One Of The Good Ones - Maritza Moulite - E-Book

One Of The Good Ones E-Book

Maritza Moulite

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Beschreibung

"Sie war doch eine von den Guten" Ausgerechnet Kezi! Happis große, hübsche, starke und kluge Schwester ist tot. Kezi hatte sich aktiv auf ihrem Youtube-Kanal für die Rechte Schwarzer Menschen eingesetzt. Und nun wurde sie selbst ein Opfer von Polizeigewalt nach einer Demonstration. Voller Trauer begibt sich Happi zusammen mit Freunden auf eine Reise, die noch von Kezi geplant worden ist. Quer durch die USA folgen sie dem Green Book, einem Reiseführer, der Schwarzen Reisenden während der Zeit der Rassentrennung angab, wo sie unbehelligt tanken, essen oder übernachten konnten. Kezi war eine "von den Guten", sagen die Leute. Aber ist ihr Tod deshalb besonders tragisch? Und was heißt das überhaupt? One Of The Good Ones ist ein spannender Roadtrip durch das alte und neue Amerika und bricht auf unerwartete Weise mit allen unseren Erwartungen. Eine aufregende Reise durch die jüngere Geschichte der USA aus der Perspektive der afroamerikanischen Minderheit und ein begeisterndes Plädoyer für das Empowerment Schwarzer Menschen.

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Inhalt

Teil Eins

Kapitel 1HappiDonnerstag, 26. Juli

Kapitel 2KeziMontag, 16. April

Kapitel 3KeziMontag, 16. April

Kapitel 4ShaqueriaDienstag, 10. April

Kapitel 5HappiDonnerstag, 26. Juli

Kapitel 6KeziMontag, 16. April

Kapitel 7An Malcolm Smith. Kezis Vater. Ein Brief. Geschrieben am Montag, 16. April

Kapitel 8EvelynSonntag, 1. August 1937

Kapitel 9HappiDonnerstag, 26. Juli

Kapitel 10KeziDienstag, 17. April

Kapitel 11ShaqueriaDienstag, 17. April

Kapitel 12HappiDonnerstag, 26. Juli

Kapitel 13KeziDienstag, 17. April

Kapitel 14ShaqueriaDienstag, 17. April

Kapitel 15HappiFreitag, 27. Juli

Kapitel 16KeziDienstag, 17. April

Teil Zwei

Kapitel 17HappiSamstag, der 28. Juli

Kapitel 18HappiSonntag, der 29. Juli

Kapitel 19EvelynSonntag, 1. August 1937

Kapitel 20HappiMontag, 30. Juli

Kapitel 21ShaqueriaDienstag, 17. April

Kapitel 22EvelynMittwoch, 2. Januar 1946

Kapitel 23HappiDienstag, der 31. Juli

Kapitel 24An Naomi Smith, Kezis Mutter. Ein Brief. Geschrieben am Montag, 16. April

Kapitel 25RileySonntag, 4. September 1955

Kapitel 26HappiDienstag, der 31. Juli

Kapitel 27ShaqueriaDienstag, 17. April

Teil drei

Kapitel 28KeziDienstag, 17. April

Kapitel 29HappiMittwoch, der 1. August

Kapitel 30KeziMittwoch, 1. August

Kapitel 31KeziMittwoch, 1. August

Kapitel 32HappiDonnerstag, der 2. August

Kapitel 33HappiFreitag, der 3. August

Kapitel 34HappiSamstag, der 4. August

Kapitel 35KeziMontag, 6. August

Kapitel 36HappiMontag, der 6. August

Kapitel 37KeziMontag, 6. August

Kapitel 38HappiDienstag, der 7. August

Kapitel 39KeziDienstag, 7. August

Kapitel 40HappiDienstag, der 7. August

Epilog

Anmerkung der Autorinnen

Danksagung

Glossar/Anmerkungen der Übersetzerinnen

TEIL EINS

Es wird in naher Zukunft einen Tag geben, an dem dieser Reiseführer nicht mehr nötig ist. Dann werden wir in den Vereinigten Staaten die gleichen Rechte und Privilegien wie alle anderen haben. Der Tag, an dem wir die Herausgabe dieses Buches einstellen können, wird großartig, denn dann können wir hingehen, wohin immer wir wollen und ohne uns schämen zu müssen.

KAPITEL 1

HAPPI

DONNERSTAG, 26.JULI – 3MONATE UND 9 TAGE SEIT DER FESTNAHME CHICAGO, ILLINOIS

Sie gehörte mir, bevor sie irgendjemandem sonst gehörte. Ganz mir. Teilweise mir. Jetzt gehört sie dir und euch und T-Shirts und Demos und Songs und Dokumentationen. Es heißt, sie hätte eine strahlende Zukunft vor sich gehabt und sei ein Stern gewesen, dessen Licht zu früh erlosch. Sie hätte die Welt verändert. Das stimmt alles, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Kezi war mehr als die Summe aus ihrer Intelligenz, ihren Schulnoten und ihrer Stimme. Sie war mehr als ihre Zukunft. Sie hatte eine Vergangenheit. Sie lebte ihre Gegenwart.

Sie hätte mir gehören können.

Mir gehören sollen.

Schließlich war sie meine Schwester, bevor sie eure Märtyrerin wurde.

Selbst wenn ich reglos dasitze wie eine Löwin, die ihre Beute belauert, rase ich innerlich. Mir schwirrt der Kopf von all den Gedanken, die ich nicht ausspreche. Mein Herz pocht unregelmäßig gegen den Brustkorb, immer nur einen Schlag davon entfernt, ihn zu durchstoßen. Ich müsste daran gewöhnt sein. Aber man gewöhnt sich nie daran, dass Fremde einem solidarisch den Arm um die Schultern legen, sich für etwas entschuldigen, wofür sie nichts können. Schon gar nicht, wenn es sich so unwirklich anfühlt, dass Kezi von uns gegangen ist. Wie sollte es auch anders sein, wenn ich nicht einmal die Chance bekam, ein letztes Mal ihr Gesicht zu sehen, bevor sie ihren Leichnam verbrannten und die Asche in die Urne füllten.

Meine Eltern sind bereits in der Aula, sitzen auf ihren Ehrenplätzen in der ersten Reihe. Ich werde mich zu ihnen gesellen, zögere es aber bis zum allerletzten Moment hinaus. Bis es losgeht. Als alles zusammenbrach, trafen wir eine Vereinbarung. Ich werde mitspielen und eine billige Kopie der Tochter sein, die sie verloren haben, eine beständige Erinnerung der Welt daran, dass sie eine von den Guten gewesen ist. Doch bevor die Scheinwerfer uns anstrahlen und die Handys auf unsere tapferen, traurigen Gesichter gerichtet werden, will ich nur ich selbst sein. Die Verlorene Tochter.

Ich spähe auf mein eigenes Handy. Nichts. War ja klar.

Ich sinke auf die harte Bank draußen vor dem Harold Washington Theater, in dem der Ortsverband Chicago der National Alliance for the Progression of Black People seine jährliche Preisverleihung für herausragende Leistungen veranstaltet. Ich versuche zu atmen. Ich möchte nichts und niemandem die Ehre erweisen. Ich will nicht da drin sein. Ich will einfach nur so tun, als sei diese Holzbank eine Wolke und ich ein ganz normales Mädchen, das draußen sitzt und die letzten Sonnenstrahlen am Ende eines ereignislosen Tages genießt. Man nennt es die goldene Stunde. Das hat mir vor ein paar Wochen ein Fotograf erzählt, während ich darauf wartete, dass meine Mutter geschminkt wurde für ein Fotoshooting des Essence Magazine über »Amerikas neue Bürgerrechtler*innen«. Das neue Normal.

Er fummelte an seiner Kamera herum, nahm die riesige Zoomlinse der Canon ab und steckte sie wieder drauf. Und offenkundig gehörte er zu den Menschen, die Stille nicht ertragen können. Manche Leute sehen mich und müssen einfach etwas sagen. Ich kann die Panik in ihren Augen lesen, wenn ihnen die Erkenntnis ins Bewusstsein kriecht. Komm schon, sag etwas Nettes, bloß nichts Dummes. Aber anstelle der üblichen Es-tut-mir-so-leids und Du-bist-so-tapfers plapperte er weiter über die magischen Augenblicke, wenn die Sonne aufgeht und kurz bevor sie untergeht. Im Ernst, das war wie ein Schwall frischer Luft.

»Viel weniger Schatten«, sagte er. »Dann kann sich dein Motiv nirgendwo verstecken.«

»Ich glaube, das hat meine Schwester mal erwähnt«, erwiderte ich. »Sie war YouTuberin.«

Entsetzt riss er die Augen auf. Natürlich.

»Ja, klar! Oh Mann. Es tut mir so –«

»Schon gut.« Ich hatte zu früh gesprochen.

Das war damals. Jetzt frage ich mich gerade, wie lange man wohl draußen sitzen muss, bis die Haut dunkler wird, als ich durch meine geschlossenen Lider spüre, dass sich das Licht verändert. Jemand steht vor mir und verdeckt die Sonne. Mein Herz ist kurz davor, meinen Brustkorb, meine Eingeweide, meine Haut, mein Top zu durchstoßen. Wie eine Kugel, nur größer. Ich reiße die Augen auf und schleudere abwehrend meine Handtasche von mir. Dämlich, dämlich, dämlich. Jeder geistesgestörte Fremde kann dich hier draußen erkennen und –

»Autsch!«

Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Es ist Genny.

»Was machst du denn hier?«, frage ich. Sie ist Systembiologin und wohnt quasi in ihrem Labor. Mom, Dad und ich sind seit ein paar Tagen in Chicago, aber Genny ist in Los Angeles geblieben. Es hat mir nichts ausgemacht.

»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortet sie und reibt sich die Schulter. Mist! Ich hatte auf das Gesicht gezielt. Sie reicht mir meine Handtasche. »Wieso bist du noch nicht drin? Es geht jeden Moment los.«

»Ich wollte einen Augenblick allein sein«, erwidere ich und recke die Arme hoch über den Kopf, ehe mir ein blonder Mann in einem geparkten Wagen auf der anderen Straßenseite auffällt, der mich interessiert beobachtet. Unsere Blicke treffen sich. Er lächelt. Ich runzle die Stirn und beuge mich instinktiv vor. Man ist nie allein.

Piep. Piep. Piep.

»Das ist mein Einsatz.« Ich schalte den Wecker meines Handys aus und stelle es auf lautlos. Nachrichten von Santiago müssen jetzt warten. Als ob er sich melden würde. »Sorry«, murmele ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Hab schon verstanden. Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.«

Wir sind nie auf derselben Wellenlänge. Schon komisch.

Ich zucke mit den Schultern, während ich mich mühsam erhebe, die schwarze Röhrenhose glatt streiche, zu der ich Mom überredet habe, und meine beige, in den Bund gesteckte Rüschenbluse zurechtzupfe.

»Sagtest du nicht, du würdest es nicht schaffen?« Ich werfe Genny aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Sie bewegt einen riesigen Hartschalenkoffer mit Rollen auf dem Bürgersteig vor und zurück. Natürlich ist er in zweckmäßigem Schwarz. Aber erstaunlich groß für eine Nacht. Dabei bin doch angeblich ich die Eitle.

Genny verharrt mitten in der Rollbewegung. »Ich habe ein paar Sachen verschoben … Kezi hat sich ständig darüber ausgelassen, wie wichtig Chicago für die Geschichte der Schwarzen ist. Beim Mittagessen hat sie mir mal erzählt, dass Obama vor seinem Jurastudium hauptsächlich wegen dieses Burschen hierhergezogen ist.« Sie schaut zur Tür des Theaters hinter uns, auf die klobigen Neonbuchstaben, die Harold Washington ergeben, der erste Schwarze Bürgermeister von Chicago.

»Oh. Und ich dachte, es hätte an Michelles Pheromonen gelegen.«

Sie blinzelt.

Beim Mittagessen.

Ich hasse es, wenn sie das tut. Von den schwesterlichen Dingen schwärmt, die sie ohne mich getan haben. Ärger steigt hoch bei dem Gedanken, dass Genny so viele frischere Erinnerungen an unsere mittlere Schwester hat als ich. Obwohl ich nur ein Jahr jünger bin als Kezi, habe ich genau einmal mit ihr zusammen Mittag gegessen, seit ich mit der Highschool anfing. Genny und Kezi trennten gut sieben Jahre und sie haben sich regelmäßig einmal in der Woche getroffen.

Ich hasse mich dafür, dass ich um den Titel wetteifern will, wer Kezi näherstand. Wozu auch? Ich verliere jedes Mal. Und nichts davon bringt sie wieder zurück.

Wir betreten das Theater, und ich bleibe nicht stehen, um auf Genny zu warten, die einen Platzanweiser bittet, ihren Koffer irgendwo sicher zu deponieren. Ich gehe weiter, jogge beinahe, um die Blicke, die mir durch den Mittelgang der Aula nach vorn folgen, verschwimmen zu lassen, zu entmenschlichen. Ich lasse mich auf meinen Platz fallen, ohne die Anmut, die man nach den vielen Jahren Ballett-, Jazz- und Stepptanz-Unterricht erwarten würde. Oder nach siebzehn Jahren als Tochter von Naomi Smith.

»Also los, geben wir ihnen unsere Trauer zum Fraß«, flüstere ich und verschränke die Arme.

»Tz-tz.« Meine Mutter braucht keine richtigen Wörter, damit ich sie verstehe. Schnalzen und Seitenblicke genügen, damit macht sie ihren Standpunkt perfekt deutlich. Reiß dich zusammen. Sie wendet sich ein wenig zur Seite und ergreift die Hand meines Vaters. Die Finger der beiden verschmelzen auf ihrem Schoß zu einem Knäuel. Ich ignoriere das Blitzlicht eines Fotoapparats, der diese ungezwungene, kein bisschen inszenierte Zurschaustellung ihrer mutigen Liebe einfangen will.

Das Licht wird gedimmt, und funkige Soulmusik klimpert los, als Genny auf den freien Platz neben mir gleitet. Sie schaut entschlossen nach vorn und schweigt, aber das Tap-Tap ihres Zeigefingers auf der Armlehne verrät mir, dass sie mir die Meinung geigen möchte, weil ich sie mit dem geschwätzigen Platzanweiser am Eingang zurückgelassen habe. Aber das wird sie nicht tun. Sich in der Öffentlichkeit gut zu benehmen, liegt in ihrer Natur. Im Gegensatz zu mir musste es ihr nicht eingeflößt werden. Noch etwas, das sie und Kezi gemeinsam haben.

Hatten.

»Willkommen, seid willkommen!«

Der Vorsitzende des NAPBP’s Chicago Ortsverbandes bleibt hinter dem Acrylpodium stehen und nickt, während Applaus den Saal erfüllt. Er rückt seine babyblaue Seidenkrawatte zurecht und lächelt so breit, dass seine Mundwinkel praktisch am Hinterkopf zusammentreffen.

»Willkommen zu unserer jährlichen Preisverleihung für herausragende Leistungen. Wir sind ja so gesegnet, jene Menschen, die diese Stadt und unser Land bewegt haben« – er deutet eine Verbeugung in Richtung meiner Familie an – »heute Abend hier begrüßen zu dürfen.«

Applaus.

»Ja, in der Tat. Diese Menschen haben unsere Gemeinden aufgerüttelt und uns viel zum Nachdenken gegeben. Wisst ihr, ich habe nächtelang darüber gegrübelt, wer wir sind.«

Pause.

»Was wir verdienen.«

»Sag es!«, ruft eine Frau von hinten.

»Und was wir nicht länger hinnehmen.«

»Erzähl es ihnen!« Ich drehe mich um und sehe, dass ein Mann in der mittleren Reihe von seinem Platz aufgesprungen ist.

Der Vorsitzende des Ortsverbandes zieht aus den Tiefen der zahlreichen Taschen seines Nadelstreifenanzugs ein Taschentuch und wischt den Schweißfilm von seiner Stirn, der sich dort erstaunlicherweise schon gebildet hat.

»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, das ist wahr. Aber jetzt feiern und würdigen wir das bisher Erreichte.«

Das klingt alles gut. Die Leute sind begeistert. Sogar die zu einem Knoten verschränkten Hände meiner Eltern haben sich entflochten, um diesem Mann begeistert zu seinen Worten zu applaudieren. Aber ich bin immer noch ohne meine Schwester. Ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, was ihr zugestoßen ist. Gerade einmal drei Monate ist es her. Ich weiß nicht, ob ich das je können werde. Wie ein Roboter führe ich meine Hände zusammen, als die Show richtig anfängt, zuerst mit einer ergreifenden Interpretation der Nationalhymne der Schwarzen, bei der alle außer mir zu wissen scheinen, dass es auch noch eine zweite und dritte Strophe gibt.

Die Veranstaltung zieht sich hin. Es werden Gedichte vorgetragen, und Blaskapellen der Highschool und der HBCU treten auf. Urkunden für akademische Leistungen frischgebackener Absolventen werden überreicht. Gennys Hand, deren Finger schon lange aufgehört haben, ärgerlich zu trommeln, bewegt sich Stück für Stück dorthin, wo mein Ellenbogen auf der Lehne zwischen unseren beiden Plätzen ruht, während die Schülerinnen und Schüler auf der Bühne ihre Erfolge bejubeln. Ich ziehe meinen Arm weg. Mitleidig und gleichzeitig verärgert sieht Genny mich an. Es werden noch weitere erwähnenswerte Leistungen hervorgehoben, und dann ist es endlich an der Zeit für den Hauptredner.

»Unser nächster Gast hatte nie vor, berühmt zu werden. Sie hätte nie gedacht, dass sie dazu berufen sein würde, jene Last zu schultern, die sie nun jeden Tag mit sich herumträgt. Sie hat sich nie vorstellen können, jenen Anruf zu erhalten, vor dem sich alle Eltern fürchten, den aber viel zu viele Schwarze Mütter und Väter in diesem Land entgegennehmen müssen.«

Die gerade noch in Feierlaune befindliche Menge beruhigt sich, es herrscht jetzt eine bewegte Stille, jene gespannte Ruhe, die dem Erweisen von Respekt vorbehalten ist. Um zu würdigen, dass nun jemand Bedeutendes sprechen wird. Meine Mutter streicht nervös den Rock über ihrem Schoß glatt, während sie darauf wartet, dass der Vorsitzende seine Einleitung beendet. Sie atmet zitternd aus, und mein Dad drückt behutsam ihr Knie, um ihr Mut zu machen.

»Naomi Smith ist in Los Angeles, Kalifornien, ansässig. Sie und ihr Mann, Malcolm Walker Smith, sind Pastorin und Pastor der Resurrection Baptist Church. Sie ist die Mutter dreier wunderschöner junger Frauen – von denen eine nicht mehr unter uns weilt. Keziah Leah Smith, von ihren Freunden Kezi genannt, starb sinnlos durch die Hände genau jener Menschen, die sie eigentlich schützen sollten. Ihr Tod im April, der auf ihre ungerechtfertigte Festnahme bei einer Demonstration für soziale Gerechtigkeit folgte, hat uns bis in die Tiefen unserer Seelen und darüber hinaus erschüttert. Und dennoch ist Naomi mit solch bewundernswerter Würde und Entschlossenheit aufgestanden, sie spricht für so viele Familien, die gezwungen wurden, diesen gefährlichen Weg zu gehen. Heute erhält sie stellvertretend für Kezi den NAPBP Courage Award.«

Mom steht auf und lässt noch einmal langsam die Luft zwischen ihren Lippen entweichen. Dad schaut mit einem aufmunternden Nicken zu ihr hoch und lächelt. Während sie auf die Bühne geht, beginnt das Publikum zu klatschen. Erst langsam, als fürchteten die Menschen, zu viel Lärm zu machen. Aber schon bald stehen alle und klatschen laut in die Hände, während der Vorsitzende die Arme ausbreitet und Mom umfängt, und zwar im perfekten Winkel für die Kameras. Mom nimmt ihren Platz hinter dem Rednerpult ein und lächelt, bis der Applaus endlich verebbt und sich alle wieder setzen. Als sie sich an das Publikum wendet, ist sie nicht mehr Mom. Sie ist die Familiensprecherin. Die erfahrene öffentliche Rednerin. Die geschliffene Predigerin, die sich an ihre hingebungsvolle Gemeinde wendet. Die Würde und Geschwindigkeit, mit der sie in diese Rolle schlüpft, erklärt sich für manch einen nur als gottgewollt.

»Zunächst möchte ich der NAPBP dafür danken, meine Familie und mich heute hierher eingeladen zu haben. Es ist eine große Ehre, unter einigen der am härtesten arbeitenden Menschen unserer Generation zu sein, und ich nehme diese Auszeichnung anstelle meiner Tochter Kezi demütig in Empfang. Gott, s… sie sollte hier sein.« Mom macht eine Pause, um sich zu räuspern.

»Als Kezi zur Welt kam, lächelte sie mich sofort an. Natürlich war sie zahnlos, schreiend und brüllend wie ein kleiner Tornado. Aber als sie ihre ersten Atemzüge auf dieser Seite der Schöpfung tat, hielt sie lange genug inne, um mich anzulächeln, zu glucksen und mich wissen zu lassen, dass sie ihre Mama erkennt. Das war Kezi. Geradeheraus und bereit, alles lautstark hinauszuschreien, selbst als sie noch nicht über die Wörter verfügte. Aber sie nahm genügend wahr, um zu verstehen, dass ich sie auf diese Welt gebracht hatte.

Wenig überraschend wuchs Kezi zu einer Verteidigerin jener Menschen heran, die nicht für sich selbst eintreten können oder die ignoriert werden, wenn sie es tun. Sie machte es zu ihrer Pflicht, für die Übergangenen aufzustehen und lautstark für sie einzutreten. Als sie mir erzählte, dass sie einen YouTube-Kanal erstellt hat, mit dem sie ihren Teil dazu beitragen wolle, gegen die Ungerechtigkeit in diesem Land zu kämpfen, konnte ich sie nur ansehen und nicken. Und ich bin nicht gerade jemand, der oft sprachlos ist, das versichere ich Ihnen.«

Ich schnaube laut auf meinem Platz, und Genny stößt mich unsanft in die Rippen.

»Kezi sagte jedoch oft Dinge, die mich aus dem Konzept brachten. Einfach so fehlten mir plötzlich die Worte, und ich starrte sie nur bewundernd an. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber auf irgendeiner Website für Gerechtigkeit zu kämpfen, stellte ich mir nicht gerade leicht vor. Doch wenn es jemand schaffte, dann Kezi. Und sie würde es nicht nur tun, sondern damit auch erfolgreich sein. Und das war sie. Sie hatte Tausende Follower, schrieb beeindruckende Kommentare – und einmal bekam sie sogar die Chance, im Fernsehen zu sprechen. Große Organisationen wie die Ihre würdigten ihre Arbeit.«

Mom nickt dem NAPBP-Vorsitzenden kurz zu. Dann ihrem gebannten Publikum.

»Aber Online-Aktivismus genügte Kezi nicht. Es dauerte nicht lange, und sie wollte in der realen Welt etwas tun, durch die Straßen marschieren, Schilder schwenken und schreien, um gehört zu werden. Und das machte mir Angst. Erschütterte mich zutiefst. Jeden Tag sah ich in den Nachrichten, wie jemand von der Polizei niedergeknüppelt oder angeschossen wurde oder Schlimmeres. Das wollte ich nicht für meine Kinder. Nein …«

Wieder macht Mom eine Pause, um sich zu räuspern, und ich sehe, wie Dad sich auf seinem Platz aufrichtet.

»Niemand will das«, flüstert sie. Schweigt. Keiner der Anwesenden im Saal wagt auch nur zu atmen. Ich spähe zu Genny – dieser Teil der Rede ist neu.

»Mein Vater verlor seinen Dad, als er noch klein war. Meinem Großvater widerfuhr nie Gerechtigkeit. Er war nur einer von vielen Schwarzen, der im Jim-Crow-Süden den Geheimnissen der Nacht zum Opfer fiel. Aber wenigstens weilte er lange genug auf dieser Erde, um sich zu verlieben. Eine Familie zu gründen. Sich selbst ein bisschen kennenzulernen. Mei… meiner Tochter war das nicht vergönnt.«

Die vergangenen Monate waren für Mom ein einziger andauernder Auftritt gewesen. Wie in einer Endlosschleife hatte sie immer wieder denselben Text abgespult. Aber das bedeutete lediglich, dass sie großartig war. Du konntest sie fragen, was du wolltest, sie hatte die Antwort parat und wusste, wie die Show endete. Donnernder Applaus. Tränengefüllte Augen. Lautes Schniefen.

Meine Mutter ist die geborene Rednerin, die ein Publikum in den Bann schlägt, es bis vor die Tür unseres Schmerzes und dann wieder hinfortführt, weiter weg von dem, was wir erlebt haben, und näher zum Versprechen der Hoffnung. Bis zu dem Tag, an dem solche Dinge nicht mehr passieren würden. Sie ist verdammt gut darin geworden, für sich persönlich eine Distanz zu diesen Augenblicken aufzubauen. Letztlich spielt sie eine Rolle, ihre echte Trauer liegt zusammengefaltet in einer kleinen Schachtel und wird nur in der Privatheit ihres Zuhauses hervorgeholt. Wird zusammen mit einer Flasche Wein entkorkt. Das bekommen die Menschen nie zu sehen.

Bis heute. Bis zu diesem Moment.

Es ist totenstill im Saal, während meine Mutter trauert. Die sonst so undurchdringliche Barriere zwischen ihrem gebrochenen Herzen und der Öffentlichkeit zerspringt in Millionen Splitter. Ich spüre das Stechen in meinen Augen.

»Mein Baby«, keucht sie. »Kezi.«

Ein Jammerlaut entweicht ihren Lippen, genauso tief und melancholisch wie das Meer. Mir ist plötzlich heiß, das Blut schießt durch meine Adern, aber leider nicht annähernd schnell genug zu meinem Gehirn, als dass es mir sagen könnte, was ich tun soll. Denn irgendetwas muss ich tun. Genny wirkt betroffen, weiß auch nicht, wie sie reagieren soll. Ihre Finger finden das lockere Gummiband, das sie stets am rechten Handgelenk trägt. Sie lässt es fest gegen ihre Haut flitschen. Wieder und wieder. Immer wieder. Röte kriecht ihren Arm hinauf.

Ich frage mich, wie übel zugerichtet Kezi wohl war, als sie starb. Wie lange sie schrie, bevor ihre Kehle brannte und sie nicht mehr konnte. Falls sie überhaupt schrie. Aber ich kann nicht lange darüber nachdenken. Das Grübeln nimmt mich mit dorthin, wo sie in einer Flamme der Qual vergeht, wieder und wieder.

Das Schlimmste, was meiner Familie je passieren konnte, ist eingetreten, vor genau hundert Tagen. Seither hat jeder Tag einen weiteren Backstein auf unsere Rücken geladen, ein weiteres Glied zu der Eisenkette hinzugefügt, die uns durch Blut und Feuer vereint. Politiker machen immer Versprechungen, was sie während der ersten hundert Tage im Amt alles umsetzen wollen. Aber niemand spricht über die ersten hundert Tage nach einem Todesfall. Wie du immer noch damit rechnest, dass deine Schwester jeden Moment ihre Lehrbücher auf den Küchentisch knallt. Wie deine Nase immer noch erwartet, die Avocado-Honig-Haarpackung zu riechen, die sie einwirken ließ, während sie am Wochenende Videos bearbeitete. Ein Schrein. Eine Krypta.

Sie kann nicht tot sein.

Über sie in der Vergangenheitsform zu sprechen, fühlt sich auf meiner Zunge immer noch merkwürdig an.

Und wenn ich einfach die Augen schließe …

Aber wir sind nach wie vor hier.

Mein Dad ist ein muskulöser, schweigsamer Typ. Er hält sich lieber im Hintergrund und lässt meine Mom die gemeinsame Stimme sein. Heute funktioniert das jedoch nicht. Nicht wenn sie vor Hunderten von Menschen steht und jeden Moment zusammenzubrechen droht. Vor Erschöpfung. Vor Verzweiflung. Denn selbst wenn die Welt von nun an perfekt wäre, wenn all ihre Reden und Interviews dafür sorgen würden, dass nicht ein einziger weiterer Tropfen in die Flüsse und Seen des Blutes Unschuldiger fällt, wird Kezi weiterhin tot sein.

Also zieht Dad die Aufmerksamkeit auf sich. Er springt von seinem Stuhl hoch und ruft seiner Frau zu: »Es ist in Ordnung, Mimi.«

Er braucht nicht lange, bis er bei ihr ist, seine kräftigen Arme um ihren zitternden Körper legt. Um den einzigen Menschen in seinem Leben, der weiß, wie es sich anfühlt, wenn ein Teil deines menschlichen Vermächtnisses ausgelöscht wurde. Genny, die Aufmerksamkeit normalerweise scheut, marschiert ebenfalls zielstrebig zur Bühne. Um das Rückgrat ihrer Familie zu verstärken.

Ich weiß, was ich jetzt tun sollte. Ich muss nicht nach rechts oder links oder hinter mich schauen, um zu erkennen, was diese Menschen von mir erwarten: dass ich zu meiner Familie gehe und unseren gemeinsamen Kummer teile. Mithelfe, uns gegenseitig zu stützen. Aber nur eine hauchdünne Wand trennt meine schmerzende Traurigkeit von der Maske der Gefasstheit, die ich trage.

Also kann ich es nicht. Ich kann meinen Beitrag nicht leisten.

Ich stehe ebenfalls auf. Genny schaut mich an. Und als ich meiner ältesten Schwester und meinen Eltern auf der Bühne den Rücken zuwende, mich durch den Gang schleppe, langsam genug, dass jedes entsetzte Gesicht klar und menschlich bleibt, weiß ich, dass mir ihre Blicke folgen.

So bin ich nun mal. Verkrieche mich.

Ich stürme durch die Doppeltür.

Ich laufe weg.

KAPITEL 2

KEZI

MONTAG, 16.APRIL – 1TAG VOR DER FESTNAHME LOS ANGELES, KALIFORNIEN

Ich musste gestorben und in der Hölle gelandet sein.

Ganz sicher.

Warum sonst zwang mich das nervtötende Geplärre meines Weckers aufzuwachen? Um halb sechs. Morgens! Es war Mitte April in meinem letzten Jahr an der Highschool. Ich sollte wie alle Seniors im Abschlussjahr an einer mysteriösen, aber äußerst akuten Unlust erkranken, die nur durch Ausschlafen kuriert werden konnte. Und ich? Lag da und murmelte meinen morgendlichen Countdown vor mich hin.

»Acht … sieben … sechs … fünf … vier … vier … vier … drei … nein, bitte nicht … zwei … EINS!«

Ich riss mir die Decke vom Gesicht und sprang aus dem Bett, bevor meine ultrabequeme Matratze und die flauschigen Kissen mich wieder in ihr warmes Nest zurücklocken konnten.

Bumm, bumm, bumm.

Verständlich. Ich schlurfte hinüber zu der Wand, hinter der das Zimmer meiner jüngeren Schwester Happi lag, und klopfte zweimal. Zwei Silben. Sor-ry. (Dafür, dass ich so laut gezählt und dich aufgeweckt habe, weil ich mich selbst wecken wollte.)

Stille.

Ich zog mir dicke, warme Kniestrümpfe an und tapste zu meinem Schreibtisch hinüber. Am Abend zuvor hatte ich hier noch an meinen Geschichtshausaufgaben gesessen. Ich belegte freiwillig einen Advanced-Placement-Kurs zur US-amerikanischen Geschichte, einen Kurs auf College-Niveau, mit dem ich im besten Fall auch jetzt schon Credit Points fürs College sammeln konnte. Auf dem zugeklappten Laptop lagen fein säuberlich beschriftete Seiten, denn MrBamhauer, mein Lehrer in diesem Kurs – der mich vermutlich genauso an Fräulein Knüppelkuh erinnerte wie ich ihn an die altkluge Matilda –, war ein Fan altmodischer Arbeitsweisen. Er verlangte, dass wir unsere Hausaufgaben handgeschrieben auf liniertem Papier einreichten, und zwar in so großer Schrift, dass er zum Benoten seine Lesebrille nicht aufsetzen musste.

Ich überflog die wichtigsten Punkte zur Afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die mit ziemlicher Sicherheit im Test in weniger als einem Monat abgefragt würden: Brown v.Board of Education of Topeka. Emmett Till. Der Marsch auf Washington. Civil Rights Act von 1964. Voting Rights Act von 1965. Mit jedem Stichpunkt wurde der Wasserhahn in meinem Hirn, der mich mit Fakten füllte, ein wenig weiter aufgedreht. Doch für mich war Brown v.Board of Education nicht nur irgendein Prozess. Dieser Prozess hatte Plessy v.Ferguson entkräftet, das rassistische Gerichtsurteil, das die Ideologie der Rassentrennung legitimiert hatte: »seperate but equal« – »getrennt, aber gleich«. Brown v.Board of Education schlug einen weiteren Nagel in den monströsen Sarg der rassistischen Jim-Crow-Gesetze und ebnete den Weg für die Little Rock Nine. Natürlich konnte MrBamhauer nur das wiedergeben, was in den Geschichtsbüchern stand, aber aus seinem Mund klang immer alles so trocken und gleichgültig. Für ihn waren diese weltverändernden Menschen lediglich Namen und Daten in einem Buch. Mehr nicht. Sie hatten keine Seelen. Oder Träume.

Doch ich dachte bei Brown v.Board of Education sofort an das kleine Mädchen Linda Brown. Ich stellte mir vor, wie die neunjährige Linda sich gefühlt haben musste, als man ihr sagte, sie könne nicht in die Schule ein paar Straßen weiter gehen – die Schule, die alle ihre weißen Freundinnen in der Nachbarschaft besuchten –, und zwar nur wegen ihrer Hautfarbe. Ich spürte ihr Herzklopfen, als ihr zutiefst erschütterter Vater von seinem Gespräch mit dem Schulleiter zurückkam. Ich stellte mir die gedämpften Stimmen von Oliver und Leola Brown vor, die am Küchentisch die Entscheidung trafen, vor Gericht zu ziehen, und genau wussten, was das bedeutete. Und ich dachte an all die anderen Eltern, schon ganz krumm von der Last ihrer Verzweiflung und Angst, aber trotzdem voller Entschlossenheit. Einfache Leute aus Delaware, Washington DC, South Carolina und Virginia, die beschlossen hatten, die Rassentrennung nicht länger zu akzeptieren.

Ich saugte die amerikanische Geschichte auf wie Wasser, in all ihrer problematischen Pracht. Schließlich war es meine Geschichte. Evelyn, die Großmutter meines Vaters, hatte sich im Zuge der Great Migration nach Kalifornien aufgemacht, nachdem ihr Ehemann im Zweiten Weltkrieg im Ausland gefallen war. Er starb für ein Land, das ihm das Recht absprach, es Heimat zu nennen. Joseph, der Großvater meiner Mutter, war sogar in ebendiesem Land ermordet worden, im Süden, wo die rassistischen Jim-Crow-Gesetze am längsten galten. Und das waren nur unsere Familiengeschichten.

Ich war eigentlich keine Frühaufsteherin, aber sobald ich mir mal den Sand aus den Augen gerieben hatte, konnte ich sie nicht mehr schließen. Nicht bei all den Stimmen, die mir ihre Geschichten zuriefen und verlangten, dass man sich an sie erinnerte. Ich musste ihnen einfach zuhören.

Nachdem ich fast eine Stunde gelesen hatte, klingelte mein Wecker erneut und schreckte mich auf. Ich ging wieder hinüber zu der Wand und klopfte eine weitere Silbennachricht: Hap-pi! Auf-wa-chen! Sie stöhnte laut. Ich musste kichern. Happi hasste es noch mehr als ich, früh aufzustehen.

Während ich darauf wartete, dass die Dusche frei wurde, loggte ich mich in den E-Mail-Account ein, den ich für meinen YouTube-Kanal benutzte. Ich meldete die üblichen Spam-Mails, beantwortete kurze Nachrichten von Fans und markierte Einladungen und Anfragen, die ich später bearbeiten wollte.

Doch eine Nachricht erregte meine Aufmerksamkeit.

Oh Kezi, ich habe gestern einen Artikel über parasoziale Beziehungen gelesen. Es ging um diese armseligen Leute, die glauben, mit einem Star befreundet zu sein, weil sie im Internet ein unscharfes Foto von ihrem Baby gesehen haben. Die jedes einzelne Interview nach der Shampoo-Marke durchforsten, um sie dann auch zu benutzen. Als ob sie das den Stars näherbringen würde. Erst habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, aber dann konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Und habe überlegt, ob du mich wohl auch so siehst. Wie irgendeinen Freak aus dem Internet.

Aber dann habe ich mir immer wieder gesagt, sie ist viel zu gut dafür, viel zu klug, sie versteht auf jeden Fall, dass einige ihrer Abonnenten besonderer sind als andere. Und ich bin mehr als ein Abonnent. Ich bin Mitstreiter. Ein Rettungsanker. Wir verstehen einander. Niemand weiß besser als ich, wofür du kämpfst und wie schwer das ist. Trotzdem habe ich die ganze Nacht darüber nachgedacht. Bin fast wahnsinnig geworden. Habe mich immer wieder im Kreis gedreht, bis ich irgendwann über etwas gestolpert bin. Über deine eigenen Worte.

Ich versuchte zu schlucken, doch mein Hals war wie ausgedörrt. Wellen von Übelkeit rollten über mich hinweg, und ich schlang die Arme um meinen Körper, um mich zu beruhigen.

Du sagtest: Wir stehen zusammen. Das weißt du noch, oder? Im Rathaus vor zwei Wochen bei diesem Jugendgremium. Und da hast du diese wundervollen Worte gesagt, wie man selbst im Angesicht der Hoffnungslosigkeit nicht die Hoffnung verliert: »Auch wenn es ganz dunkel ist, wenn du das Gefühl hast, dass du ganz allein bist und niemand an deiner Seite steht, denk immer daran: Ich stehe an deiner Seite. Unsere Gemeinschaft steht an deiner Seite. Du bist alles andere als allein, denn schon vor uns haben Menschen gekämpft, und nach uns werden andere kommen, und viele erheben sich schon jetzt mit dir. Solange wir zueinanderstehen und weiterkämpfen, gibt es Hoffnung.«

Als ich mich an diese Worte erinnerte, kamen mir die Tränen. Heute Abend kann ich beruhigt schlafen, denn ich weiß, dass ich nicht allein bin. Ich habe die Hoffnung nicht verloren. Ich habe dich.

Der Absender war ein mr.no.struggle.no.progress. Der E-Mail war ein Video angehängt, und das Blut rauschte mir in den Ohren, als ich das Gesicht im Thumbnail erkannte: Es war mein eigenes. Mein zitternder Finger bewegte den Cursor auf den Play-Button, und da war ich, bei der Veranstaltung, die der Absender beschrieben hatte. Angeregt sprach ich genau die Worte, die der Fremde so sorgfältig transkribiert hatte. Die Kamera schwenkte langsam durch den Raum, während meine Stimme weiter zu hören war.

Ich erinnerte mich an diese Veranstaltung. Ich war fast zu spät gekommen, weil Happi am selben Tag für ein Shakespearestück am Schultheater vorgesprochen hatte. Das hatte länger gedauert als gedacht, und statt meine Schwester wie geplant nach Hause zu bringen, hatte ich sie mitgeschleppt. Da saß sie, zwischen Derek und Ximena, die ebenfalls zu meiner Unterstützung gekommen waren. Die gewöhnlichen Publikumsgeräusche waren vernehmbar, ein Baby, das glücklich vor sich hin brabbelte, ein Chor aus raschelnden Blättern, ein erkälteter Mann, der mit seinem Niesen hin und wieder meine Stimme übertönte.

Die Kamera schwenkte weiter durch den Raum, und mir fiel eine Gruppe auf, die an der hinteren Wand stand. Für eine Versammlung im Rathaus war der Saal tatsächlich erstaunlich voll gewesen, und ich erinnerte mich, dass viele Leute nur deshalb gekommen waren, weil sie mich von meinem YouTube-Kanal kannten: generationkeZi. Als die Sitzung vertagt wurde, war über die Hälfte des Publikums aufgesprungen und auf mich zugekommen, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Einige waren aber auch ein paar Meter entfernt stehen geblieben und hatten nur zugesehen.

Wer hatte mir diese Nachricht geschickt? Ein Fan, mit dem ich nicht gesprochen hatte? Vielleicht die Person hinter der Kamera? Jemand, der sich besonders angesprochen gefühlt hatte?

Meine Schlafzimmertür öffnete sich leise knarzend, und ich wandte mich ruckartig um. Unbewusst hatte ich nach dem silbernen Play-Button auf meinem Schreibtisch gegriffen, den YouTube mir geschickt hatte, als ich einhunderttausend Abonnenten erreichte. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, die schwere silberne Platte drohend über den Kopf zu heben.

»Bad ist frei«, sagte Happi gähnend. Als ihr Blick auf meine Hände fiel, die sich um meinen YouTube-Award krampften, verengte sie leicht die Augen.

»Danke, ich geh gleich«, antwortete ich ihrem Hinterkopf, denn sie war schon wieder aus dem Zimmer getapst.

Stattdessen umklammerte ich die Plakette noch fester und saß wie eingefroren da.

Schon wieder er.

KAPITEL 3

KEZI

MONTAG, 16.APRIL – 1TAG VOR DER FESTNAHME LOS ANGELES, KALIFORNIEN

Ich schloss die Augen. Ganz ruhig.

Einatmen … drei … zwei … eins.

Luft anhalten … zwei … eins.

Ausatmen … vier … drei … zwei … eins.

Vor Monaten schon hatte Genny mich gezwungen, mir diese Meditations-App herunterzuladen, und jetzt konnte ich die Atemübung wirklich mal gebrauchen. Ich stellte mir vor, wie die Spannung aus meinen Muskeln wich und in der Atmosphäre verschwand, und schließlich lockerten sich auch meine Schultern.

Ich setzte mir die Duschhaube auf und ließ heißes Wasser über meine Gänsehaut laufen.

Entspann dich.

Du bist in Sicherheit. Hier kann dir niemand etwas antun.

Viele Leute kriegen im Internet komische Nachrichten. Und was willst du schon sagen? Dass du E-Mails von einem Fan bekommen hast, der sich wünscht, dich näher kennenzulernen?

Ist es denn so merkwürdig, dass er deine Worte wiederholt? Das war schließlich eine öffentliche Veranstaltung.

Und wem willst du das überhaupt erzählen?

Jedenfalls nicht Mom und Dad. Die drehen dir doch sofort das Internet ab.

Und das alles wegen ein paar E-Mails.

Entspann dich.

»Warum fängst du eigentlich bei acht an?«

Ich lächelte. Klingt vielleicht albern, aber ich freute mich immer, wenn Happi von sich aus ein Gespräch mit mir begann, denn das wurde in letzter Zeit immer seltener. Die Wand, die unsere Zimmer voneinander trennte, war nicht die einzige Wand zwischen uns. Manchmal kam ich mir schon vor wie eine Mutter, die versucht, irgendwie an ihre Tochter heranzukommen, die ihrerseits aber überhaupt keinen Bock auf ihre Eltern hat. Zugegeben, diese Dynamik war definitiv Teil unseres Problems. Wenn es um meine kleine Schwester ging, war ich wohl etwas … überfürsorglich. Ja, das konnte man so sagen.

»Fünf ist zu kurz«, erklärte ich, während ich aus der Auffahrt fuhr. »Das habe ich in meinem ersten Jahr auf der Highschool versucht, und es war jeden Morgen ein Kampf. Im zweiten Jahr habe ich dann bei zehn angefangen, aber das war zu lang. Auf halbem Weg bin ich meistens wieder eingeschlafen. Acht ist genau richtig.«

»Dafür bleibst du jetzt ewig bei vier hängen.«

Ich blinzelte. »Hey, wer ist hier die Expertin?«

Happi verdrehte die Augen und heftete sie dann auf ihren Handybildschirm. Die Nachricht war deutlich: Das war’s erst mal mit diesem Gespräch. Ich wählte meinen morgendlichen Nachrichtenpodcast aus und drehte die Lautstärke hoch. Bis zur Schule würde mich das Geplänkel der Moderatoren hoffentlich ablenken, auch wenn es manchmal ziemlich stumpf war.

»Überall in den USA dauerten heute Nacht Proteste an, nachdem Jamal Coleman, ein unbewaffneter Schwarzer Mann aus Florida, vor den Augen seiner Kinder von der Polizei getötet wurde. Seine Familie hat den Vorfall auf Video …«

»Du musst mich heute nicht mit nach Hause nehmen«, sagte Happi, als wir den Schülerparkplatz erreichten.

»Okay«, antwortete ich. Ich zwang mich, nicht zu fragen, warum nicht. Verzog stattdessen nur meine Lippen zu einem Lächeln, um ihr zu beweisen, wie locker ich mit dieser knappen Bekanntmachung umgehen konnte. Sie starrte mich herausfordernd an, als mache sie sich auf ein Verhör gefasst. Doch als ich weiter schwieg, wurde ihr Blick etwas weicher.

»Danke, Kez.«

Ich trat auf die Bremse, und sofort sprang sie aus dem Auto.

Ich schaltete den Nicht-stören-Modus an meinem Handy aus und sah meine neuen Nachrichten durch. Ximenas Name erschien, und dieses Mal lächelte ich wirklich.

Guten Morgen!

Arbeite an meinem Spiel im Computerraum.

*Dem menschenleeren Computerraum

Ich schnappte mir meine Tasche und lief über die ausgedehnte Rasenfläche der Thomas Edison Senior High, nickte dem Bibelklub zu, der sich an der Fahnenstange zum Beten versammelt hatte, und winkte den Skateboardern, die auf ihrer selbst gebastelten Rampe Tricks übten. Ich war nicht so populär wie die Figuren in den High-school-Filmen der frühen 2000er. Ich schmiss keine wilden Saufpartys im Haus meiner Eltern und pflegte keine albernen Feindschaften mit hübscheren oder klügeren Konkurrentinnen. Kein mysteriöser, allwissender Blogger trat im Internet meine dunkelsten Geheimnisse breit. Aber ich war Schulsprecherin, höchstwahrscheinlich auch Jahrgangsbeste und außerdem die ältere Schwester eines der größten Stars der Theater-AG, sodass sehr viele meiner Mitschüler mich in den letzten vier Jahren auf die eine oder andere Weise kennengelernt hatten.

Früher schämte ich mich ein bisschen dafür, wie wichtig mir die Schule war und wie sehr ich mich für meine ausgezeichneten Noten abrackerte, während es bei anderen aussah, als würde ihnen ihr guter Notendurchschnitt einfach zufliegen. Ständig fragte ich mich, ob ich mich auch genug anstrengte, um auf ein gutes College gehen zu können, wo ich doch keine nennenswerten Beziehungen hatte. Doch eines Tages hatte ich eine kleine Erleuchtung: Wenn ich schon diese Unsicherheit mit mir herumtrug, weil ich in allem immer 100 Prozent geben wollte, warum dann nicht als Krönchen auf meinem Kopf? »Hab Angst und mach es trotzdem« oder so.

Die meisten Schüler standen noch draußen herum, möglichst weit entfernt von den Klassenräumen, in denen sie die nächsten Stunden festsitzen würden, doch ich zog voller Vorfreude die Tür auf und lief den Flur entlang. Der Weg zum Computerraum war völlig leer, und auf den ersten Blick schien auch der Raum selbst leer zu sein. Ich ging längs der Tischreihen mit den großen Bildschirmen darauf bis zur sechsten und letzten Reihe hinten an der Wand. Ximena Levinson saß an einem der Computer, tippte auf der Tastatur herum und summte geistesabwesend vor sich hin. Ich betrachtete ihre leicht ausgebeulte dunkle Jeans, die kurzärmlige, schneeweiße Bluse und die rot-weiß-schwarzen Adidas NMDs. Mein Herz flatterte.

Ich ging die letzten paar Schritte zu ihr. »Hey.«

»Hey«, gab sie zurück, und ihr üblicher, neutraler Gesichtsausdruck wich einem strahlenden Lächeln.

»Hey.« Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und setzte mich auf den Stuhl neben ihr. Sie beugte sich zu mir herüber, und ich legte ihr die Hände an die Schultern. Mein Blick ruhte auf ihrem Gesicht und ihrem Lächeln, nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt.

»Hey«, flüsterte sie und kam noch ein wenig näher.

Mit diesem Spiel hatten wir angefangen, als wir uns im Matheunterricht durch die Analysis-Lektion schleppten. Finde die Asymptote. Nur dass wir die Linien auf dem Graphen waren, die sich endlos annäherten, etwas näher, noch etwas näher, ohne sich jemals zu berühren. Ich beugte mich noch ein Stückchen vor, bewunderte ihre langen Wimpern, die glatte Stirn, die sommersprossige Nase, ihr Kinn, ihre Lippen.

Diese Lippen.

Da verliert man doch gern.

Als ich ihre Lippen sanft mit meinen streifte, spürte ich ihre Finger in den gekräuselten Härchen hinten in meinem Nacken, die so viel feiner waren als die restlichen ZigZag-Locken auf meinem Kopf. Ich zog sie an mich heran.

Lautes Gelächter, müde Stimmen und aufgekratztes Gekreische hallten durch die Flure und wurden zu laut, als dass ich sie hätte ignorieren können. Hastig löste ich mich von Ximena und warf einen verstohlenen Blick zur Glastür, um sicherzugehen, dass wir gut versteckt und außer Sicht waren. Ximenas Lächeln ermattete. Genau wie Happi war Ximena eigentlich immer voller Selbstvertrauen und sprach ganz direkt aus, was sie dachte. Sie war außerdem die coolste Person, die ich kannte. Wenn sie den Schulkorridor entlangging, drehten sich sämtliche Köpfe nach ihr um, denn ihre I-don’t-give-a-single-f*uck-Aura war geradezu magnetisch. Sie verströmte die Selbstsicherheit eines Menschen, der sich null für die Meinung anderer Leute interessierte. Die Jungs beneideten sie um ihre erstaunliche Sneaker-Sammlung und ihren makellosen Undercut. Die Mädchen beneideten sie um ihre ausdrucksstarken, großen braunen Augen und feinen Gesichtszüge. Und so wie Ximena sich bewegte, war allen klar, dass sie sich der neidischen Blicke durchaus bewusst war.

Aber ich schaffte es leider immer wieder. Hatte ihr schon wieder Selbstzweifel eingepflanzt.

Dabei kam die wahrste Keziah Leah Smith nur bei Ximena zum Vorschein. Wir hatten nie dramatisch »Ich liebe dich« gesagt, und bisher war es mir einfach nicht gelungen, all die Gefühle, die ich für sie empfand, in Worte zu fassen. Auch war mir noch kein Wort für dieses unerträglich flaue Gefühl eingefallen, das sich in meinem Bauch ausbreitete, wenn ich mir vorstellte, was für Gesichter Mom und Dad machen würden, wenn ich ihnen erzählte, dass ich mich in meine beste Freundin verliebt hatte. Und dass sie meine Freundin war. Mein Kopf wusste natürlich, dass es nicht meine Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass meine Eltern (beide Pastoren) mich liebten – und zwar so, wie ich nun einmal war. Mein Kopf wusste, dass ich mir keine Gedanken darüber machen sollte, was die Kirchengemeinde meiner Eltern von mir hielt. Aber ich war noch nicht bereit für diese Konfrontation. Würden sie mit mir beten wollen? Würden sie mit voller Überzeugung, aber kaltem Herzen sagen, dass sie, genau wie Gott, die »Sünderin« zwar liebten, aber meine »Sünde« verurteilten? In ihren Augen wäre ich nicht mehr eine von den Heiligen, eine von den Guten. Und dafür war ich einfach noch nicht bereit.

Jede Woche sprach ich auf meinem YouTube-Kanal davon, dass die Welt mehr Akzeptanz brauchte. Echte Inklusion. Toleranz allein reichte nicht mehr, denn die half niemandem dabei, sein wahres Selbst ganz und gar anzunehmen. Sie vermittelte nur, dass unsere Unterschiede kein Problem waren, solange sie nicht offensichtlich zur Schau getragen wurden. Solange sie irgendwo versteckt blieben und niemals außerhalb der zugehörigen Gruppe offen und ohne die Bitte um Verzeihung ausgelebt wurden.

Sich nicht mehr zu verstellen, ganz gleich, wo auf der Welt man lebt und wen man liebt – das ist viel mehr als ein rebellischer Akt. Es ist ein Akt der Selbstliebe. Man braucht Mut, um aus dem Schatten zu treten und sein Leben laut in die Welt hinauszuschreien, und zwar nicht, damit die anderen dich sehen, sondern vor allem du selbst – komme, was da wolle.

Und leider hatte ich diesen Punkt noch nicht erreicht.

Ximena wandte sich schweigend von mir ab.

Ich öffnete den Mund, um … tja, ich wusste auch nicht so recht, was ich sagen konnte, was sie nicht schon einmal von mir gehört hatte.

Du bist eine Frau, für die man kämpfen will.

Du bist eine Frau, mit der man Seite an Seite kämpfen will.

Ximena steckte die Hand in die Vordertasche ihres Rucksacks und zog ein altes, ziemlich mitgenommenes Taschenbuch heraus. Dem Buchdeckel fehlte die obere Ecke, als ob jemand in das verblichene Cover gebissen hätte. »Meine Abuelita sagt, das müsste dir bei deinem Aufsatz in Sozialgeografie helfen. Das hat sie damals selbst benutzt.«

Vorsichtig nahm ich Ximena das Buch aus der Hand. The Negro Motorist Green Book – Das Green-Buch für Schwarze Autofahrer. »Wow«, hauchte ich. »Ich halte eine richtige Momentaufnahme in meinen Händen. Ich finde es immer wieder krass, wenn ich so ein Buch anfassen darf.«

»Du bist so ein Nerd.« Ein winziges Lächeln stahl sich zurück auf Ximenas Gesicht. »Aber du hast echt ’ne Menge Recherche betrieben.«

»Ich kann’s gar nicht erwarten, dir das alles zu zeigen.« Mein Gesicht und mein Herz wurden warm. »Du glaubst nicht, was ich im Internet alles gefunden habe, vor allem über die Datenbank der New York Public Library. Und mein Vater hat mich ja tatsächlich auch mal ein paar Sekunden in seine Ausgabe schauen lassen. Aber dieses Erbstück lässt er mich nicht mit aus dem Haus nehmen. Ich habe zu ihm gesagt, wenn das Buch den tödlichsten Krieg aller Zeiten überleben konnte, dann sollte es wohl kein Problem damit haben, wenn ich hin und wieder mal meine Nase in die Seiten stecke, aber er hat sich aufgeführt, als hätte ich gedroht, es auf den Scheiterhaufen zu werfen. Sag deiner Oma noch mal Danke von mir.«

»Sie meinte, dass sie nur die Freundlichkeit weitergibt, die man ihr selbst erwiesen hat, als sie damals in den USA ankam«, antwortete Ximena. »Und dann sagte sie, ich solle verschwinden, damit sie ihre Novela schauen kann.«

Daher hatte Ximena wohl ihre Bissigkeit.

»Tja, Omas halt«, erwiderte ich und biss mir etwas unschlüssig auf die Unterlippe. »Ähm … Ich habe heute Morgen eine komische Nachricht bekommen.«

Ximena richtete sich auf.

»Was heißt ›komisch‹? Von wem?«

Ich zeigte ihr die E-Mail und beobachtete, wie erst Verwirrung, dann Besorgnis auf ihr Gesicht traten.

»Wer ist das?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe schon mal eine Nachricht von diesem Absender bekommen, aber mir nichts dabei gedacht. Ich weiß ja, sobald man in der Öffentlichkeit steht, kommen die Psychos aus ihren Ecken gekrochen, aber irgendwie hat mich diese Nachricht echt beunruhigt.«

»Hast du sie deinen Eltern gezeigt?«

Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Okay, blöde Frage, aber willst du irgendetwas tun? Vielleicht zur Polizei gehen?«

»Die würden mich doch nur auslachen. Es ist schon in Ordnung«, sagte ich bestimmt. »Ich wollte es dir nur erzählen, weil ich deshalb etwas aufgewühlt war, aber jetzt ist alles okay.«

Ximena öffnete den Mund.

»Wie läuft’s mit dem Spiel?«, fragte ich schnell. Sie hatte einen Platz an der New York University und würde Game-Design studieren. Im März hatten wir zusammen die Benachrichtigungen der Colleges geöffnet, für die wir uns beworben hatten. Und dann feierten wir auch zusammen, da wir beide an unserem Wunschcollege angenommen worden waren. Wischten uns gegenseitig Tränen der Erleichterung von den Wangen, weil sich all die harte Arbeit endlich ausgezahlt hatte.

Ich sprach nie an, was aus uns beiden werden würde, wenn Ximena in New York war und ich weiterhin in Kalifornien, wo ich an der UC Berkeley African American Studies und Geschichte studieren würde. Auch Ximena erwähnte dieses Thema nie.

Sie sah mich einen Moment lang an. »Ziemlich gut«, sagte sie schließlich, schloss dann alle Programme und fuhr den Computer herunter.

Ximena würde in New York nicht lange allein bleiben, und sie würde sich nicht mehr verstecken müssen, da war ich mir sicher. Sie würde mich zurücklassen, genau wie die drei Stunden Zeitunterschied und die Tausenden von Meilen, die dann zwischen uns lägen.

»Sehen wir uns morgen bei der Demo?«, fragte sie.

Ach ja. Die Demo. Ich wollte auf jeden Fall hingehen, aber ich hatte es meinen Eltern noch nicht gesagt. Sie würden ein Theater veranstalten. Als Ximena und ich davon hörten, dass PoCs – Uniting for Justice einen Protestmarsch plante, waren wir sofort Feuer und Flamme gewesen. Wir wollten auch unseren besten Freund Derek Williams überreden mitzukommen, doch er sagte so etwas wie: »Auf keinsten! Ich lass mich doch nicht zur Straßenstatistik zusammenschlagen.« Er klang schon wie meine Eltern.

»Ja klar, ich bin dabei«, sagte ich.

»Gut, ähm … Ich habe jetzt Programmieren.«

Ich nickte, während sie ihre Sachen in den Rucksack packte.

Sie stand auf und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

»Es tut mir leid. Ich glaube, ich liebe dich«, flüsterte ich, probierte ein bisschen zu spät aus, wie die Worte sich auf meiner Zunge anfühlten. Irgendwann würde ich es ihr mit Stolz sagen können. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an dem guten alten Tom Cruise nehmen, eine große romantische Geste planen, auf einen Tisch springen und vor der ganzen Schule meine Liebe bekunden. Aber als es klingelte, saß ich noch immer allein im Computerraum und starrte mit leerem Blick auf den schwarzen Bildschirm.

Ich musste es einsehen: nicht heute.

Ich steckte das kleine grüne Buch, das Ximena mir gegeben hatte, in den Rucksack und musste feststellen, dass die Hausaufgaben für meine erste Stunde nicht da waren. Ich stöhnte auf, rannte aus dem Computerraum und den Flur entlang, schlängelte mich zwischen den anderen Schülerinnen und Schülern hindurch, die jetzt wie eine Horde Nashörner durch die Korridore stampften, stieß die Eingangstür auf und erreichte schließlich mein Auto. Ich spähte durch die Fensterscheibe und seufzte erleichtert. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz lagen mehrere lose Seiten. Danke, Happi. Sie musste sie bemerkt haben, hatte es aber wohl vorgezogen, mich nicht darauf hinzuweisen. Ich öffnete die Tür, grabschte nach den Blättern, knallte die Tür wieder zu und hastete zurück in die Schule.

»Halt, ich komme!«

Meine Hausaufgaben fest umklammert, stürmte ich auf die Klassenzimmertür zu, gerade als es zum letzten Mal läutete.

MrBamhauer, der bereits die Tür schließen wollte, setzte ein nachsichtiges Lächeln auf, ließ mich hinein, deutete dann aber sofort mit dramatischer Geste auf meinen Platz. »Sie kennen die Regel, Madam Schulsprecherin.«

Ich unterdrückte ein Schnauben und stellte mich hinter meinen Tisch in der ersten Reihe. In Ermangelung einer überzeugenden Persönlichkeit griff MrBamhauer häufig auf diese Art von Machtdemonstration zurück. Wenn man sie eine nach der anderen abgeschält hätte, wäre wahrscheinlich nur ein kleiner Gnom zum Vorschein gekommen, der unter diesen Schichten seine Unsicherheit versteckte.

Auf dem Platz neben meinem machte Bing Mathis eine kurze Kopfbewegung, und ich folgte seinem Blick zu Mr Bamhauers Lehrerpult, wo bereits der Stapel mit den eingesammelten Hausaufgaben lag. Schnell legte ich meine obendrauf und nickte Bing dankend zu. Bing war letzte Woche selbst zu spät gekommen, weil sein Schulbus liegen geblieben war. Er hatte auf einen anderen Bus warten müssen, und als er endlich den Klassenraum betrat und erklärte, warum er zu spät war, hatte MrBamhauer nur genickt und gesagt: »Sie kennen doch die Regel, MrMathis.«

»Und nun, da wir endlich vollzählig sind …«, begann MrBamhauer, und der Lärm im Raum erstarb sofort, »machen wir dort weiter, wo wir letztes Mal aufgehört haben: bei der Bürgerrechtsbewegung.«

Ich nahm mein Handy aus der Tasche und öffnete den Rekorder, um die Stunde aufzunehmen. So konnte ich mir später noch einmal alles anhören, falls ich jetzt irgendetwas verpasste. MrBamhauer fand das super, denn er hasste es, sich wiederholen zu müssen. Er ging mit verschränkten Armen zwischen den Reihen auf und ab.

»Wie Sie wissen, kann man die Bürgerrechtsbewegung nicht auf eine bestimmte Zeitspanne festlegen. Für gewöhnlich rechnet man von 1946, als viele Schwarze Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrten, bis 1968, als der Fair Housing Act unterzeichnet wurde und Dr. Martin Luther King starb. In dieser Periode traten viele Afroamerikaner für Gleichberechtigung vor dem Gesetz ein, ein Kampf, den sie seit der Abschaffung der Sklaverei 1865 geführt hatten.«

Er hielt inne. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Worauf wollte er hinaus?

»Doch während einige Afroamerikaner für diese Rechte kämpften, erinnerten sich andere an eine einfachere Zeit. Tatsächlich gab es welche, die gar nicht hatten frei sein wollen, als die Sklaverei endete. In der Library of Congress gibt es eine faszinierende Aufnahme einer Frau aus Alabama, die noch in die Sklaverei hineingeboren wurde und sich daran erinnert, wie gutherzig ihr Master war.«

Ich holte hörbar Luft, und alle Blicke landeten auf mir.

»Ja? Wollten Sie etwas sagen, Madam Schulsprecherin?«, fragte MrBamhauer.

»Äh. Ja!«

»Nun dann, bitte sehr«, stieß er hervor.

»Selbst wenn diese eine Frau es so empfunden hat – ich glaube nicht, dass man das allgemein auf ehemals versklavte Menschen übertragen sollte. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass man den Menschen zwar ihre Freiheit gewährte, ihnen jedoch keinerlei Werkzeuge und Mittel in die Hand legte, mit denen sie sich ein Leben nach der Knechtschaft aufbauen konnten. Da liegt es nahe, dass man sich nach dem zurücksehnt, was man kennt. Aber dass sich eine Person nach einem System zurücksehnt, in dem sie nicht als Mensch, sondern als Besitz galt, gnadenlos ausgepeitscht und aus den Armen ihrer Familie gerissen wurde? Das sind Zeichen eines Traumas. Welche Eigenschaften dieser Gesellschaftsordnung, der Versklavung von Menschen afrikanischer Abstammung, gleichen Ihrer Meinung nach diese systematische Entwürdigung aus?«

»Kein Grund, so geschwollen daherzureden, Madam Schulsprecherin«, entgegnete er. »Aber gut, ich beiße mal an. Vielleicht ist ›ausgleichen‹ hier nicht das richtige Wort. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Sklaven nicht rund um die Uhr arbeiteten. Sie bekamen sogar Weihnachten frei. Und die Frau, von der ich sprach, erhielt alles, was sie zum Leben brauchte. Vor allem Lebensmittel – Geflügel, Früchte, Gemüse, Milch …«

Meine Augen wurden immer größer, doch MrBamhauer achtete nicht auf mich.

»Außerdem lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Ratifizierung des Dreizehnten Zusatzartikels weitreichende Folgen für die Südstaaten hatte. Ihre Wirtschaft brach komplett zusammen.«

Ich musste mir fest auf die Zunge beißen, um MrBamhauer nicht entgegenzubrüllen, dass er überhaupt keine Ahnung hatte. Dass dieser Teil der Geschichte, den er so leichtfertig herunterratterte, mehr war als schwarze Worte auf weißem Papier, die mit grauem Bleistift unterstrichen wurden. Dass die grünen Geldscheine dieser Südstaaten etwas viel, viel Größeres verhüllten: nämlich rotes Blut auf brauner Erde, getränkt von den Tränen Schwarzer Familien, die in jeder neuen Generation auseinandergerissen wurden.

Wie konnte man so einen Mann auf die zukünftigen Anführer (und Bürger) Amerikas loslassen? Klar sollte man alles kritisch hinterfragen, aber doch nicht die Abschaffung der Sklaverei! Nun, ich durfte nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht jetzt. MrBamhauer ließ Unterbrechungen durch Schülerinnen und Schüler eigentlich nur dann zu, wenn es um Leben und Tod ging, und er würde mich sofort vor die Tür setzen, wenn ich jetzt nicht still war. Also biss ich mir weiter auf die Zunge, und ich zuckte nicht einmal zusammen, als ich Blut schmeckte. Bald ging MrBamhauer zu den Gerichtsverhandlungen über, die ich mir am Morgen noch einmal angesehen hatte, und als er bei den friedlichen Protesten angelangt war, durfte ich mich endlich hinsetzen. Als ob nichts passiert wäre.