Old Firehands letzter Kampf - Friedhelm Schneidewind - E-Book

Old Firehands letzter Kampf E-Book

Friedhelm Schneidewind

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Beschreibung

Nach seiner schweren Verletzung im Kampf gegen die Poncas hat Old Firehand sich in St. Louis zur Ruhe gesetzt. Ein Überfall auf seinen Freund, den Büchsenmacher Henry, lässt ihn Jahre später wieder zum gnadenlosen Jäger werden; mit Winnetous Unterstützung findet er zu alter Stärke und Ausdauer zurück. Eine monatelange Hatz führt ihn durch weite Teile der USA, ab und zu gemeinsam mit Winnetou, den "verkehrten Toasts" Dick Hammerdull und Pitt Holbers und dem jungen Buffalo Bill. Nach vielen Umwegen und Kämpfen gelingt es dem alten Jäger, einen berüchtigten Auftragsmörder zur Strecke zu bringen.

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2025

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OLD FIREHANDSLETZTER KAMPF

EIN ABENTEUERROMAN

IM WILDEN WESTEN

VON

FRIEDHELM SCHNEIDEWIND

Herausgegeben von Bernhard Schmid

© 2025 Karl-May-Verlag

Schützenstr. 30, 96047 Bamberg

[email protected]

Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten

Deckelbild: Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1643-4

KARL-MAY-VERLAGBAMBERG. RADEBEUL

INHALT

1. Eine Weihnachtsüberraschung

2. Fährtensucher

3. Zwei auf der Jagd

4. Gewonnen und doch verloren

5. Die Verkehrten Toasts

6. In Wald und Flur

7. Töten im Übermaß

8. Unter Verdacht

9. Pfeile und Patronen

10. Drei auf der Jagd

11. Tragödien und Komödien

12. In der Falle

13. Antire Valley

14. Der Kommissionär

15. Im Dschungel von Washington

16. Spuren im Milieu

17. Missionare am Missouri

18. Mit Stock und Stein

19. Falsch abgebogen

20. Mit Messer und Keule

21. Über Stock und Stein

22. In letzter Minute

23. Überraschungen im Dezember

1. Eine Weihnachtsüberraschung

Die Kaffeemaschine gluckerte gemütlich, im Raum verbreitete sich neben dem anheimelnden Duft brennender Kerzen das Aroma der kochenden Schaumbiersuppe.

Die beiden älteren Männer, die sich an dem breiten Holztisch gegenübersaßen, prosteten einander mit gewaltigen Bierkrügen zu, dann erhob sich der eine, um die Suppe zu holen. Es war der Abend des zweiten Weihnachtstags, doch die Kleidung des kleinen, kräftig gebauten Manns war wenig festlich: Weste und Jacke waren aus starkem grauen Leinen, ebenso die Hose, über der er eine kurze Lederschürze trug. Mister Henry, der Büchsenmacher, hielt nicht viel von schickem Getue, und wenn er sich mit einem Freund zum Festtagsschmaus traf, dann war seine Arbeitskleidung gut genug dafür.

Während Henry die Suppe vom Herd und zum Tisch trug, fragte er auf Deutsch: „Habt Ihr Euch inzwischen daran gewöhnt?“ Er zeigte auf den Christbaum aus Metall, der auf einem Schemel in der Ecke stand.

Sein Gast schüttelte den Kopf und antwortete mit tiefer Stimme: „Ich glaube nicht, dass ich das jemals kann. Ich bin den alten Weihnachtsbaum gewohnt, mit grünen Zweigen, der nach Tanne duftet. Aber ich sehe ein, dass Ihr als meisterlicher Schmied der Versuchung nicht widerstehen konntet, Euch Euren eigenen Baum zu schmieden.“

Old Firehand stand auf und trat näher an den eisernen Baum heran. Dabei musste er kurz den Kopf neigen, um nicht an einen der Deckenbalken zu stoßen. Er war ein wahrer Recke, ganz in braunes Segeltuch gekleidet, und während bei Henry das Haupt von einem schütteren Haarkranz geschmückt wurde, flatterten seine langen grauen Haare, wenn er den Kopf bewegte, wie eine Mähne. Dafür zierte Henrys Gesicht ein langer grauer Bart, wohingegen das Gesicht seines Gasts glattrasiert war.

„Es ist Euch gelungen, dieses Meisterwerk aus Eisen. Aber ich bin nun mal ein Mann des Waldes und ein Freund der Bäume.“ Der alte Trapper hielt kurz seine rechte Hand über die Flamme einer der teuren Bienenwachskerzen, zog sie dann langsam zurück. „Es freut mich, dass Ihr dem Baum die Kerzen gelassen habt. Ich habe gelesen, dass inzwischen manche Christbäume aus Eisen mit Gas beleuchtet werden.“

„Ja, das wird dafür durch die hohlen Äste geleitet, und statt Kerzen erleuchten Gasflammen den Raum, die aus einer schmalen Ritze erstrahlen. Das herzustellen war mir zu aufwändig und auch zu teuer. Dafür bezahle ich lieber gutes Geld für diese wunderbaren Lichter.“

Henry wies auf die Kerzen am Baum und dann auf den Stuhl ihm gegenüber. „Bitte nehmt wieder Platz und lasst uns diese Vorspeise genießen, die ich nach dem alten deutschen Rezept gekocht habe, das Ihr mitgebracht habt.“

Die beiden Männer löffelten eine Zeitlang schweigend die Suppe und genossen die friedliche Stille. Ihre Schatten wurden groß an drei Wände der Stube geworfen. Der von den Kerzen des Christbaums stand nahezu unbeweglich an der Wand, noch ruhiger jener, den die Petroleumlampe warf. Auf der dritten Wand hingegen zitterte der große Schatten der beiden, schien zu wachsen und wieder zu schrumpfen, je nachdem, wie das Licht aus dem Ofenloch fiel. Henry hatte dieses offen gelassen, er mochte das flackernde Leuchten, und der eiserne Ofen gab auch so genug Wärme ab, um die Kaffeemaschine und das Backrohr zu erhitzen.

Old Firehand legte den Löffel zur Seite und rülpste. „Das war gut“, erklärte er. „Solche einfachen Gerichte schmecken mir oft besser als die verfeinerten Menüs bei vielen Bürgern dieser Stadt.“

Henry wiegte den Kopf, während auch er den Löffel beiseitelegte. „Manches davon kann ich durchaus genießen. Ich lebe fast mein ganzes Leben in dieser Stadt und weiß vieles am Luxus des Stadtlebens zu schätzen. Habt Ihr Euch in den letzten Jahren nicht auch daran gewöhnt? Ihr wart doch die letzten Jahre in Omaha, ehe es euch hier nach St. Louis verschlagen hat?“

Er hob den Bierkrug, trank ihn mit einem Zug aus und fragte, ehe Old Firehand antworten konnte: „Ist Euer Krug auch leer?“ Sein Gast schüttelte den Kopf, setzte dann den Krug an, leerte ihn bis zur Neige und reichte ihn Henry. Dieser stand auf und füllte die beiden Krüge aus dem Fass, das in der dem Ofen gegenüberliegenden Ecke auf einem Schemel stand.

Old Firehand beobachtete ihn ruhig und antwortete erst, als Henry die beiden Krüge auf den Tisch gestellt und sich gesetzt hatte. „Ich habe in letzter Zeit oft darüber nachgedacht“, begann er dann bedächtig. „Ich lebe jetzt seit fünf Jahren in Städten, und das ganz gerne. Die erste Zeit war sehr anstrengend; Ihr wisst, dass ich den Lungendurchschuss durch meinen Erzfeind Parranoh vor fünf Jahren nur knapp überlebte. Ohne die aufopfernde Pflege von Winnetou, Old Shatterhand und meines Sohns Harry hätte ich die Verwundung nicht überstanden. Sie brachten mich nach Omaha, wo ich mit Harry drei Jahre lang bei meinem älteren Sohn und dessen Frau lebte. Es dauerte viele Monate, bis ich mich körperlich einigermaßen erholt hatte. Vor zwei Jahren beschloss Harry, seine Bildung auf formellere Art zu vervollkommnen. So kamen wir nach St. Louis. Er besucht hier die Washington University, für die er sich entschieden hat, weil ihm die Saint Louis University als Jesuitenhochschule so wenig wie mir zusagt. In seinen Ferien jagen wir in den Wäldern in der Region und genießen das Leben in der Wildnis.“ Old Firehand nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug, dann fuhr er fort. „Schon in Deutschland, als Oberförster, lebte ich lieber im Wald als in der Stadt. In Amerika habe ich mich dem Stadtleben Jahrzehnte entzogen, doch nun, in meinem Alter, genieße ich die Bequemlichkeiten, die es mit sich bringt, solange ich ab und zu in die Freiheit der Wälder zurückkehren kann.“

Er prostete Henry zu, der gespannt zugehört hatte. Dieser erhob sich nun. „Wir werden halt beide nicht jünger. Die Zeit verstreicht – auch an diesem Abend, deshalb hole ich jetzt den Braten aus dem Ofen.“ Er drehte sich um. In dem Moment tat es einen gewaltigen Schlag und die Stubentür flog auf.

In den Raum stürmten drei Männer, deren Gesichter von Tüchern verdeckt waren. In den Händen hielten sie jeweils zwei Revolver, die sie auf Henry und Old Firehand richteten. Henry war erschrocken auf seinen Stuhl gesunken.

„Hands up!“, herrschte einer der drei Eindringlinge die beiden Sitzenden an und fuhr englisch fort: „Bleibt ruhig und euch geschieht nichts!“ Old Firehand folgte dem Befehl, einen Moment später tat Henry es ihm gleich. Für den erfahrenen Westmann war klar, dass hier jeder Widerstand zwecklos war; eine gut gezielte Kugel konnte den stärksten Mann fällen. Und ein Schuss aus einem großkalibrigen Revolver aus nächster Nähe riss furchtbare Wunden, selbst wenn er nicht tödlich war.

„Was wollt ihr?“, fragte Henry, ein leichtes Zittern in der Stimme. „Bei mir gibt es nicht viel zu holen, ich bin ein ehrbarer Handwerker, der von seinen Einnahmen gerade so leben kann. Ich habe nicht viel Geld im Haus.“

„Geld interessiert uns nicht“, entgegnete der Wortführer der Banditen. „Wir holen uns deine Ware, die Gewehre, für die du bekannt und berühmt bist.“

Er machte mit der Waffe in der Rechten eine Bewegung zu Old Firehand hin. „Bindet den, und dann darf uns Mister Henry in seine Werkstatt begleiten.“

Hilflos musste der alte Jäger dulden, dass ihn einer der Räuber mit Lederriemen, die er aus einer Gürteltasche zog, an den Stuhl fesselte. Er steckte dazu seine Revolver in die Holster, aber da die anderen beiden auf Henry und ihn zielten, konnte der Westmann nichts unternehmen. Der Bandit war gründlich, band seine Unterschenkel an die Stuhlbeine und die Hände rückwärts an die Lehne. Old Firehand spannte seine Armmuskeln an, sodass die Riemen später etwas Spiel haben würden, und hoffte, dass man ihn vielleicht allein lassen würde.

Diese Hoffnung erfüllte sich. Mit rüden Anweisungen und ein paar Stößen ihrer Revolver zwangen die Räuber Mister Henry, vor ihnen den Raum zu verlassen. Old Firehand hörte, wie der Büchsenmacher seine Werkstatt aufschloss, dann sanken die Stimmen zu einem unverständlichen Gemurmel herab.

Sofort begann der Westmann mit Befreiungsversuchen, und tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis er die Fesseln um seine Arme soweit gelockert hatte, dass er sie abstreifen und auch die Riemen um seine Beine lösen konnte.

Mit einem leisen Ächzen erhob er sich – trotz der kurzen Zeit war der Blutfluss in den Beinen etwas ins Stocken geraten – und schlich zur Tür. Er hatte nur die zwei Waffen bei sich, die er immer verborgen bei sich trug: die Sharps Pepperbox, eine kleine Pistole mit vier Läufen, und ein extra kurzes Bowiemesser. Er war sicher, damit konnte er die drei Banditen in Schach halten.

Vorsichtig spähte Old Firehand um den Türpfosten. Auf der anderen Seite des kurzen Korridors konnte er im flackernden Lichtschein aus der Stube die Tür zur Werkstatt erkennen, die nur angelehnt war. Langsam und leise näherte er sich dem Raum, aus dem unverständliche Stimmen zu vernehmen waren.

Der alte Jäger spähte durch den Türspalt. Neben dem offenen und geleerten Waffenschrank kniete Henry vor einer Holztruhe, aus der er vorsichtig etwas heraushob. Von den drei Banditen sah er keinen, auch sprach im Moment niemand. Wo waren die drei Räuber?

Die Tür ging nach innen auf; wenn er diese plötzlich aufstieß und in den Raum stürmte, musste er sich erst orientieren. Aber das sollte ihm gelingen, er fühlte sich wirklich wieder so schnell und kräftig wie früher, und was waren schon drei Strauchdiebe gegen Old Firehand! Sicher würde Henry auch eingreifen.

Einen Moment zögerte er noch – ein leichter Zweifel meldete sich in seinem Kopf –, dann stieß er die Tür auf und sprang in den Raum, in der rechten Hand die Pistole, in der linken das Messer stoßbereit. Noch während des Sprungs drehte er sich in Richtung der Ecke hinter der Tür, und wirklich standen dort zwei der Banditen, die Revolver in den Holstern. „Hands up“, brüllte der alte Trapper, und während er die Pistole auf sie gerichtet hielt, warf er einen Blick hinter sich, dort musste ja der dritte Spitzbube stehen. Gerade rechtzeitig konnte Old Firehand dessen Angriff abwehren, der Mann hatte sich offensichtlich schnell von seiner Überraschung erholt und schlug mit dem Revolverknauf nach Firehands Kopf. Dieser parierte den Hieb mit der Linken und traf den Gegner mit dem Messerknauf in der Achselhöhle, ein Schlag, den er schon oft angewandt hatte. Als der Bandit den Arm sinken ließ, streckte der Trapper ihn durch einen Hieb mit dem Pistolengriff an die Schläfe nieder.

Ein Geräusch hinter sich warnte ihn, er ließ sich zu Boden fallen und drehte sich dabei den beiden Banditen zu. Einer hatte gerade Henry bewusstlos geschlagen, der andere richtete einen Revolver auf den alten Jäger. „Schön liegen bleiben, und keine Dummheiten“ – seine Stimme klang sanft, aber hatte einen höhnischen Klang. Old Firehand drückte ab.

Die kleine Pistole hatte der Bandit wohl nicht ernst oder auch nur wahrgenommen, den enormen Knall hörte er nicht mehr. Während sich auf seiner Brust ein Blutfleck ausbreitete, sank er langsam zu Boden. Sein Kumpan reagierte blitzschnell: Ehe Old Firehand die Pistole in seine Richtung wenden konnte, um den zweiten der vier Läufe abzufeuern, warf er sich auf den am Boden Liegenden. Der folgende Kampf wurde von beiden Seiten mit aller Härte und Brutalität geführt, und Old Firehand musste feststellen, dass er, der geübte und berühmte Trapper, seinem Gegner auf die Dauer unterlegen war. Als dieser ihm schließlich die Luft abschnürte, war sein letzter Gedanke: Warum hat er mich nicht einfach erschossen?

Die Antwort auf diese Frage fand er am nächsten Tag in der Abendausgabe des Missouri Republican. Henry und er saßen sich in der Stube gegenüber, in der immer noch der Weihnachtsbaum stand. Die Kerzen waren längst heruntergebrannt, den verkohlten Braten hatte der Büchsenmacher weggeworfen.

Old Firehand kühlte seine Schwellungen immer wieder mit feuchten Tüchern, Henry tat dasselbe mit der Beule auf seiner Stirn. So manchen Krug Bier hatten sie an diesem Tag schon geleert, um die äußere Kühlung mit einer inneren zu unterstützen. Henry griff nach der Zeitung auf dem Tisch und brummte: „Sie berichten ziemlich genau. Und sie machen mir keine Hoffnung, meine Waffen wiederzubekommen. Es sei ja nichts weiter passiert, es sei niemand ermordet worden, und den Verlust bei einem Raubüberfall müsse ein Handwerker und Handelsmann verkraften können, wenn sein Geschäft gut läuft.“ Er schnaubte durch die Nase. „Der Town-Marshal sieht das leider genauso. Und dem Republican ist es nicht mal eine Meldung auf einer der vorderen Seiten wert.“ Er blätterte durch die Zeitung und las dann laut vor:

„Raubüberfall glimpflich ausgegangen. Freitag, 27. Dezember. Gestern wurde der allseits bekannte Büchsenschmied Henry (62) in seinem Geschäft in der Front Street, das zugleich sein Wohndomizil ist, von drei brutalen Banditen überfallen. Sie stahlen alle vorrätigen Gewehre, darunter wertvolle Einzelstücke, sowie das Bargeld. Mister Henry wurde brutal niedergeschlagen. Ein Gast (65), der mit ihm Weihnachten feierte, versuchte die Räuber aufzuhalten, doch wurde er im Kampf überwältigt. Dem Vernehmen nach handelt es sich um einen einst berühmten Westmann, der sich auf seine alten Tage in St. Louis niedergelassen hat. Glücklicherweise ist bei dem Raubüberfall niemand ernsthaft verletzt oder gar ermordet worden, sodass der Town-Marshal den Fall nicht weiter verfolgen und auch nicht den Sheriff einschalten wird. Er ist sicher, dass die Banditen längst die Grenzen von Stadt und County überschritten haben. Dies war indiesem Jahr bereits der dritte Überfall in unserer sonst so friedliebenden Stadt. Bürgermeister Joseph Brown äußerte die Hoffnung, dass unser geliebtes St. Louis im demnächst beginnenden Jahr 1873 von dergleichen Heimsuchungen verschont bleiben möge.“

Henry knallte die Zeitung auf den Tisch, sodass das Logo des Missouri Republican, der liegende Waschbär, deutlich zu erkennen war. „Sie trauen sich nichts, schreiben immer, was der Sheriff oder die Politiker gerne hätten. Da passt der Waschbär ganz gut, der ist auch ein Opportunist.“ Er wandte sich Old Firehand zu. „Wenn ich nicht den Blutfleck in meiner Werkstatt und Eure Verletzungen gesehen hätte – ich weiß nicht, was ich dann denken würde. Aber die Reaktion der Behörden hier erklärt, warum sie uns beide am Leben gelassen und ihren toten Kumpan mitgenommen haben. So müssen sie nicht befürchten, verfolgt zu werden.“

Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und versenkte den Kopf in seine beiden Hände, sein Bart erreichte fast die Tischplatte.

Old Firehand schüttelte den Kopf und widersprach energisch: „Sie werden verfolgt werden. Sobald ich mich ein wenig erholt habe, werde ich sie jagen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er leiser fort: „Obwohl ich nicht mehr der Alte bin. Ja, ich bin sicher, ich werde ihre Spuren genauso sicher finden wie früher, nicht nur die auf der Erde, sondern auch jene Pfade, denen nur mit dem Geist zu folgen ist. Doch beim Kampf muss ich vorsichtig sein. Ich bin nicht mehr so schnell und kräftig, wie ich es vor meiner Verletzung war, sonst hätte mich der Bandit nicht besiegt.“

Henry unterbrach ihn. „Und vergesst nicht: Wir beide werden nicht jünger.“

Old Firehand nickte mit düsterer Miene. „Ihr habt Recht. Doch wenn ich von der Jagd wiedergekehrt bin, werde ich versuchen, die Zeit zurückzudrehen.“

Am nächsten Vormittag setzten sich Old Firehand und Henry zusammen, um die Jagd auf die Gewehrdiebe zu planen; sie hatten kaum damit begonnen, da betrat Harry den Raum. Er begrüßte seinen Vater mit einer herzlichen Umarmung, Henry gab er höflich die Hand.

Old Firehand erzählte seinem Sohn ausführlich, was geschehen war. Währenddessen betrachtete Henry den jungen Mann genauer, er hatte ihn bisher immer nur kurz getroffen. Wie er da, in einen modischen Anzug gekleidet, angespannt auf seinem Stuhl saß, hätte man Harry für einen durchschnittlichen Studenten halten können, doch Henry fielen sowohl die trainierten Muskeln auf als auch der scharfe Blick, den er von seinem Vater kannte. Dass Harry der Sohn einer Indianerin war, war ihm nicht anzusehen. Weder die gebräunte Haut noch die zu einem Pferdeschwanz gebundenen, langen schwarzen Haare waren allzu ungewöhnlich. Deshalb hatte Harry bisher keine Probleme bei seinem Studium bekommen, hatte Old Firehand einmal erzählt. Er galt an der Universität als Sohn eines vor Jahren eingewanderten Deutschen, der sein Leben nach Jahren als Trapper nun im Ruhestand verbrachte. Damit er das Deutsche auch wirklich gut beherrschte, sprachen er und sein Vater immer in dieser Sprache, wenn sie unter sich waren, und auch jetzt, da Henry des Deutschen ebenfalls mächtig war.

Harry wandte sich an den Waffenschmied. „Habt ihr euch schon Gedanken gemacht, was die Diebe eigentlich wollten? Ich meine, mit diesem Aufwand hätten sie sicher bei einem Juwelenhändler oder Goldschmied wertvollere Beute machen können, die obendrein leichter zu Geld zu machen und viel besser zu transportieren wäre. Ich habe den Eindruck, das war ein ganz gezielter Raubüberfall zur Beschaffung von bestimmten Gegenständen, ein Auftragsdelikt.“

Old Firehand und Henry blickten einander betroffen an. „Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht!“, brummte Henry. „Du hast natürlich Recht. Lass uns mal auflisten, was gestohlen worden ist.“

Er griff zu einem bereitliegenden Heft, in dem er schon einige Notizen gemacht hatte, und begann zu schreiben. Old Firehand und Harry warteten geduldig, zwischendurch nickte der alte Trapper seinem Sohn anerkennend zu.

Henry legte den Stift beiseite und begann vorzulesen, wobei er bei jedem Gewehr ein paar Bemerkungen einflocht. „Da sind zunächst vier Henry-Louis-Rifles 1872. Ich bin ja kein Massenproduzent, ich fertige meistens auf Bestellung, aber von einigen meiner Standardmodelle habe ich stets ein paar auf Vorrat, so wie bei diesem Einzellader. Der entspricht etwa der Springfield Rifle 1870, hat aber eine höhere Reichweite und ist weniger fehleranfällig. Zwei Henry-Louis-Karabiner 1871 haben sie auch geklaut, die haben kürzere Läufe und lassen sich besonders gut transportieren.“

Harry unterbrach ihn. „Warum Henry-Louis und nicht einfach Henry-Gewehr?“

Der alte Büchsenschmied lachte kurz und trocken auf und über Old Firehands Gesicht zog ein Schmunzeln.

„Ein gewisser Benjamin Tyler Henry hat jahrelang sehr erfolgreich als Waffenentwickler bei Smith & Wesson und später bei Winchester gearbeitet. Er hat die frühen Repetiergewehre so sehr verbessert, dass sein Henry-Gewehr im Bürgerkrieg zum Standard der Nordstaatenarmee und als Yankee-Gewehr bekannt wurde. Wer heute von einer Henry-Rifle spricht, meint ein Gewehr von diesem Herrn, das immer noch als Massenprodukt verbreitet ist. Um mich davon abzugrenzen, nenne ich meine Waffen Henry-Louis-Gewehre, nach meinem Namen und unserer Stadt.“

Old Firehand ergänzte: „Die Henry-Gewehre sind immer noch verbreitet, obwohl sie einen großen Nachteil haben. Man hat ein Röhrenmagazin mit fünfzehn Patronen, und es sind für einen geübten Schützen bei zweimaligem Nachladen bis zu fünfundvierzig Schuss in der Minute möglich. Aber das unten offene Magazin führt gerne zur Verschmutzung der Patronen. Das passiert beim Nachfolgemodell nicht. Die Winchester 66 hat zwar nur dreizehn Schuss, aber sie ist zuverlässiger.“

„Du hast mit beiden Gewehren geschossen?“, fragte Harry atemlos.

„Natürlich“, antwortete Old Firehand. „Bis vor ein paar Jahren habe ich neben meiner großen Büchse ein Henry-Gewehr besessen, und die Winchester 66 kennst du doch, wir verwenden sie beide ja für die Jagd.“

Henry räusperte sich. „Können wir die Unterrichtsstunde beenden? Ich würde gerne weiter die Liste durchgehen.“ Old Firehand und Harry nickten betreten.

Der Waffenschmied führte noch sechs weitere Gewehre auf, jeweils drei Doppelbüchsen und drei Repetiergewehre. Dann räusperte er sich und blickte etwas verlegen. „Und dann ist da noch mein – mein aktuelles Meisterstück, die Longshot-Rifle. Vielleicht hatten sie es auf die abgesehen, wenn es wirklich ein Auftragsdiebstahl war.“

„Ein Meisterstück?“, fragte Old Firehand. „Ein aktuelles? Wie meint Ihr das?“

Henry räusperte sich noch einmal, dann erklärte er: „Mein bekanntestes Meisterstück ist natürlich der Henrystutzen, den unser Freund Old Shatterhand führt. Dessen Besonderheit ist das große Magazin. Fünfundzwanzig Schuss, das erreicht selbst die neueste Generation von Winchester nicht. Nun habe ich eine Doppelbüchse entwickelt, die nur zwei Schuss hat, aber dafür eine bisher unerreichte Reichweite und Präzision. Ihr seid ein Meisterschütze, Firehand. Wie weit könnt Ihr wirklich zielsicher schießen?“

Der alte Jäger wiegte den Kopf. „Das kommt natürlich auf die reale Anwendungssituation an. Die effektive Reichweite, bei der ich sicher treffe, liegt bei meiner Winchester je nach Gelände, Sichtlinie und Windbedingungen zwischen zweihundert und dreihundert Metern. Unter optimalen Bedingungen können es auch mal vierhundert Meter sein. Mit meiner Elefantenbüchse, wie Harry sie gerne nennt, meinem einläufigen Jagdgewehr, bin ich zielsicher auf die doppelte Entfernung, so wie Old Shatterhand mit seinem Bärentöter. Aber diese beiden Gewehre wiegen jeweils um die zehn Kilo, deshalb sind sie für den Kampf nur selten geeignet, eher für die Jagd auf Großwild. Genügt Euch diese Auskunft?“

Henry nickte. „Dann stellt Euch jetzt eine Doppelbüchse vor mit sechzig Zentimeter langem Lauf, zehn mehr als bei der Winchester. Zugleich ist das Gewehr so leicht wie die Henry-Rifle, wiegt mit vier Kilogramm erheblich weniger als jede Winchester. Und die Reichweite übertrifft die des Bärentöters um das Doppelte.“

Old Firehand starrte Henry an, versuchte vergeblich etwas zu sagen, schluckte einmal kräftig und krächzte dann: „Wenn Ihr das patentieren lasst, seid Ihr ein gemachter Mann. Man wird Euch die Büchse aus den Händen reißen!“

Henry schüttelte den Kopf, stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schritt langsam zwischen Tür und Tisch hin und her, während er in bedeutungsvollem Ton erklärte: „Ich habe alles, was ich brauche. Ja, damals, als ich den Henrystutzen entwickelt hatte, da hatte ich solche Träume, stellte mir vor, wie das Geld nur so hereinfließen würde. Aber da, wo Ihr jetzt sitzt, hockte eines Tages ein junger Mann, etwa im Alter von dir, Harry, und dir gar nicht unähnlich, und der fragte mich, ob ich mir denn ein böses Gewissen leisten wolle. Denn das müsse ein Mörder ja haben. Und die Beihilfe zum Mord sei gerade so schlimm wie der Mord selbst. Ich verstand ihn erst nicht, aber er erklärte es mir ausführlich. Ich habe mir jedes Wort gemerkt, es hat sich mir hier“ – Henry schlug sich mit der Faust auf die Brust – „eingebrannt. ,Wenn Ihr ein Gewehr fertigt, welches fünfundzwanzigmal schießt, und es in die Hände jedes beliebigen Strolchs gebt, so wird drüben auf den Prärien, in den Urwäldern und den Schluchten des Gebirges sich bald ein grausiges Morden erheben; man wird die armen Indianer niederschießen wie Kojoten, und in einigen Jahren wird es keinen Indsman mehr geben. Und wenn jedermann dieses gefährliche Gewehr für Geld bekommen kann, so werdet Ihr allerdings in kurzer Zeit Tausende absetzen, aber die Mustangs und die Büffel werden ausgerottet werden und mit ihnen jede Art von Wild, dessen Fleisch die Roten zum Leben brauchen. Es werden hundert und tausend Aasjäger sich mit Eurem Stutzen bewaffnen und nach dem Westen gehen. Das Blut von Menschen und Tieren wird in Strömen fließen, und sehr bald werden die Gegenden diesseits und jenseits der Felsenberge von jedem lebenden Wesen entvölkert sein.‘“ Henry hatte sich in Rage geredet, nun setzte er sich langsam wieder, holte tief Luft und fuhr fort: „Ihr wisst sicher, wem ich diese Moralpredigt zu verdanken hatte. Einem Greenhorn, gerade nach Amerika gekommen, einem jungen Mann, den wir heute als Old Shatterhand kennen.“ Henry griff nach einem Krug mit Wasser, füllte ein Glas und trank es leer, ohne abzusetzen. „Natürlich war es mir nicht in den Sinn gekommen, eine Gewehrfabrik aufzubauen. Ich war immer ein einsamer Mann und werde dies bleiben. Ich hatte keine Lust, mich mit jeder Menge Arbeitern herumzuärgern. Aber auf die Idee, ein Patent auf den Stutzen anzumelden und so richtig reich zu werden, war ich natürlich schon gekommen. Davon hat Old Shatterhand mich abgebracht. Und deshalb wird es auch die Longshot-Rifle nur als Einzelstücke geben. Wenn überhaupt.“ Henry ließ den Kopf sinken.

„Wie meint Ihr das?“, fragte Harry nach einem Moment des Schweigens zögerlich.

Henry schlug mit der Faust auf den Tisch. „Die Banditen haben, als sie meinen Tresor ausgeraubt haben, nicht nur alles Geld mitgenommen, sondern meine Konstruktionspläne verbrannt. Ich kann dieses Gewehr nicht ohne Pläne nachbauen, oder ich brauche dazu das Exemplar, das sie gestohlen haben. Ich kann die Entwicklung von drei Jahren nicht einfach so aus dem Kopf nachvollziehen.“

„Das irritiert mich“, warf Old Firehand ein. „Seid Ihr sicher, dass alle Pläne verbrannt sind? Oder haben die Halunken doch welche mitgenommen?“

Henry überlegte kurz: „Doch, ich habe in der Asche genug erkannt, um genau zu wissen, dass alle Aufzeichnungen verbrannt wurden. Warum fragt Ihr?“

„Nun, wenn sie die Pläne mitgenommen hätten, dann könnte man vermuten, dass ein Konkurrent den Diebstahl in Auftrag gegeben hätte. So sieht es eher so aus, als hätten sie es auf ein einzelnes Gewehr abgesehen, dieses spezielle Gewehr nämlich. Und sie haben dafür viel Mühe und auch Risiken auf sich genommen. Was haben sie wohl vor, dass dafür so eine spezielle weitreichende Waffe gebraucht wird?“

Ein Grummeln unterbrach ihn, Harrys Magen hatte vernehmlich geknurrt. Erschrocken schlug der junge Mann die Hand vor den Mund, sein Vater lachte.

„Du erinnerst uns daran, dass man besser denkt, wenn es eine leibliche Grundlage dafür gibt. Was haltet Ihr davon, Henry, wenn wir gemeinsam das Gasthaus Zum brummenden Bären aufsuchen? Ich habe da schon oft gut gegessen.“

2. Fährtensucher

Nach einem reichlichen Mahl, bei dem sie über vieles, aber nicht den Überfall gesprochen hatten, widmeten sich der Büchsenschmied, der alte Jäger und dessen Sohn bei einem Kaffee wieder der Jagd auf die Gewehrdiebe.

„Die Waffen wiegen nicht nur eine Menge, sie bilden auch einen ganz schönen Packen“, begann Henry. „Die Diebe müssen sie irgendwie transportieren.“

„Und sie mussten die Leiche wegschaffen“, warf Harry ein.

Sein Vater nickte. „Das hatte ich ganz vergessen. Ich glaube nicht, dass sie ihren toten Kumpan mitgenommen haben. Vielleicht haben sie ihn im Wald vergraben oder in den Fluss geworfen. Danach zu suchen, halte ich für wenig sinnvoll. Ich denke, sie werden die Stadt verlassen haben. Also sollten wir uns am Bahnhof und am Hafen erkundigen und schauen, ob wir noch Spuren finden auf einer der Ausfallstraßen.“

„Das wäre wohl Eure Aufgabe, als Spurensucher und Waldläufer“, meinte Henry. „Ich übernehme gerne den Bahnhof. Durch meine eigenen Reisen und weil ich immer wieder Lieferungen in Empfang nehme, kenne ich einige der Bahnhofsmitarbeiter. Allerdings dürfte das eine Mammutaufgabe werden. St. Louis ist so wichtig als Handelszentrum, dass von hier aus mehrere Bahnlinien ausgehen, nach Kansas und Texas, Oklahoma und Kentucky, Ohio und Tennessee. Das heißt, die Banditen haben von hier aus alle Möglichkeiten. Aber vielleicht sind sie wegen ihres Gepäcks aufgefallen.“

„Müssen sie dafür extra bezahlen?“, fragte Harry. „Ich kenne mich mit Bahnfahren nicht aus“, fügte er entschuldigend hinzu.

„Bei den meisten Bahnlinien schon“, antwortete sein Vater. „Man darf mit seinem Ticket nur mitnehmen, was unter den Sitz und vielleicht noch etwas daneben passt. Größeres Gepäck muss in den Gepäckwagen, und das muss extra bezahlt werden. Deshalb kann Henry vielleicht die Räuber ausfindig machen, wenn sie mit der Bahn gefahren sind. Und du nimmst dir den Hafen vor.“

Harry nickte. „Da kenne ich mich ein bisschen aus, ich bin gerne dort, es ist spannend, die Schiffe zu beobachten. Und nach Omaha fahre ich ja sowieso immer mit dem Dampfschiff auf dem Missouri.“

Henry schob den leeren Kaffeebecher von sich und stand auf. „Dann lasst uns beginnen. Ob wir heute Nachmittag, am Samstag, noch viel erreichen, müssen wir schauen. Und morgen arbeiten sicher auch nicht so viele am Hafen und am Bahnhof. Aber spätestens am Montag sollten wir einiges erfahren.“

Old Firehand stand ebenfalls auf. „Für mich spielen Feiertage keine Rolle; ich werde heute noch einige Straßen abreiten und nach Spuren suchen. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen gegen elf Uhr bei Mister Henry.“

Es dämmerte bereits, als Old Firehand am westlichen Stadtrand von St. Louis in den Wald ritt, der Schnee knirschte unter den Hufen seines Pferdes. Es gab vier Ausfallstraßen, die der erfahrene Westmann untersuchen wollte. Diese hier, Richtung Kansas City, hielt Old Firehand für vielversprechend, da es in Kansas und weiter weg in Colorado sicher Gelegenheiten gab, die Gewehre für gutes Geld loszuwerden. Mochte ja sein, dass es den Dieben wirklich nur um die Longshot-Rifle ging. Aber dann würden sie die anderen Waffen wohl kaum wegwerfen, sondern sie sicher verkaufen wollen. Und sollte der Raub vielleicht gar nicht diesem speziellen Gewehr gegolten haben, dann würden sie erst recht die Waffen zu Geld machen wollen.

Die Straße wurde viel genutzt, deshalb war sie breit und der Untergrund fest, die Bäume an ihren Rändern sahen im Dämmerlicht aus, als wären sie in regelmäßigen Abständen gepflanzt worden. Old Firehand fühlte sich an manche der Alleen in deutschen Städten erinnert, die er in seiner Jugend gesehen hatte. Er war auf dieser Straße noch nicht oft geritten, den Wald betrat er, wenn er jagte, meistens über kleine Pfade. Er mied die belebten Straßen lieber. An diesem letzten Samstagabend des Jahres aber war er auf diesem Weg allein.

Noch war das Licht ausreichend, sodass er es sehen würde, wenn am Straßenrand jemand erst kürzlich eine Bresche geschlagen hätte. Die Bäume standen hier sehr dicht und zwischen ihnen gab es viel Unterholz. Niemand konnte den Wald betreten, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Old Firehand ritt so lange weiter, stets die Waldränder beobachtend, bis die Dämmerung ihm eine genaue Betrachtung unmöglich machte. Dabei genoss er die Ruhe, die nur ab und zu von den Geräuschen des Waldes unterbrochen wurde: dem Fall eines Schneeklumpens von einem Ast, dem Zwitschern eines Vogels, dem Bellen eines Fuchses. Er beschloss, zurückzureiten; neben dieser Straße, da war er sich sicher, hatte niemand eine Leiche im Wald verborgen. Es war Zeit, sich um ein gutes Abendessen zu kümmern.

Als er sein Pferd gewendet hatte, verharrte er stocksteif; ein Ruck am Zügel genügte, um seinen Rappen ebenfalls reglos erstarren zu lassen. Etwa fünfzig Meter vor ihm stand ein Wapitikalb am Straßenrand, vielleicht ein halbes Jahr alt. Das junge Tier hatte sich auf die Straße getraut, um an ein paar nahrhaften Trieben eines Buschs an deren Rand zu naschen, die dem Winter bisher getrotzt hatten. Den Reiter erachtete es wohl aus Unerfahrenheit nicht als Gefahr. Ganz langsam, um kein Geräusch zu verursachen, zog Old Firehand die Winchester aus dem Sattelholster. Anlegen, zielen, spannen und abdrücken war für den erfahrenen Jäger eine Sache von weniger als einer Sekunde. Das Kalb drehte noch den Kopf, dann traf die Kugel.

„Ein sauberer Blattschuss“, brummte Old Firehand. Während er zu dem erlegten Tier ritt, klopfte er seinem Pferd anerkennend auf den Hals. Er war wieder einmal sehr froh, dass er dieses Tier reiten durfte. Winnetou hatte es ihm geschenkt an dem Tag, als er sich, Monate nach seinem Lungendurchschuss, zum ersten Mal stark genug gefühlt hatte, in den Sattel zu steigen. Die indianische Dressur hatte sich heute wieder einmal bewährt.

Old Firehand stieg ab und packte das Hirschkalb hinter den Sattel. Auch nach einem Blattschuss sollte das waidgerechte Aufbrechen schnell erfolgen, um eine Vergiftung des Muskelfleischs durch Bakterien aus dem Magen und dem Darm zu verhindern. Aber er würde in wenigen Minuten zu Hause sein und freute sich schon darauf, das mit seinem Sohn gemeinsam zu erledigen, und auf das folgende Abendessen.

Harry und Old Firehand trafen am Sonntagvormittag bei Mister Henry ein; der war erstaunt über den Korb, den Harry vor ihm auf den Tisch stellte. Als er die großen Stücke Wapiti-Fleisch sah, die ihm seine Freunde mitgebracht hatten, verwandelte sich sein Erstaunen in Entzücken. Selbstverständlich, ließ er verlauten, würde ein Teil des Fleischs später ein wohlschmeckendes gemeinsames Mittagessen ergeben.

Nachdem das Fleisch versorgt war und alle drei jeweils einen Becher Kaffee vor sich stehen hatten, ging es ans Berichten. Henry hatte mit zwei Schalterangestellten am Bahnhof gesprochen. „Glücklicherweise ist es hier nicht so wie in manchen anderen großen Städten, wo jede Bahngesellschaft ihre eigenen Angestellten am Bahnhof hat. Jeweils ein Mann am Schalter verkauft die Tickets für alle Züge, die von St. Louis aus fahren. Die zwei, mit denen ich gesprochen habe, waren ganz sicher, dass keine Männer eingestiegen sind, auf die unsere Beschreibung passen würde. Der eine würde schon wegen seiner Größe auffallen, er ist ja fast so groß wie Old Firehand. Und niemand hat ein Gepäckstück aufgegeben, in das die Gewehre passen würden, keinen großen Koffer oder Schrankkoffer, Seesack oder eine Lederhülle. Morgen kann ich mit einem anderen Bahnangestellten sprechen, der vorgestern am Schalter war, und am Montagvormittag ist der vierte Mann im Dienst, sodass ich dann alle durch habe. Vielleicht wissen wir anschließend mehr.“

Harry setzte seinen Kaffeebecher ab: „Mir ging es ähnlich. Natürlich waren gestern nicht alle am Hafen, die auch vorgestern dort gearbeitet haben. Ich bin heute Vormittag noch mal hin, da konnte ich mit ein paar weiteren Matrosen und Schauerleuten reden. Von denen sind niemandem die von uns Gesuchten aufgefallen, und auch auf den Schiffen, die im Hafen liegen, hat keiner sie gesehen. Glücklicherweise hat am Freitag nur ein Schiff abgelegt, die Diana. Vater und ich kennen sie, weil wir damit immer nach Omaha fahren, und wir kennen auch Kapitän Mark. Die Diana legt heute Abend in Omaha an, fährt dort morgen früh ab und ist am Mittwochabend wieder hier. Am Donnerstag können wir Kapitän Mark fragen, falls wir bis dahin nicht eine andere Spur haben, da hat die Diana ihren Ruhetag. Ich habe mich am Hafen erkundigt, die Diana fährt planmäßig, trotz des Neujahrsfests.“

„Bravo, mein Junge, das hast du gut gemacht“, lobte Old Firehand seinen Sohn. „Falls die Banditen Richtung Westen wollen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie das Schiff genommen haben. Wenn das so wäre, könnte ich am Freitag hinterher, und sie hätten nur eine Woche Vorsprung.“

„Ich komme mit!“, rief Harry und sprang erregt auf.

Sein Vater drückte ihn wieder auf seinen Stuhl. „Nichts da, mein Sohn. Nicht, dass ich dich nicht gerne dabeihätte. Du hast und kannst alles, was für eine solche Jagd nötig ist, und bist mit deinen jungen Jahren wegen all deiner Erfahrungen ein besserer Jäger und klügerer Waldläufer als manch doppelt so alter Westmann. Aber in der Woche nach Neujahr gehen deine Studien an der Universität wieder los, und ich weiß nicht, wie lange die Jagd dauern wird.“ Harry nickte betrübt.

„Dein Vater hat Recht“, mischte sich Henry ein. „Dein Studium ist wichtiger als ein paar Gewehre. Und wir wissen ja noch gar nicht, ob die Verbrecher überhaupt das Dampfboot genommen haben. Vielleicht finde ich noch am Bahnhof eine Spur. Du kannst mich morgen gerne begleiten, oder du reitest mit deinem Vater die Waldränder ab. Da fällt mir ein“ – er wandte sich an Old Firehand – „ist denn Euer Pferd schiffsfest? Hält es so eine Flussfahrt aus?“

Old Firehand lächelte. „Hulitchi hat schon manche Schiffsreise mitgemacht, auch auf der Diana.“

Henry horchte auf. „Hulitchi? Das klingt fast wie der Name von Winnetous Pferd.“

„Es bedeutet auch fast dasselbe. Iltschi ist der Wind, Hulitchi der besonders starke Wind, ein Orkan oder ein Wirbelsturm; der Rappe ist ein Bruder von Iltschi und Hatatitla. Winnetou hat ihn mir geschenkt, als ich nach meiner Genesung wieder reiten konnte.“

Henry sah die Augen Harrys leuchten. „Dir scheint das Pferd sehr zu gefallen?“

„O ja! Manchmal, wenn Vater keine Zeit hat, reite ich Hulitchi. Er ist genauso edel und gut geschult wie die Pferde von Winnetou und Old Shatterhand.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte er sich an seinen Vater. „Wenn ich mit ihm allein bin, nenne ich ihn übrigens Tornado. Darauf hört er bei mir auch.“

Old Firehand lachte laut auf. „Wenn es ihm nichts ausmacht, dann soll es mich nicht stören. Aber ich denke, wir sollten uns jetzt um den Mittagsbraten kümmern, für heute haben wir alles Notwendige über die Jagd auf die Gewehrdiebe besprochen.“

Am nächsten Tag suchten Old Firehand und Harry gemeinsam auf den drei großen Ausfallstraßen nach verräterischen Spuren. Beide waren froh, dem Dunst der Stadt zu entkommen. Harry machte darüber eine Bemerkung, als sie nach Osten Richtung Louisville und Kentucky ritten: „Wenn ich ein paar Tage in der Stadt bin, fällt es mir gar nicht mehr auf. Aber wenn es nicht gerade regnet, hängt der Rauch der Kohleöfen und Dampfmaschinen so stark über der Stadt, dass sie meistens wie in einen leichten Nebel gehüllt zu sein scheint. Schau, Vater, selbst der Schnee ist hier draußen weißer als in den Straßen der Stadt.“

Old Firehand ließ seinen Rappen eine Pirouette ausführen, während er mit der Linken um sich zeigte. „Du hast leider so Recht. Das ist einer der Gründe, warum es mich nicht in der Stadt hält und immer wieder in die Wälder treibt. Es sind nicht nur die Mauern und die Menschen, es ist der Geruch der Stadt. Vor einiger Zeit traf ich einen Schriftsteller, der sagte mir, wenn in St. Louis oder New York ein neues Gebäude errichtet würde, dann könnte man nach wenigen Tagen nicht mehr erkennen, dass es neu sei, weil die Fassade durch den Kohlenrauch schon aussähe wie alle anderen. Doch ich glaube, wir sind diese Straße weit genug geritten. Lass uns umkehren und unseren Pferden einen kleinen Galopp bis zur Stadtgrenze gönnen.“

Harry jauchzte auf, wendete seinen Rotfuchs und galoppierte los. Sein Vater ließ ihm einen kleinen Vorsprung, dann setzte er ihm nach. Obwohl das Pferd seines Sohns ein außergewöhnlich schönes und schnelles Tier war, war Hulitchi ihm weit überlegen, Old Firehand musste den Rappen nicht antreiben, um Schritt zu halten. Harry hatte den Rotfuchs nach dem Pferd benannt, mit dem Old Shatterhand ihm in New Venango das Leben gerettet hatte. Er hatte nicht nur bei seinem Vater, sondern auch bei Winnetou und für ein paar Monate bei Old Shatterhand eine ausgezeichnete Schulung erhalten in allem, was ein Westmann können sollte. Es freute Old Firehand, wie elegant und locker Harry auf Swallow saß. Sein lautes, fröhliches Lachen war weit zu hören.

Als Harry und sein Vater am Abend nach Hause ritten, hatten sie noch die südliche Straße Richtung Arkansas und Memphis untersucht und besonders gründlich den Weg nach Norden Richtung Minnesota, da Old Firehand vermutete, die Banditen könnten vielleicht nach Chicago geritten sein. Sie fanden aber keine Hinweise.

Auch Henry war erfolglos geblieben, am Bahnhof konnte sich niemand an die Gesuchten erinnern. So hätten die drei den letzten Tag des Jahrs ganz entspannt genießen können, aber Old Firehand und Henry brannte die Sorge um den wachsenden Vorsprung der Gewehrdiebe unter den Nägeln.

Der Büchsenschmied wollte New Year’s Eve, wie der Vorabend des Neujahrstags im Englischen heißt, wie immer allein feiern; er sei nun einmal ein einsamer Wolf. Harry überredete seinen Vater, ihn zur Silvesterfeier der Brauerei Anheuser zu begleiten; einer seiner Dozenten hatte ihn dazu eingeladen.

„Professor Hammer wird dir gefallen. Er ist fast so alt wie du und stammt aus Deutschland, aus Mannheim, dort war er Militärarzt und Hauptmann in einem Freikorps. Vor 25 Jahren ist er nach St. Louis emigriert. Im Bürgerkrieg war er Arzt in der Unionsarmee und hat mehrere Hospitäler hier in der Stadt geleitet. Jetzt ist er Lehrstuhlinhaber am Missouri Medical College.“

„Und wieso lädt dein Professor dich zur Silvesterfeier einer Brauerei ein?“

„Die hat ihm mal gehört. Seine Brüder hatten die Bavarian Brewery gekauft und dachten, dass deutsches Bier sich gut verkaufen müsste. Immerhin war schon damals ein Drittel der Bürger in St. Louis deutsche Einwanderer, so wie noch heute. Aber irgendwie haben sie sich verkalkuliert, dann hat Doktor Hammer, bevor er Professor wurde, die Brauerei mit einem Partner geführt, aber das lief auch nicht, und jetzt gehört sie dem Eberhard Anheuser aus Bad Kreuznach und seinem Schwiegersohn Adolphus Busch aus Kastel. Die sind richtig gut im Geschäft, und als Professor ist Doktor Hammer dort jetzt immer ein gern gesehener Gast.“

„Ich verstehe.“ Old Firehand schmunzelte. „Und damit das Geschäft auch weiter gut läuft, veranstalten sie für die Deutschen hier im Land eine Silvesterfeier. Warum sollte mich das interessieren?“

Harry stieß seinen Vater in die Rippen. „Erstens solltest du mal wieder zum Feiern unter Leute, damit du nicht ein einsamer alter Griesgram wirst. Und vor allem dürfte dich Professor Hammer sehr interessieren. Der war schon in Mannheim ein bekannter Arzt und hat im Bürgerkrieg eine Menge für die Medizin in den Staaten geleistet, hat neue Techniken für Augenoperationen und bei Amputationen entwickelt. Und er hat mit Abraham Lincoln gearbeitet, ihn als Präsidentschaftskandidaten unterstützt. Ich finde sehr spannend, was er in den Pausen so erzählt.“

Old Firehand stand auf. „Du hast ja Recht. Wir können heute und morgen sowieso nichts gegen die Gewehrdiebe unternehmen, ein bisschen Ablenkung tut mir sicher gut, und vielleicht sollte ich wirklich mehr gesellschaftliche Kontakte in dieser Stadt knüpfen, wenn ich schon hier lebe. Dieser Herr Hammer könnte ein guter Anfang sein, und wahrscheinlich haben wir aus unserer deutschen Vergangenheit einige Anknüpfungspunkte für eine interessante Unterhaltung. Vor allem aber“ – er grinste seinen Sohn an – „kann ich mir von deinem Professor erzählen lassen, ob du in deinem Studium wirklich so gut bist, wie du mich glauben lassen willst.“

Den Neujahrstag nutzten Old Firehand und Harry zu einem ausgiebigen Jagdausflug. Am Abend schauten sie kurz am Hafen vorbei, ob die Diana planmäßig angekommen war. Sie lag am Pier, aber alles an Bord war dunkel. Old Firehand und Harry wussten, dass der größte Teil der Besatzung und auch der Kapitän jeden Mittwochabend Landgang hatten; die meisten Matrosen hatten Familie in St. Louis und würden die Nacht zu Hause verbringen. Die Männer der Bordwache würden am Donnerstag zur Mittagszeit abgelöst werden und dann ihren Landgang nehmen.

„Die Frage nach den Banditen können wir wohl erst morgen stellen, da ist jetzt niemand, der uns antworten könnte“, meinte Harry.

„Das macht nichts“, antwortete sein Vater. „Sollten die Diebe an Bord gewesen sein, ist diese Verzögerung ohne Belang, da die Diana sowieso erst wieder am Freitagvormittag abfährt. Und wenn sie nicht mit diesem Schiff gefahren sind, haben wir ihre Spur verloren. Lass uns bei Henry vorbeischauen. Vielleicht ist er heute Abend für ein bisschen Gesellschaft zu haben, vor allem, wenn wir ihm einen frisch geschossenen Truthahn vorbeibringen.“

Kapitän Mark war nach der Beschreibung, die ihm Old Firehand gab, sicher, dass die Gewehrdiebe mit ihm gefahren waren. Sowohl der hochgewachsene Mann wie das unförmige Gepäckbündel aus Segeltuch, mit Hanfseil umwickelt, waren ihm aufgefallen. Die beiden waren nicht bis Omaha gefahren, sondern in Kansas City ausgestiegen.

Old Firehand verabredete mit dem Kapitän, dass er am nächsten Tag mit seinem Pferd an Bord kommen und bis Kansas City mitfahren würde. Planmäßig würde die Diana dort am Samstagabend ankommen.

Der Trapper nutzte den Nachmittag, um mit Harry alles Notwendige für die Zeit seiner Abwesenheit vorzubereiten. Sein Sohn war zwar ein sehr selbstständiger junger Mann und fand sich hervorragend in der Wildnis zurecht, hatte aber noch nie längere Zeit allein in einer Stadt gelebt. Old Firehand richtete ihm ein Konto mit einem ordentlichen Guthaben bei der städtischen Bank ein, dann besuchten sie Henry und vereinbarten mit dem Büchsenmacher, dass Harry ihn jederzeit aufsuchen konnte, sollte er Unterstützung in offiziellen Angelegenheiten brauchen. Old Firehand hinterlegte bei Henry ein Schreiben, in dem er diesen in Sachen seines Sohns zu seiner Vertretung bevollmächtigte.

Harry war über diese Vorsichtsmaßnahme sehr erstaunt und auch überrascht; Henry nahm ihn zur Seite und erklärte ihm, dass Old Firehand als ehemaliger Oberförster und somit Staatsbeamter immer noch genau wusste, welche Gefahren die städtische Bürokratie mit sich bringen konnte und wie man diesen am besten vorbeugte.

Am Abend besuchte Old Firehand den ehemaligen Militärarzt und jetzigen Hochschulprofessor Johann Adam Hammer, dieser hatte den Jäger bei der Silvesterfeier darum gebeten. Sie hatten sich sehr gut verstanden, ihre vergleichbaren Erfahrungen in den 1848er-Wirren schufen eine schnelle Vertrautheit, verstärkt durch ähnliche Auffassungen über den Bürgerkrieg und die jetzigen politischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. Old Firehand war gespannt, was Hammer von ihm wollte.

Dieser bot ihm einen kleinen Imbiss und einen großen Krug Bier an, dann kam er zur Sache. „Ich danke Euch, dass Ihr mich aufsucht. Ich habe ein Anliegen an und ein Angebot für Euch.“

Der Trapper hob fragend eine Augenbraue, während er sich eine dicke Scheibe frischgebackenen Brots abschnitt.

„Ich liege seit einem halben Jahr im Streit mit der Medical Society von St. Louis. Ich habe während des Kriegs das Marine Hospital und das Refuge Hospital für sie geleitet und danach die Organisation der städtischen Lazarette aufgebaut, ehe ich die Lehrtätigkeit am Missouri Medical College übernommen habe. Die Kurse an der Universität Eures Sohns gebe ich ehrenamtlich, damit die jungen Männer wenigstens ein wenig von Medizin verstehen. Bis letztes Jahr war ich Präsident der Gesellschaft, ehe ich mich zurückgezogen habe, um mehr Zeit für meine musikalischen Vereinstätigkeiten zu haben.“ Hammer wies mit dem Kinn in eine Ecke, Old Firehand sah dort einen Notenständer und ein Cello. „Dem neuen Vorsitzenden der Medical Society gefallen meine Vorstellungen von moderner Medizin nicht. Ich habe in Paris promoviert und wende moderne Techniken und Methoden an, die bei manchen der gelehrten Herren hier auf Widerstand stoßen. Ich habe mich deshalb zum Ende des Jahres aus der Lehrtätigkeit zurückgezogen und werde mich nun vor allem meiner privaten Praxis widmen. Nun meine Bitte an Euch: Ich möchte gerne meine neuesten Erkenntnisse über die Anwendung von Schwefeläther bei Augenoperationen veröffentlichen. In der hiesigen Fachzeitschrift wird man meinen Artikel nicht annehmen, das wird der Einfluss der Medical Society verhindern. Und unserem Stadtpostmeister traue ich auch nicht mehr. Ihr habt mir an Silvester erzählt, dass Ihr demnächst wahrscheinlich auf eine längere Reise geht. Darf ich Euch mein Manuskript anvertrauen, damit Ihr es von unterwegs an das Boston Medical and Surgical Journal schickt?“

Old Firehand war einen Moment sprachlos. Dann antwortete er: „Ich weiß, warum ich mich in der Wildnis der Wälder und Prärien wohler fühle als in der Wildnis der Städte. Mir ist die Auseinandersetzung mit einer Horde feindlicher Indianer oder einem Rudel hungriger Wölfe allemal lieber als mit einem Verein oder einer Society. Ich fahre morgen nach Kansas; dort gibt es sicher ein Hauptpostamt, von dem aus ich Euer Päckchen verschicken kann.“

„Ich danke Euch!“ Hammer griff mit beiden Händen nach einer Art Kasten, der auf einem Tischchen neben ihm stand, und stellte ihn zwischen sich und seinen Besucher. „Ratet, was das ist!“

Old Firehand betrachtete das Behältnis genau. Es war aus Weidenzweigen geflochten, maß etwa 30 mal 20 Zentimeter und war rund 15 Zentimeter hoch. Der Deckel wurde durch zwei Lederriemen mit Schnallen fixiert, an der Vorderseite gab es einen ledernen Tragegriff.

„Dies sieht aus wie ein sehr kleiner Koffer oder eine Tasche, aber aus Korbweiden geflochten“, sagte Old Firehand schließlich. „Wozu es dienen soll, erschließt sich mir allerdings nicht.“

„Ich habe dieses Stück eigens für mich anfertigen lassen, für meine Tätigkeit als Militärarzt im Feld. Dieser Koffer ist besonders leicht und doch stabil, und schaut“ – er war während seiner Worte aufgestanden und hatte die Schnallen geöffnet, nun klappte er den Deckel auf – „das Geflecht ist innen mit Pergamentpapier überzogen, sodass kein Wasser eindringen kann. Hierin habe ich meine chirurgischen Instrumente, ein wenig Verbandsmaterial und wichtige Arzneien transportiert. Alles, was für Laien gefährlich ist, habe ich herausgenommen, etwa die Knochensäge, und dafür anderes nützliches Material hinzugefügt.“ Hammer neigte den Kasten, sodass Old Firehand den Inhalt genau erkennen konnte, der in unterschiedlich großen Fächer sortiert lag. „Schere, Zange, Pfeilzieher, Pinzette, Lupe, Skalpelle, Binden und Verbandmull, Riechsalz, Chloroform, Borsalbe, Jodoform, Kollodium und Calomel.“ Hammer klappte den Deckel zu und setzte sich. „Ich möchte Euch diesen Notfallkoffer schenken. Ihr könnt ihn auf Euren gefährlichen Reisen weitaus sinnvoller gebrauchen als ich; bei mir steht er nur noch unnütz in der Ecke herum.“

Old Firehand war einen Moment sprachlos, dann fasste er sich. „Ich nehme dieses Geschenk gerne an. Aber nur unter der Bedingung, dass Ihr mit mir den Inhalt Stück für Stück durchgeht und jeweils die Anwendung erklärt. Ich könnte sonst vielleicht damit mehr Schaden als Nutzen anrichten.“

Hammer lächelte. „Es wird mir eine Freude sein!“

3. Zwei auf der Jagd

Der Wirt im Golden Bedrooms war nicht gewohnt, dass sich ein Gast an der Eingangstür bücken musste, um sich nicht den Kopf anzustoßen. Dass dies innerhalb weniger Tage bereits zum zweiten Mal geschah, entlockte ihm ein erstauntes „Oh!“

Der Mann, der nun den Kopf hob, blickte ihn fragend an. Er war nicht nur hochgewachsen, sondern auch kräftig gebaut. Offensichtlich war er schon älter, sein glattrasiertes Gesicht wurde von einer Mähne grauen Haars umrahmt. Hose, Weste und Jacke waren aus starkem braunen Leinen, an einem breiten Ledergürtel steckten in passenden Futteralen ein Revolver und ein Bowiemesser. Die langen Schaftstiefel waren wahrscheinlich aus Büffelleder und sahen sehr strapazierfähig aus. Offensichtlich war der Mann nicht auf einen Städteaufenthalt eingerichtet, sondern auf eine längere, möglicherweise anstrengende Reise.

Ein Wiehern ließ den Wirt durch das Fenster neben der Tür schauen. Der neue Gast hatte sein Pferd an der Haltestange vor dem Gasthaus angebunden, und der Blick darauf entlockte dem Wirt schon wieder ein „Oh!“, diesmal in bewunderndem Tonfall.

„Könnt Ihr auch ein etwas längeres Wort oder gar mehrere hervorbringen?“, fragte der Neuankömmling. Sein Lächeln nahm der Frage die Schärfe, während er an die Theke trat und seinen breitkrempigen Cowboyhut darauf legte.

„Entschuldigt“, sagte der Wirt. „Ihr habt mich nur doppelt überrascht: zunächst, weil Ihr Euch unter meinem Türsturz bücken musstet, und dann, weil ich selten ein so edles Tier wie Euren Rappen gesehen habe.“

„Es sei Euch verziehen“, lachte der Gast, „wenn Ihr für mein Pferd und mich jeweils etwas für die Nacht richten könnt. Für meinen Rappen einen stabilen Stall, in den ich ihn einschließen kann, und für mich ein Bett, in dem ich mich ausstrecken kann.“

Der Wirt nickte. „Für beides kann gesorgt werden. Der Stall hat zwar kein Schloss, aber mein Sohn wird im Stall schlafen und Wache halten. Und mit dem Bett habt Ihr Glück, Mister. Vor ein paar Tagen hatten wir einen Gast, der ungefähr Eure Länge hatte, wenn er auch nicht so stark gebaut war. Für den habe ich extra eine Kammer hergerichtet mit einem besonders langen Bett, die ich lange nicht gebraucht hatte. Aber jetzt ist sie sauber und Ihr könnt sie gerne haben.“

Schon wieder überraschte sein neuer Gast den Wirt. Was hatte er denn gesagt, dass über dessen Gesicht für einen Moment ein Schatten des Ärgers geflogen war? Schon wollte der Wirt sich entschuldigen, ohne zu wissen, wofür eigentlich, da entspannte sich sein Gast sichtlich, zog einen Hocker heran, setzte sich und sagte in vergnügtem Ton: „Ihr habt mir gerade eine gute Nachricht überbracht, Mister Landlord. Dadurch kann ich den Abend genießen. Wenn ich jetzt bei Euch noch etwas Gutes zu Essen bekommen kann und das eine oder andere Bier, dann lasse ich mich das gerne etwas kosten. Mit dem Bier könnten wir schon mal anfangen.“ Er zog einen Lederbeutel unter seiner Jacke hervor, öffnete ihn und ließ einen Half Eagle auf die Theke fallen. „Genügen die fünf Dollar?“

Der Wirt griff nach dem Goldstück und ließ es in der Tasche seiner Schürze verschwinden. „Ich rufe meine Frau und meinen Sohn. Er kann sich um Euer Pferd und sie sich um das Essen kümmern.“

Nachdem Old Firehand am nächsten Morgen das Päckchen von Doktor Hammer bei der Hauptpost von Kansas City aufgegeben hatte, begab er sich zum Bahnhof. Er wollte herausfinden, ob die beiden Diebe tatsächlich in den Zug nach Denver gestiegen waren, wie es der Wirt eher zufällig gehört hatte.

Old Firehand schritt kräftig aus, Hulitchi hatte er im Stall gelassen. Er fühlte sich sehr wohl. Das Abendessen war hervorragend gewesen, das Bett sauber und bequem, das Frühstück reichhaltig – er atmete tief die frische Morgenluft ein und dachte, dass diese Jagd fast so etwas wie ein Urlaub sei, eine erholsame Reise. Sicher wollte er Henry die Gewehre zurückbringen und vor allem die beiden Banditen schnappen – aber davon hing weder sein Leben noch etwas anderes Wichtiges ab. Der alte Trapper fühlte sich bei dieser Jagd angenehm entspannt.

Am Bahnhof hatte er Glück: Der Mann am Schalter konnte sich gut an die beiden Männer mit dem großen Gepäck erinnern und auch daran, dass einer der beiden „ungefähr so groß gewachsen war wie Ihr, nur dünner“, wie er anmerkte. Die zwei Diebe waren am Montag nach ihrer Ankunft mit der Kansas Pacific Railway nach Denver gefahren, also zwei Tage nach ihrer Ankunft.

„Nun, ob sie wirklich bis Denver gefahren sind, weiß ich natürlich nicht“, erklärte der Bahnbedienstete Old Firehand. „Sie haben aber die Tickets bis zur Endstation gelöst. Warum sollten sie das tun, wenn sie vorher aussteigen wollen? Aber wenn Ihr sicher sein wollt, müsst Ihr an den Bahnhöfen an der Strecke fragen. Allerdings müsst Ihr Euch dann beeilen, die Bahn hält an jedem Bahnhof nur wenige Minuten. Aber es sind ja auch nicht viele Stationen: erst Lawrence, dann Topeka und Junction City, danach kommt lange nichts, bis Burlington, und dann fährt der Zug durch bis Denver. Vielleicht kann Euch aber auch der Schaffner Auskunft geben über die Männer, die Ihr sucht.“

Old Firehand löste ein Ticket für sich und sein Pferd für den Zug, der am frühen Nachmittag abfahren sollte, und kehrte ins Golden Bedrooms zurück. Der Name des Gasthauses hatte sich ihm erschlossen, als er sein Zimmer betreten hatte: Die Wände waren in einem hellen Ockerton gestrichen.

Nach einem gemütlichen und reichhaltigen Mittagessen verabschiedete sich Old Firehand von dem Wirtsehepaar und ritt zum Bahnhof, wo er Hulitchi in einer der Pferdeboxen im Gepäckwagen anband und sich auf die Suche nach dem Schaffner machte, um ihn nach den beiden Banditen zu fragen.

Glücklicherweise hatte er dazu bald die Gelegenheit. Zu seiner Verwunderung teilte ihm der Bahnangestellte mit, dass die beiden Männer schon in Topeka ausgestiegen seien. Er konnte sich gut an sie erinnern, nicht nur wegen des großen Gepäckstücks, sondern auch, weil sie ihn nach den Bahnverbindungen ausgefragt hatten.

„Sie wollten nach Dodge City, und da haben sie Glück, weil die Bahnstrecke dorthin gerade erst im letzten September eröffnet worden ist. Jeden Tag fährt jetzt ein Zug unserer Konkurrenzfirma, der Atchison, Topeka and Santa Fe Railway, von Atchison über Topeka bis Dodge City, und jeden Tag auch in die andere Richtung. Das lohnt sich für die Bahngesellschaft, so viel Gesindel wie jetzt in den Süden unterwegs ist. Und natürlich wegen der Rinderherden. Ach, und weil Ihr gefragt habt: Ob einer von den beiden Männern besonders groß war, darauf habe ich nicht geachtet. Ich konnte es auch schlecht erkennen, sie haben ja gesessen.“

„Schon in Ordnung, das kann ich verstehen. Aber sagt: Was meint Ihr mit dem Gesindel?“

„Habt Ihr noch nichts von der James-Younger-Gang gehört? Das sind ehemalige Sezessionisten, manche auch frühere konföderierte Partisanen. Ihr Anführer soll Jesse James sein, und dann gehören dazu sein Bruder Frank und die Younger-Brüder. In der Kansas City Times steht fast jede Woche was über die Bande, weil sie wieder eine Bank überfallen haben oder eine Postkutsche.“

Old Firehand musste an das Päckchen denken, das er heute morgen der US-Post anvertraut hatte, dann fragte er: „Was hat das mit Dodge City zu tun?“

„Man munkelt, dass in dieser neuen Stadt mehr als eine Verbrecherbande ihren Unterschlupf gefunden hat. Seit dem Sommer ist der Verladebahnhof für die Viehherden aus Texas fertig, jetzt strömen immer mehr Cowboys in die Stadt, die den Abschluss ihrer Viehtriebe feiern. Bei so vielen betrunkenen und bewaffneten Männern gibt es viel zu verdienen für Spieler und Huren und allerlei zwielichtiges Gesindel, und auch immer wieder Schießereien. Da fallen ein paar Banditen und Revolvermänner nicht auf.“

Old Firehand wiegte nachdenklich den Kopf. „Wenn die Stadt sich gerade erst entwickelt, wird es wohl noch keinen Town-Marshal geben.“

„Ich habe gehört, ein paar Rancher wollten einen ehemaligen Friedensrichter und Polizeichef zum Town-Marshal machen, einen gewissen Wyatt Earp, aber der hatte mit seinen Brüdern irgendwo zu gut laufende Geschäfte.“

„Dann kann ein Besuch in der Stadt spannend werden. Ich muss dorthin, ich muss meinen Bekannten nachreisen. Ich werde also in Topeka aussteigen und den Zug nach Dodge City nehmen.“

„Dann müsst Ihr übernachten, da der Zug erst wieder morgen fährt. Weil Ihr nicht der Einzige seid, dem es so geht, gibt es neben der Bahnstation einen kleinen Gasthof.“

Weder das Essen in dem Wirtshaus noch das Zimmer und das Bett waren nach Old Firehands Geschmack. Das Bett war zu kurz für ihn und er war nicht sicher, ob er es nicht mit so manchem blutsaugenden Mitbewohner teilen müsste. Deshalb holte er seine Decken aus den Satteltaschen und machte es sich in der kleinen Kammer auf dem Boden bequem. Wenn es draußen nicht so kalt gewesen wäre und der Boden steinhart gefroren, hätte er gerne im Freien übernachtet. Aber das wollte er sich in seinem Alter nicht mehr zumuten.

Ehe er einschlief, zog er Bilanz. Die Diebe waren am Freitag nach dem Überfall von St. Louis aufgebrochen, hatten am Samstagabend Kansas City erreicht, waren am Montag mit der Bahn Richtung Denver gefahren und wahrscheinlich am Dienstag nach Dodge City. Dass sie hier übernachtet hatten, schien Old Firehand sicher zu sein, er hatte gar nicht danach gefragt. Der Wirt war ihm zu unfreundlich gewesen.

Die Banditen wollten nach Dodge City, das war offensichtlich. So wie der Schaffner die Verhältnisse dort geschildert hatte, würden sie die Gewehre sicher schnell und zu einem guten Preis loswerden. Wenn er Pech hatte, hatten sie das Geschäft längst abgewickelt und waren über alle Berge.

Old Firehand seufzte. Er war eine ganze Woche später aufgebrochen und hatte nur einen Tag aufgeholt. Er würde am 6. Januar in Dodge City eintreffen. Einen Moment überkam ihn ein nostalgisches Gefühl. In seiner alten Heimat war dies ein Feiertag, das Dreikönigsfest, Kinder waren als Sternsinger unterwegs. Hier gab es das alles nicht.

Aber es war gut, dass er sich daran erinnerte. Er hatte ganz vergessen, zu welcher Zeit er unterwegs war. Sicher gab es im Moment in Dodge City keine Rinderherden, niemand würde sie im kalten Winter von Texas hierhertreiben. Also gab es auch keine Cowboys. Aber die konnten sich die Gewehre sowieso nicht leisten. So ein Viehtreiber verdiente vielleicht dreißig Dollar im Monat. Eine neue Winchester kostete um die fünfundvierzig Dollar. Die Banditen würden die Gewehre zwar günstiger hergeben, aber sicher nicht unter dem Monatslohn eines Cowboys. Also waren sie hergekommen, um mit dem Gesindel, wie es der Schaffner genannt hatte, Geschäfte zu machen. Vielleicht dieser James-Younger-Gang, aber möglicherweise kannten sie auch andere Banden oder gehörten sogar zu einer.