierzig Jahre Sozialismus, Frieden…«

»…und allzeit gute Exportgeschäfte! Zum Wohle, Klaus!«

»Na sdorowje, Rolf!« Wie auf ein geheimes Kommando prosten sie sich erst gegenseitig zu, dann über das Balkongeländer und die Flachdächer der Nachbarblöcke hinweg zum Horizont. Richtung Westen.

Wo der Fernsehturm mit Festbeleuchtung und rot blinkendem Hochleistungsdrehfeuer in den Nachthimmel ragt. Unübersehbar signalisiert er ihnen den Standort eines prominenten Gebäudes, das sie zwar von hier nicht sehen, aber nur allzu gut kennen.

»Warum bist du jetzt nicht beim Staatsakt mit drin«, stichelt Rolf, »im Palast der Republik?«

»Was soll das denn jetzt? Kleine Retourkutsche für den Johnnie?« Umständlich fingert Klaus aus der Innentasche seines Anzugs ein Päckchen Zigaretten und hält sie ihm auffordernd vor die Nase. Camel Filter. »Weißt doch genau, dass heute nur Politbüro undZK dabei sind.« Er zückt ein schwarzes Mifa-Gasfeuerzeug. »Weißte noch früher, die kleinen Billigfeuerzeuge, mit Kartusche selber befüllt? Und das elende Gefiesel beim Zündsteinwechseln, Mannmannmann.« Das Feuerzeug springt sofort an.

Zwei Camel-Filter glühen auf.

»Können uns doch echt nicht beklagen, oder?«, fragt Klaus. »Wir machen schon unseren Weg.«

»Meinste uns zwei? Oder die KoKo? Oder unser deutsches demokratisches Geburtstagskind…?«

Oder willst du mich am Ende nur testen?

Verdrossen saugt Rolf an seiner Camel. Verdrängt das kurze Misstrauen gegen den Freund und Kollegen, ärgerlich bricht es aus ihm heraus: »Klaus, wenn die Schreihälse auf der Straße wüssten, was wirklich bei uns abgeht. Seit Jahren schon! Mensch, denk doch ma zurück, wie sich sogar Mielke schon über unsere Bezirksfürsten aufgeregt hat, über Luxus und Korruption! Zwoundachtzig, vor sieben Jahren schon!« Ein tiefer Schluck Johnnie Walker, wohlig wärmendes Feuer breitet sich in ihm aus. »Was war das für ’ne Wutrede damals! Schiebung hochwertiger Konsumgüter zum eigenen Nutzen, Unterschlagung von Operativgeldern, illegale Geldtauschgeschäfte in allen Bezirken, meine Fresse!«

»Was willste denn jetzt mit den ollen Kamellen?«, zischt Klaus. Seine graublauen Augen verengen sich zu Schlitzen.

»Ach, jetzt hör aber auf! Du warst doch selber oft genug in der ersten Reihe dabei. Hast Alex die Tasche getragen, als er in Bayern mit Strauß verhandelt hat. Hab übrigens gehört, dass nicht mal die Bundis wissen, wer damals die Provision für den Milliardenkredit eingesackt hat. Fast neun Millionen. Westmark!«

Klaus inhaliert tief. Er lässt sich Zeit mit der Antwort. »Na, wer schon? Strauß war genauso gierig wie Alex. Halbe-halbe, schätze ich.«

»Na also, sach ich doch, liegt doch auf der Hand! Und ich sage dir«, Rolf senkt die Stimme, wird ganz leise, »ich habe Alex sicher auch einiges zu verdanken, keine Frage. Meiner Familie geht’s immer noch besser als diesen Aktivisten der Straße da draußen. Aber der Johnnie und die Camel Filter, ab und zu der Eduscho, das sind doch Almosen…«

»Jetzt schalt aber ma ’nen Gang zurück, Rolf, krieg dich wieder ein!«

»Almosen, wenn ich’s dir sage, nichts anderes! Der Alte wird mit Zulagen wie ein General besoldet, sitzt in einem Westbungalow in der Wandlitzer Heide, und wir hier dürfen die Drecksarbeit machen! Ich hocke mit Frau und kleinen Kindern zu viert in diesem… Arbeiterschließfach!« Er hämmert mit der Faust gegen den Türrahmen. »Da muss sich was ändern, Klaus, das sieht doch ein Blinder! Klassenlose Gesellschaft, dass ich nicht lache…« Er stockt, aus der Wohnung dringt Kinderweinen. »Moni, schau doch mal nach Jana!«

Klaus drückt seine Kippe im »Leipziger Messe«-Aschenbecher aus, mustert vorsichtig den leeren Nachbarbalkon. Dann fasst er Rolf dezent am Arm. »Lass uns wieder reingehen, wird langsam frisch hier!«

»Und ich sage dir, da wird sich gewaltig was ändern, Klaus, mehr, als manchem von uns lieb ist!« Energisch hebelt Rolf die ächzende Balkontür zu.

Aus dem Fernseher lächelt die blonde Turmfrisur von Programmansagerin Petra Kusch-Lück: »Wir beschließen das Programm von DDR

2

New YorkEinunddreißig Jahre später

Stürmischer Applaus im Presseraum des Plaza Building der Vereinten Nationen. Die Preisverleihung »Dove of Peace 2020« des International Action Network on Small Arms (IANSA) strebt ihrem Höhepunkt entgegen.

Emma Gonzalez tritt ans Rednerpult, die Überlebende des Parkland-Massakers 2018. Eine der führenden Waffenrechts-Aktivistinnen weltweit.

Und doch wirkt die kleine Amerikanerin auf den ersten Blick so unscheinbar. Als ob sie immer noch zur Highschool geht, denkt Hannah und dreht am Knopf im Ohr mit dem Simultandolmetscher.

Das Parkland-Massaker 2018. Damals war ich gerade zur Stippvisite im NDR-Regionalstudio in Heide.

Dann der March for Our Lives. Emmas legendäres sechsminütiges Schweigen vor Hunderttausend in Washington. Wie gebannt saß ich vor dem Bildschirm, hatte Tränen in den Augen. Nichts hat mich so bewegt in meinem Job. Du warst, ohne es zu wissen, der Trigger. Du hast mich an die Front geführt, in den Kampf gegen diese gottverfluchten Waffen. Du, Emma Gonzalez.

Nur an Nina, unserer Chef-Stylistin beim NDR, wärst du heute definitiv nicht vorbeigekommen: »Kindchen, wie oft denn noch, das sind doch Basics, vor der Kamera immer die ›4K‹, körpernahe Kleidung, klare, kräftige Farben!«

Okay, Emma, du trägst kein schlabbriges Baumwollshirt mehr wie damals. Aber deine Bluse ist dir eindeutig eine Nummer zu groß, dieser schimmernde Seidenstoff glänzt imTV richtig billig. Warum sagt dir das keiner? Unprofessionell. Punktabzug, Baby. Sind so viele Kamerateams hier, wirklich schade.

Und neben dir sitzt jetzt die schöne Jane Bukoleya, diese hochgewachsene Ivorerin aus der UNODA, dem UN-Büro für Abrüstungsfragen. Die mir vor zwei Stunden, während des Empfangs, einen Job bei den Vereinten Nationen angeboten hat. PR-Arbeit für die UNIDIR, das UN-Büro für Abrüstungsforschung in Genf.

Eine Ehre. Und sicher sehr reizvoll, keine Frage.

Aber auf lange Sicht wohl doch zu trocken. Kein echter Ersatz für den Live-Kick der laufenden TV-Kamera, für die täglich neue Herausforderung in unserem Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland. Trotzdem, zumindest offiziell brauche ich erst mal Bedenkzeit. Eine UN-Repräsentantin kann man nicht schnöde abblitzen lassen.

»…und so freue ich mich, dass die ›Dove of Peace‹, der Friedenstaubenring der IANSA, in diesem Jahr an eine Frau aus Europa geht, an eine Frau aus Deutschland. Es zeigt, welch weltumspannende Bewegung wir inzwischen geworden sind. Der Kampf gegen Schusswaffen betrifft nicht nur Schwarze, nicht nur Amerikaner, er betrifft alle Menschen, alle Frauen, Männer und Kinder! Und du, liebe Hannah Steiner, zeigst das berührend und kämpferisch zugleich, in unnachahmlicher Art und Weise in deiner Dokumentation ›Money First– Profiteure und Opfer des weltweiten Waffenhandels‹. Meine Damen und Herren, für herausragende Verdienste im friedlichen Kampf gegen die Verbreitung privater Schusswaffen geht der IANSA-Friedenstaubenring 2020 an die deutsche TV-Journalistin Hannah Steiner…!«

»…danke schön, herzlichen Dank, liebe Emma Gonzalez, der IANSA und allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern weltweit! Als deutsche Journalistin bin ich mir der besonderen Verantwortung gerade meines Landes bewusst. Lassen Sie uns in Deutschland, Europa, in den USA, weltweit der Menschheit vor Augen führen, was Kofi Annan, der damalige UN-Generalsekretär, bereits 2000 hier in New York feststellte: ›Kleinwaffen fordern mehr Menschenleben als alle anderen Waffensysteme. Meist übersteigt die Zahl der Opfer, die sie alljährlich fordern, die der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki um ein Vielfaches. Gemessen an dem Blutbad, das sie anrichten, sind auch Kleinwaffen nichts anderes als Massenvernichtungswaffen.‹ Lasst uns deshalb gemeinsam unseren friedlichen Kampf weiterkämpfen– für unsere Vision einer friedlichen Welt mit immer weniger Waffen! Herzlichen Dank.«

Ein Wimpernschlag Stille, dann brandet tosender Applaus auf.

Ihr Applaus.

Alles wie erwartet.

Der Rest ist Routine. Dezentes Nicken Richtung Kamera, Anflug eines Lächelns, die Augen lächeln mit.

Vergiss den Ring nicht.

In korrekter Höhe, zwischen Bauchnabel und Brust, präsentiert sie lächelnd das aufgeklappte Etui: ein Ring, darauf eine Taube mit Olivenzweig im Schnabel, gestaltet vom New Yorker Edelschmuckdesigner Eddie Borgo. Vierundzwanzig Karat Gold, Wert dreitausendneunhundert Euro. »Danke…«

»…danke…!« Hannahs Lächeln auf dem Monitor gefriert, abrupt endet die MAZ. Anerkennende Pfiffe, Tischklopfer und Applaus in der NDR-Redaktion. Axel Maaß, der Chef vom Dienst, legt seine behaarte Hand auf Hannahs Unterarm.

Lass das. Und leg dir endlich mal ein anderes Rasierwasser zu.

Als könne er Gedanken lesen, zieht er rasch wieder seine Hand zurück.

»Liebe Hannah, auch wenn du’s vielleicht langsam nicht mehr hören kannst, aber das war exzellente Arbeit von dir, Qualitätsjournalismus auf allerhöchstem, internationalem Niveau! Dazu eine souveräne, fast möchte ich sagen, brillante Performance bei der Preisverleihung gestern im Big Apple! Darauf wollen wir erst mal hier anstoßen, noch nicht im Casino oben, sondern hier in unserem kleinen, fast familiären Kreis, spontan und ungezwungen…«

Hannah zwingt sich zu einem freundlich-routinierten Lächeln. Leise klirrend stößt sie mit allen an und leert ihr Sektglas dann in einem Zug.

Fürstin von Metternich. Die sündhaft teure, streng limitierte Sonderauflage zum Weltfrauentag. Axels Beschaffungskanäle sind immer wieder erstaunlich, der permanenten Einsparungshysterie des altehrwürdigen Rechnungshofs der Freien und Hansestadt zum Trotz.

Ihr Smartphone vibriert, just als er schon wieder auf sie zukommt. Die breiten silbergrauen Augenbrauen, sein Markenzeichen, sind wie immer perfekt getrimmt, gegen die Wuchsrichtung. Ob er dafür immer noch zu Lord und Farmer geht, diesem Szene-Visagistenstudio in der Hafen-City?

Er beugt sich herab aus seinen eins neunzig, wispert ihr ins Ohr: »Anne Will hört auf. Sie hat gestern ihren Vertrag gekündigt.«

Hannah wird heiß. Nur nichts anmerken lassen. Sie spürt seine sensationslüsterne Erwartung. Demonstrativ lässt sie sich Zeit.

»Warum sagst du mir das?«

Süffisant hebt er die linke Braue. »Ah, Madame belieben zu kokettieren? Sonntagabend, einundzwanzig Uhr fünfundvierzig, höher geht’s für uns TV-Journalisten nicht im deutschen Fernsehen, wem sage ich das!«

Sie ignoriert seinen typischen Axel-Maaß-Blick, seine testosterongeschwängerte Gönnerhaftigkeit. Ihr Blick geht hinaus aus dem siebten Stock, über Parkplatz, Grünflächen und die Lokstedter Grenzstraße, hinüber zu Hagenbecks Tierpark.

Ausgerechnet das Elefantenbullen-Gehege steht dem NDR-Hochhaus am nächsten.

»Wer ist noch in der Verlosung?«

»Plasberg hat schon abgesagt. Ein Mann wird’s also nicht. Und die hier…«, er greift wieder zur Fernbedienung, »die biedert sich zwar permanent an, ist aber aus meiner Sicht völlig chancenlos.«

»Aus deiner Sicht?«

»Nicht nur, liebe Hannah«, lächelt Axel. Eine Spur zu selbstgefällig. »Du kennst meinen kurzen Draht zum Intendanten. Er denkt genauso. Und die Intendanten sind es, die jetzt über die Anne-Will-Nachfolge entscheiden müssen.« Er hebt seine Stimme. »So, liebe Kollegen, just for fun, wer gestern unseren Bundesaußenminister im Pool verpasst hat, hier noch mal exklusiv für euch«, er hebt die Fernbedienung.

MDR. »Ankis Afternoon Club«.

Die Moderatorin, quirlig, klein, brünett, greift sich ungeniert ins lange Haar, streicht es nach hinten und streift sich ein Zopfgummi über. »Tja, so weit also zur brandaktuellen Entwicklung im Gazastreifen. Ihr Fazit, Sie sehen das als positiven Schritt, hin zu einer Entspannung im Nahen Osten?«, grinst sie dabei den Minister an, der neben ihr am Tisch steht, und legt ihr Mikrofon ab.

Noch bevor er antworten kann, reißt sie mit einer einzigen schnellen Handbewegung ihr– offenbar präpariertes– schwarzes Etuikleid herab, steht da im weißen Swimsuit mit blauer Aufschrift »ANKI«, »…dann hoffen wir mal, dass diese Hoffnung nicht… baden geht!«, stößt den verblüfften Anzugträger in den großen Pool und hechtet mit elegantem Kopfsprung hinterher.

Gejohle und Applaus am Beckenrand, »Carnaval de Paris« von DarioG fährt hoch, am Bildrand läuft der Abspann.

Prustend taucht Anki auf. »Wir sehen uns wieder nächsten Dienstag in ›Ankis Afternoon‹, bleiben Sie sauber, bis dahin, tschühüss!«

»Ann-Kristin Beerbaum, die Zukunftshoffnung des ostdeutschen TV-Journalismus«, lästert Axel. »Seriöses Interview erst und dann zapp! Der Zuschauer muss gar nicht mehr selbst zappen, zuverlässig bekommt er seinen Break, seinen Cut serviert. Aber absolut professionell, das muss man ihr lassen. Angeblich gibt es schon einen Anki-Algorithmus, der die richtigen Abstände zum nächsten Gag berechnet.«

»Was willst du mir damit sagen?«, fragt Hannah schnippisch. »Muss ich auch auf dieses Kita-Niveau meiner Ost-Kollegin herunter? Damit ich endlich professionell wirke?«

Axel lächelt wieder. Noch selbstgefälliger. »Keine Bange, liebe Hannah. Für Anne Will kommst nur du in Frage, da bin ich mir sicher. Anne Will ist Jauch, ist Christiansen, nicht Stefan Raab.«

3

Berlin

Mays weiße Brüste tanzen im Spiegel. Sie stemmt sich gegen das Villeroy& Boch, versucht krampfhaft, seinen Rhythmus abzufedern, den er ihr, ungestüm und unbeholfen, von hinten diktieren will.

Er kann es wirklich nicht besser.

Der Shootingstar der Berliner Politik, der seit Kurzem alle weiblichen Beliebtheitsumfragen haushoch anführt. Er spürt einfach nicht, dass er einen Moment stillhalten und nur ihren eigenen Rhythmus aufnehmen soll.

Primitiver Rammler. Pubertärer Black-und-Decker-Sex.

Sein Ehering glänzt. Kein Wunder, gerade mal sechs Wochen alt. Gelbgold, vermutlich Achtzehnkaräter von Cartier.

Glatt rasiert schiebt er sein Kinn über ihre Schulter, voll gierig keuchenden Verlangens, seine Augen halb geschlossen.

Na los, komm endlich.

Gib ihn mir, du Schwächling… wenigstens diesen einen kurzen Triumph… wenn du dich vollständig in mir verlierst, wenn du in mir verglühst…!

Sie lauert nur noch, auf den winzig kurzen Flash, jene winzig kurze Illusion wilder Macht, wenn sein animalischer Schrei endlich herausplatzt, wenn er wimmernd in ihr erstirbt.

Jetzt…!

Okay. Get out.

Sie schiebt ihn aus sich hinaus. Kühl, fast angewidert. Leise schmatzend lösen sich ihre Leiber voneinander. Er murmelt etwas Unverständliches, dann dreht er sich um. Tappt auf seinen schwarzen Strümpfen hinaus.

Sie säubert sich, so gut es geht, von der klebrig-warmen Nässe und trocknet sich penibel ab. Schlüpft rasch wieder in ihre nachtblauen Dessous, die auf dem Boden verstreut liegen. Die Strumpfhose ist nicht mehr zu gebrauchen. Sie stopft sie in den Abfalleimer und nimmt aus dem Palisander-Waschtisch eine originalverpackte neue.

Ihr Blick bleibt am Yin-Yang-Tattoo unterhalb ihres Nabels hängen. Schanghai 2010. Ein exotisches Souvenir einer ganz besonderen Geschäftsreise. Ihrer letzten als persönliche Assistentin, bevor sie sich ausklinkte und selbstständig machte.

Perfekt gestylt, im silbergrauen Kostüm, kehrt sie in das luxuriöse Büro zurück. Er lehnt im Slip an ihrem Design-Schreibtisch und knöpft sich die Manschetten seines hellblauen Slim-Fit-Hemds.

Sie runzelt die Stirn. »Vergessen Sie bitte nie«, sagt sie kühl, »Strümpfe und Schuhe zu jeder Talkshow, zu jedem sitzenden TV-Auftritt, neu, neu, neu! Nagelneu!«

Irritiert blickt er hoch. »Sie?«

Sie ignoriert ihn und checkt bereits ihren Terminkalender auf dem Smartphone. »Montag, vierzehn Uhr, Videoanalyse?«

»Ja«, sagt er, immer noch verblüfft. »Was machst du… äh, Sie… jetzt?«

»Heimfahren«, sagt sie kühl.

Ich weiß jetzt, wie du tickst. Wie miserabel du fickst. Und wie hoch ich mein Beraterhonorar ansetzen werde.

Hannah schließt die Augen. Bewegt nur noch den Kopf ganz leicht; genießt, wie das heiße Wasser auf ihren Körper prasselt. Sanft breitet sich die Wärme in ihr aus, ganz langsam, bis tief in die verspannten Muskeln von Schulter und Nacken.

Dieser stressige Blitztrip nach New York und zurück, vom Flughafen direkt in die Redaktion, die lästige, den Jetlag ignorierende Stippvisite dort, aus einer geplanten Stunde wurden schließlich drei. Sie senkt den Kopf, massiert ihren Nacken unter dem Duschstrahl.

Fang jetzt bloß nicht an zu jammern, die stählerne Stimme ihrer Mutter klingt ihr heute noch im Ohr.

Bist frischgebackene IANSA-Preisträgerin. Bist Top-Favoritin für die Nachfolge der deutschen TV-Talk-Ikone. Bist kurz vorm absoluten Gipfel, was willst du eigentlich noch?