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Die Sommerferien haben begonnen: In einem beschaulichen Ferienort am Meer bauen Isabel und ihre Schwester Meg mit den Kindern Sandburgen, streiten sich um Liegestühle und essen Eis in der Sonne. Doch dann legt sich ein Schatten über die Idylle: Isabels und Megs ältere Halbschwester Mildred, notorisch neurotisch und wieder einmal in einer Krise, ist in ein nahe gelegenes Cottage zurückgekehrt. Als die Schwestern an diesem Ort zusammenkommen, erinnern sie unweigerlich ein prägendes Ereignis, das sich den Weg in die Gegenwart zu bahnen droht: Vor ziemlich genau 15 Jahren wurde Mildreds Ex-Mann, der sagenumwobene Onkel Paul, wegen versuchten Mordes an seiner ersten Frau verhaftet. Kehrt Paul nun nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zurück, um sich an denen zu rächen, die ihn einst verraten haben? Oder lassen sich die drei von ihren Nerven übermannen? War da nicht ein Klopfen zu hören? Und wem, um Himmels willen, gehören diese Fußspuren? Meisterhaft erschafft Celia Fremlin in diesem Spannungsklassiker eine Atmosphäre, die auch im Sommer für Gänsehautmomente sorgt.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eigentlich wollte Meg die Ferien nicht mit ihrer Schwester Isabel und deren Kindern in einem Wohnwagen verbringen. Doch ein dringliches Telegramm veranlasst sie, trotzdem zu ihnen ans Meer zu fahren. Schnell wird klar, dass Isabels Umtriebigkeit nicht von zu viel Sonne und Eiscreme kommt, sondern von ihrer Halbschwester Mildred, die spontan in ein nahe gelegenes Cottage gezogen ist. Dort hört Mildred Schritte und ist sich sicher: Das kann nur ihr Ex-Mann sein, der legendäre Onkel Paul, der vor vielen Jahren wegen versuchten Mordes an seiner ersten Frau verhaftet wurde. Kehrt er nach seiner Entlassung zurück, um sich an denen zu rächen, die ihn einst verraten haben? Celia Fremlin beweist einmal mehr: Sie ist die Meisterin der subtilen Spannung.
Celia Fremlin (1914 bis 2009) wurde in Kent geboren. Sie studierte an der Universität Oxford klassische Philologie und Philosophie und schrieb im Laufe von vier Jahrzehnten sechzehn gefeierte Romane, einen Gedichtband und drei Geschichtensammlungen.
Karl-Heinz Ebnet arbeitet seit mehr als 25Jahren als literarischer Übersetzer. Er übertrug u.
Celia Fremlin
ONKELPAUL
Roman
Aus dem Englischenvon Karl-Heinz Ebnet
Von Celia Fremlin ist bei DuMont außerdem erschienen:
Der lange Schatten
Die englische Originalausgabe erschien 1959 unter dem Titel ›Uncle Paul‹ bei Gollancz, London.
© The Estate of Celia Fremlin, 1974
All rights reserved.
E-Book 2025
© 2025 für die deutsche Ausgabe:
DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG
Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Fagott, Ffm
Umschlagabbildung: © Stefanie Naumann unter Verwendung von Freepik AI Suite
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1081-0
www.dumont-buchverlag.de
1
Nur selten nimmt sich eine Katastrophe schon ganz am Anfang als eine Katastrophe aus. Fast immer ist sie in den frühen Stadien eher ein Ärgernis; eine dieser lästigen Störungen, die so missliebig auftauchen, gerade wenn das Leben reibungslos und angenehm verläuft.
Im Nachhinein konnte Meg sich nicht sicher sein, ob Isabels Telegramm dieses Gefühl bei ihr ausgelöst hatte. Die Erinnerung ist eine trügerische Sache. Es ist leicht, sich später, wenn die Angst zur Gewissheit geworden ist, einzubilden, dass da eine Ahnung gewesen war. Dass sie den ganzen verregneten Sommertag, während die Schreibmaschinen surrten und klackten und die Stapel der Abschriften und Aktenausfertigungen unter dem fahlen Licht in die Höhe wuchsen, gewusst hatte, dass bei ihrer Rückkehr in die Wohnung eine solche Nachricht auf sie warten würde. Dass ein Telegramm quer in der Briefablage gleich hinter der düsteren Eingangstür steckte; dass es von Isabel stammte und dass die Probleme diesmal echt waren.
Oder war ihr das Ganze doch bloß als ein Ärgernis erschienen? Als sie sah, von wem das Telegramm war, selbst als sie die Nachricht las, hatte sie da immer noch gedacht, das alles wäre wieder mal typisch Isabel – viel Aufhebens um nichts? Isabel war eine Bedenkenträgerin, war sie immer schon gewesen; und seitdem sie zum zweiten Mal geheiratet und mit dem Stiefvater für ihre beiden Jungs einen neuen Haushalt eingerichtet hatte, war es schlimmer denn je zuvor. Jetzt vermittelte sie immer einen angespannten Eindruck; etwas Verkniffenes lag um ihren schmalen, gespitzten Mund, was Meg vorher nie aufgefallen war.
Nun ja, das stimmte nicht ganz. Natürlich kannte Meg diesen Gesichtsausdruck, schon von klein auf. Eine Schwester kann dich niemals mit einer neuen Miene überraschen. Nur war der Ausdruck, der früher ausschließlich zu unglücklichen Anlässen über ihr Gesicht huschte, jetzt häufiger zu sehen und zur Gewohnheit geworden; während andere, die früher für gewöhnlich da waren, nur noch gelegentlich aufblitzten, in Augenblicken der Unbeschwertheit und flüchtigen Heiterkeit.
Hoch oben im grauen Londoner Mietshaus betrachtete Meg erneut das Telegramm. In den letzten Minuten war es ihr vertraut, war es zu einem Teil ihrer Umgebung geworden. Die Falten und Knicke, die es auf seinem Weg in und aus ihrer Tasche bekommen hatte, schienen es mehr und mehr zu einem Teil von ihr selbst zu machen und erschwerten es zunehmend, seinen Inhalt zu beschönigen oder zu ignorieren.
Mildred braucht Hilfe. Bitte komm.
Isabel.
Schon da wusste Meg, dass sie fahren würde. Auch wenn es wieder nur um eine Nichtigkeit ging, sie würde fahren. Sie war immer gefahren, wenn Isabel Probleme hatte, vor allem, wenn die Probleme mit Mildred zu tun hatten. Um Mildred mussten sie und Isabel sich zusammen kümmern; so war es immer schon gewesen, auch als sie noch Kinder gewesen waren und Mildred sich eigentlich um sie hätte kümmern sollen …
Aber Meg wollte jetzt nicht an ihre Kindheit denken. Diese Gedanken würden unweigerlich zu dem Teil ihrer Kindheit führen, von dem in Mildreds Anwesenheit nicht gesprochen werden durfte. Obwohl es schon so lange her war, konnte jede Erinnerung an diese Wochen Mildred in einen Zustand hysterischen Selbstmitleids stürzen, wonach es Tage dauern würde, bis sie sich wieder beruhigt hatte. War man mit Mildreds Problemen beschäftigt, war es besser, an jene Zeiten noch nicht einmal zu denken. Es war immer besser, nur an das zu denken, was gerade anstand – an die praktischen Dinge.
Wie zum Beispiel die Zugverbindungen nach – wie hieß der Ort? – Southcliffe. Nach Southcliffe waren Isabel und Philip mit den Kindern gefahren, um dort gemeinsam den Urlaub zu verbringen. Vielleicht, grübelte Meg, während sie die Spalten mit den winzigen, eng gedruckten Ziffern überflog, vielleicht würden diese Ferien Isabel guttun – würden ihrem Mund wieder etwas Weiches verleihen, die feinen, zuckenden Falten zwischen den Augenbrauen glätten. Aber was blieb ihr von den Ferien, wenn sie mit zwei kleinen Jungen und einem peniblen und keinesfalls jugendlichen Mann, der sich noch immer nicht an die Kinder gewöhnt hatte, in einem Wohnwagen hausen musste …
Southcliffe. Anscheinend nur eine Fahrt von zwei Stunden. Sie könnte morgen nach der Arbeit aufbrechen – vielleicht sogar am Mittag –, und wenn sich herausstellte, dass es sich nur um eine Nichtigkeit handelte, könnte sie am Sonntag zurück sein, um wie vereinbart mit Freddy auszugehen.
Natürlich musste sie Freddy anrufen, um ihn vorzuwarnen, dass sie vielleicht nicht da sein würde, damit er nicht wartete, falls sie nicht auftauchte. Nicht dass es ihm in den Sinn käme, auf sie zu warten. Freddy schien nicht zu den Männern zu gehören, die auf jemanden warteten. Aber vielleicht gab es ja eine junge Frau, die ganz anders war als Meg, eine Frau, auf die er warten würde – und für die er vielleicht sogar selbst pünktlich wäre?
Wie dem auch sei, es wäre jedenfalls höflich, ihn anzurufen. Und wenn sie ihn am Telefon hatte, könnte sie ihn vielleicht auch gleich bei der Sache um Rat fragen. Ihm von Isabel erzählen, von Mildred. Seinen Rat einholen zu der Fahrt nach Southcliffe.
Meg sah hinaus über die Dächer in das verregnete, dämmrige Sommerlicht und dachte an Freddy und daran, ihn um Rat zu fragen. Daran, seine Nummer zu wählen und sekundenlang zu warten, bis er träge vom Diwan glitt und durchs Zimmer zum Telefon schlenderte; und dann würde sie seine Stimme hören, seine weiche, trügerisch vertrauliche Stimme, die etwas Unwirsches von sich gab.
Vielleicht hob er auch gar nicht ab. Es musste mittlerweile fast neun sein. Es war jetzt nicht die Zeit, die subtile Balance zwischen Freude und Peinlichkeit abzuwägen, die einen solchen Anruf begleiteten. Meg wühlte nach vier Pennys in den Tiefen ihrer Tasche und rannte die langen Treppenfluchten hinunter zum Telefon im Eingangsbereich.
»Oh … Freddy! Du bist also doch da. Hör zu. Es geht um nächsten Sonntag. Und ich brauche deinen Rat, es ist sehr … was? Oh! Tut mir leid … hier ist Meg, ich meine …«
Wie er es immer wieder schaffte, dass sie sich albern vorkam – und dann, nur eine Sekunde später, sie so für sich einnahm, dass sie ihm alles sofort verzieh! Schon jetzt hatte seine Stimme dieses Sanfte, Verlockende – das sie nicht weniger faszinierend fand, obwohl es mit ziemlicher Sicherheit aufgesetzt war –, und schon jetzt sah sie das halb spöttische, halb liebevolle Lächeln vor sich, das seinen Mund umspielte. Ebenfalls sah sie vor sich, wie sich in diesem Moment seine langen Musikerfinger in der für sie einzig möglichen, der bequemsten Haltung um den Hörer legten. Die meisten nahmen ihn einfach nur irgendwie in die Hand.
»Ah, verstehe. Meinen Rat.« Freddys Stimme, obwohl ohne den geringsten Hauch eines Akzents, hatte dennoch etwas leicht Unenglisches an sich, das Meg nicht einordnen konnte. »Du meinst«, fuhr er, lebhafter, fort, »du erzählst mir von der Entscheidung, die du getroffen hast, und verfügst, dass ich dir zustimme. Aber natürlich, meine Liebe. Wird mir ein Vergnügen sein. Ich stimme dir voll und ganz zu. Die ermüdenden Formalitäten, dass du mir erst erzählst, worum es geht, und ich dir zuhöre, können wir uns sparen.«
»Oh, Freddy! Hör auf!« Meg lächelte, wenn auch ein wenig pikiert. »Etwas ist passiert. Wirklich. Glaube ich zumindest. Und ich möchte wirklich deinen Rat.«
Eine kleine Pause am anderen Ende der Leitung. Meg glaubte zu sehen, wie er seine Stellung veränderte und die Schulter noch bequemer gegen den Apparat drückte.
»Meinen Rat? Aber warum meinen, Darling? Niemand wäre weniger geeignet als ich, einer jungen Frau, die allein in einer großen Stadt lebt, einen Rat zu geben. Meine Ratschläge sind gewöhnlich unmoralisch und immer unpraktisch. Das wird dir jeder bestätigen.«
»Ja … aber Freddy … oh, bitte, hör auf damit, wenigstens für eine Minute, und hör mir zu. Es geht um die Familie. Isabel sagt …«
»Streite dich mit ihnen«, lautete sehr entschieden seine Anweisung. »Nur so hältst du es mit der Familie aus. Streite dich mit ihnen, und zwar jetzt, solange du noch jung bist. Schiebst du es auf, bis du älter bist, wirst du feststellen, dass du ihnen allen so viel Geld schuldest, dass du es dir nicht mehr leisten kannst. Also streite dich mit ihnen auf Leben und Tod! Und dann kommst du auf einen Drink zu mir. In einer halben Stunde.«
In der Leitung klickte es, das Telefon war stumm, lachend wandte sich Meg ab und wusste, sie hätte verärgert sein sollen. Es hätte demütigend sein sollen, von einem Mann, den sie erst so kurz kannte, für so selbstverständlich erachtet zu werden; aber es war überhaupt nicht demütigend; es machte Spaß. Und als sie sich einige Minuten später das Telegramm in die Handtasche stopfte, um es Freddy zeigen zu können, kam es ihr eher wie die Eintrittskarte für eine lang erwartete Theateraufführung vor und nicht wie eine beunruhigende Nachricht.
Das endlose Tageslicht des Sommers fiel trotz des Regens noch in die halb verlassenen Straßen, als Meg Freddys Wohnblock erreichte. Wie sie wohnte Freddy im obersten Stock, aber es gab einen Portier und einen Aufzug, bald darauf eilte Meg durch den Gang zu Freddys Tür, hinter der ein Klavier zu hören war, das mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Ausgelassenheit Noten erklingen ließ – sowie mit erstaunlicher Gleichgültigkeit gegenüber den Bewohnern der Nachbarapartments (das hieß, erstaunlich nur für den, der Freddy nicht kannte).
»Du bist nass!«
Freddy, bekleidet mit einem scharlachroten seidenen Morgenrock, hatte in einer überschwänglichen Willkommensgeste die Tür aufgerissen und wich nun unsinnig bestürzt einen Schritt zurück.
»Und du trägst einen Regenmantel!«, fuhr er noch unsinniger fort. »Hier stehe ich, mit klopfendem Herzen, um meine Geliebte mit offenen Armen zu empfangen, und dann kommt sie und ist durchnässt. Und trägt auch noch einen Regenmantel!«
Plötzlich grinste er, ein spitzbübisches Grinsen, das sein eher blässliches Gesicht außerordentlich zum Strahlen brachte. Er griff nach Megs Arm, zog sie in sein Wohnzimmer und stellte den Elektrokamin an.
»So! Jetzt kannst du das Ding ausziehen! Und bevor du mir deine lange traurige Lebensgeschichte erzählst, sage mir, warum du nicht in einem schönen Kleid aufgekreuzt bist, das über den Boden schleift! Und in hochhackigen Schuhen! Und mit Glitzer im Haar!«
Meg sah nachdenklich auf ihre Brogues.
»Na ja … es regnet«, bemerkte sie. »Ich meine, es wäre doch albern, sich herauszuputzen, wenn man im Regen unterwegs ist. Und am Ende sähe man einfach nur schrecklich aus.«
Freddy schüttelte traurig den Kopf.
»Was für eine Sichtweise! Was für eine Lebenseinstellung! Wenn der Himmel grau ist, meine Liebe – hat dir das nie eine deiner Tanten gesagt? Nein, wahrscheinlich nicht; Tanten sind nicht mehr das, was sie mal waren, die gehen mittlerweile alle arbeiten. Aber jetzt … lass mich sehen …« Er zog Meg den Regenmantel von den Schultern, trat zurück und betrachtete sie, den Kopf leicht geneigt, ganz der Connaisseur. »Für einen Augenblick möchte ich dich als meine Idealfrau sehen. Grün und silbern, stelle ich mir vor … der Rock sehr ausladend, die Taille sehr eng, dazu vielleicht hier ein Hauch von Spitze. Und silberne Schuhe … nein, Sandalen … sehr hohe Absätze natürlich. Und die Haare hochgesteckt … füllig … wie es zur Zeit Edwards üblich war …«
Plötzlich griff er in ihre hellbraunen Locken, bauschte sie auf und drehte ihr Gesicht zum Spiegel. »Siehst du! Es steht dir. Wirklich. Lass sie dir so machen.«
Kurz erhaschte Meg im Spiegel ihre geröteten, aufgeregten Gesichtszüge, bevor sie sich, verunsichert unter ihrem prüfenden Blick, versteiften. Hastig entwand sie sich ihm und lachte ein klein wenig zu brüsk.
»Nein«, sagte sie. »Nein, ich glaube nicht. Es wäre eine furchtbar aufwendige Frisur. Und sie würde nicht zu mir passen.«
Freddy seufzte.
»Na ja … das habe ich auch nie behauptet«, stimmte er gütig zu. »Ich habe nur gesagt, so würde meine Idealfrau aussehen. Egal, vergiss es. Lass von deiner Familie hören, dem Gespenst der Vergangenheit, deswegen bist du doch da. Wenn wir schon nicht über die Idealfrau reden können … gut, dann reden wir eben über Gespenster. Klar. Warum nicht? Hast du es in deiner Handtasche mit dabei?«, fügte er interessiert an, als Meg nach Isabels Telegramm kramte.
»Hier«, sagte sie und zog den Umschlag aus der Tasche. »Lies es, und dann erkläre ich es dir …«
Es gab einiges zu erklären. Als alles gesagt war, beugte sich Freddy mit dem Gebaren eines Schuljungen, der noch mal seine Geschichtshausaufgaben durchging, zu ihr hin.
»Mal sehen«, begann er. »Sag mir, wenn ich etwas nicht ganz mitbekommen habe, ja? Mildred ist deine Halbschwester, sie ist zwanzig Jahre älter als du, führte deinem Vater den Haushalt und kümmerte sich wie eine Mutter um dich. Oder wie eine Tante, jedenfalls. Oder …« Er hob die Hand, um Megs Einwand zuvorzukommen. »Oder wie eine französische Gouvernante. Wie auch immer, sie tat nach dem Tod deiner Mutter so, als würde sie dich großziehen. Richtig? Und Isabel ist deine leibliche Schwester, einige Jahre älter als du, aber sehr viel weniger kompetent – nein, unterbrich mich bitte nicht. Diese beiden Schwestern sind auf ihre jeweilige Art querköpfige, selbstbezogene Wesen – ›übernervös‹ war, glaube ich, der Euphemismus, mit dem ihre kleine Schwester, die seit Langem unter ihnen leiden muss, sie soeben beschrieben hat. Dazu haben beide die rührende Angewohnheit entwickelt, von ihr – der kleinen Schwester – zu erwarten, dass sie ihnen aus jeder Klemme hilft, in die sie sich hineinmanövriert haben. Und weißt du, diese Angewohnheit überrascht mich nicht. Denn das arme kleine Aschenputtel ist in diesem Fall nicht nur klug, sondern auch ein Engel. Sie löst die Probleme anderer Leute sehr viel besser, als diese selbst es könnten, und deshalb sind die beiden bösen Stiefschwestern …«
»Oh, Freddy, das sind sie nicht!«, protestierte Meg. »Sie sind nicht meine Stiefschwestern. Ich hab’s dir erklärt. Mildred ist meine Halbschwester – mein Vater war auch ihr Vater –, und Isabel …«
»Oh, verschone mich mit deinem Familienstammbaum«, rief Freddy theatralisch. »Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich herausfinden soll, wer in Familien, in denen jemand zweimal geheiratet hat, mit wem verwandt ist. Wirklich, es ist so. Vermutlich eine Art Komplex. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich noch viel zu jung war, als ich die Rosenkriege lernen musste. Außerdem«, fuhr er fort und ging wieder zum Angriff über, »hat deine Schwester es auch getan, oder? Zweimal geheiratet, meine ich.«
»Isabel? Oh ja, hat sie, natürlich, aber …«
»Und Mildred? Die gefürchtete Mildred, die es so clever anstellt, dass alle ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen? Hat sie auch noch andere Ehemänner vorzuweisen? Oder gibt es nur den betagten Hubert, der sich nur selten zu Hause blicken lässt, wie du eben so anschaulich beschrieben hast?«
»Nein … ich meine, ich habe Hubert nicht … das heißt …«
Meg hielt inne. Hatte sie schon so viel von Mildreds Privatangelegenheiten verraten? Gegenüber einem vergleichsweise Fremden – einem Mann, den sie erst vor kaum einem Monat kennengelernt hatte? Nicht dass Mildred mit ihren Problemen unbedingt hinterm Berg halten würde. Tatsächlich ließ sie sich manchmal in überraschend bunter Gesellschaft über ihre Fehler aus und ging scheinbar recht begeistert mit ihrem Kummer und ihren Kränkungen hausieren, die die meisten Frauen doch eher für sich behalten würden. Dann aber konnte sie auch sehr zickig reagieren, wenn sie auf ihre Probleme angesprochen wurde, selbst (oder, wie Meg manchmal meinte, besonders dann) wenn dies in Form eines Hilfsangebots geschah. Mildred war immer schon etwas verdreht und schwierig gewesen; hatte das in letzter Zeit zugenommen?
»Aber was, glaubst du, kannst du bewirken«, fragte Freddy abwägend, »wenn du dich einmischst? Für mich klingt das ganz nach einem Familienkrach, und da hast du nichts verloren. Vor allem, wenn ihnen, wie du sagst, nur ein Wohnwagen mit vier Kojen als Austragungsort zur Verfügung steht. Auf wessen Seite du dich tagsüber stellst, dessen Decke musst du nachts dann auch nehmen. Meine Liebe, dein Besuch dort wird ein zweifelhafter Segen sein. Ein sehr zweifelhafter.«
Meg schüttelte den Kopf.
»In meiner Familie gibt es keinen Krach; also eigentlich nicht«, sagte sie. »Meine Schwestern haben Zustände, und dann muss jemand etwas unternehmen. Ich meine, wenn Hubert Mildred wieder verlassen hat, wird Mildred zum Wohnwagen stürmen, weil sie es in der Wohnung allein nicht aushält – natürlich wird im Wohnwagen für sie kein Platz sein, also muss ihr ein Zimmer in einem Hotel besorgt werden, nur sind zu dieser Jahreszeit die Hotels alle ausgebucht, und Philip wird verärgert sein, weil er Mildred sowieso nicht leiden kann, obwohl von ihm gar nicht erwartet wird, dass er ihr ein Hotelzimmer sucht, und Isabel wird deswegen hilflos die Hände ringen, so wie immer, wenn Philip schlechte Laune hat …«
»Meine Liebe! Hör dir bloß mal zu! Hör dir einfach mal zu! Es erschüttert mich. Wirklich. Wenn du weiterhin so redest, wird dein Leben bald genauso aussehen. Dein ganzes Leben wird zu einem Durcheinander wie das, das du eben geschildert hast – und das ebenso ohne Punkt und Komma auskommt. Ich warne dich. Ich warne dich jetzt. Halt dich da raus. Lass sie machen. Lass uns stattdessen übers Wochenende wegfahren. Hundert Meilen hin, hundert Meilen zurück – mit Punkt und Komma. So. Gerechter geht es nicht.«
Meg schüttelte den Kopf.
»Nein, Freddy. Wirklich, ich muss hinfahren. Isabel hätte das Telegramm nicht geschickt, wenn es nicht wichtig wäre. Für Außenstehende mag es vielleicht nicht wichtig erscheinen, aber …«
Plötzlich schwenkte Freddy um und grinste sie provozierend an.
»Allmählich beschleicht mich das Gefühl, ich sollte deine beiden egoistischen Schwestern kennenlernen«, erklärte er. »So ist es mir immer schon mit der Aschenputtel-Geschichte gegangen. Da ist Aschenputtel, so lieb, so brav, so schön – natürlich bekommt sie am Ende den Prinzen. Warum sollte sie ihn auch nicht kriegen? Aber das ist dröge. Viel zu offensichtlich. So wie Wasser den Abfluss runterläuft – was anderes bleibt ihm ja nicht. Aber die hässlichen Schwestern … ja, die sind eine Herausforderung! Hässlich, selbstsüchtig, ganz und gar widerwärtig – und dennoch kriegen sie den Prinzen fast. Sie sind nur um Haaresbreite davon entfernt. Das ist eine Leistung; das ist der wahre Kern der Geschichte. Ein glorreiches Scheitern, neben dem sich Aschenputtels Erfolg lahm und schal ausnimmt. Findest du nicht auch?«
Aber Meg sah auf die Uhr.
»Fast elf!«, rief sie, sprang auf und gab sich bestürzter, als sie tatsächlich war, um zu kaschieren, dass ihr keine witzige und angemessene Erwiderung auf das alles einfiel. »Ich muss sofort los, sonst komme ich nicht mehr rein, und dann muss ich jemanden rausklopfen und …«
»… ruinierst deinen guten Ruf, und das für nichts und wieder nichts«, beendete Freddy den Satz und nickte mitfühlend. »Ich verstehe. Keine Sorge. Du willst bestimmt nicht noch bleiben und meine neuen und originellen Interpretationen von bekannten Märchen hören? Nein? Ich könnte dir Blaubart näherbringen, wenn du willst«, fügte er einladend hinzu.
»Nein … nein, danke! Ein andermal.« Hastig und nicht sehr anmutig hüllte sich Meg in ihren Mantel und klemmte sich die Handtasche unter den Arm. »Ein andermal, wenn ich mich mehr wie Blaubarts Frau fühle.« War das witzig? Feinsinnig? Als würde sie wissen, wovon er sprach? »Vielleicht – das heißt, wenn ich wieder da bin – sehen wir uns am Sonntag?«
Er grinste rätselhaft.
»Hat sich Aschenputtel am Sonntag mit dem Prinzen getroffen? Nachdem sie die hässlichen Schwestern abserviert hat? Ich weiß es nicht mehr. Ich muss es für dich nachschlagen. Ja, ich werde es bestimmt nachschlagen und es dich wissen lassen – als Antwort auf deine Postkarte, die du mir mit deiner Adresse schickst und auf der dein Fenster mit einem X markiert ist. Entschuldige, dein Wohnwagenschornstein. Oder deine Zeltstange. Oder die Stelle, an der du wegen Landstreicherei festgenommen wirst, weil, wie ich schon sagte, im Wohnwagen kein Platz mehr für dich ist. Auf Wiedersehen, meine Liebe; und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
2
Die zwischen den Wohnwagen gespannten Wäscheleinen hingen überall durch, am meisten aber die Leinen von Isabel. Auch ohne die akribischen Richtungsangaben, die am Morgen nach dem Telegramm eingetroffen waren, hätte Meg den Wohnwagen ihrer Schwester wahrscheinlich sofort erkannt. Es handelte sich um den schiefsten Caravan; den, der gleich neben den staubigen Brennnesseln stand, die es auf jedem Campingplatz gab; außerdem war die Tür verzogen und ließ sich entweder nicht öffnen oder nicht schließen.
Jetzt jedenfalls ließ sie sich nicht öffnen. Meg war genervt, als sie ihren Koffer abstellte, um sich nutzbringender mit der Tür herumschlagen zu können. Wahrscheinlich war ihr Calor-Gaskocher auch der einzige auf dem Platz, der nicht funktionierte, und bei den Schlafkojen würde sich bestimmt immer ein Scharnier lösen.
Nicht dass irgendwas davon Isabels Schuld gewesen wäre. Sie musste den Wohnwagen vorab schriftlich angemietet haben, daher fiel es in die Verantwortung des Besitzers, sich um solche Dinge zu kümmern, nicht in ihre. Trotzdem, warum mussten Isabels Vorkehrungen immer so enden? Warum musste Isabel immer so – na ja – wie Isabel sein? Meg überkam das verwirrende Gefühl, Isabel hätte sich mehr verändern sollen. Wenn eine Frau einen neuen Mann heiratet, sollte sie dann nicht in mancherlei Hinsicht anders werden? Sollte sie nicht andere Kleidung tragen? Andere Bücher lesen – so in der Art? Sollte sie nicht wenigstens anders Urlaub machen? Meg ließ den Blick über die ausgetretene, ungepflegte Rasenfläche schweifen und dachte, dass dieses Seebad vielleicht einen anderen Namen hatte, sich im Grunde von den übrigen aber nicht unterschied. Überhaupt nicht unterschied. Wurde Isabel zu einer jener Frauen, die das verheerende Talent besaßen, egal, wo auf der Welt sie waren, Eintönigkeit wie einen Koffer mit sich herumzuschleppen?
»Du musst dagegenhauen.«
Erleichtert sah Meg sich um.
»Hallo, Johnnie! Du bist aber groß geworden!«
Wie die meisten jungen und unerfahrenen Tanten hatte sich Meg anfangs geschworen, ihren Neffen und Nichten nie mit dieser idiotischen Bemerkung zu kommen. Aber wenn es so weit war, konnte man es doch nicht lassen. Nach einigen Monaten Abwesenheit war das das Erste, was man an einem Kind wahrnahm. Das aufgequollene, überdimensionierte Äußere, den neuen Klang in der Stimme – etwas Fremdes. Wie immer hielt es nur einen Augenblick an; schon war er wieder zum vertrauten Johnnie geschrumpft, war exakt derselbe wie früher, bis hin zu dem schmuddeligen Pflaster, das sich von seinem Knie schälte.
»Du musst dagegenhauen … so.«
Mit der nervtötenden Selbstsicherheit des Experten warf sich Johnnie gegen die Tür, die aufflog, und sofort fiel der Blick auf Isabels Strandtasche, ihr Strickzeug, ein Buch aus der Bücherei und ihren Regenmantel – alles wild aufgehäuft auf einem Liegestuhl.
Na, hoffentlich war es wenigstens ein anderes Buch als beim letzten Mal, dachte sich Meg und nahm ihren Koffer zur Hand. Auf halbem Weg nach oben blieb sie unschlüssig stehen.
»Johnnie«, sagte sie. »Weißt du, ob ich wirklich im Wohnwagen übernachten soll? Ich meine, ist da Platz für mich? Hat deine Mutter irgendwas dazu gesagt? Wo ist sie überhaupt? Bin ich zu früh dran?«
Aus der Liste der Fragen wählte Johnnie fachkundig jene aus, die ihm eine Antwort wert schien.
»Nein«, sagte er. »Du kommst gerade richtig zum Baden. Ohne Erwachsene darf ich nicht ins Wasser.« Er griff sich vom Wohnwagenboden eine sandige marineblaue Kammgarnhose, die verdreht und verknäuelt war, wie die Badesachen von Kindern es immer waren, und wedelte damit in ermutigenden Halbkreisen vor Meg auf und ab, sodass feuchter Sand in alle Richtungen davonflog. »Komm schon.«
»Nein, Johnnie, warte!«, protestierte Meg und klopfte sich lachend den Sand vom Kleid. »Ich kann mich nicht mit dir einfach so ins Meer stürzen, ich hab ja noch gar nicht ausgepackt – und ich weiß noch nicht einmal, wo ich übernachten soll. Wo ist deine Mutter? Am Strand?« Sie sah sich zwischen den engen Wohnwagenreihen um. Schwer zu sagen, wo das Meer überhaupt lag.
»Was?«, fragte Johnnie. Jetzt fiel ihm auf, dass Meg einen Koffer in der Hand hatte. Erwachsene mit Koffern, hatte er bereits richtig, wenn auch wenig interessiert bemerkt, benahmen sich immer so.
»Dann kann ich also nicht baden«, brachte er es betrübt auf den Punkt. Er hatte seiner Tante gar nicht zugehört, aber darauf, war er überzeugt, lief es am Ende hinaus. »Und nach dem Tee lassen sie mich auch nicht mehr ins Wasser. Dann muss ich mit Daddy Cricket spielen.«
Meg musste lachen.
»Du magst Cricket nicht?«, fragte sie. Aber selbst das interessierte Johnnie nicht, der nur eines im Kopf hatte.
»Ich wollte mit denen aus dem Bungalow zum Baden«, fuhr er unbeirrt fort, »aber die sind mit dem Auto weggefahren. Und dann hat Mummy gesagt, sie würde rechtzeitig zurückkommen, um mit mir noch zum Baden zu gehen, aber sie ist nicht da, und …«
»Von-wo-zurückkommen?« Meg verdichtete die Frage zu einer einzigen Silbe, in der Hoffnung, wenn sie nur schnell genug redete, könnte sie ihrem Neffen einige nützliche Informationen abtrotzen, bevor seine Gedanken wieder ihren unerbittlichen Kurs einschlugen. Als wollte sie auf einen fahrenden Zug aufspringen.
»Von Tante Mildred«, antwortete Johnnie, und Meg war, als könnte sie sich jetzt atemlos und triumphierend auf den freien Sitz in der Ecke des Abteils fallen lassen. »Sie ist gleich nach dem Mittagessen hin«, fuhr Johnnie fort, »weil Tante Mildred geweint hat. Deshalb konnten wir nicht baden …«
Mit der Geschicklichkeit eines Jongleurs nahm Meg die Unterhaltung wieder auf:
»Wo ist Tante Mildred? Wohnt sie in der Stadt, oder wie?«
»Sie hat nur geweint«, antwortete Johnnie ungerührt; aber bevor der wenig hilfreiche Beitrag zum Aufenthaltsort seiner Tante weiter ergründet werden konnte, ging plötzlich ein Strahlen über sein Gesicht.
»Da ist Mummy!«, rief er und schoss, die Badehose in der Hand, über das vergilbte Gras hin zu dem Drahtzaun und dem staubigen Weg, auf dem auch Meg zum Campingplatz gekommen war.
Isabel sah müde und angespannt aus. Ihr gemustertes Kleid war einen Hauch zu lang, an ihrer Hand baumelte eine schlaffe Einkaufstasche aus Leinen. Isabel hatte immer eine Einkaufstasche bei sich, egal, wohin sie ging. Jahrelang hatte Meg sie fragen wollen, warum sie ohne eine solche Tasche nicht das Haus verließ, aber der passende Zeitpunkt hatte sich nie ergeben. Auch jetzt war nicht der passende Zeitpunkt dafür: Isabel hatte ihre Schwester entdeckt, ihr Gesicht hellte sich auf und wurde unglaublich weich, liebevolle Gefühle aus Kindertagen wallten in ihr auf.
»Oh, Meg, wie schön, dich zu sehen! Was bin ich froh! Jetzt wird alles so viel einfacher!«
Aber noch während Meg sich bei ihrer Schwester einhakte, zeigten sich in deren Gesicht wieder die vertrauten Sorgenfalten. »Nein, Johnnie, ich kann nicht. Ich habe dir doch gesagt, ich kann nicht. Ich muss Peter von den Hutchinses abholen. Ich bin eh schon spät dran, ich habe gesagt, ich hole ihn vor dem Tee ab, dabei weiß ich noch nicht mal, wann sie ihren Tee nehmen, ich gehe davon aus, früher als wir. Dann muss ich mich noch um die Betten kümmern, und auf dem Herd dauert es so lange, bis das Wasser kocht. Irgendwas stimmt mit der Leitung nicht …«
Natürlich hörte Johnnie gar nicht zu. Er wusste, die Leute gebrauchten oft ganz viele Wörter, um Nein zu sagen – manchmal auch für ein Ja –, es interessierte ihn auch gar nicht. Er musste nur darauf warten, bis der Wortschwall endete, dann konnte er seine Frage erneut stellen.
Aber Meg hörte zu. Und leider sah sie auch zu; sah, wie der sorgenvolle Ausdruck kreuz und quer über das Gesicht ihrer Schwester flirrte. War Isabel wirklich bestürzt? Und wenn ja, ging es dabei wirklich um Mildred, um große, bedeutsame Probleme oder lediglich um klitzekleine häusliche Angelegenheiten, die sie dauernd zu großen Problemen aufbauschte? Und wenn es wirklich nur Bagatellen waren, wegen derer sie sich in diesem Zustand befand, war dann das nicht eigentlich das größte, das wichtigste Problem überhaupt? Dass sie jemand war, der alles so schwernahm – der das Leben so wenig genießen konnte?
Meg gebot sich Einhalt. Es war nicht fair, Isabel so zu kritisieren, wenn sie noch nicht einmal wusste, worum es ging. Johnnie hatte gesagt, Mildred habe geweint – das war nun nichts Neues, aber man wusste ja nie. Wie leicht man vergisst, dass die, die wegen jeder Kleinigkeit weinen, auch wegen einer Katastrophe weinen können. Meg wandte sich wieder an Isabel:
»Mildred?«, fragte sie. »Wie geht es ihr?«
Aus Rücksicht auf den rastlosen Johnnie redete Meg leise – allerdings war es eher Rücksicht auf die allgemeinen Gepflogenheiten, die für Gespräche in Anwesenheit von Kindern galten. Denn sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Vorsicht in Johnnies Fall völlig überflüssig war. Die Seemöwen, die hier und dort niederstießen, hätten in ihrem schrillen und selbstsüchtigen Gekeife nicht weniger aufmerksam sein können.
»Ich war gerade bei ihr«, antwortete Isabel ebenfalls pflichtbewusst im Flüsterton. »Oh, Meg, was für ein Elend!« Die Worte waren ihr spontan, in durchdringender Aufrichtigkeit, herausgerutscht, sofort entschuldigte sich Isabel dafür. »Ich meine nicht … ich meine, es ist schlimm für Mildred, natürlich, sie tut mir furchtbar leid. Ich war den ganzen Nachmittag bei ihr.«
»Hat Hubert sie wieder verlassen?«
»Ja. Nein. Das heißt, ich glaube, er ist noch in der Wohnung. Diesmal hat sie ihn verlassen, könnte man vielleicht sagen. Aber darum geht es gar nicht, Meg. Diesmal ist sie nicht bloß aufgelöst. Sie hat Angst. Wirkliche Angst. Philip meint, das ist alles Unsinn, und wir sollten ihr ihre Launen nicht durchgehen lassen. Er ist richtig wütend. Er versucht Hubert zu erreichen. Er meint, er muss sie zurückholen. Er meint, das ist seine Angelegenheit, nicht unsere, in gewisser Weise hat er damit ja recht, aber du weißt doch, Philip versteht Mildred nicht. Er kann nicht unterscheiden, ob sie sich bloß wieder etwas töricht benimmt oder … na ja … oder ob es um etwas geht wie jetzt. Ach, Meg!« – abrupt stellte Isabel ihre gesamte Argumentation auf den Kopf – »Könntest du sie nicht davon überzeugen, dass sie sich töricht benimmt? Auf dich hört sie mehr als auf uns. Deshalb habe ich dir geschrieben. Kannst du ihr nicht klarmachen, wie albern das alles ist? Denn wenn nicht« – Isabel senkte die Stimme noch mehr –, »wenn nicht, muss jemand zur Polizei gehen.«
»Jemand.« Es war typisch für Isabel, dass sie das Grundlegendste, den Dreh- und Angelpunkt der ganzen Sache, so blass und unbestimmt wie möglich ließ. Ich muss gehen. Du musst gehen. Philip muss gehen – ein jeder dieser Sätze hätte ihrem zermürbten Verstand bewusst gemacht, dass sie persönlich beteiligt, dass sie selbst aufgrund von Abmachungen und Vereinbarungen, Pflichten und Gegenpflichten darin verstrickt war.
Meg spürte, dass die Gedanken ihrer Schwester im Begriff waren, auf ängstliche Abwege zu geraten, deshalb versuchte sie hastig, sie wieder auf Kurs zu bringen.
»Aber Isabel, du hast es mir noch gar nicht erzählt. Worum geht es überhaupt? Wovor hat sie Angst? Doch nicht vor Hubert, oder?«
»Nein. Oh nein. Nicht vor Hubert. Zumindest …«
Der Blick ihrer Schwester wanderte über die Pfade zwischen den Wohnwagen, auch ihr immer noch bei Meg eingehakter Arm hatte sich leicht versteift.
»Ich erzähle es dir später«, murmelte sie. »Ich muss jetzt Peter abholen. Die Hutchinses werden sich noch denken … Wir haben ihn ja schon das letzte Mal zu spät bei ihnen abgeholt. Wir waren im Museum, verstehst du, und ich wollte nicht, dass sich Philip beeilen muss, er denkt sich dann bloß, ich würde nur wieder unnötig Tamtam machen … Ach, es ist alles so schwierig! Ach, du meine Güte, MrsHutchins steht an der Tür! Sie muss schon Ausschau nach mir halten …«
Natürlich war das Gespräch damit beendet. Und auch als sie wieder den Wohnwagen erreicht hatten, war an eine Fortführung nicht zu denken. Kaum waren sie drinnen, machte sich Isabel mit einem stumpfen Messer über die Karotten her, dazwischen warf sie immer wieder einen besorgten Blick zur Uhr – die im Gegensatz zu vielen anderen Geräten in Isabels Haushalt (bedauerlicherweise) uneingeschränkt zu funktionieren schien. Warum solche Eile bestand, wollte sich Meg nicht erschließen, aber sie machte sich daran, Isabel, so gut sie konnte, zu helfen. Johnnie übertrug sie die Aufgabe, mit einem großen Tonkrug Wasser von der Zapfstelle zu holen; Peter stattete sie mit einem gebogenen Stock und einer Schnur aus, um im verdorrten Gras unter den Stufen zum Wohnwageneingang nach Haien zu angeln; dann erklärte sie sich bereit, die Kartoffeln zu bürsten.
Aber Isabel zu helfen gestaltete sich schwierig – wie so oft bei Leuten, die Hilfe am meisten nötig hatten, dachte sich Meg. Sie würde selbst, erklärte Isabel, die einzige Schüssel für die Karotten brauchen. Außerdem gebe es für Meg keinen Platz, wo sie sich setzen könne. Und um überhaupt an die Kartoffeln zu kommen, müsse sie (Isabel) den Klapptisch zusammenlegen, und das hieß, die Schüssel runternehmen und die Karotten und das Nudelsieb und die dreckigen Tassen und die Thermoskanne …
»Er ist kaputtgegangen.«
Gleichmütig hielt Johnnie ihnen die vier Tonscherben hin, als wären sie lediglich interessante Gegenstände, die er draußen zufällig gefunden hatte. Eine deutliche Falte zog sich über Isabels Stirn, und Meg beeilte sich, das Kind in Schutz zu nehmen:
»Es ist meine Schuld, Isabel … Ich habe ihn losgeschickt; er wollte nur helfen …«, begann sie; dann merkte sie, dass ihre Intervention völlig überflüssig war. Isabels Stirnrunzeln bezog sich gar nicht auf Johnnie. Mit außergewöhnlicher Hast, ohne ein Wort der Zurechtweisung, nahm sie dem Kind die Bruchstücke aus den Händen, stolperte halb die Stufen hinunter, rannte und stopfte die Teile in die Mülltonne neben dem Wohnwagen, schob sie inmitten des restlichen Mülls weiter nach unten und bedeckte alles mit Zeitungspapier. Dann, mit einem Ausdruck unverhältnismäßiger Erleichterung, klappte sie den Deckel zu. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie Meg, die sie halb überrascht, halb belustigt ansah. Isabel lächelte betreten.
»Ich weiß … Es sieht seltsam aus«, sagte sie. »Ich bin nur so unendlich froh, dass es passiert ist, bevor Philip zurück ist. Philip vergisst manchmal, dass er erst sieben ist; außerdem hat er natürlich den größten Teil seines Lebens in der Armee verbracht – Philip, meine ich –, und es ist manchmal schwer, sich an Kinder zu gewöhnen, nehme ich an, wenn sie nicht die eigenen sind …«
Meg hatte den Eindruck, dass Isabel ein wenig zu viel erklärte; dass ihr eine gewisse Unruhe anhaftete, als sie die Stufen wieder hinaufstieg und ihrer Schwester nicht recht in die Augen sehen konnte. Verbarg Isabel etwas vor ihr – vermied sie ein Thema, das zwischen ihnen stand, ohne dass Meg davon wusste? Denn es erschien ihr seltsam, dass Isabel, nachdem sie ihr das dringliche Telegramm geschickt hatte, immer noch keine Gelegenheit gefunden hatte, ihr von dem eigentlichen Problem zu erzählen. Die ganze Eile, das hektische Abschaben der Karotten – spielte Isabel absichtlich – oder, da sie nun mal Isabel war, höchstwahrscheinlich nur halb absichtlich – auf Zeit? Zeit, damit sie ihre Gedanken ordnen konnte? Um zu entscheiden, wie weit sie mit der Wahrheit herausrücken wollte? Oder Zeit, damit etwas passierte – damit jemand irgendetwas tat –, was ihr die Entscheidung aus der Hand nehmen würde?
»Telegramm, meine Dame.«
Isabel wirbelte so heftig herum, dass Meg, die sich hingekauert hatte, um Peter die Schnur unter den Stufen hochzuholen, fast das Gleichgewicht verloren hätte. Noch bevor sie sich wieder ganz aufgerichtet hatte, hatte ihre Schwester den Umschlag schon aufgerissen, und Erleichterung war an die Stelle des Gesichtsausdrucks getreten, der kurz zuvor aufgeblitzt war – ein Ausdruck, der so schnell aufgetaucht und so schnell wieder verschwunden war, dass Meg ihn nicht näher benennen konnte.
»Von Philip«, sagte sie jetzt mit sanfter, unverstellter Stimme – zum ersten Mal an diesem Nachmittag. »Er kann heute Abend doch nicht kommen, er wird in der Stadt bleiben. Du kannst also im Wohnwagen schlafen, Meg. Komm. Lassen wir den blöden Eintopf, dann erzähle ich dir alles.«
Den blöden Eintopf. Nach dem hektischen Gemüseschnippeln und dem ständigen Blick zur Uhr, der seinetwillen erfolgte, war diese Bezeichnung geradezu herzerwärmend. Meg, auf absurde Weise aufgeheitert, folgte ihrer Schwester in die unaufgeräumten Tiefen des Wohnwagens. Das Scharnier der Schlafkoje hatte sich tatsächlich von der Wand gelöst, aber eine sorgfältig platzierte Keksdose machte die Vorrichtung einigermaßen stabil. Die darübergelegte zusammengefaltete graue Militärdecke ergab einen bequemen Sitzplatz für die beiden Schwestern, wo sie vor den schrillen Forderungen der kleinen Jungen und den neugierigen Blicken der viel zu nahen Nachbarn geschützt waren.
3
»Alles hat damit angefangen«, sagte Isabel, »dass sich Mildred und Hubert wieder mal gestritten haben. Sie hat mich angerufen, ich muss aber zugeben, dass ich nur mit einem Ohr zugehört habe. Ich hatte zu tun, es musste ja alles für unseren Aufbruch vorbereitet werden. Sobald also klar war, dass sie nicht bei uns wohnen wollte … hat es mich nicht mehr sonderlich gekümmert. Das hätte es vielleicht sollen, aber wenn wir ehrlich sind, Meg, passieren Mildred doch ständig solche Sachen, man kann sich nicht immer Sorgen um sie machen. Gut, ich frage sie also, was sie jetzt zu tun gedenkt … vorsichtig, damit sie nicht auf die Idee kommt, ich würde sie zu uns einladen … Die Leute haben ja schnell solche Gedanken, wenn man zu viel Mitgefühl zeigt. Aber das wäre nicht gegangen. Ich meine, Philip mag sie nicht, außerdem wollten wir wegfahren, in die Ferien … Das verstehst du doch, Meg, oder?«