Olga & Co – Die Sache mit Patzkes Brief - Barbara van den Speulhof - E-Book

Olga & Co – Die Sache mit Patzkes Brief E-Book

Barbara van den Speulhof

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Beschreibung

Ein spannender, realistischer Großstadtroman mit detektivischen Elementen um Freundschaft, Mut und Selbstvertrauen für Kinder ab 8 Jahren Olga heißt die neue Heldin von Barbara van den Speulhof. Für Olga ist die Welt in Ordnung: Sie hat nette Eltern und einen kleinen, wissbegierigen Bruder. Und sie hat eine neue Freundin: Constanze. Als eines Tages Olga zu Unrecht beschuldigt wird, einen Drohbrief geschrieben zu haben, kann sie das nicht auf sich sitzenlassen. Und es ist Constanze, die ihr hilft, den wahren Übeltäter zu finden. Barbara van den Speulhof hat sich in allerkürzester Zeit in die Herzen ihrer Leserinnen geschrieben. Ihre intelligenten Wortspielereien, ihr humorvoller Stil und ihre schöne Sprache werden von allen geliebt.

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Seitenzahl: 138

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Barbara van den Speulhof

Olga & Co - Die Sache mit Patzkes Brief

Mit Vignetten von Nina Dullek

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Inhalt

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelBis bald!

1. Kapitel

Ich hatte es geschafft! Ich hatte meinen ersten Fall gelöst. Ich saß an meinem Schreibtisch, klappte die Ermittlungsakte zu und strich mit der Hand über die weiche Oberfläche. Die Akte hatte ich aus der Rückseite eines Malblocks gebastelt. In der Mitte geknickt und mit schwarzem Stoff bezogen. Schwarz muss sein, weil geheime Sachen immer schwarz sind. Oder fast immer.

Mama hatte mir zum Basteln den Rest einer Blümchentapete angeboten. Die wollte ich aber nicht. Ich bin nicht so der Blümchentyp. Dann habe ich ein schwarzes T-Shirt von meinem kleinen Bruder zerschnitten. Es war ihm sowieso zu kurz.

Nun war die Ermittlungsakte voll, der Fall war abgeschlossen, und ich war stolz auf mich.

Stolz-auf-mich ist ein tolles Gefühl. Es ist ähnlich stark wie Freu-mich-aufs-Schwimmbad. Nur geht Stolz-auf-mich rückwärts in der Zeit, weil das, worauf man stolz ist, schon passiert ist. Das Freu-mich-aufs-Schwimmbad geht vorwärts in der Zeit, weil es noch kommt.

Wenn man richtig was von Rückwärtsgefühlen haben will, muss man sich entweder zurücklehnen oder beide Arme in die Luft strecken und juhu oder etwas Ähnliches rufen. Ich tat beides. Zur Sicherheit.

In diesem Moment kam Juri herein. Mein kleiner Bruder.

»Olga, was machst du da?«, fragte er.

»Ich bin stolz auf mich«, antwortete ich.

»Ich will auch stolz auf mich sein«, sagte er, setzte sich auf mein Bett, lehnte sich zurück und streckte die Arme in die Höhe.

»Hör auf, mich nachzuäffen!«, schimpfte ich und nahm die Arme wieder runter.

»Uuuh-Uuuh-Uuuh«, rief er mit gespitztem Mund und kratzte sich mit einer Hand unter der Achsel, um auszusehen wie ein Affe. Das sollte witzig sein, und das war es auch. Trotzdem verkniff ich mir das Lachen. Ich wollte Juri lieber loswerden und meinen Stolz ganz für mich alleine genießen.

»Geh in dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben«, befahl ich ihm.

Das war ein Spiel zwischen uns. Ich war die Lehrerin und er der Schüler. Juri mochte das Spiel, weil er damit schon mal für die Schule üben konnte. In ein paar Wochen, kurz vor den Sommerferien, würde er sechs Jahre alt werden, und danach würde er in die erste Klasse kommen.

»Was hab ich denn auf, Frau Sommer?«, fragte er und guckte dabei ganz genau so, wie ein Erstklässler gucken muss. Halb unschuldig, halb neugierig. Lehrerinnen mögen diesen Blick, hab ich herausgefunden.

»Male ein Bild von deiner Familie«, gab ich ihm auf, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.

Er freute sich über Hausaufgaben. Kann sein, dass sich das später mal ändert.

»Wird gemacht, Frau Sommer«, sagte er, sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

Mein Trick hatte funktioniert.

 

Sommer ist auch im richtigen Leben unser Nachname. Das ganze Jahr über. Egal zu welcher Jahreszeit.

Mama sagt, der Name Juri kommt von Georg. Der war ein berühmter Drachentöter. Mein Bruder ist aber weder berühmt noch ein Drachentöter. Er will auch keiner werden. Weil er nämlich sehr tierlieb ist. Er mag alle Tiere. Auch die, die nicht schön aussehen. Spinnen, Nacktschnecken, Regenwürmer und so. Von mir hat er das nicht.

Der Name Olga kommt von meiner Oma. Die ist leider schon gestorben. Mir hat sie ihren Namen vererbt und Mama ihren Goldschmuck. So ist am Ende doch noch viel von ihr übriggeblieben. Darüber sind wir alle froh.

Mit »alle« meine ich meine Familie. Papa, Mama, Juri und mich. Wir vier wohnen zusammen in einer Vierzimmerwohnung. Küche und Bad zählen extra. Die Wohnung ist im ersten Stock eines Hauses, in dem noch sieben andere Wohnungen sind. Die Straße, in der das Haus steht, heißt Adelheidstraße. Die Leute, die in unserem Haus wohnen, sind nett. Alle. Außer einem. Der heißt Patzke. Und er ist schuld daran, dass ich in meinen ersten Kriminalfall hineingeplumpst bin wie ein Nichtschwimmerkind ins tiefe Becken.

Zum Glück hatte ich einen Schwimmreifen und bin deshalb nicht untergegangen. Der Schwimmreifen heißt Constanze. Sie war meine Rettung.

Aber jetzt der Reihe nach.

2. Kapitel

Los ging es an einem normalen Schultagsmorgen um halb sieben. Der Wecker klingelte. Müde schob ich einen Fuß nach dem anderen aus dem Bett. Als beide auf dem Boden standen, redete ich ihnen gut zu, mich in die Küche zu bringen. Sie wollten nicht, aber sie mussten.

So wie ich als ganze Olga vierzig Minuten später zur Schule musste. Vorher noch das ganze Programm: frühstücken, waschen, Zähne putzen, anziehen, Schulrucksack packen, ungefähr 795 Fragen von Mama beantworten. Die Fragen sprudeln morgens nur so aus ihr raus.

»Hast du gut geschlafen?« Und: »Hast du was Schönes geträumt?« Und: »Hast du alle Hausaufgaben für heute gemacht?« Und: »Was willst du aufs Pausenbrot?« Und: »Kannst du bitte nach der Schule Juri aus dem Kindergarten abholen?«

Klar. Ich hole Juri doch immer aus dem Kindergarten ab. Warum fragte sie?

Ich setzte mich an den Küchentisch und müffelte ein paar Marmeladenbrotschnittchen.

Mama arbeitet meistens bis fünf Uhr am Nachmittag, manchmal auch länger. Sie ist Filialleiterin in einem Drogeriemarkt. Deshalb kennt sie sich gut aus mit allen Sachen, die entweder sauber oder schön machen.

»Magst du Orangensaft? Oder Kakao?«, fragte Mama. »Oder lieber Tee? Ich hab auch frische Minze. Das gibt sehr leckeren Tee.«

Ich konnte noch nicht einmal Luft holen, um etwas zu sagen, da kam auch schon Juri herein. »Ich nehm das, was Olga auch nimmt!«

Juri ist morgens sehr laut. Leider hat er keinen Knopf, so wie meine Musikanlage, mit dem man die Lautstärke runterdrehen kann.

Ich probierte es noch einmal mit dem Luftholen, doch Juri war wieder schneller. »Ich will auch so Schnittchen mit Marmelade drauf. Wie Olga.«

Ich stöhnte. Ach, wäre nur Papa da. Mit dem kann man wunderbar vor sich hin schweigen. Aber Papa muss immer schon um Viertel vor sieben aus dem Haus, weil er um acht Uhr anfangen muss zu arbeiten. Und der Weg dorthin ist weit. Er macht in Reifen, sagt er. Die Firma, bei der er angestellt ist, verkauft Autoreifen. Und Papa ist der Chef von der Verkaufsabteilung. Da muss er den ganzen Tag so viel reden, dass er froh ist, wenn er zu Hause schweigen kann. Er nennt es Erholung.

Mama und Juri sind anders. Die haben immer Sätze auf Vorrat. Die liegen abschussbereit hinten im Rachen, gleich hinter dem Zäpfchen.

»Na, was ist, Olga? Magst du Pfefferminztee? Oder lieber Früchtetee? Oder ganz was anderes?«, fragte Mama.

Wortlos stand ich auf und nahm mir ein Glas aus dem Regal. Ich drehte den Wasserhahn auf und füllte das Glas voll. Dann trank ich. Langsam und in kleinen Schlucken.

Nicht zu reden ist manchmal die beste Antwort.

 

Zehn Minuten nach sieben ging ich mit Juri los. Nachdem uns Mama die üblichen Sachen gesagt hatte.

»Passt gut auf, wenn ihr über die Straße geht. Benehmt euch. Lasst euch nicht von Fremden ansprechen. Viel Spaß in der Schule und im Kindergarten.«

Juri und ich gehen immer um zehn nach sieben los. Von montags bis freitags. Erst bringe ich ihn in den Kindergarten, dann gehe ich in die Schule.

Heute drückte ich ausnahmsweise den Knopf, um den Aufzug zu holen. Eigentlich wäre das Fahren nicht nötig gewesen, weil wir im ersten Stock wohnen und zu Fuß viel schneller unten sind.

Das mit dem Aufzug war ein Fehler.

Als wir drinstanden, fuhr er in die falsche Richtung. Nach oben statt nach unten. Er hielt in der dritten Etage. Weiter rauf fährt der Fahrstuhl nicht. Es gibt zwar noch einen vierten Stock. Den konnte man aber nur von innen, von den beiden oberen Wohnungen aus erreichen.

Ganz oben links wohnen Herr und Frau Meier-Vögelein mit ihren zwei Kindern. Die sind okay. Echt okay.

Ganz oben rechts wohnt Herr Patzke. Der ist nicht okay. Echt nicht.

Patzke hat eine große Wohnung, die über zwei Etagen geht und nicht nur einen Balkon, sondern auch eine Dachterrasse hat. Seine Wohnung ist fast doppelt so groß wie unsere. Ziemlich viel Platz also für einen einzelnen Menschen. Tagsüber steht die Wohnung sowieso leer, weil er morgens in Anzug, Hemd, Krawatte und mit einer schwarzen Aktentasche unterm Arm zur Arbeit fährt. In einem fetten Angeberauto mit Ledersitzen und Heizung für den Hintern.

Ich bin ziemlich sicher, dass Patzke Kinder nicht ausstehen kann. Jedenfalls hat er immer etwas zu meckern, wenn er uns sieht.

 

Die Tür ging auf, und Patzke stand da. O nein!

»Ihr seid wohl zu faul zum Laufen, was?!«

Total unhöflich. Ohne »Guten Morgen« oder so. Er stieg ein und drängte Juri und mich in die Ecke. Und das, obwohl er nicht dick ist. Nur groß. Vielleicht so zwei Meter. Mit einem Mal wurde mir klar, dass Angeber insgesamt im Leben mehr Platz brauchen als normale Leute. Das also war der Grund, weshalb er eine so riesige Wohnung brauchte.

Als die Türen zugingen, drehte er uns den Rücken zu und glotzte die graue Metallwand an.

Ich sah an ihm hoch. Seine schwarzen Haare waren im Nacken so glatt abgeschnitten, als hätte der Friseur ein Lineal angelegt, um eine so gerade Linie hinzukriegen.

Die Linie wackelte hin und her, als er den Kopf schüttelte. »Es ist nicht zu fassen. Mit euren jungen Beinen könnt ihr doch laufen!«

Er drehte sich noch nicht mal zu uns um, als er das sagte.

Dann passierte etwas, das mir immer dann passiert, wenn ich aufgeregt bin. Mir schießt ein Satz aus dem Mund, der nicht den Weg über meinen Kopf genommen hat. Deshalb rollt er mir ungeprüft über die Zunge. Es ist, als ob dieser Satz von irgendwo anders herkommt. Vielleicht von außerirdisch.

Ich sagte: »Laufen Sie doch! Ihre Beine sind doppelt so lang wie unsere. Mindestens.« Aber ich sagte es leise. Sehr leise. Ich schwöre!

Patzke verstand mich trotzdem. Er drehte sich um.

»Du bist ein Rotzlöffel! Weißt du das?! Ich werde mich gelegentlich bei deinen Eltern über dein schlechtes Benehmen beschweren.«

Juri griff ängstlich nach meiner Hand.

Als die Aufzugtüren im Erdgeschoss aufgingen, stapfte Patzke mit großen Schritten raus und auf den Parkplatz zu seiner Angeberkarre. Dabei brabbelte er noch irgendwas, was sich anhörte wie: »Früher hätten wir uns so etwas nicht getraut.« Dann ließ er den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof. Nachdem er um die Ecke gebogen war, ließ Juri meine Hand los.

»Olga, was ist ein Rotzlöffel?«, fragte er.

»Nichts, was zum Besteck gehört«, antwortete ich knapp.

Seit ich Juri in den Kindergarten bringe und abhole, fühle ich mich mitverantwortlich für seine Erziehung. Dabei bin ich allerdings viel strenger als Mama und Papa. Ich lasse nix durchgehen. Und es gefällt mir, mehr zu wissen und klüger zu sein als er. Ich erkläre ihm vieles, aber ich achte darauf, dass der Schlauheitsabstand zwischen uns nicht kleiner wird. Wo kämen wir denn da hin?

Das ist auch der Grund, weshalb ich mich weigere, ihm Lesen und Schreiben beizubringen. Obwohl er das gern hätte. Das ist mir egal. Ich habe schließlich auch damit warten müssen, bis ich in die Schule kam. Zwar konnte ich vorher schon ein bisschen schreiben, zum Beispiel Olga Sommer, doch so richtig los ging es erst in der Schule.

Manchmal lese ich Juri abends etwas vor. Wenn er lange genug gebettelt hat.

Zu meinem zehnten Geburtstag habe ich einen Computer und einen Drucker geschenkt bekommen. Das sind die alten Geräte von Papa, aber sie funktionieren. Ich finde, wenn man einen eigenen Computer hat, ist man schon halb erwachsen. Beim Gedanken ans Erwachsenwerden zog ich meine Schultern nach unten und streckte meinen Hals lang. Das machte mich um mindestens zwei Zentimeter größer. Richtig groß bin ich nämlich nicht. Fast die Kleinste in meiner Klasse, wenn ich ehrlich bin. Papa sagt, es kommt auf die innere Größe an. Das ist zwar nett gemeint, hilft mir aber nicht beim Wachsen.

Ich schaute auf Juri, der neben mir ging. Noch konnte ich ihm auf den Kopf spucken. Dieser Abstand zwischen uns stimmte also auch.

Vor dem Kindergarten ging es zu wie am Samstagvormittag auf dem Supermarktparkplatz. Die meisten Kinder werden von ihren Müttern hierhergefahren, egal wie kurz der Weg ist. Von Müttern, die es eilig haben. Und nicht lesen können. Zumindest keine Verkehrsschilder. Da steht nämlich 30 drauf. Und sie fahren schneller. Wenn ich mal groß bin, mache ich das anders.

Ich lieferte Juri ab. Ohne Abschiedsküsschen. Er mochte es nicht, wenn beim Küssen andere Leute zuschauen. Genau wie ich.

3. Kapitel

Mein Tag in der Schule war okay. Normal halt. Nichts Besonderes. Auch im Hort passierte nichts Außergewöhnliches. Wie immer ging ich um halb fünf, um Juri abzuholen. Auf dem Weg dorthin machte ich mir Gedanken über mein Leben. Auch wenn Erwachsene das vielleicht nicht glauben, es ist so. Auch Kinder denken über große und wichtige Dinge nach.

»Olga spielt im Mittelfeld«, hatte Papa mal gesagt, als Freunde bei uns zu Besuch waren. Damit hat er gemeint, dass ich eine mittelmäßige Schülerin bin. Nicht besonders gut, nicht besonders schlecht. Ich war mittel. Und mittel ist langweilig. Mein ganzes Leben war langweilig. Ich hatte noch nicht mal Hobbys, mit denen ich angeben konnte. So wie andere aus meiner Klasse, die Einrad fahren, Schlagzeug spielen oder Karate können.

Ich glaube, das Einzige, was ich gut kann, ist Leute beobachten und Leute nachmachen. Wenn ich jemandem eine Weile zuschaue, kann ich gehen und sprechen wie er. Ich merke mir, ob jemand langsam oder schnell spricht, hoch oder tief, einfach oder kompliziert. Manche bewegen sich langsam, andere schnell, manche laufen wie ein windschiefer Baum auf zwei Beinen. Andere sind stocksteif wie Robotermenschen.

Aber wozu soll es gut sein, das zu können? Mein Leben war mittel, mein Leben war langweilig. Basta.

Als ich die Eingangstür zum Kindergarten öffnete, wartete Juri schon auf mich. Mit Jacke an, Schuhe an und Rucksack auf dem Rücken stand er im Flur.

»Frau Sommer! Frau Sommer!«, rief er und rannte auf mich zu. »Ich hab meine Hausaufgaben gemacht. Hier! Das ist meine Familie!«

Stolz gab er mir ein Blatt Papier.

»Krieg ich jetzt eine Eins?«

Obwohl ich lieber ein bisschen länger die schlechte Laune wegen meines langweiligen Lebens behalten hätte, freute ich mich über sein Bild. Er hatte mich nämlich fast so groß wie Mama gemalt. Außerdem strahlte eine Sonne über meinem Kopf.

»Ja«, sagte ich. »Dafür kriegst du eine Eins.«

Ich nahm ihn an die Hand, und wir trotteten los. Auf dem Heimweg mussten wir ein paarmal anhalten, weil sich Juri unbedingt um ein paar Tiere kümmern musste. Er rettete einem Käfer das Leben, streichelte zwei Schnecken und schaute zu, wie sich die Spatzen um Futter stritten. Als wir nach Hause kamen, war Mama schon da. Sie wollte meine Hausaufgaben nachschauen.

Ich zog widerwillig meine Hefte aus dem Schulranzen.

»Dann hast du es hinter dir!«

Mit solchen Sprüchen versucht Mama, mir die unangenehmen Dinge des Lebens schmackhaft zu machen.

»Ich will auch die Hausaufgaben von Olga nachschauen!«

Erwartungsvoll setzte sich Juri an den Küchentisch. Er ließ echt nie eine Gelegenheit aus, um an mein Wissen zu kommen.

»I think you are crazy!«

Englisch war meine Geheimwaffe gegen meinen Bruder. Ich konnte es zwar noch nicht so gut, aber es reichte, um ihn zu beeindrucken.

»Mama, ist kräissi ein Schimpfwort?«, fragte er.

»Schon gut. Olga meint es nicht so. Wenn du schön ruhig bist, darfst du hierbleiben«, entschied sie.

Ich fragte mich, woher Mama wusste, wie ich es meine. Konnte sie meine Gedanken lesen?

Es klingelte an der Tür. Mama machte auf. Die Stimme kannte ich. Es war Patzke! Hatte er nicht heute Morgen gesagt, dass er sich »gelegentlich« bei meinen Eltern beschweren wollte? War denn jetzt schon »gelegentlich«? Ich dachte, das wäre nur ein anderes Wort für »irgendwann mal«. Dieses »irgendwann mal« war aber schnell gekommen.

Viel konnte ich nicht verstehen. Erst hörte ich Patzkes donnernde Stimme und anschließend Mamas klägliche Versuche, ihn vom Brüllen zum normal lauten Sprechen zu bewegen. Ich verstand nur Satzfetzen. Von Patzke hörte ich: »Eine Unverschämtheit!«…  »Rotzlöffel«… »zur Polizei gehen«… »Anzeige machen«…

Mama war viel leiser als Patzke. Ich verstand aber doch was: »… mir nicht vorstellen«… »tut mir leid«… und »… in Ordnung bringen …«

Dann fiel die Tür ins Schloss.

Als Mama zurück in die Küche kam, standen ihr die Tränen in den Augen. In der Hand hielt sie ein einmal längs- und einmal quergefaltetes, weißes Blatt Papier.

Wenn ich Mama weinen sehe, krieg ich ganz schnell selbst Augenpfützen.

Ich versuchte, mich zu beherrschen.

Mama setzte sich und starrte auf das Blatt in ihrer Hand. Weil sie zitterte, zitterte das Papier auch.