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Söldner. Spion. Sträfling. Ivar von Lunde führt ein bewegtes Leben, bis er im beschaulichen Castra Nova als Schreiber noch einmal von vorn beginnt. Doch eine Vergangenheit wie seine lässt sich nicht einfach abschütteln. So bekommt er es an einem stürmischen Herbsttag mit gleich mehreren alten Bekannten zu tun und muss sich die Frage stellen, wer er selbst inzwischen ist.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mathilde sollte nichts bereuen, und es war an Ivar, dafür zu sorgen, dessen war er sich sehr sicher. Schließlich hatte sie fast alles, was ihr Leben ausgemacht hatte, aufgegeben, um ihn aus einer erbärmlichen Gefangenschaft zu retten, und im Gegenzug nicht viel bekommen, nämlich nur einen bescheidenen Posten bei den Wachen des Hochgerichts von Castra Nova, für den sie viel zu gut war, und außerdem eben einen angeschlagenen Ivar zurück.
Zumindest das sollte sich für sie lohnen, und so hatte er, seit sie sich wiederhatten, an jedem Monatsende einen Teil seines Schreiberlohns zum Markt getragen und ihr eine bunte Glasperle gekauft. Mit der Zeit würden es genug sein, um die Kette zu ersetzen, die sie früher gern getragen hatte und die wie so vieles aus ihrer Vergangenheit in fremden Händen verschwunden war, um das Geld für den Freikauf ihres Mannes zusammenzubringen.
Bisher waren es allerdings erst vier Perlen: für den Juni eine rote mit fröhlichen weißen Pünktchen, für den hier oben an der Küste immer regnerischen Juli eine tiefblaue, für den heißen August eine gelbe, in die sich feuerfarbene Streifen mischten, und für den September, der mehr als die anderen Monate zählte, weil Mathilde darin geboren war, keine gewöhnliche runde, sondern eine auffällige langgestreckte in leuchtendem Meergrün.
Die Oktoberperle, die nun anstand, durfte wieder eine kleinere werden, aber die Auswahl wollte wohlerwogen sein, schon bevor man einen Fuß auf den Markt setzte. Die Hoffnung, gute neustrische Perlen wie die, aus denen Mathildes alte Kette bestanden hatte, zu bekommen, hatte Ivar ohnehin früh begraben müssen, weil sie hier oben rar und damit einigermaßen unbezahlbar waren, aber auch unter den örtlichen gab es beträchtliche Unterschiede. Der Kerl, der die Septemberperle gefertigt hatte, verstand sein Handwerk zwar hervorragend, war aber bei dem Kauf unverzeihlich unhöflich gewesen, so dass es sich anbot, anderswo zu suchen, aber die Frau, von der die Juniperle kam, die wohl als zweitbeste in der kleinen Auswahl gelten konnte, stammte von außerhalb und war nur in unregelmäßigen Abständen in Castra Nova, so dass nicht abzuschätzen war, ob man sie in den nächsten Tagen überhaupt antreffen würde. Es war wieder eine warme Farbe an der Reihe, so viel war gewiss, und …
In diese wichtigen Überlegungen wehte der erste Herbststurm Ratte und damit Ärger herein. Obwohl Wind und Regen jeden Aufenthalt im Freien gerade bestenfalls unerfreulich, wenn nicht gar gefährlich machten, kam sie, ein Lächeln auf den Lippen, ebenso vergnügt wie unangekündigt in die Hochgerichtskanzlei spaziert und schien sich kein bisschen daran zu stören, dass der nasse Umhang, in den sie gehüllt war, eine Tropfenspur durch den Gerichtssaal hinterlassen hatte.
Der Mantel aus schwerem, dunklem Stoff wirkte neu und konnte nicht billig gewesen sein; danach zu urteilen, hatte der Sommer es wohl gut mit ihr gemeint.
»Keine Angst«, sagte sie denn auch in die Runde, nachdem die Überraschung, die ihr Erscheinen ausgelöst hatte, und die üblichen Höflichkeiten zur Begrüßung überstanden waren, »ich komme nicht, um nach Arbeit zu fragen; davon habe ich gerade mehr als genug.«
»Ein Freundschaftsbesuch also?«, fragte die Richterin, und obwohl ihr Tonfall nicht mehr als milde Neugier verriet, bezweifelte Ivar im Stillen sehr, dass sie oder irgendjemand sonst hier das, was sie alle mit der Söldnerin verband, die in Aquae Calicis bisweilen als Spionin in Gerichtsangelegenheiten gedient hatte, als Freundschaft im eigentlichen Sinne bezeichnet hätte.
Es war mehr als eine alte Bekanntschaft und hatte gut genug gehalten, um vereinzelt Briefe hin- und hergehen zu lassen, seit der Sturz der Vögtin von Aquae Herrad und ihr Gefolge in die Seemark, Ratte hingegen zu Verwandten ihres Mannes auf ein Gut ein Stück südöstlich von dort verschlagen hatte, aber so tiefes Vertrauen, dass sie alles Wissenswerte auch tatsächlich voneinander gewusst hätten, herrschte nicht zwischen ihnen. Abgesehen davon hatte Ivar Alfreda, wie Ratte jenseits dieser wenig schmeichelhaften Bezeichnung hieß, noch nicht ganz verziehen, dass sie zwar in Erfahrung gebracht hatte, dass man ihn in Corvisium festgenommen hatte, dann aber, nachdem sie Mathilde davon in Kenntnis gesetzt hatte, keinen Finger mehr für ihn gerührt und auch erst nach vollen acht Wochen nachgefragt hatte, ob er nun eigentlich immer noch dort im Burgkerker sitze oder »wieder zu gebrauchen« sei.
Eine willkommene Ablenkung war Rattes Anwesenheit für diejenigen in der Kanzlei, die nicht ungestört über Glasperlen nachsinnen wollten, aber auf jeden Fall, denn der Tag hatte sich für die Richterin und ihre drei Schreiber bisher zäh hingezogen. Die leidige Erbschaftsangelegenheit um schwer durchschaubare, an tausenderlei Bedingungen geknüpfte Fischrechte, die sie nun schon seit knapp einer Woche beschäftigt hielt und am nächsten Dienstag zur Verhandlung kommen sollte, war einer Klärung keinen Schritt näher als zu Anfang, und der Weg durch unzureichende Urkunden und zweifelhafte Zeugenaussagen noch weit.
»Auch«, sagte Ratte nun und ließ sich auf Herrads auffordernde Handbewegung hin auf dem einzig freien Stuhl nieder, während der Sturm an den Fensterläden rüttelte und die Dachbalken knarrten. »Aber vor allem bringe ich eine Warnung, von der ich nicht weiß, wie wichtig sie ist und wem genau sie gilt. Jemandem hier, so viel steht immerhin fest.«
Sie hätte gern darauf verzichten können, mit solch einem spöttischen Lächeln ausgerechnet Ivar anzusehen, als hätte sie durchaus einen Verdacht.
»Das lasst Ihr ja sehr geheimnisvoll klingen«, bemerkte Herrads zweiter Schreiber Stig, der nicht mehr als nötig von Ratte hielt. Glücklicherweise hatte das seinen Grund eher in ihrer Person als in ihrer Tätigkeit, denn sonst hätte er wohl auch Ivar nicht leiden können, der bis zu diesem Frühjahr für die damalige Vögtin von Aquae Calicis ganz ähnliche Aufgaben verrichtet hatte.
Ratte lächelte in sich hinein. »Das ist es auch, aber nicht unwichtig, da werdet Ihr mir zustimmen, wenn Ihr erst wisst, was ich gehört habe. Ihr kennt doch alle das ›Wilde Wasserweib‹ unten am Hafen?«
»›Kennen‹ ist zu viel gesagt«, beschied sie Wulfila, der Mann und zugleich erste Schreiber der Richterin, unter allgemeinem Nicken, denn dass es die Schenke unweit der Flussmündung gab, wussten sie zwar, doch soweit Ivar es einschätzen konnte, hatte noch niemand aus ihrer kleinen Schar dort getrunken oder gefeiert. Die auf die Tür gemalte fischschwänzige Gestalt, die, wie Ardeija, der Hauptmann von Herrads Wachen, einmal gescherzt hatte, zwar aus dem Meer stammen mochte, aber ganz gewiss keine Jungfrau war, konnte man aber im Vorübergehen gar nicht übersehen, und die Bezeichnung, die dem ganzen Haus den Namen gegeben hatte, war dem wüsten grünen Haarschopf und den unheilvoll blickenden Augen durchaus angemessen.
Ratte winkte ab. »Lasst die Spitzfindigkeiten, Ihr wisst jedenfalls, was gemeint ist. Ich war vorhin dort, um etwas zu erfragen, und habe eher zufällig mit angehört, wie drei Leute, mit denen ich nichts zu schaffen hatte, sich unterhalten haben … In deiner Muttersprache übrigens.« Wieder ruhte ihr Blick auf Ivar. »Und einer von den dreien hat offensichtlich ein Anliegen an jemanden hier, wenn ich auch nicht weiß, welches.«
Nach dieser Einleitung hatte sie allerdings endlich Erbarmen und begann einen vernünftigen Bericht über das, was sie eher durch Zufall im »Wilden Wasserweib« aufgeschnappt hatte. Ihre Worte malten das Bild eines niedrigen Schankraums unter einer rußgeschwärzten Decke, in dem dafür, dass es noch so früh am Tag war, bereits ein gewisser Betrieb herrschte, weil das schlechte Wetter die Leute unter das nächstbeste Dach trieb, zumal, wenn dort auch noch billiges Bier zu bekommen war.
Dafür, dass es nicht viel kostete, schmeckte es allerdings gar nicht so schlecht, und Ratte war über einem Krug davon gerade mit dem Gespräch fertig geworden, das sie hierhergeführt hatte, als ein graubärtiger alter Kerl auf der Bank neben der Tür einen seiner beiden Begleiter anfuhr, das käme unter keinen Umständen infrage.
Er war laut genug geworden, um ein paar Köpfe zu ihm herumfahren zu lassen, aber da keine Prügelei ausbrach und er sich zudem einer Sprache bedient hatte, die selbst hier im Norden Austrasiens nicht allzu vielen vertraut war, wandten sich die meisten Gäste gleich wieder ab, und nur Ratte spitzte rein gewohnheitsmäßig die Ohren, als er hinzufügte: »Bei Frau Herrad? Das wäre doch viel zu gefährlich!«
»Damit, dass er ausgerechnet bei einer Richterin landen würde, hätte ich ja auch nicht gerechnet«, sagte darauf entschuldigend der blonde und vielleicht auf sein vierzigstes Jahr zugehende Mann, den er eben so rüde zur Ordnung gerufen hatte. »Aber wenn er nun einmal da ist, muss ich mit ihm sprechen.«
»Manche Dinge lässt man besser ruhen«, gab die Dritte in der Runde, eine recht herbe Frau in seinem Alter, zu bedenken, und der Bärtige bekräftigte, das sei so, gerade, wenn derartige längst vergangene Geschichten einen ins Haus einer Richterin zu führen drohten.
»Und wenn er jetzt in deren Diensten steht, wird er gar nicht wollen, dass du ihn besuchst und ihm die Sache noch verdirbst, indem du aufstörst, was besser verborgen bleiben sollte«, setzte er hinzu, als der andere immer noch nicht einlenkte, sondern nur zweifelnd in seinen Bierkrug sah. »Du wirst ihm nur Ärger machen, und dir selbst und uns auch mehr als genug.«
Die Frau nickte entschieden, und da alle drei daraufhin schwiegen, konnte Ratte keine weiteren Einzelheiten belauschen, weil es aufgefallen wäre, wenn sie ihren Aufbruch aus der Schenke noch weiter hinausgezögert hätte.
»Gut«, sagte Ivar, sobald sie mit dieser bedauernden Bemerkung geschlossen hatte. »Wer sind die Leute?«
Ratte musterte ihn erheitert. »Bist du hier über die letzten Monate tatsächlich so faul geworden, dass du mich das fragen musst? Ich habe dir doch genügend Einzelheiten genannt, um eine entsprechende Nachforschung nicht weiter schwierig zu machen. Einen Nachmittag damit zu verbringen, würde dir gewiss nicht schaden, um wieder in Übung zu kommen.«
Ivar fragte sich, ob sie den Köder auswarf, weil sie selbst seine Hilfe brauchen konnte, ohne es offen zugeben zu wollen, oder weil jemand von ihr verlangt hatte, herauszufinden, ob er in seinem beschaulichen Schreiberdasein in der Seemark noch eine große Gefahr für die Welt darstellte. Die unschuldigste Erklärung, dass sie einfach Vergnügen daran fand, ihn zu ärgern, würde nicht zutreffen, denn bei Ratte war nie etwas derart harmlos.
»Manche Beschäftigungen gibt man gezwungenermaßen auf, andere mit Freuden«, erwiderte er und vermerkte nicht ohne Befriedigung, dass ihre belustigte Miene einer nachdenklichen wich.
Nun sah die Richterin den Zeitpunkt gekommen, in das Gespräch einzugreifen. »So sehr wir alle Euch Euren Spaß gönnen, Frau Alfreda – ich kann heute keinen meiner Schreiber für den halben Tag entbehren, solange es nicht gerade um Leben und Tod geht, also seid so gut, uns zu sagen, was Ihr wisst, und macht kein Spiel daraus.«
Ratte nickte. »Ihr habt Recht«, gab sie sich einsichtiger, als sie vermutlich in Wahrheit war, »also hört her. Natürlich habe ich ein wenig herumgefragt, allein schon aus Neugier, und es sind trotz der Sprache Leute aus der Gegend, wie Ihr Euch gedacht haben werdet; wer Euch auf Anhieb ›Frau Herrad‹ nennt, muss sich ja halbwegs auskennen. Jedenfalls stammen sie von einem Hof unten am Rabenwald, keine zwei Wegstunden von hier, und haben eine Fuhre gutes Holz zu einem der Schiffbauer unten am Hafen gebracht. Der alte Kerl heißt Olaf, soll vor Jahrzehnten aus dem Norden hergekommen sein und auf dem Hof eingeheiratet haben, und seine Tochter – das ist die Frau, eine gewisse Adalwi – hat es lustigerweise genau wie ihre Mutter gemacht und einen Mann aus der Fremde genommen, nur, dass der irgendwo weit im Süden geboren sein soll. Das ist Felix, wie man mir gesagt hat. Er war auch der Einzige der drei, bei dem ich mir gleich gedacht habe, dass er nicht in seiner Muttersprache redet … Oder Vatersprache, wie man bei Adalwi ja wohl sagen muss.« Sie zwinkerte. »Nun wisst Ihr, dass sie nicht mit dem nächsten Schiff wieder in die Ferne verschwinden werden, denn einer, der beim Rabenwald wohnt, kann jederzeit hier wieder auftauchen, wenn er so dringend einen von Euch sprechen will.«
Auf weitere Nachfragen hin versicherte sie nur, dass mehr binnen so kurzer Frist und angesichts anderer Belange, um die sie sich habe kümmern müssen, wirklich nicht in Erfahrung zu bringen gewesen sei.
»Ich gehe aber davon aus, dass die drei über Nacht in der Stadt bleiben werden, wenn das Wetter sich weiter so entwickelt«, schloss sie mit einem Blick auf die Fensterläden, die eben unter der nächsten Windböe erbebten. »Falls jener Felix also noch auf dumme Gedanken kommt und sich heute herwagt, solltet ihr lieben Schreiber allesamt überlegen, ob es noch etwas gibt, das ihr Frau Herrad besser beichtet, bevor ein anderer es ihr erzählt.«
Das Lächeln nicht ohne Bosheit, das diesem wohlmeinenden Rat folgte, galt offensichtlich nur Ivar, und sie hätte es wohl gern gehabt, wenn er etwaige gefährliche Geschichten noch in ihrer Anwesenheit ausgebreitet hätte. Das allerdings hätte er nicht einmal dann getan, wenn es tatsächlich etwas zu erzählen gegeben hätte und ihm die ganze Angelegenheit nicht ein völliges Rätsel gewesen wäre.
Der einzige Felix, der ihm auf Anhieb einfiel, war ein nicht weiter auffälliger Diakon von der Bischofskirche in Aquae, aber es wäre Ivar neu gewesen, dass der Mann sowohl die Haarfarbe gewechselt als auch in den Norden geheiratet hatte und dadurch auf einen Schlag um mindestens zehn Jahre gealtert war. Wenn der Name dagegen ein falscher oder spät angenommener war, mochten sich unzählige Bekannte dahinter verbergen, doch keinem, der auf ein Wiedersehen mit ihm erpicht war, hätte Ivar zugetraut, darüber erst behäbig mit der halben Familie zu verhandeln, und noch dazu in aller Öffentlichkeit in einem Gasthaus.
»Ehrlich gesagt würde es mich mehr kümmern, wenn dieser Olaf mich sprechen wollte, der ja schon ein alter, grauer Mann sein soll«, entgegnete er, eigentlich nur, um Ratte zu ärgern, denn mit der Bemerkung, die sich auf weit Zurückliegendes bezog, würde sie nichts anfangen können. »Aber das Glück werde ich nicht haben.«
Leider tat Ratte ihm nicht den Gefallen, sonderlich verwirrt dreinzusehen, und selbst wenn sie es getan hätte, wäre ihm nur wenig Zeit geblieben, den Augenblick auszukosten, denn Herrad fragte: »Wie kommt Ihr denn eigentlich darauf, dass Euer Felix einen Schreiber sprechen will? Aus dem, was er gesagt hat, geht doch nur hervor, dass er einen Mann in meinen Diensten wiedererkannt hat. Wir haben hier auch noch Krieger und Pferdeknechte, sogar einen Koch, wenn wir es ganz genau nehmen wollen.«
Ratte schüttelte lachend den Kopf. »Mag sein, aber diejenigen, bei denen es einen am meisten wundert, dass sie bei einer Richterin gelandet sind, sitzen doch hier, meint Ihr nicht?«
Damit hatte sie wohl nach ihrem eigenen Dafürhalten genug zu der Sache gesagt, denn übergangslos lenkte sie das Gespräch auf allerlei Nachrichten und Gerüchte aus Aquae, die ihr aus sicherer Quelle zugegangen waren. Der neue Vogt hatte die uralte Jupitersäule niederlegen lassen, vorgeblich, um eine Straße zu verbreitern, in Wahrheit aber wohl, weil ihm diese Erinnerung an heidnische Zeiten schon seit seinem Amtsantritt ein Dorn im Auge gewesen war. Da gleich am Tag nach dem Abriss, vor kaum einer Woche, ein Blitz in den Burgturm gefahren war und der brennende Dachstuhl nur unter großen Mühen hatte gelöscht werden können, hatte er sich jedoch keinen Gefallen damit getan, sondern wohl höhere Mächte und mit ihnen die halbe Stadt gegen sich aufgebracht, so sehr, dass schon Leute geäußert hatten, zu Frau Placidia Justas Zeiten sei vieles besser gewesen.
Zu dieser Einzelheit äußerte die Richterin sich nicht, und auch Ivar hütete sich, etwas dazu zu sagen. Von außen und mit kühler Vernunft betrachtet, hatte das Leben sich vor dem Sturz der Vögtin für sie alle angenehmer gestaltet, für Herrad, die ihr auf Lebenszeit sicher geglaubtes Amt in Aquae Calicis gegen eines in einer unbedeutenden Stadt an dieser rauen Küste hatte tauschen müssen, für ihre verbliebenen Gefolgsleute, die hier erst allmählich Fuß fassen konnten, und natürlich auch und vor allem für Mathilde, die Justas Schwertmeisterin gewesen war und nun statt einer ganzen Burg, die zu ihr aufsah, viel zu wenig hatte, weil ihr Mann ihr wichtig genug gewesen war, auch noch auf den Rest der einstigen Herrlichkeit zu verzichten, was ihn zwar unendlich rührte, ihm aber ein schlechtes Gewissen machte, wann immer er daran dachte, dass sie es ohne ihn auch heute noch einfacher gehabt hätte.
Angesichts dessen hätte auch Ivar eigentlich nur bekümmert über das Verlorene sein dürfen, und im Stillen schämte er sich fast, dass er stattdessen seit Monaten geradezu unanständig zufrieden war und nicht zurückhaben wollte, was einmal gewesen war. Nun gut – das Geld, das in seinen Freikauf geflossen war, hätte er genommen, denn die Bußzahlung, die er kurz darauf zum Ausgleich dafür erhalten hatte, dass bei einem Mordanschlag, der einem anderen gegolten hatte, unabsichtlich auch er verletzt worden war, wog nicht einmal annähernd auf, was Mathilde und er hatten ausgeben müssen, und war nur ein bescheidener Grundstock für neue Ersparnisse. Aber der Spitzel der Vögtin zu sein, vermisste er weit weniger, als ihm die anderen hier es wohl zutrauten, Ratte nicht ausgenommen, die jetzt mit den Worten aufbrach, sie werde einmal feststellen, ob der Koch und Schwiegervater der Richterin etwas Wegzehrung für sie habe, da sie heute bei diesem fürchterlichen Wetter noch dringend bis auf die andere Seite der Bucht gelangen müsse.
»Vielleicht komme ich ja in ein paar Tagen auf dem Rückweg wieder hier vorbei«, drohte sie an, um dann mit einem Winken zum Abschied die Kanzlei zu verlassen und sich durch die Seitentür des Gerichtsgebäudes auf den im Sturm menschenleer daliegenden Hof hinauszuwagen.
Die geschlagene Viertelstunde, die sie im Anschluss daran drüben im Wohnhaus zubrachte, bevor sie, ihr Bündel gewiss mit mehr Essbarem, als sie verdient hatte, vollgestopft, vorbei am Lindenstumpf wieder aufbrach und im Davongehen noch einen letzten neugierigen Blick zum geschlossenen Kanzleifenster warf, ließ hoffen. In der Tat waren sie sich noch nicht ganz einig geworden, wer zu Wulf gehen und ihn fragen sollte, ob er von Ratte mehr erfahren hatte, als er schon selbst, vom Wind gebeutelt, über den Hof kam und zu der inzwischen um den Hauptmann von Herrads Wachen ergänzten Runde hinzustieß.
»Wer ist Felix?«, fragte er gleich im Eintreten vergnügt und tat nicht einmal so, als wären die Haselnüsse, die er unter seinem Mantel hervorzauberte, um ihnen allen die weitere Arbeit zu versüßen, der wahre Grund für sein Erscheinen.
»Du kennst ihn also auch nicht«, bemerkte Herrad. »Gemeinschaftlich sind wir bisher auf einen Diakon der Bischofskirche in Aquae, einen Mönch im Hafenkloster daselbst, der oft bei der Armenspeisung geholfen hat, und einen Gemüsebauern, der dort regelmäßig auf dem Markt etwas verkauft hat, gekommen, aber keiner der drei ist im richtigen Alter für die Beschreibung, die Ratte uns gegeben hat, und ohnehin hätten sie wohl alle keinen Anlass, jemanden hier sprechen zu wollen.«
»Vor allem nicht in solcher Heimlichkeit, wie Ratte andeutet«, setzte Stig kopfschüttelnd hinzu. »Denn was für eine alte Bekanntschaft sollte es sein, die einem von uns hier etwas verderben könnte?« Er sah die Richterin an. »Unsere schlimmsten Geschichten kennt Ihr schließlich längst, domina, und wenn man es genau nimmt, sind sie ja ohnehin nicht so fürchterlich, dass daraus viel Ärger erwachsen könnte.«
Angesichts der Tatsache, dass Stigs »schlimmste Geschichte« sich darauf beschränkte, nach der Schlacht von Bocernae ein gutes Hemd seines gefallenen Herrn widerrechtlich an sich genommen und gegen eine Mitfahrt auf einem Bauernkarren eingetauscht zu haben, weil er sonst mit einem frisch verletzten Bein nicht weit gekommen wäre, zeugte es von Großmut, alle anderen Anwesenden in seine Aussage einzuschließen.
Recht hatte er allerdings damit, dass nichts von dem, was über irgendjemanden hier noch ans Tageslicht kommen konnte, Herrad sehr erstaunt hätte. Sie war keine Frau, die dazu neigte, sich lange darüber zu täuschen, wen sie vor sich hatte, und beschäftigte in Kanzlei, Kriegerschar, Haus und Stall gewiss niemanden, den sie nicht trotz aller früheren Fehler und Missetaten für vertrauenswürdig hielt. Eine für einen inzwischen in Gerichtsdienste getretenen Menschen unpassende alte Bekanntschaft allein hätte nicht ausgereicht, daran etwas zu ändern.
»Unbestreitbar«, sagte Herrad denn auch nur. »Aber wir wissen auch nicht, ob die geheimnisvollen Leute das wirklich befürchten oder ob es sich nur um einen vorgeschobenen Grund handelt, weil sie Felix aus anderer Ursache nicht gern zum Hochgericht gehen lassen wollen. Denn anscheinend halten sie mich ja für gefährlich.«
Daran taten sie gut, aber das laut auszusprechen, wäre wohl nicht sonderlich taktvoll gewesen.
»Fragt sich nur, was sie zu verbergen haben, wenn sie glauben, dich fürchten zu müssen«, gab Wulfila zu bedenken, der sich erstaunlicherweise noch nicht über die Haselnüsse hergemacht hatte. »Uns liegt derzeit keine Klage gegen einen Felix, eine Adalwi oder einen Olaf vor, auch keine gegen Unbekannte, ganz abgesehen davon, dass wir anscheinend von seit längerer Zeit in der Gegend ansässigen Bauern reden, die damit nicht gerade schwer aufzuspüren sind und überdies auch keine Scheu zu haben scheinen, sich offen in der Stadt zu zeigen. Unter welchen Umständen kann man sich behaglich ins ›Wilde Wasserweib‹ setzen, ohne Angst zu haben, dass die gefürchtete Richterin einen dort aufgreifen lässt, sich aber gleichzeitig scheuen, ihr unter die Augen zu kommen?«
Ardeija hatte das Gespräch bisher schweigend verfolgt und seinen kleinen Drachen Gjuki, der auf dem ledernen Einband der Leges et constitutiones döste, gekrault, aber nun sah er auf. »Das geht sehr gut, wenn einer von ihnen jemand ist, den sie wiedererkennen und zurück nach Aquae schicken könnte, weil er sich dort noch für etwas zu verantworten hat … Am ehesten wohl Felix selbst, denn der soll doch von weiter aus dem Süden stammen.«
Herrad schüttelte den Kopf. »Dann müsste er aber mindestens ein bislang ungestraft davongekommener Mörder sein, denn wer gerade erfolgreich gutes Bauholz verkauft hat, sollte im Zweifelsfall die nötigen Mittel haben, um die Buße für irgendein lässliches Vergehen zu zahlen, es sei denn, er wäre bis über beide Ohren verschuldet. Aber ich kann mich an keinen entflohenen Verdächtigen in einer großen Sache erinnern, auf den die Beschreibung passt, und all der Kleinkram aus Niedergerichtszeiten ist entweder längst verjährt oder auch so vollkommen unbedeutend.«
»Wer sagt denn, dass es ein Verdächtiger ist und nicht ein längst Verurteilter?«, fragte Wulf. »Dann könnte er sehr wohl meinen, jemandem etwas zu verderben, weil die Bekanntschaft an sich schon übel genug wirken würde, auch ohne dass sein alter Freund hier selbst etwas angestellt hätte, und wenn er sich seinerzeit einer Buße oder Strafe entzogen hat, hätte er auch noch genug zu fürchten.«
Ardeijas Finger, die immer noch auf dem Drachenrücken ihr Werk taten, erstarrten. »Gott steh mir bei, was, wenn es Messer-Ortnit ist? Der sieht in etwa so aus, wie Ratte den Kerl geschildert hat, und das Letzte, was wir von ihm wissen, ist, dass er ein zweites Mal aus den Steinbrüchen geflohen ist.«
»Den hätte Alfreda aber erkannt«, gab Ivar zu bedenken und sagte sich, dass selbst ein noch so krummer Rattensinn wohl nicht boshaft genug gewesen wäre, ihnen solch eine Einzelheit zu verschweigen, ganz abgesehen davon, dass ein gewohnheitsmäßiger Verbrecher und mehrfacher Mörder wie Ortnit schon eine beträchtliche Wandlung hätte durchmachen müssen, um über längere Zeit einen harmlosen Bauern auch nur leidlich überzeugend zu spielen oder gar ernsthaft zu ihm zu werden. »Das hat sie doch auch dir gegenüber nicht angedeutet, nicht wahr, Wulf?«
»Nein«, sagte Wulf. »Das Einzige, was sie, zartfühlend, wie sie nun einmal ist, angedeutet hat, war, dass ich mich darum kümmern müsse, unauffällig der Frage nachzugehen, ob mit deinem Kopf noch alles ist, wie es sein sollte. Dass du nicht schon während ihres Aufenthalts in meiner Küche losgezogen bist, um ihre Geschichte zu überprüfen, hat sie zutiefst verstört.«
»Die verstört so schnell nichts«, entgegnete Ivar, unsicher, ob er gekränkt oder über den Anflug von Besorgnis, der aus Rattes Einschätzung sprach, fast ein wenig gerührt sein sollte. Da er ihr eigentlich immer noch grollte, entschied er sich für Ersteres.
»Das hier aber sehr wohl.« Wulf musterte ihn und mochte ihm mehr von seinen Überlegungen anmerken, als Ivar gern sichtbar werden lassen wollte, aber der alte Mann beobachtete ja immer zu viel und war damit, dass er es schon von Ivars ersten Tagen in Herrads Diensten an getan und danach gehandelt hatte, einer der Hauptschuldigen daran, dass er sich so über Ratte ärgerte, denn wenn Leute, von denen man es nicht erwartete, unverhofft gut zu einem waren, lernte man, nachtragend gegenüber denen zu sein, die einen nicht so angenehm überraschten.
Gleich zu Beginn von Ivars neuem Leben, als er bei aller Dankbarkeit dafür bisweilen verunsicherter gewesen war, als er es nach außen hin je eingestanden hatte, war Wulf nämlich in einem Augenblick der Ruhe nach einem langen Kanzleimorgen zu ihm in den Garten gekommen und hatte eine dampfende Teeschale mit einem Gebräu, zu dem außer dem zu erwartenden Tee noch Apfelwein und das starke Sanddornzeug, das man hier an der Küste bekommen konnte, gehörten, auf dem flachen Stein unter dem Apfelbaum abgestellt.
»Trinkt das, Ihr seht aus, als ob Ihr es nötig habt«, hatte er gesagt und vermutlich weder das gebrochene Handgelenk noch den verstauchten Fuß, die Ivar damals geplagt hatten, gemeint. »Die Mischung hilft gegen alles, und mit dem Sanddorn ist sie noch besser, als sie unten in Aquae mit gewöhnlichem Branntwein war.«
Ivar hatte artig gedankt, sich aber gehütet, gleich allzu begierig nach der unverhofften Gabe zu greifen. »Warum tut Ihr das für mich?«, hatte er stattdessen gefragt, und wäre es nicht eben einer jener ersten sonderbaren Tage gewesen, hätte er es wohl unausgesprochen gelassen, aber in der lastenden Mittagshitze, die selbst in den Apfelbaumschatten drang, war seine Neugier stärker gewesen als seine Vernunft.
Wulf hatte seinen Blick ruhig erwidert. »Ich weiß doch, wie es ist.«
Wie es war, äußerlich wie innerlich wund aus einer ungerechten Haft zurückzukommen und gleich wieder auf den Beinen sein zu müssen, wusste er in der Tat, aber das war es nicht gewesen, worauf Ivars Frage abgezielt hatte.
»Das wisst Ihr, ja«, hatte er am Ende gesagt, »also noch einmal mit besserer Betonung: Warum tut Ihr das für mich