Old Shatterhand - Neue Abenteuer -  - E-Book

Old Shatterhand - Neue Abenteuer E-Book

0,0

Beschreibung

In dieser Anthologie finden sich neben Erzählungen, die die Abenteuer Old Shatterhands und Winnetous – angelehnt an den vertrauten Stil Karl Mays – weitererspinnen, auch Geschichten mit neuen Sichtweisen und behutsamen Erweiterungen des Karl-May-Kosmos, jedoch ohne dabei das Flair von Karl Mays Mythos zu zerstören. Bewusst wurde es den Autorinnen und Autoren überlassen, welche Perspektiven sie wählen, damit sich den Leserinnen und Lesern eine möglichst abwechslungsreiche Sammlung bietet. Wer Karl-May-Pastiches mit neuen Perspektiven kennenlernen und seine Helden auch etwas abseits der bekannten Motive und Handlungsschemata erleben will, kann also hier problemlos fündig werden. Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Autorinnen und Autoren selbst, die mit ihren Beiträgen nicht nur Karl Mays Helden Winnetou und Old Shatterhand weiterleben lassen, sondern auch ihrem Erfinder, dem großen Erzähler Karl May, eine Huldigung und ihren Dank für viele fesselnde Lesestunden ableisten wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 639

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



OLD SHATTERHANDNEUE ABENTEUER

GESCHICHTEN AUS

DEM WILDEN WESTEN

HERAUSGEGEBEN VON

VOLKER KRISCHEL

Herausgeber der Reihe: Bernhard Schmid

© 2024 Karl-May-Verlag, Bamberg

Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten

Deckelbild: Klaus Lehmann

ISBN 978-3-7802-1641-0

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG . RADEBEUL

INHALT

Vorwort

Jutta Laroche: Kriegsbeil oder Friedenspfeife

Peter Wayand: Detective Old Shatterhand – Der Fall Douglass

Lennardt M. Arndt: Spuren am James River

Jacqueline Montemurri: Starker Wind gegen Rinder

Nadine Schmenger: Neumond

Alexander Röder: Das Phantom der Chisos

Katrin Ebel: Nachtgedanken

Katharina Maier: Die Reisegesellschaft – Ein Fragment

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

I

Winnetou und Old Shatterhand – seit fast 150 Jahren1 lassen diese beiden Karl-May-Helden die Herzen ihrer Fans höherschlagen. Waren es früher vor allem die Bücher, die ihre Leser in ihren Bann schlugen, so sind in unserer immer stärker audiovisuell geprägten Zeit auch die zahlreichen Karl-May-Freilichtbühnen dazugekommen. Aber es sind auch immer noch die alten Winnetou-Filme der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, die, ähnlich den Karl-May-Bühnen, gleichsam zu Generationen verbindenden Familienerlebnissen geworden2, Karl Mays Helden auch heute noch lebendig halten.

Mit seiner Winnetou-und-Old-Shatterhand-Saga ist es Karl May also ganz offensichtlich gelungen, zwei literarische Figuren zu schaffen, denen der Sprung in die Gegenwart anscheinend problemlos geglückt ist. Ist doch besonders Winnetou zu einer „Ikone der populären deutschen Kultur“3 und – zumindest in Deutschland – zur „populärsten Heldengestalt der letzten hundert Jahre“4 aufgestiegen.

Winnetou und Old Shatterhand haben damit etwas geschafft, was nur wenigen literarischen Figuren vergönnt ist, sie sind zu modernen Kult- und Mythen-Gestalten geworden,5die wie alle Kult-Ikonen zwar nur bedingt die prosaische Realität wiedergeben, aber ihre „eigene Form der Rationalität“6 besitzen. Tall tales nennt der US-Amerikaner diese Form des Mythos, die eine alte Tradition des amerikanischen Wilden Westens darstellt und dort ganz selbstverständlich in die amerikanische Folklore eingegangen ist. Auch hier steht das reale Geschehen nur bedingt im Vordergrund. Es geht vielmehr um Mythenbildung und Wirkung.

Denn „ein Mythos ist wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische Informationen liefert“7. Und dass Winnetou und Old Shatterhand immer noch wirken, wird niemand leugnen können, der in die begeisterten Augen der Zuschauer einer Karl-May-Freilichtaufführung oder eines Winnetou-Films geblickt hat, beziehungsweise selbst dem Zauber ihrer Erzählungen erlegen ist. Die Strahlkraft der beiden von Karl May geschaffenen Helden ist über Zeit und Raum hinweg kaum verblasst.

II

Aber jeder Kult und jeder Mythos muss gefüttert und weiterentwickelt werden, will er sich nicht selbst überleben. Sieht man sich im Internet oder auf dem Büchermarkt um, stellt man sehr schnell fest, dass Winnetou und Old Shatterhand, ähnlich wie ihre ebenfalls zum Mythos gewordenen literarischen ‚Kollegen‘ Sherlock Holmes und James Bond, losgelöst von ihrem Schöpfer weiterleben. Denn auch bei ihnen gibt es immer mehr heutige Autorinnen und Autoren, die neue Abenteuer von ihnen schreiben und sich mit viel Begeisterung in Karl Mays literarischer Welt bewegen.8Mag das Interesse, besonders der jüngeren Generation, an Karl May und seinem Werk zurückgehen, so scheint das für die Fortschreibungen der Abenteuer seiner Helden erstaunlicherweise nicht zuzutreffen. Und so konnte Helmut Schmiedt noch 2022 konstatieren: „Diese Spezies … blüht weiterhin in erstaunlichem Glanz, als könne das Publikum gar nicht genug von Karl Mays Helden bekommen.“9.

Wie wichtig diese Pastiches zum Weiter- und Überleben einer literarischen Figur sind, hatte Karl May selbst schon früh erkannt, als er einem Gymnasiasten auf dessen Anfrage hin erlaubte, neue Erlebnisse von Winnetou und Old Shatterhand zu schreiben. Mays einzige Bedingung war lediglich, dass sein Ich-Held Old Shatterhand darin nicht sterben dürfe.10 Damit gab der Schriftsteller höchstselbst die Erlaubnis, seine Helden in neuen Abenteuern weiterleben zu lassen, eine Erlaubnis, von der bis heute rege Gebrauch gemacht wird.

Für den strengen Literaturwissenschaftler mögen May-Pastiches zwar nur eine Randbemerkung im Bereich der Wirkungsgeschichte des Autors sein, für seine Leser bedeuten sie jedoch viel mehr. Jörg Kastner hat das in einem schönen Vergleich veranschaulicht:

„Nun, für die Wissenschaftler, die sich der Erforschung von Karl Mays Leben und Werk widmen, ist diese Art von Büchern so belanglos, wie Büffeldung im Wilden Westen für ein Greenhorn … Für die im besten Sinne naiven Leser aber, die es einfach nur lieben, ihre Helden in neuen Abenteuern zu erleben, sind diese Nachschöpfungen anderer Autoren so wertvoll wie der Büffeldung für den erfahrenen Westmann, der in ihm guten Brennstoff für ein Lagerfeuer erkennt.“11

May-Pastiches sind jedoch nicht allein „guter Brennstoff“ für das „Lagerfeuer“ spannender und unterhaltsamer Lesestunden, die so dazu beitragen, dass der Autor und seine Helden lebendig bleiben, sie können auch Irritationen in den ursprünglichen Erzählungen ausmerzen und sogar neue Sichtweisen auf die Figuren liefern. So bietet gerade eine Anthologie mit neuen Erzählungen heutiger Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, hier in einem Buch die doch schon zuweilen recht ausgetretenen Pfade zu verlassen und zu erweitern sowie ganz verschiedene und neue Zugänge zu Karl Mays Helden aufzuzeigen und so quasi einen Blick hinter den vertrauten May-Horizont werfen zu können.

III

In dieser Anthologie finden sich daher neben Erzählungen, die die Abenteuer Old Shatterhands und Winnetous – angelehnt an den vertrauten Stil von Karl Mays Reiseerzählungen – weitererzählen, auch Geschichten mit neuen Sichtweisen und behutsamen Erweiterungen des Karl-May-Kosmos, jedoch ohne dabei das Flair von Karl Mays Mythos zu zerstören. Bewusst wurde es den Autorinnen und Autoren überlassen, welche Erzählperspektive sie wählen, damit sich den Leserinnen und Lesern eine möglichst abwechslungsreiche Erzählsammlung bietet.

So bleibt Jutta Laroche mit ihrer Geschichte ganz in der Wildwest-Welt Karl Mays. Winnetou zeigt sich als verantwortungsvoller Häuptling der Apatschen, der seine Hauptaufgabe darin sieht, Frieden zwischen den einzelnen indigenen Völkern zu stiften und zu bewahren. Dabei muss er sich sowohl mit ehrgeizigen jungen Kriegern, die sich einen Namen machen wollen, wie auch mit verbohrten alten Männern, denen es vor allem um die Mehrung ihres eigenen Ruhms und ihre Rachsucht geht, auseinandersetzen. Schilderte Karl May die Erlebnisse seiner Helden zumeist aus der Ich-Perspektive Old Shatterhands, so stellt Jutta Laroche Winnetou ins Zentrum ihrer Geschichte, die auch aus seiner Sicht erzählt wird. Old Shatterhand spielt hier eher eine Nebenrolle.

In Detective Old Shatterhand baut Peter Wayand die von Karl May im zweiten Band seiner Winnetou-Trilogie nur kurz erwähnte Begegnung des jungen Old Shatterhand mit Joshua Taylor, dem Chef einer New Yorker Detektivagentur, weiter aus und lässt Old Shatterhand seinen ersten Fall für Taylor lösen. Dabei greift Wayand auch auf Figuren aus Karl Mays frühem Roman Auf der See gefangen (1877/78) zurück und verbindet sie geschickt mit den historischen Personen Frederick Douglass (1818-1895) und Otilie Davida Assing (1819-1884) und ihrem Kampf für die Abschaffung der Sklaverei. Der noch junge und unerfahrene Old Shatterhand wird dabei mit der, auch in den US-Nordstaaten existierenden, Rassendiskriminierung konfrontiert.

Auch Lennardt M. Arndt verbindet in seiner Geschichte Karl Mays fiktiven Ich-Helden Old Shatterhand mit der Realität des amerikanischen Westens des 19. Jahrhunderts, indem er ihn und Old Firehand im ersten Teil seiner Erzählung mit dem historischen Oberstleutnant und späteren Militärgouverneur der Philippinen Elwell Stephean Otis (1838-1909) wegen der unterschiedlichen Einstellung zu den Indianern aneinandergeraten lässt. Im zweiten Teil zeigt sich Old Shatterhand dann als geschickter Spurenleser, der aufgrund seiner diesbezüglichen Fähigkeiten einen Mörder überführen kann. Auch Arndt knüpft mit seiner Erzählung an Karl Mays Winnetou Zweiter Band an, indem er hier Old Shatterhands Erlebnisse nach dem Überfall auf Old Firehands Festung und der Verfolgung Santers durch Winnetou weitererzählt.

In Jacqueline Montemurris Erzählung Starker Wind gegen Rinder müssen Winnetou, Old Shatterhand und eine befreundete Siedlerfamilie mit den verfeindeten Komantschen ein Bündnis eingehen, um ihre Völker vor dem Verhungern zu bewahren. Aber ihr Vorhaben fordert schmerzhafte Opfer und macht Old Shatterhand seine Zerrissenheit zwischen der Welt des roten und des weißen Mannes bewusst.

Winnetou und Old Shatterhand gelten gemeinhin als das ideale Freundespaar, das sich selbst ohne Worte versteht, und Winnetou als der souveräne Kämpfer für den Frieden und das Verständnis zwischen ‚Roten‘ und ‚Weißen‘. Aber gab es wirklich nie Verstimmungen zwischen den beiden Freunden und wie ging Winnetou mit den ernüchternden Erfahrungen bezüglich seiner Bemühungen um Frieden und Achtung gegenüber der indigenen Bevölkerung um? In ihrer Erzählung Neumond, die sie ursprünglich auf der Internetseite fanfiction.de veröffentlicht und für diese Anthologie überarbeitet hat, geht Nadine Schmenger dieser Frage nach. Old Shatterhand lernt dabei eine andere, bisher von Winnetou unterdrückte Seite seines Blutsbruders kennen und sieht sich gezwungen, über die tieferen Gründe seines eigenen Handelns nachzudenken.

Auch Katrin Ebel stellt die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand in den Mittelpunkt ihrer Geschichte. Der Schwerpunkt liegt daher hier auch weniger auf der äußeren Handlung, sondern mehr auf der Veranschaulichung der emotionalen Verbundenheit der beiden Helden.

Wie weit kann und darf man sich Karl Mays Helden mit Ironie nähern, ohne dass die Geschichte zu einer Parodie umkippt? Alexander Röder hat in seiner Geschichte diese Frage zu beantworten versucht. Während er mit seiner auf den ersten Blick etwas geschraubt-antiquiert wirkenden Ausdrucksweise auf Karl Mays Stil anspielt, nimmt er durch die unterschwellige, leicht persiflierende Erzählweise u. a. Karl Mays heikle Old-Shatterhand-Legende ins Visier. Durch die bei Röder zuweilen recht überspitzt dargestellte Selbstbeweihräucherung Old Shatterhands gelingt es ihm zudem, das Superman-Image des Helden ironisch zu brechen. Dass es dabei gerade ein Farbiger ist, der Old Shatterhand Grenzen zieht (angelehnt an die entsprechende Szene aus dem Film IN DER HITZE DER NACHT) ist auch kein schlechter Einfall. Gerade bei Karl May ist Ironie ja ein schwieriges Unterfangen, weil sie sowohl Distanz zu ihrem Gegenstand als auch Verständnis für ihn einfordert. Inwieweit Röders Versuch gelungen ist, mag der Leser selbst entscheiden.

Eine ganz andere Herangehensweise an Karl Mays Helden hat Katharina Maier in ihrer Geschichte gewählt, indem sie nicht Winnetou und Old Shatterhand in den Vordergrund ihrer Erzählung stellt, sondern Mays Helden in erster Linie aus der Perspektive von Miss Lavinia Richardson präsentiert, einem von der gleichnamigen Schwester der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) inspirierten Mitglied einer religiös geprägten Reisegesellschaft. In einer Mischung aus ‚realer‘ Geschichte und ‚mystischer Legende‘ versuchen die May-Helden und die Mitglieder der Reisegruppe, die Geheimnisse des jeweils anderen aufzudecken. Bewusst nennt Katharina Maier ihre Geschichte ein Fragment, dessen offener Schluss, den Leser die Geschichte selbst weiter zu Ende (?) spinnen lässt, wobei es Winnetou ist, der einen entscheidenden Aspekt zur möglichen Aufklärung gibt.

IV

Wer Karl-May-Pastiches mit neuen Perspektiven kennenlernen und seine Helden auch etwas abseits der bekannten Motive und Handlungsschemata erleben will, kann also hier problemlos fündig werden. Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Autorinnen und Autoren selbst, die mit ihren Erzählungen nicht nur Karl Mays Helden Winnetou und Old Shatterhand weiterleben lassen, sondern auch ihrem Erfinder, dem großen Erzähler Karl May, eine Huldigung und ihren Dank für viele fesselnde Lesestunden ableisten wollen. Zudem korrigiert die Anthologie das alte Narrativ, nach dem Karl May und seine Helden hauptsächlich bei männlichen Lesern beliebt seien und Frauen in seinen Geschichten lediglich eine unbedeutende Nebenrolle spielen würden,12 sind doch über die Hälfte der Autoren hier weiblich. So kommt auch die Frauenpower in den Erzählungen nicht zu kurz.

Nun aber darf ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu einer Reise zu ihren Helden Winnetou und Old Shatterhand in den Wilden Westen einladen, den es zwar so niemals gegeben, der aber den Mythos der „dark and bloody grounds“ mitbegründet hat. Durchstreifen Sie mit Karl Mays Helden den amerikanischen Westen und lernen Sie Winnetou und Old Shatterhand in ihren neuen Abenteuern auch von einer bisher vielleicht unbekannten Seite kennen. Dabei wünsche ich Ihnen vergnügliche Lesestunden.

Pelm, März 2024 Volker Krischel

1 Karl Mays erste Geschichte mit Winnetou (Old Firehand) erschien 1875.

2 Vgl. hierzu u. a. Andreas Brenne/Thorsten Heese: Einführung in die Ausstellung. In: Andreas Brenne (Hrsg.): Blutsbrüder. Der Mythos Karl May in Dioramen. Eine Dokumentation der Ausstellung des Museumsquartiers Osnabrück 26. Januar – 02. Juni 2019. Bamberg, Radebeul 2022, S. 5f.

3 Helmut Schmiedt: Die Winnetou-Trilogie. Über Karl Mays berühmtesten Roman. Bamberg, Radebeul 2019 (2. Auflage), S. 183.

4 Horst Wolf Müller: Winnetou. Vom Skalpjäger zum roten Heiland. In: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays „Winnetou“. Oldenburg 2007, S. 173.

5 Bezeichnenderweise nannte B. J. Holmes sein 1988 in Großbritannien (!) erschienenes Karl-May-Pastiche A legend called Shatterhand und auch RTL gab seinen Winnetou-Neuverfilmungen von 2016 ganz bewusst den Obertitel WINNETOU – DER MYTHOS LEBT.

6 Siehe Tamara Niebler: Moderne Mythen – Über die Funktion von Mythen früher & heute. (https://www.die-inkognito-philosophin.de; Stand Januar 2023).

7 Karen Armstrong, zitiert nach Niebler wie Anm. 1.

8 Neben den in dieser Anthologie vertretenen Autorinnen und Autoren muss man hier noch Reinhard Marheinecke, Wolfgang Berger, Jörg Kastner, Thomas Ostwald (Tomos Forrest), Jürgen Lill, Ian Carrington, Steve Heller, Hymer Georgy, R. S. Stone, Ralph G. Kretschmann, Rolf Dernen, Helmut Wein, Thomas Jeier, Thomas Tippner, Axel J. Halbach sowie Petra Hartmann, Barbara Drucker, Elke Lakey, Iris Wörner, Friederike Chudoba und Mark Caine nennen, aber auch die fremdsprachigen May-Epigonen Marlies Bugmann (Australien), David Gruber (Tschechien) und B. J. Holmes (Großbritannien).

9 Helmut Schmiedt: Literaturbericht. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2022. Husum, 2022, S. 332.

10 Siehe hierzu den Brief Karl Mays an den jungen Mann vom 22. Juni 1895. In: Dieter Sudhoff/Hans-Dieter Steinmetz: Karl-May-Chronik Band I – 1842-1896, Bamberg 2005.

11 Jörg Kastner: Abenteuer in der Welt Karl Mays. In: Reinhard Marheinecke (Hrsg.): Scharlih. Neue Kara BenNemsi und Old Shatterhand Geschichten. Hamburg 2004, S. 8f.

12 Mit dieser Fama hat schon Katharina Maier in ihrem Buch Nscho-tschi und ihre Schwestern. Frauengestalten im Werk Karl Mays. Bamberg, Radebeul 2012 aufgeräumt.

Jutta Laroche

Kriegsbeil oder Friedenspfeife

1. Kapitel: Eine widerspenstige Tochter

„Was ist das für ein Geschrei?“

Ich wunderte mich über den Lärm, der die Mittagsruhe an diesem heißen Sommertag störte. Normalerweise war das eine recht stille Tageszeit. Silaada, in dessen Zelt ich zu Gast war, runzelte daher verstimmt die Stirn. Er beauftragte einen Wächter, die Ursache des Geschreis zu erkunden, und kurz darauf meldete sich dieser mit der Nachricht zurück:

„Doc Mule, der Händler, ist im Dorf, Häuptling.“

Silaada blickte mich fragend an. Ich kannte seine Neugier, die er selbst nie zugeben würde, und erhob mich. „Gut, dann lass uns doch nachsehen, was das Bleichgesicht anzubieten hat.“

Erfreut folgte er mir aus dem Zelt.

Seit ich, Winnetou, die Nachfolge meines Vaters Intschu tschuna als Häuptling der Apatschen angetreten hatte, betrachtete ich es als meine Pflicht, hin und wieder die einzelnen Stämme meines Volks zu besuchen. Es lag mir am Herzen, ihre Probleme kennenzulernen, ihre Streitigkeiten zu schlichten und ihnen guten Rat im Umgang mit den Bleichgesichtern zu erteilen, da ich durch meine Freundschaften mit einigen dieser Weißen viel von ihrem Denken gelernt hatte. Es gab Häuptlinge, die meinen Rat ernst nahmen, und andere, die ihn rundweg ablehnten. Sie waren immer noch, nach all den Jahren, stur in dem Wahn gefangen, die Weißen aus ihrem Land vertreiben zu können. Silaada, das bedeutet in der Sprache der Bleichgesichter „Krieger“, besaß genug Erfahrung, um dieses Ziel als Wunschvorstellung zu erkennen. Dennoch würde er seinen Stamm, die Jicarillas, bis zum Letzten verteidigen.

Auf dem großen Versammlungsplatz des Dorfs waren inzwischen jede Menge Männer, Frauen und Kinder zusammengeströmt. In ihrer Mitte stand der Planwagen des Händlers, davorgespannt ein Maultier, das einen Strohhut auf dem Kopf trug, aus dem die Ohren herausschauten. Es sah lustig aus, sodass die Kinder ihren Spaß hatten. Der Händler schleppte derweil alle möglichen Waren aus seinem Gefährt und breitete sie auf einer Decke aus. Dabei pries er jedes einzelne Teil als etwas ganz Besonderes an: Kochtöpfe und Pfannen, Schöpfkellen, Messer und Löffel, Stoffe, Kämme und Bürsten, Seife, einen Sack mit Salz und einen mit Bohnen. Außerdem, geräuchert oder getrocknet, Fisch, Speck und Obst. Als er Silaada und mich gewahrte und auch erkannte, denn er war seit Langem schon in diesen Gegenden unterwegs, wandte er sich händereibend an uns.

„Ich freue mich, wieder mal hier zu sein, im Dorf der Jicarillas. Wenn du erlaubst, Silaada, werde ich bei euch übernachten, um allen die Gelegenheit zum Erwerb dieser köstlichen Dinge zu geben. Wie ihr seht, habe ich, der gute alte Doc, das Beste vom Besten für meine roten Freunde mitgebracht. Und als ganz spezielles Geschenk für euch Häuptlinge …“ – er holte aus einem gesonderten Fach unter dem Planwagen eine Flasche Whiskey hervor – „… Feuerwasser! Nicht den billigen Fusel, den euch so viele andrehen wollen, nein, ein gutes, ein edles Getränk!“

Ich schüttelte den Kopf, Silaada hob abwehrend die Hand und erwiderte: „Das Bleichgesicht mag seinen Whiskey behalten. Wir trinken kein Feuerwasser. Und ich wünsche auch nicht, dass die Krieger der Jicarillas davon trinken. Was aber deine übrigen Waren betrifft, die kannst du verkaufen.“

Doc Mule ließ sich seinen Ärger über die Zurückweisung nicht im Geringsten anmerken, sondern plauderte munter weiter. Ich kannte ihn von seinen Besuchen bei den Mescaleros her. Man nannte ihn Doc, denn er verstand ein wenig von der Heilkunst und braute Medizin zusammen, egal, ob sie half oder nicht. Doc war einer jener Händler, die ungeschoren und unbehelligt von roten Kriegern die Prärien und Savannen des Westens durchstreifen konnten, weil sie ihnen das verkauften, was gebraucht wurde. Zu fürchten hatten sie lediglich weiße Banditen, die ohnehin keinen Respekt vor fremdem Eigentum besaßen. Der Wahrheit gemäß muss ich jedoch hinzufügen, dass es mittlerweile immer mehr rote Banditen gab, die den weißen in nichts nachstanden. Sie waren eine Schande für unser Volk.

Silaada und ich beobachteten das bunte Treiben um Doc Mules Planwagen herum. Vor allem die Frauen, junge und alte, begutachteten sehr genau – und leider auch sehr lautstark –, was sie zu kaufen gedachten, während ihre Kinder begeistert um verschiedene Dinge bettelten. Die meisten Männer dagegen versuchten wenigstens noch, einen Rest ihrer Kriegerwürde zu bewahren. Bezahlt wurde mit Goldstaub oder Nuggets, getauscht gegen gegerbtes und bemaltes Leder, Felle oder mit Stachelschweinsborsten verzierte Handarbeiten. Es war erstaunlich, aber irgendwie schien man sich immer einig zu werden.

In all dem Trubel fiel mir eine anmutige, noch sehr junge Frau mit langen, schweren Zöpfen auf. Einmal, weil sie eine richtige Schönheit war, zum anderen, weil sie sich nicht so verhielt wie die übrigen Frauen und Mädchen. Sie hielt zwar eine Glasperlenkette in den Händen, ich hatte jedoch das Gefühl, es ging ihr mehr um ein Gespräch mit Doc Mule als um das billige Schmuckstück. Ganz so, als sei die Kette nur ein Vorwand für das, was sie tatsächlich wollte. Silaada blieb mein Interesse nicht verborgen, er räusperte sich bedeutungsvoll:

„Winnetou fragt sich, wer dieses hübsche junge Mädchen ist? Nun, es ist die Zierde meines Zelts, meine jüngste Tochter.“

Ich unterdrückte ein Lächeln, kannte ich doch genau die Irrwege, auf denen seine Gedanken wanderten. Allzu oft hatte ich das erlebt. Und prompt fuhr er fort: „Wer sie einmal zur Frau nimmt, der hat gut gewählt. Sie ist nicht nur die schönste Blume des Stammes, sie kann auch kochen, nähen und das feinste Leder gerben.“

„Dann nehme ich an, dass sie längst deinem besten Krieger versprochen ist“, erwiderte ich harmlos. „Wenn Winnetou dich das nächste Mal besucht, wirst du vielleicht ein Enkelkind in den Armen tragen.“

Meine Antwort stellte ihn nicht zufrieden. „Es werben viele Krieger um sie, doch bisher hat sie jeden abgelehnt. Silaada wird wohl selbst die Entscheidung treffen müssen.“

„Ich bin sicher, du wirst klug entscheiden.“

„Silaada wird auf jeden Fall einen Häuptling bevorzugen.“

„Aber gewiss doch nur, wenn sie ihn auch will.“

Zum Glück verzichtete er auf eine Fortsetzung der unangenehmen Unterhaltung. Eine Zeit lang schauten wir noch zu – nicht zuletzt, um durch unsere Anwesenheit den Verkauf von Whiskey zu verhindern. Gewiss ist jeder Mensch selbst verantwortlich für das, was er tut, und es widerstrebt mir, anderen Vorhaltungen zu machen. Aber gerade die Männer unseres Volks scheinen besonders anfällig für den Genuss von Feuerwasser zu sein. Silaada und ich hatten genügend schlechte Erfahrungen damit gemacht und kannten die verheerenden Folgen, die aus einem selbstbewussten, stolzen Krieger ein menschliches Wrack machten. Merkwürdigerweise war das nur bei Feuerwasser der Fall. Althergebrachte Rauschmittel, wie zum Beispiel Peyote oder Meskalin, wurden fast immer maßvoll gebraucht.

Gerade, als wir uns zum Gehen wenden wollten, kam einer der Jicarilla-Unterhäuptlinge auf uns zu und sprach Silaada an: „Deine Tochter und Doc Mule reden heimlich miteinander. Du solltest das nicht erlauben, Häuptling.“

Silaada beschwichtigte: „Sie will die Kette kaufen; da ist es ganz normal, dass sie miteinander verhandeln.“

„Aber offen, nicht heimlich. Mir gefällt das nicht.“

Er hatte ihr Verhalten also auch bemerkt. Allerdings wunderte mich die Art, wie er damit umging. War hier Eifersucht im Spiel? Doc Mule schien mir jedoch nicht der Mann zu sein, der ein Mädchenherz erobern könnte. Aber was wusste ich schon von Frauen!

„Und mir missfällt es, dass du dich um Dinge kümmerst, die dich nichts angehen“, schnappte Silaada unwirsch zurück, ließ den Unterhäuptling stehen und ging weiter. Erst, als wir uns in seinem Zelt befanden, gab dieser Fuchs widerstrebend zu, jenem Unterhäuptling namens Gaagé dilhil, was Schwarzer Rabe bedeutet, die Hand seiner Tochter versprochen zu haben. Ob sie damit einverstanden gewesen sei, fragte ich ihn.

Bedächtig wiegte er den Kopf. „Sie weiß einfach nicht, was sie will, Frauen sind so. Sie wird seine Vorzüge noch zu schätzen lernen“, wich er mir aus. Doch ich ließ ihn nicht so einfach davonkommen.

„Sag mir doch, mein Freund, was sind seine Vorzüge?“

„Schwarzer Rabe ist ein guter Jäger und ein mutiger Krieger.“

„Hm, das sind hunderte anderer Männer auch. Was ist daran Besonderes?“

Verschnupft schlug er vor, gemeinsam die Pfeife zu rauchen, da er einen guten Tabak habe, und bald sprachen wir darüber, dass die Kiowas in letzter Zeit vermehrt Beutezüge unternahmen. Ihr verbitterter alternder Häuptling Tangua schien noch einmal allen beweisen zu wollen, dass er der größte Kriegshäuptling in der Geschichte seines Volkes war.

„Er hat auch uns angegriffen“, beklagte sich Silaada, „und es hat einen Toten und mehrere Verletzte gegeben, bevor wir ihn und seine Leute vertreiben konnten.“

„Winnetou hat seinen Sohn Pida als einen vernünftigen Mann kennengelernt“, gab ich zu bedenken. „War er bei dem Überfall dabei?“

„Nein, aber das will nichts heißen. Tangua ist es, der das Sagen hat. Mag er auch nicht mehr jung sein und obendrein gelähmt, die Hunde der Kiowas folgen ihm dennoch. Und ich weiß, dass er Verbündete bei den Komantschen hat.“

„Die Mescaleros wurden bisher noch nicht angegriffen, warum auch immer. Obgleich wir ihm von der Entfernung her am nächsten sind.“

„Vielleicht hat dieser Kojote Angst vor dir, denn ich habe gehört, dass auch eine Gruppe von Mimbrenjo-Kriegern mit Kiowas gekämpft haben soll, und die leben weiter südlich. Aber du, Winnetou, bist der Häuptling aller Apatschen.“

Ich nickte. „Wir dürfen nicht warten, bis es noch mehr Tote gibt.“

„Und das bedeutet?“

„Das bedeutet, bevor sich der Krieg ausweitet, werden wir verhandeln müssen.“

Er starrte mich an. „Verhandeln? Du willst dich herablassen, mit diesen kläffenden Hunden zu verhandeln? Das ist nicht dein Ernst!“

„Doch, es ist mein Ernst. Tangua wird es nie zugeben, aber er respektiert mich. Außerdem setze ich auf seinen Sohn Pida.“

„Genauso könntest du auf die Friedfertigkeit einer Klapperschlange setzen.“

Ich lächelte. „Klapperschlangen sind weder friedfertig noch dumm, sie wollen einfach nur überleben. Und oft machen sie einen Rückzieher, genau aus diesem Grund.“

Silaada konnte nichts entgegnen, da jetzt seine Tochter Nánliigi, Sonnenblume, das Zelt betrat. Sie trug zwei Schalen, gefüllt mit gebratenen Fleischstücken, die sie vor uns abstellte. Es war Essenszeit, sodass wir – nach indianischer Sitte – keine Unterhaltung mehr führten. Silaada machte seiner Tochter gegenüber auch keine Bemerkung zu ihrem Gespräch mit Doc Mule. Das würde er irgendwann später tun, wenn er mit ihr allein war, denn Familienangelegenheiten gehörten nicht vor die Ohren eines Gastes. Nach dem Essen erschienen noch zwei weitere ältere Jicarilla-Häuptlinge. Es wurde Pfeife geraucht und Tiswin – eine Art Bier, aus Mais hergestellt – getrunken, und es wurde viel über die Kiowas geredet. Meine Absicht zu verhandeln, stieß allgemein auf Ablehnung; die Jicarillas brannten darauf, es den Kiowas zu zeigen. Aber zumindest versprachen sie mir, sich vorläufig noch zurückzuhalten, bis die Entscheidung über Krieg und Frieden einvernehmlich gefallen war. Mehr konnte ich vorerst nicht erreichen, dennoch durfte ich zufrieden sein.

Die Nacht verbrachte ich im Zelt Silaadas auf einem eigens für mich geschaffenen Lager.

Am anderen Morgen geschah es dann. Silaada war bereits vor mir aufgestanden und hatte das Zelt verlassen. Jetzt kehrte er zurück, aufgeregt und höchst beunruhigt. „Meine Tochter ist verschwunden, einfach verschwunden!“, rief er fassungslos. „Auch der Händler ist weg!“

„So früh am Morgen schon? Das ist bestimmt kein Zufall.“

„Du meinst, sie hat mit diesem alten, hässlichen Bleichgesicht gemeinsam das Lager verlassen? Wo sie doch jeden anderen gutaussehenden Mann hätte haben können? Das hätte ich nie für möglich gehalten. Also hat Schwarzer Rabe doch Recht gehabt.“

„Komm, lass uns die Wächter befragen.“

Die Befragung der Lagerwachen ergab, dass Doc Mules Planwagen in den frühen Morgenstunden ganz normal und ohne jede Auffälligkeit an den Wachen vorbeigefahren war. Der Händler hatte die Wachen sogar noch freundlich gegrüßt – von der jungen Frau war nichts zu sehen gewesen. Doc Mule war allein gewesen!

Silaada zeigte sich erleichtert: „Dann kommt sie sicher gleich zurück. Sonnenblume ist eine gute Tochter, ich habe ihr Unrecht getan.“

Ich schwieg, dachte mir jedoch meinen Teil. Und im Laufe des Vormittags bestätigten sich meine geheimen Befürchtungen: Die junge Frau blieb verschwunden. Weder ihre Freundinnen noch ihre Geschwister – niemand hatte sie seit gestern Abend gesehen. Natürlich gebärdete sich jener Unterhäuptling wie ein Verrückter. Wutschnaubend überhäufte er Silaada mit Vorwürfen, bis es diesem zu viel wurde und er ihm befahl, mit einigen Kriegern die Verfolgung des Händlers aufzunehmen.

„Durchsuche seinen Planwagen! Und wenn du meine Tochter darin findest, bring sie und Doc Mule zu mir! Aber rühre sie beide nicht an, verstanden?“

„Ich werde das Bleichgesicht auf jeden Fall zurückbringen, ob mit oder ohne deine Tochter.“

Schwarzer Rabe winkte einigen umstehenden Kriegern, sie sollten sich ihm anschließen, während ich Silaada um ein kurzes Gespräch nur unter uns bat. Als wir allein waren, sagte ich: „Diese Angelegenheit geht Winnetou nichts an, aber glaubst du wirklich, deine Tochter wäre mit Doc Mule geflohen?“

„Es sieht doch ganz so aus.“

„Nein, sie hat Doc Mule benutzt, damit er ihr zur Flucht verhilft. Das ist etwas gänzlich anderes. Denk jetzt gut nach, mein Freund: Könnte es sein, dass sie einen Mann liebt, der nicht zu diesem Stamm gehört? Der vielleicht gar kein Apatsche ist?“

Er starrte mich an, schnappte mehrmals nach Luft und rief schließlich aus:

„Uff! Uff! Das wäre eine Erklärung! Aber – aber sie hat nie davon gesprochen.“

„Vielleicht, weil sie wusste, dass du ohnehin nicht zugestimmt hättest.“

„Was soll ich tun? Was rätst du mir?“

„Winnetou hat keine Tochter, aber er hatte einst eine Schwester. Und diese hatte von unserem Vater das Versprechen bekommen, keinen Mann heiraten zu müssen, den sie nicht wollte. Wäre es nicht so gewesen, dann hätte sie gewiss ebenso gehandelt wie deine Tochter.“

„Du gibst also mir die Schuld?“

Ich sah ihn ernst an. „Das ist keine Frage von Schuld, es ist eine Frage von Freiheit und dem Recht, über sich selbst entscheiden zu dürfen.“

„Wir reden hier über eine dumme junge Frau ohne jede Lebenserfahrung! Ein Vater weiß besser, was gut ist für sie“, nörgelte er.

Ich zuckte die Schultern.

„Dann frag Winnetou nicht nach seinem Rat.“

Schnell lenkte er ein und bat mich, noch ein paar Tage länger zu bleiben, um das Problem mit den Kiowas ausführlicher besprechen zu können. Das lag auch mir am Herzen und so sagte ich zu. Als jedoch die anderen Jicarilla-Häuptlinge am Nachmittag zur Beratung zusammenkamen, fiel schnell auf, dass Silaada gedanklich nicht bei der Sache war. Normalerweise lässt sich kein Krieger, geschweige denn ein Häuptling, anmerken, dass ihn die Sorge um ein weibliches Familienmitglied so sehr beschäftigt, dass alles andere für ihn nebensächlich wird. Er liebte seine Tochter also viel mehr, als ihm selbst bewusst war. Seiner Zerstreutheit wegen kam der Rat der Häuptlinge zu keinem Ergebnis und die Versammlung löste sich auf.

Am darauffolgenden Tag kehrten die ausgeschickten Krieger mitsamt Doc Mule und seinem Planwagen zurück. Das ganze Dorf war in Aufruhr, als der Händler von Schwarzer Rabe vor die kleine Gruppe der Häuptlinge gezerrt wurde. Ich sah dem Weißen an, dass er versuchte, seine Angst zu verbergen. „Was wollt ihr von mir?“, schrie er aufgebracht. „Ich habe nichts getan!“

„Wo ist meine Tochter?“, schnauzte ihn Silaada statt einer Antwort grob an.

„Das haben mich deine Krieger auch gefragt, aber ich weiß es nicht.“

„Du weißt es, und du wirst es mir sagen. Bindet ihn an den Pfahl!“

Ich konnte – wenigstens zu diesem Zeitpunkt – nicht eingreifen, ohne Silaada gegen mich aufzubringen, doch ich stand neben ihm und raunte ihm zu: „Mein Bruder ist zornig, er sollte nicht die Nerven verlieren. Lass mich ihn befragen, das ist klüger.“

Silaada zögerte, endlich nickte er. Ich wartete, bis man Doc Mule an den buntbemalten Pfahl in der Mitte des Dorfplatzes gefesselt hatte, dann trat ich vor ihn hin.

„Doc Mule, niemand wird dir etwas antun, wenn du die Wahrheit sagst. Die Tochter des Häuptlings ist gleichzeitig mit dir verschwunden, das kann kein Zufall sein. Sprich: Hat sie dich überredet, sie mitzunehmen?“

Er knurrte Unverständliches in seinen ergrauten Bart, sodass ich die Frage mit Nachdruck wiederholte. Da stieß er einen langen Seufzer aus: „Ja, das hat sie.“

Die Wirkung seiner Worte war erheblich. Nicht nur die Zuschauer gaben laute Unmutsäußerungen von sich, auch Silaada schnaubte wie ein Büffel, und der Unterhäuptling schwenkte drohend seinen Tomahawk. Ich hob die Hände, um wieder Ruhe einkehren zu lassen, und fuhr fort: „Weißt du, warum Sonnenblume das Dorf verlassen wollte?“

Doc Mule richtete seinen Blick zunächst anklagend auf Silaada. „Weil sie einen Mann heiraten sollte, den sie nicht liebt“, danach schaute er den Unterhäuptling an. „Sie liebt einen anderen.“

Im Gegensatz zu vorher, trat jetzt Stille ein.

Doc Mules Blick kehrte zu mir zurück. „Ich wollte ihr helfen, glücklich zu werden, Häuptling Winnetou. Wenn das ein Verbrechen ist, dann bin ich eben ein Verbrecher!“

„Und wirst dafür büßen!“, brüllte Schwarzer Rabe unbeherrscht. „Wer ist jener andere Mann, wie lautet sein Name? Sprich, elender Hund, oder ich …“

Mit einem raschen Schritt war ich zwischen ihm und Doc Mule, denn ich hatte gesehen, dass er den Gefangenen schlagen wollte.

„Schweig still und mäßige deinen Zorn! Ein tapferer Krieger vergreift sich nicht an einem Wehrlosen. Hast du das nicht gelernt?“

In diesem Moment – das las ich in seinen flackernden, hasserfüllten Augen – erklärte er mir den Krieg. Vielleicht würde er mich sogar töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Das spürte wohl auch Silaada, der seinen aufsässigen Unterhäuptling energisch in die Reihen der Umstehenden zurückwies. Allerdings verlangte auch er, den Namen des Mannes zu erfahren.

„Ich kenne ihn nicht“, antwortete Doc Mule mürrisch. „Ich habe nicht danach gefragt.“

„Von welchem Stamm ist er?“

„Auch das weiß ich nicht.“

„Winnetou glaubt dem Bleichgesicht“, warf ich ein. „Viel wichtiger ist aber die Frage, wo sich Sonnenblume jetzt befindet. Geht es ihr gut?“

Doc Mule schien Vertrauen zu mir zu fassen. „Ich glaube schon, dass es ihr gut geht. Sie ist mit dem Bündel, in dem sie ihre Habseligkeiten trug, unterwegs aus meinem Planwagen ausgestiegen und hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. ,Ich weiß, was ich tue‘, hat sie noch gesagt.“

„Wo genau ist sie ausgestiegen?“, verlangte Silaada zu wissen.

„Hab ich vergessen“, knurrte Doc Mule.

„Nun, eine Nacht am Pfahl stehend, ohne Wasser und ohne zu essen, wird deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.“

Silaada befahl zwei Kriegern, den Gefangenen zu bewachen, dann wandte er sich an mich: „Schwarzer Rabe wird wissen, an welcher Stelle er auf den Planwagen gestoßen ist. Meine Tochter ist vorher ausgestiegen, also lässt sich der Bereich, in dem sie sich aufhält, leicht eingrenzen und durchsuchen. Ist Winnetou anderer Meinung?“

„Ich glaube nicht, dass Sonnenblume noch dort ist, wenn deine Krieger den Ort erreichen. Bedenke auch, dass die Nacht die Suche unterbrechen wird. Deine Tochter ist eine Jicarilla, eine Apatschin, und sie hat gesagt, sie weiß, was sie tut.“

Für einen Augenblick blitzte so etwas wie Stolz in seinen Augen auf, doch der Funke erlosch gleich wieder. „Es wäre also zwecklos, Schwarzer Rabe nach ihr suchen zu lassen? Das wird er mir sehr übelnehmen.“

„Wer ist der Häuptling, du oder er?“

Er holte tief Atem. „Winnetou hat Recht! Schwarzer Rabe ist einfach zu ehrgeizig. Hüte dich vor ihm, er hasst dich.“

Ich lächelte geringschätzig. „Winnetou hatte schon andere, weitaus gefährlichere Gegner.“

„Er würde dich nur aus dem Hinterhalt angreifen.“

„Ich weiß es. Aber was willst du mit Doc Mule machen? Was nutzt er dir? Auch er könnte dir nur sagen, wo Sonnenblume ausgestiegen ist. Es wäre das Gleiche, als wenn du deine Krieger jetzt ausschicktest. Lass ihn laufen, Silaada.“

„Morgen, heute Nacht bleibt er am Pfahl. Ich muss ihn bestrafen.“

Mir war bewusst, dass der Häuptling sein Gesicht wahren wollte, indem er nicht zu schnell nachgab. Daher drängte ich ihn nicht weiter.

2. Kapitel: Alte Feinde

Seit meinem Besuch bei den Jicarillas war eine Reihe von Tagen vergangen. Ich befand mich bereits im Jagdgebiet der Mescaleros, als ich drei Reiter auf mich zugaloppieren sah, stoppte meinen Rappen Iltschi und nahm vorsichtshalber die Silberbüchse aus ihrem Futteral. Doch ich ließ sie gleich wieder zurück in die schützende Hülle gleiten, denn die Reiter erwiesen sich als gute alte Freunde aus Kindertagen: Til Lata, inzwischen von mir zum Häuptling ernannt, Entschar Ko, mein bester Unterhäuptling, und Yato Ka, Anführer der hervorragendsten Krieger. So manches lebensgefährliche Abenteuer hatten wir vier gemeinsam durchgestanden.

„Winnetou!“, jubelten sie mir zu. Auch ich freute mich über das Wiedersehen und wir setzten uns zusammen und rauchten in aller Ruhe das Kalumet, in diesem Fall die Pfeife der Freundschaft. Bleichgesichter mögen dieses Ritual belächeln, doch wir halten daran fest, denn es hat seinen Sinn. Wer zornig ist, bekommt Gelegenheit, sich zu mäßigen. Wer einem Anderen Vorwürfe machen will, kann diese noch einmal überdenken. Wer innerlich aufgewühlt ist, beruhigt sich zumindest ein wenig. Und das sind die besten Voraussetzungen für ein vernünftiges Gespräch.

„Ist es Zufall, dass meine Brüder mir begegnet sind?“, fragte ich, nachdem sich der Rauch des Kalumets verflüchtigt hatte.

Til Lata schüttelte den Kopf. „Nein. Wir hofften, auf dich zu treffen. Die Nachricht, dass die Kiowas auf dem Kriegspfad sind, hat das Pueblo der Mescaleros erreicht, und wir drei sind nur eine Gruppe von mehreren, welche die Gegend erkunden.“

„Wie habt ihr es erfahren?“

„Durch einen Krieger, der die Zelte der Mimbrenjos besuchte. Ein Jagdtrupp der Mimbrenjos wurde von Kiowas angegriffen. Der gut bewaffnete Jagdtrupp konnte die Angreifer zwar zurückschlagen, doch es gab zwei Todesopfer – ebenso übrigens unter den Angreifern.“

„So war es auch bei den Jicarillas. Sie und die Mimbrenjos werden auf Rache sinnen und ihrerseits die Kiowas überfallen. Es ist besser, sofort etwas zu unternehmen als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden. Die Zeit drängt.“ Ich dachte nach. „Til Lata, du reitest zurück zum Pueblo. Ich brauche dich im Rat der Häuptlinge. Sei meine Stimme, wenn es darum geht, unüberlegte Handlungen zu vermeiden.“

„Howgh, ich habe verstanden!“

„Und ihr, Entschar Ko und Yato Ka, ihr werdet mit mir zu den Mimbrenjos reiten, denn ich traue ihrem Häuptling Starker Büffel zu, dass er blindwütig gereizt – eben wie ein Bisonbulle – auf die Kiowas losgeht. Das gilt es zu verhindern.“

Die beiden sahen sich an. „Wird nicht leicht sein.“

„So ist es. Darum lasst uns keine Zeit verlieren. Unser Ziel muss sein, den Krieg zu beenden, bevor er richtig ausbricht.“

Wir erhoben uns und gingen zu den Pferden.

Ich gebe zu, ich machte mir Sorgen. Es waren ja nicht allein die Kiowas; ernsthaft zu fürchten war ihre enge Verbundenheit mit den Komantschen, den Erbfeinden der Apatschen. Silaada hatte es ja bereits erwähnt, und in der Vergangenheit war es immer wieder geschehen, dass sich diese beiden Völker im Kampf gegen das unsrige zusammengeschlossen hatten. Sie wussten, nur gemeinsam konnten sie uns wirklich schaden. Zwischen uns und ihnen hatte es nie dauerhafte Abmachungen gegeben, die einen längeren Frieden sicherten. Höchstens der eine oder andere Waffenstillstand war vereinbart worden. Doch schon die geringste Kleinigkeit genügte, um alte Feindschaften wiederzubeleben – und das in einer schwierigen Zeit ständiger Auseinandersetzungen mit weißen Siedlern und Soldaten! Hinzu kam das Beharren der einzelnen Apatschen-Stämme auf Unabhängigkeit, besser gesagt, es waren die Häuptlinge, die größtenteils nicht bereit waren, sich unterzuordnen. Sie hatten mich zwar zu ihrem obersten Häuptling gewählt, aber meine Macht war beschränkt. Solange ich sie überzeugen konnte, solange folgten sie mir. Mein einziger Vorteil bestand darin, dass ich im Laufe der Jahre ihre Achtung gewonnen hatte, obwohl ich deutlich jünger als die meisten Anführer war. Und nun also Nalgu Mokaschi, der Starke Büffel, ein oft unbeherrschter Mann mit großem Selbstbewusstsein! Er hatte zwei Söhne, die beide ihren Namen und die Aufnahme in die Reihen der Krieger meinem weißen Freund Old Shatterhand verdankten.1 Starker Büffel war darüber sehr glücklich gewesen – aber das lag nun schon einige Zeit zurück. Seit damals war ich ihm noch nicht wieder begegnet.

Der Abend dämmerte, als meine beiden Begleiter und ich von Weitem den schwachen Schein eines großen oder mehrerer kleiner Lagerfeuer bemerkten. Das Gelände war steinig, uneben, aber weitgehend frei, Bäume und Büsche wuchsen hier nur vereinzelt oder in kleinen Gruppen. Die dort Lagernden mussten sich daher sehr sicher fühlen, aber auch wir hatten unterwegs keine Spuren von Menschen oder Pferden entdeckt. Yato Ka huschte voraus, um zu erkunden, um wen es sich handelte, und kehrte mit dem Bescheid zurück, es sei eine Schar von fünfzig Mimbrenjo-Kriegern, angeführt von Starker Büffel selbst. Er war also bereits aufgebrochen, ganz so, wie ich es erwartet hatte.

Gefolgt von Entschar Ko und Yato Ka ritt ich auf das Lager zu. Kurz vor unserem Eintreffen entdeckte uns ein Wachtposten, erkannte aber sogleich, um wen es sich handelte, und ließ uns passieren. Beleuchtet vom ruhigen Lichtschein der Feuer, stiegen wir von unseren Pferden, während umgekehrt viele der Mimbrenjos überrascht aufsprangen. „Uff! Uff! Winnetou!“

Ich neigte den Kopf. „Winnetou, Entschar Ko und Yato Ka grüßen Nalgu Mokaschi und seine tapferen Krieger.“

Der Starke Büffel strahlte mich in ehrlicher Freude an. „Viele Monde sind vergangen, seit wir uns zum letzten Mal sahen. Der Häuptling der Apatschen und seine Krieger sind willkommen an den Lagerfeuern der Mimbrenjos.“ Er deutete auf die Plätze rechts und links neben sich. „Setzt euch und esst. Unsere Jagd war erfolgreich.“

Wir folgten der Aufforderung, stillten unseren Hunger mit dem schmackhaft gebratenen Fleisch eines Maultierhirschs und teilten das Kalumet miteinander. Die Stimmung war sehr gut, sodass ich es beinahe bedauerte, ein ernstes Thema ansprechen zu müssen. Leider ging es nicht anders.

„Die Gesichter deiner Männer tragen die Farben des Krieges. Winnetou weiß, dass die Kiowas zurzeit auf dem Kriegspfad sind, und daher nehme ich an, ihr seid ausgezogen, sie zu bekämpfen.“

„So ist es!“, rief Starker Büffel leidenschaftlich aus. „Dieser Kojote Tangua“ – er spuckte in Richtung des vor ihm brennenden Lagerfeuers aus – „will unbedingt noch seinen Skalp verlieren, bevor er in die ewigen Jagdgründe eingeht! Starker Büffel wird ihm dazu verhelfen!“

Seine Krieger lachten. Ich fragte nach dem Ziel, das sie als Erstes anstrebten. „Wollt ihr Tanguas Dorf überfallen, oder seid ihr auf der Suche nach jenen Kiowas, die euren Jagdtrupp angegriffen haben?„Zunächst suchen wir diese Kiowas, denn sie haben zwei der Unsrigen getötet, und vielleicht streifen sie ja noch umher. Aber wenn wir sie nicht finden, dann ziehen wir weiter zum Dorf Tanguas.“

Unwillkürlich zogen sich meine Augenbrauen zusammen. „Du willst ein ganzes Dorf überfallen – mit nur fünfzig Kriegern?“

„Winnetou unterschätzt die Tapferkeit, die Kühnheit und den Mut der Mimbrenjos. Einer unserer Männer wiegt fünf Kiowas auf! Außerdem haben die meisten von uns Feuerwaffen!“

Seine Prahlerei hatte erneut begeisterte Zustimmung zur Folge. Am liebsten hätte ich ihm geantwortet, dass man mit Angeberei keinen Krieg gewinnt, doch ich beherrschte mich und fragte stattdessen: „Euer eigenes Dorf lasst ihr ungeschützt und ohne Führung zurück?“

„Nein, natürlich nicht. Meinem älteren Sohn, Yuma Shetar, habe ich die Verantwortung übertragen. Du kennst ihn, er ist klug.“

„Das ist er. Aber der Yumatöter ist auch noch recht jung und hat nur wenig Erfahrung. Was ist, wenn die Kiowas euch mit ihrem Angriff nur aus dem Dorf locken wollten und zuschlagen, wenn …“

Ungeduldig unterbrach er mich: „In diesem Fall werden Yuma Shetar und die im Dorf zurückgebliebenen Krieger kämpfen. Hat Winnetou kein Vertrauen mehr zu seinem eigenen Volk, den Apatschen?“

„Ich habe großes Vertrauen zu den Apatschen! Doch was man im ersten Zorn entscheidet, muss nicht immer das Richtige sein. Und was der Einzelne für sich selbst gutheißt, kann für ein ganzes Volk falsch sein. Du bist ein Häuptling, du hast zuerst an das Wohlergehen deines Volkes zu denken!“

Triumphierend sah er mich an. „Genau deshalb werde ich diese Kiowas züchtigen. Fürchtet sich Winnetou etwa vor einem Krieg?“

„Das sagst du nicht im Ernst, Starker Büffel! Was ich will, sind Verhandlungen mit den Kiowas, da die größere Gefahr von den Weißen ausgeht. Sie haben es immer verstanden, unsere Uneinigkeit auszunutzen. Das wissen auch die Kiowas.“

„Howgh! Aber wer verhandelt, beweist Schwäche. Wer kämpft, dagegen Stärke!“

Er hatte rein gar nichts begriffen. Entschar Ko und Yato Ka, die sich selbst angegriffen fühlten, wenn man mich angriff, zeigten ihren Unwillen und ihre Entrüstung durch Räuspern und Stirnrunzeln, während ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, denn es war Zeitverschwendung. Ich schwieg also, darauf hoffend, dass Starker Büffel einlenken würde. Er schien tatsächlich nachzudenken, kaute auf dem Stiel seiner Pfeife herum und knurrte schließlich:

„Wie will Winnetou das machen, das mit den Verhandlungen?“

Das klang ja schon weitaus vernünftiger.

„Ich setze dabei auf dich und deine Krieger“, antwortete ich, um ihn in meinen Plan einzubinden. „Wir werden einen der Kiowas gefangen nehmen und ihn als Boten zu Pida schicken – zu Pida, nicht zu Tangua! Zwar ist Tangua der ältere und bedeutendere Häuptling, doch auch Pida hat sich großes Ansehen erworben, und Tangua liebt ihn.“

Er stimmte mir zwar nicht zu, doch er widersprach auch nicht. Vielmehr lenkte er ab und fragte nach Old Shatterhand.

„Er ist irgendwo in den Städten der Bleichgesichter. Winnetou erwartet ihn bald zurück.“

Mittlerweile hatte sich die Nacht herabgesenkt. Starker Büffel stellte Wachen auf, die Feuer wurden gelöscht, und wir legten uns zur Ruhe. Bereits nach kurzer Zeit war ich eingeschlafen.

Im ersten Morgengrauen weckten mich gellende Kriegsschreie. Ich fuhr von meinem Schlaflager hoch, griff dabei sofort, ohne zu überlegen, nach der Silberbüchse an meiner Seite und wollte aufspringen. Da traf mich ein brutaler Schlag – vermutlich mit einem Gewehrkolben gegen meinen Kopf geführt –, der mich besinnungslos niederstreckte.

Als ich erwachte, war es bereits heller Tag. Vor meinen Augen verschwammen alle Umrisse, lösten sich in roter Farbe auf. Furchtbare Kopfschmerzen hinderten mich an jedem klaren Gedanken, und ich spürte, dass meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Um mich herum schienen sich Menschen zu bewegen, doch was sie sagten, drang nur unverständlich und wie unter Wasser in mein Bewusstsein. Einen solchen Zustand absoluter Hilflosigkeit erlebte ich nicht zum ersten Mal, doch war er deshalb nicht weniger erschreckend. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und abzuwarten. Ich begann zu begreifen: Die Kiowas hatten uns überfallen!

Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, trat eine Besserung ein, sodass ich einzelne Wörter und auch Sätze verstehen konnte. Jemand sagte: „Saoni weiß, dass du nicht tot bist.“

Blinzelnd schlug ich die Augen auf. Saoni bedeutet in der Sprache der Kiowas „Schlange“, aber der junge Mann, der vor mir stand, hatte außer seiner schlanken Figur nichts Schlangenhaftes an sich. Noch immer schien alles wie in ein warmes Rot getaucht – es war Blut, das aus meiner Kopfwunde geflossen war und die Sicht behinderte. Der Kiowa lachte. „Ich bin Winnetou zu Dank verpflichtet, denn ich werde mich von jetzt an nicht einfach nur Schlange, sondern Blutschlange nennen dürfen. Das wird Tangua, meinen Vater, freuen!“

„Dein Vater?“ Ich erinnerte mich, der Kiowa-Häuptling hatte ja drei Söhne, von denen Pida der älteste war. Als damals mein Bruder Old Shatterhand und ich es mit Tangua zu tun hatten, waren die beiden Jüngeren noch heranwachsende Knaben gewesen.2

„Ja, mein Vater! Er hat den Apatschen den Krieg erklärt, und ich werde ihm seinen Todfeind Winnetou ausliefern.“ Er machte eine Handbewegung zur Seite hin. „Und Starker Büffel, der sich einbildete, uns mit seinen Kriegern auflauern zu können.“

Besorgt versuchte ich, den Kopf zu heben, was mir nur geringfügig gelang. „Lebt Starker Büffel noch?“

„Er lebt, aber er ist schwer verletzt. Und die Schar seiner Mimbrenjos ist stark geschrumpft. Wir werden jetzt aufbrechen, denn ein langer Weg zu den Zelten der Kiowas liegt vor uns.“

Er verließ mich, war aber kaum fort, als ich eine leise Stimme hinter mir hörte: „Ich bin’s, Entschar Ko. Auch ich bin gefesselt, doch abgesehen von ein paar Schrammen geht es mir gut.“

„Dem Großen Geist sei Dank! Was ist mit Yato Ka?“

„Er konnte fliehen und wird mit Sicherheit Hilfe holen. Hoffentlich nicht zu spät“, fügte er seufzend hinzu.

„Hat er denn ein Pferd?“

„Ob mit oder ohne. Du weißt ja, er ist gut zu Fuß …“

Weiter kam er nicht, denn plötzlich war ein Kiowa-Krieger da und versetzte ihm und danach auch mir mit dem Ruf „Schweigt still, ihr Hunde!“ einen heftigen Tritt in den Magen.

Kurz darauf band man uns, ungeachtet der jeweiligen Verletzungen, auf unseren Pferden fest, während Starker Büffel und zwei seiner ebenfalls schwer verwundeten Männer auf so genannten Travois – das sind aus Zweigen geflochtene und von Pferden gezogene Gestelle – befördert wurden. Dabei konnte ich einen flüchtigen Blick auf Starker Büffel werfen. Seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging schwer und keuchend, dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirn und verwischten die aufgetragenen Kriegsfarben, was seinem Gesicht etwas Dämonisches, aber auch Mitleiderregendes verlieh. Außerdem bemerkte ich, dass Saoni mein Gewehr als Beute an sich genommen hatte. Um mich zu ärgern, hielt er es kurz in die Höhe, sodass die silbernen Nägel im Sonnenlicht aufblitzten.

Auf dem tagelangen Ritt erhielten wir Gefangenen nur das Nötigste an Nahrung und Wasser, eine Behandlung der Verletzungen gab es nicht. Die beiden schwer verwundeten Mimbrenjos starben, Starker Büffel hielt aber noch durch. Doch es ging ihm von Tag zu Tag schlechter, obwohl ich mehrfach vergeblich darum bat, ihm helfen zu dürfen. Saoni schien die Sturheit seines Vaters geerbt zu haben. Zugeständnisse machen, Menschlichkeit zeigen, waren für ihn ganz offensichtlich Zeichen von Verweichlichung.

Dann endlich erblickten wir in einer Talsenke vor uns das große, ausgedehnte Zeltdorf der Kiowas. Jubelnd liefen uns die Menschen entgegen, denn der bloße Anblick der Gefangenen sagte ihnen schon, dass der Kriegszug Saonis siegreich gewesen war. Der Einzug ins Dorf, überschüttet mit Hohn und Spott, kam für uns Apatschen einer einzigen Demütigung gleich. Dennoch trug jeder von uns den Kopf hoch, keiner ließ auch nur die geringste Furcht erkennen.

Und dann sah ich ihn, Tangua, den alternden Häuptling, meinen Feind! Das heißt, eigentlich war er noch gar nicht alt, doch er wirkte so. Old Shatterhand hatte ihm einst beide Knie zerschossen, sodass er gelähmt war.3 Daher saß er auf einer buntgewebten Decke vor seinem Zelt, gelehnt an eine Rückenstütze und umgeben von einigen Unterhäuptlingen. Trotz seiner Gebrechlichkeit funkelten seine Augen noch wie die einer Raubkatze, und seine Gesichtszüge waren so streng und finster wie früher. Stumm sah er zu, wie zwei Krieger mich von meinem Pferd zerrten und vor ihn hinstießen. Dann holte er tief Atem.

„Winnetou! Ich habe mich nach diesem Tag gesehnt, an dem ich dich in Fesseln sehe. Wo aber ist jener weiße Schuft, den du Blutsbruder nennst? Sag mir, wo ist er? Denn ihn gefangen zu sehen, würde meine Freude erst vollkommen machen.“

„Wüsste ich es, ich würde es dir nicht sagen.“

„Auch nicht um den Preis deines Lebens?“

„Du kennst die Antwort, Tangua.“ Ich ließ meine Augen umherschweifen. „Der Häuptling der Apatschen verlangt, mit deinem Sohn Pida zu sprechen. Ein Gespräch mit dir ist sinnlos.“

Er schnaubte. „Pida befindet sich auf der Jagd. Aber du wirst ihn noch sehen. Ich will, dass er dabei ist, wenn du stirbst und alle anderen auch.“

„Wenn du das willst, dann sollte es dir wichtig sein, den verletzten Gefangenen bis dahin das Leben zu erhalten. Starker Büffel ist dem Tode nahe, er und ein paar weitere Krieger brauchen dringend die Hilfe eures Medizinmanns.“

„Er bekommt sie nicht; wenn er stirbt, dann stirbt er!“

Zorn stieg in mir auf. „Tangua ist ein alter, verbitterter Greis! Er steht bald am Rande des Grabes, will aber vorher noch andere hineinstoßen. Ich verachte dich!“

„Du verachtest mich?“, schrie er mich an. „Du bist ein Wurm, den ich zertrete! Ob die Verwundeten jetzt sterben oder später mit dir am Marterpfahl, das ist egal. Es ist mein Wille, und mein Wille ist der Wille des Großen Geistes!“

„Woher weißt du, dass er auch der Wille des Großen Geistes ist? Stimmst du einem Gottesurteil zu? Jetzt, sofort?“

Tangua und seine Unterhäuptlinge, zu denen sich inzwischen auch Saoni gesellt hatte, lachten angesichts der Tatsache, dass Tangua gelähmt war, und beschimpften mich als Feigling.

„Ihr solltet besser zuhören, ich habe Tangua nicht herausgefordert“, stellte ich klar. Dann wandte ich mich an Saoni. „Aber was ist mit dir? Du bist jung und gesund. Kämpfe mit Winnetou darum, dass die Schwerverletzten von eurem Medizinmann behandelt werden!“

Der Häuptlingssohn brauchte einen Augenblick, um seine Überraschung zu verarbeiten. Doch bevor er antworten konnte, rief sein Vater energisch: „Nein! Tangua verbietet den Kampf!“

„Dein Sohn ist kein Knabe mehr – aber vielleicht hat er ja Angst vor mir“, verhöhnte ich ihn. Und um die Sache auf die Spitze zu treiben, fügte ich stolz hinzu: „Einst wird man über eure Familie sagen: Der Vater unterlag Old Shatterhand, der Sohn Winnetou.“

„Genug!“, bellte Tangua, der erkannte, dass Saoni die He-rausforderung annehmen wollte. Aber jetzt war Saonis Trotz geweckt worden, und er widersprach:

„Nein, Vater! Ich werde kämpfen.“

Alle, die es hörten, nickten beifällig, zufrieden mit seinem Mut. Tangua konnte nicht mehr zurück. „Also gut“, gab er nach, „aber nicht gegen Winnetou! Geh, suche dir einen anderen Gefangenen als Gegner aus, dann bin ich einverstanden mit einem Gottesurteil.“

Das war es nicht, was ich mir erhofft hatte. Tangua grinste mich an, wohl wissend, dass ich mich ärgerte.

Die Nachricht von dem bevorstehenden Kampf hatte sich anscheinend schnell verbreitet, denn der Versammlungsplatz in der Dorfmitte begann sich zu füllen. Mich fassten zwei Krieger links und rechts an den Armen und brachten mich ebenfalls dorthin. Die übrigen Gefangenen blieben, wo sie waren; ich konnte sie von meinem Standpunkt aus nicht sehen. Bis auf einen: Entschar Ko! Er folgte Saoni soeben auf den Versammlungsplatz, also war er derjenige, den sich der Häuptlingssohn als Gegner erwählt hatte. Mit dieser Wahl bewies Saoni, dass er durchaus kein Feigling war. Entschar Kos beeindruckend kräftige Figur und das Spiel seiner Muskeln wirkten besonders jetzt, da er sein Jagdhemd abgelegt hatte und mit bloßem Oberkörper auftrat, außerordentlich imponierend auf die Kiowas. Er bedachte mich mit einem Blick, der besagte, ich könne ganz beruhigt sein, und ich nickte ihm zu. Er war furchtlos und in allem absolut zuverlässig; ich hatte nie bereut, ihn zum Unterhäuptling ernannt zu haben. Während eifrige Helfer nun Tangua herbeitrugen, zog auch Saoni sein Jagdhemd aus und präsentierte seinen Oberkörper. Er konnte im Vergleich mit Entschar Ko nicht ganz mithalten, zeigte sich jedoch muskulöser, als man es hätte erwarten können.

„Mein Sohn möge die Waffe bestimmen!“, rief Tangua und verschaffte ihm damit sogleich einen Vorteil. Weder Entschar Ko noch ich widersprachen, denn jede Zeitverzögerung hätte Starker Büffel geschadet. Saoni entschied sich für den Tomahawk, mit dem er offensichtlich gut umgehen konnte, sowie den schützenden Schild. Ich wusste aber, dass Entschar Ko ihn nicht zu fürchten brauchte, hatten wir beide doch hin und wieder spielerisch den Kampf mit dem Kriegsbeil geübt.

Wie jeder erfahrene Krieger prüfte auch Entschar Ko den Tomahawk, den man ihm reichte, und protestierte sogleich: „Ihr haltet mich wohl für ein Kind, das sich leicht betrügen lässt? Seht her!“

Um allen zu zeigen, was er meinte, schlug er das Beil auf die festgetretene harte Erde, wobei sich der Kopf vom Griff löste. Mit einem Fußtritt beförderte er die beiden Teile in die Zuschauermenge und erhielt einen neuen Tomahawk, gegen den er nichts einzuwenden hatte. Bei diesem Vorfall war mir der Unmut auf Saonis Gesicht nicht entgangen. Es schien, als habe er von dem versuchten Betrug keine Ahnung gehabt. Ich aber war alarmiert. Zwar war kein Kampf auf Leben und Tod vereinbart worden, doch die Hinterlist und Bosheit Tanguas durfte ich nie außer Acht lassen. Daher rief ich laut:

„Halt! Jeder Kampf mit dem Kriegsbeil kann derbe Verletzungen verursachen – nicht nur beim Verlierer, sondern auch beim Sieger. Winnetou besteht darauf, dass Entschar Ko in jedem Fall ebenso wie Starker Büffel und alle, die es nötig haben, von eurem Medizinmann behandelt wird!“

„Das braucht nicht erwähnt zu werden“, fauchte Tangua, „da es selbstverständlich ist!“

„Ihr habt es gehört!“, rief ich dem Volk zu.

„Schweig! Der Kampf möge beginnen!“

Zwei Krieger traten hinzu und reichten Saoni und Entschar Ko ihre Schilde. Ein solcher, oft bemalter und mit Federn und Skalphäuten verzierter Schild besteht aus gut verarbeitetem Bisonleder, das über einen Holzrahmen gespannt ist, mit einem Griff an der Innenseite. Je besser die Verarbeitung, umso wertvoller ist der Schild. Gerade bei Kämpfen mit dem Tomahawk wird er gerne verwendet, um die Schlagkraft dieser gefährlichen Waffe abzufangen.

Die beiden Gegner nahmen ihren jeweiligen Standort ein, den Schild in der Linken, die Streitaxt in der Rechten. Sich umkreisend, lauernd wie Raubkatzen, täuschten sie abwechselnd einen Angriff vor, auf den aber keiner der beiden hereinfiel. Eine ganze Weile ging das so, und es war richtig. Denn man musste sich erst kennenlernen, um die Reaktionen des anderen einschätzen zu können, seine Kraft, seine Schnelligkeit. Im Geiste stand ich mit Entschar Ko dem Feind gegenüber, alle Sinne angespannt wie er, den richtigen Zeitpunkt abwartend. Es war eine reine Nervenprobe.

Und genau in dem Augenblick, in dem auch ich es getan hätte, als Saoni glaubte, es wieder mit einer Täuschung zu tun zu haben, machte Entschar Ko dem Spiel ein Ende. Statt auch dieses Mal zurückzuspringen, setzte er nach und trieb den völlig überrumpelten, zurückweichenden Gegner Schritt für Schritt in die Verteidigung. Nur mühsam gelang es Saoni, seinen Schild hochzuhalten, wobei er sich gleichzeitig hin und her wenden musste, da die schnellen Angriffe aus verschiedenen Richtungen erfolgten.

Entschar Ko machte seine Sache ausgezeichnet; er ließ Saoni keinen Herzschlag lang Zeit, um Atem zu holen oder sich zu besinnen. Alles sah nach einem baldigen Sieg meines Freunds aus, als Saoni plötzlich einen Schlag parieren konnte und Entschar Ko zurückspringen musste. Durch die Reihen der Zuschauer ging ein befreiendes Aufstöhnen, während ich merkte, dass ich mir auf die Lippe gebissen hatte. Und nun war es Saoni, der mit einem Kriegsschrei auf seinen Gegner losging wie eine gereizte Schlange – seinem Namen alle Ehre machend.

Er hält den Schild zu tief, dachte ich, jetzt, Entschar Ko, jetzt – mit der Rückseite …

Und Entschar Ko schlug zu – mit der Rückseite des Tomahawk-Kopfs kraftvoll auf den Rand des Schilds. Hätte er mit der Vorderseite zugeschlagen, dann wäre die messerscharfe Obsidian-Klinge im Holzrahmen des Schilds steckengeblieben. Sofort ließ Saoni den Schild fallen und stand einen flüchtigen Moment lang mit erhobener Streitaxt da. Ein kurzer Augenblick, zu kurz für einen normalen Krieger, aber lang genug für meinen Entschar Ko, der ihm rasch nacheinander die Waffe aus der Hand schlug und dann – immer noch mit der Rückseite des Beils – einen Schlag gegen den Kopf versetzte. Saoni brach zusammen.

Der helle Aufschrei einer Frau irgendwo in der Menge war der einzige Laut, der seinen Zusammenbruch begleitete. Alle schienen den Atem anzuhalten.

Dann kreischte Tangua: „Seht nach, ob mein Sohn noch am Leben ist! Schnell, schnell!“

Sie folgten dem Befehl. Währenddessen drehte sich Entschar Ko zu mir um und hob triumphierend die Faust. Ich nickte, voller Freude über seinen Sieg. Noch größer wurde diese Freude, als der Ruf erscholl: „Saoni lebt!“, denn ich hatte ihm nicht den Tod gewünscht.

Ich wandte mich an den sichtlich erleichterten Tangua:

„Entschar Ko hat gesiegt. Nun halte dein Versprechen und lass die Wunden der Mimbrenjos behandeln. Denn, wie sich gezeigt hat, ist das der Wille des Großen Geistes.“

Wieder grinste er mich an, rachsüchtig wie eh und je. „Gesiegt? Keiner hat gesiegt! Es war ein Kampf auf Leben und Tod.“

„Das war er nicht!“ Ich spürte, dass ich die Fassung verlor, was äußerst selten vorkam. „Du lügst, Tangua! Es gab keine Vereinbarung, nach der einer der beiden sterben müsste. Sei dankbar, dass dein Sohn lebt, und beflecke seinen Namen nicht mit der Schande der Lüge und des Betrugs!“

Entschar Ko hatte diesen Wortwechsel gehört. Außer sich vor Empörung eilte er auf Tangua zu und hob drohend den Tomahawk, den man ihm leichtsinnigerweise noch nicht abgenommen hatte. „Du willst, dass einer stirbt, du hinterhältiger Schuft? Den Wunsch kann ich dir erfüllen …“

Aber schon wurde er von hinten gepackt, das Beil wurde ihm entrissen und er selbst von mehreren Kriegern zu Boden gerungen. Tangua war der Schreck in die Glieder gefahren. Er brüllte, man solle uns fortschaffen, was dann auch gleich geschah. Wir wurden zu den anderen Gefangenen gebracht, die alle, gefesselt an Händen und Füßen, auf der bloßen Erde lagen. Bei der Gelegenheit zählte ich vierzig Männer, zehn waren also gleich beim Überfall oder später an ihren Verletzungen gestorben. Ein herber Verlust für die Mimbrenjos!

Ich kam neben Starker Büffel zu liegen. Zum ersten Mal sah ich ihn aus unmittelbarer Nähe und war erstaunt darüber, dass er noch lebte. Der Häuptling gehörte wohl zu den zähesten Menschen, denen ich je begegnet war. Seine Wunden konnte ich zwar nicht sehen, aber Jagdhemd und Hose waren von getrocknetem Blut durchtränkt. Leise sprach ich seinen Namen aus, da blinzelte er mich kurz an und stammelte: „Winnetou, du – lebst?“

Wie froh war ich, dass er mich erkannte!

„Ja, und Winnetou dankt dem Großen Geist, dass auch du noch lebst. Tangua hat sich geweigert, deine Wunden versorgen zu lassen, aber du bist stark und wirst wieder gesund.“

„Du irrst dich – selten, nicht wahr?“

„Howgh, ich irre mich selten.“

Ein gequältes Lächeln zuckte kurz um seine Mundwinkel.

In der folgenden Zeitspanne, die die Bleichgesichter zwei Stunden nennen würden, passierte nichts – außer, dass ab und zu ein Kiowa-Wächter unsere Fesseln kontrollierte und gut gelaunt erklärte, die Vorbereitungen für unseren Martertod hätten begonnen. Sobald Pida von der Jagd zurück sei, müssten wir sterben. Das könne schon morgen sein oder erst in ein paar Tagen – man wisse es nicht.

Dann aber verbreitete sich Unruhe im Lager, was uns Gefangene zunächst vermuten ließ, Pida sei eingetroffen. Doch das schien nicht der Fall zu sein, eher deuteten die Anzeichen auf einen heftigen Streit hin. Ich hörte laute Stimmen, ohne jedoch zu verstehen, worum es ging. Und plötzlich stand Saoni vor mir. Er trug einen Kopfverband, hatte aber die Nachwirkungen des Schlags offenbar gut überstanden.

„Es war nicht recht von meinem Vater, Entschar Ko den Sieg abzusprechen“, begann er zögernd. „Ich habe den Kampf verloren, das gebe ich zu.“

„Es ehrt dich, Saoni, die Niederlage einzugestehen. Die wenigsten Krieger hätten die Größe, das zu tun. Das Volk der Kiowas kann stolz sein auf dich. Du solltest es aber auch Entschar Ko sagen.“

„Das werde ich tun.“ Er winkte den hinter ihm stehenden Medizinmann und seinen Gehilfen zu sich, die beide neben Starker Büffel niederknieten, um dessen Wunden zu reinigen. Endlich!

Ich war beeindruckt, das hätte ich Saoni nicht zugetraut. Dass er sich auf diese Weise gegen seinen herrschsüchtigen Vater stellte, bewies Mut und Charakterstärke. Überhaupt wurden wir Gefangenen von jetzt an anständiger behandelt; wir bekamen zu essen und zu trinken und konnten unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigen. Das war gewiss auch auf Saoni zurückzuführen.

Zwei ereignislose Tage vergingen, aber zumindest Starker Büffel fühlte sich jetzt wieder besser. Die Versorgung der Gefangenen hatten inzwischen ein paar ältere Frauen des Dorfs übernommen. Nur eine von ihnen war noch sehr jung, und mir fiel auf, dass sie es als Einzige vermied, in meine Nähe zu kommen. Allerdings machte sie das so ungeschickt, dass sie dadurch erst recht mein Interesse weckte.

„Nánliigi!“, rief ich überrascht, als ich Sonnenblume erkannte. Die junge Frau drehte sich widerstrebend zu mir um, lächelte verlegen und kam auf mich zu. Sie hielt mir eine Schale mit Wasser an die Lippen und ich trank. Danach wollte sie sich schnell wieder entfernen, aber ich gebot ihr zu warten, und dem Befehl eines Häuptlings wagte sie sich nicht zu widersetzen.

„Dein Vater sorgt sich um dich, Sonnenblume.“

Sie schlug die Augen nieder. „Ich weiß es und es betrübt mich. Doch ich konnte nicht anders handeln, denn er wollte mich mit Schwarzer Rabe verheiraten.“