Der lange Schatten - Celia Fremlin - E-Book

Der lange Schatten E-Book

Celia Fremlin

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Beschreibung

Vom schrillen Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen, stolpert Imogen durch das dunkle, leere Haus, um den Anruf entgegenzunehmen. Zuerst versteht sie den Mann am anderen Ende der Leitung nicht. Er will sie nicht ernsthaft beschuldigen, ihren Ehemann Ivor getötet zu haben, der vor knapp zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben kam! Imogen möchte doch nichts anderes als in Ruhe über ihren Schmerz hinwegkommen. Aber genau diese Ruhe will man ihr nicht gönnen. Kurz vor Weihnachten reisen nacheinander Imogens erwachsener Stiefsohn samt Freundin, die Stieftochter mit Ehemann und zwei Kindern sowie Ivors Ex-Frau an. Und bald darauf geschehen merkwürdige Dinge: Wer hat die halb ausgetrunkene Whiskeyflasche neben Ivors Lieblingssessel abgestellt? Hat jemand in seinen Papieren gewühlt? Und warum hört dieser Fremde nicht auf anzurufen und darauf zu bestehen, dass er Imogens Schuld am Tod ihres Mannes beweisen kann?

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Weihnachtszeit ist für Imogen in diesem Jahr alles andere als besinnlich, denn ein Schicksalsschlag überschattet das bevorstehende Fest: Ihr Ehemann Ivor, ein beliebter Professor, ist vor knapp zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Als ein flüchtiger Bekannter behauptet, Informationen über die Umstände von Ivors Ableben zu haben, und Imogen auch noch beschuldigt, für seinen Tod verantwortlich zu sein, traut diese ihren Ohren kaum. Zu allem Überfluss füllt sich ihr Haus mit unerwarteten Festtagsgästen. Von friedlichem Beisammensein keine Spur, und bald geschehen unerklärliche Dinge, die Imogen zunehmend verunsichern. Wem kann sie noch trauen? Wer geistert nachts durch das Haus? Und warum steht plötzlich ein leeres Whiskyglas neben Ivors Lieblingssessel?

Raffiniert und atmosphärisch erzählt ›Der lange Schatten‹ von den Geistern der Vergangenheit, die sich ins Hier und Jetzt schleichen.

 

 

Celia Fremlin, 1914 bis 2009, wurde in Kent geboren. Sie studierte an der Universität Oxford klassische Philologie und Philosophie und schrieb im Laufe von vier Jahrzehnten sechzehn gefeierte Romane, einen Gedichtband und drei Erzählbände.

 

 

Sabine Roth ist seit 1991 als Übersetzerin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören Jane Austen, Henry James, Agatha Christie, John le Carré, V. S. Naipaul, Elisabeth Strout, Lily King und Barbara Pym.

Celia Fremlin

DER LANGESCHATTEN

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Inhaltswarnung: ›The Long Shadow‹ wurde erstmals 1975 veröffentlicht und enthält diskriminierende Sprache.

 

Die englische Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel ›The Long Shadow‹ bei Gollancz, London.

© The Estate of Celia Fremlin, 1975All rights reserved

E-Book 2024© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected] Rechte vorbehalten Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor. Übersetzung: Sabine RothUmschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, KölnUmschlagmotiv: © AdobeStock/AkuAkuSatz: Angelika Kudella, KölnE-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN E-Book 978-3-7558-1067-4

www.dumont-buchverlag.de

1

»Nein, er ist vor zwei Monaten gestorben«, sagte sie, »ich bin Witwe«, und wappnete sich für das winzige Zurückschrecken in seinem Blick, diese Betretenheit, mit der sie alle reagierten. Was sagt man zu nicht mehr ganz jungen Witwen, die so ungehörig früh einer Einladung folgen? Worüber redet man mit ihnen? Ist das Wetter ein gefahrloses Thema? Die Lage der Nation?

Mich dürfen Sie nicht fragen!, hätte Imogen ihn am liebsten angeschrien, ich weiß doch auch nicht, was Sie zu mir sagen müssen oder ich zu Ihnen – ich weiß gar nichts. Das ist mein erstes Mal unter Leuten, seit Ivor gestorben ist, und ich bereue jetzt schon, dass ich gekommen bin, ich würde viel lieber daheimsitzen und vor mich hin leiden. Wie idiotisch von mir, mich von Myrtle beschwatzen zu lassen, ich hätte wissen müssen, wie es wird …

Wobei Myrtle natürlich keine Schuld traf. Sie hatte es nur gut gemeint.

»Das bringt dich auf andere Gedanken, Liebes«, hatte sie insistiert. »Ivor hätte schließlich auch nicht gewollt, dass du ewig um ihn trauerst.«

Den Teufel hätte er getan! Für Ivors gewaltiges, unverwüstliches Ego wäre ewig das Mindeste gewesen. Er hätte es nur angemessen gefunden, dass Imogen auf ewig um ihn trauerte, ihn auf ewig vermisste – und nicht nur sie: nein, Studenten, Kollegen, Nachbarn, sogar seine früheren Frauen und Geliebten, alle zusammen hätten sie sich die Haare raufen, ihre Gewänder zerreißen und sich wehklagend auf seinen Scheiterhaufen werfen sollen. So hätte es Ivor gefallen, gerade Myrtle musste das eigentlich wissen.

Aber sie sprach es natürlich nicht aus, so wie auch Imogen es nicht aussprach, und so hatte sie behauptet: »Nein, das hätte er nicht gewollt«, und sich darum zu sorgen begonnen, was sie anziehen sollte.

Denn vielleicht tat es ihr ja gut. Vielleicht half es ihr, sich ein paar Stunden lang wieder als ganzer Mensch zu fühlen und nicht als die zerbrochene Hälfte eines Paares.

Von wegen. Inzwischen, nach bald zwei Stunden, fühlte sie sich nicht nur halbiert, sondern so, als hätte man sie für einen Anatomiekurs der Länge nach entzweigesägt … all die offenen, blutigen Stümpfe zur Schau gestellt, während die Studenten in fasziniertem Grauen an ihr vorbeidefilierten.

Über den Rand ihres Glases blickte Imogen verstohlen auf ihren Gesprächspartner. Klein, bärtig, zehn Jahre jünger als sie (wie das dieser Tage fast alle Männer zu sein schienen), mit einer Hornbrille, hinter der sie deutlich die SOS-Signale blinken sah. Nicht mehr lange, dann würde Myrtle – aufmerksame Gastgeberin, die sie war – lächelnd herangeglitten kommen, um die nächste Rettungsaktion in die Wege zu leiten. Die nunmehr vierte.

Wie lange sollte das so weitergehen? Wie lange würde jeder, mit dem man sie bekannt machte, in gequältes Schweigen verfallen, hastig seine Eröffnungssätze hinunterschlucken, alle witzigen Anekdoten aus seinem Kopf verbannen? Wie lange würde sie, wo immer sie hinkam, eine Peinlichkeit und eine Zumutung sein?

Die Peinlichkeit. Wenn sie an diese grauenhaften letzten Wochen dachte, schien es ihr manchmal, als wäre die Peinlichkeit fast noch schwerer zu ertragen gewesen als der Schmerz, für den wenigstens Tränen ein Ventil waren.

Die gesenkten Stimmen. Das Gelächter, das erstarb, sobald sie näher kam. Die sorgsam gefilterten Gesprächsthemen, bereinigt von jeglichen Anspielungen auf Ehemänner, Beerdigungen, Autounfälle, Professuren, Liebe, Glück, Unglück, Männer, Frauen, Leben … Viel blieb nicht übrig.

Noch schlimmer war nur die schier endlose Prozession der Bekannten, die es – unfassbarerweise – noch immer nicht wussten und die sie gleich als Erstes mit der Nachricht niederknüppeln musste. Ihnen das Lächeln vom Gesicht wischen, die gut gelaunten Begrüßungsworte ihre Kehlen hinunterrammen wie mit einem Fausthieb mitten auf den Mund. Ob sie ihr von der anderen Straßenseite zuwinkten, sie vom Gartentor aus grüßten, zufällig aus Los Angeles anriefen, aus Aberdeen, aus Beckenham … Eine freundliche Stimme nach der anderen verstummte entsetzt, wenn Imogen mit ihrer Keule zuschlug. Tag für Tag, wieder und wieder; mitunter kam sie sich vor wie der Schwarze Tod, der über die Erde zog und eine Schneise der Verwüstung hinterließ.

So wie sie es jetzt im Kleinen auf Myrtles Feier tat, ein grinsender Totenschädel in einer Blase aus Dunkelkeit, der seine schwarzen Knochenfinger nach allen ausstreckte, die ihm zu nahe kamen.

Hör auf damit, du Idiotin, sofort! Lächle ihn an. Sag irgendetwas. Völlig egal, was. Du bist hergekommen, oder etwa nicht? Du bist Myrtles Gast. Also streng dich ein bisschen an. Nimm dein Joch auf dich …

Ein schwereres Joch als bisher, das stand fest. Sie war jetzt der Albtraum einer jeden Gastgeberin: eine überzählige Frau. Und nicht nur das, sie amüsierte sich nicht einmal. Überzählige Frauen hatten sich zu amüsieren wie wild, das war ihre Pflicht und Schuldigkeit.

»Eine tolle Party, nicht wahr?«, schrie sie durch das Stimmengewirr – und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Durften Witwen Partys »toll« finden? Würde dieser bärtige Mensch sie dafür verurteilen, würde er sie für herzlos halten?

Er schaute nur noch verschreckter drein, und so demütigend es auch war, Imogen atmete auf, als sie Myrtle herannahen sah, mit schaukelnden Diamantohrringen und fest ins Gesicht geschraubtem Lächeln.

»Liebste, du musst Terry kennenlernen«, drängte sie, während sie Imogen schon mit leichter, aber stählerner Hand von ihrem derzeitigen Opfer weg- und zum nächsten hinsteuerte. »Terry ist fixiert auf diesen Ulmenpilz, du weißt schon. Terry, das ist meine sehr liebe Freundin Imogen. Sie … sie …«

Sie ist Witwe, Punkt, aus. Mit steinerner Gleichmütigkeit sah Imogen Myrtles gesellschaftlichen Aplomb an der Aufgabe zerschellen, etwas über Imogen zu sagen, das sich an Witz mit dem Ulmenpilz messen konnte.

Sie gab auf.

»Terry – Imogen. Imogen – Terry« war das Äußerste, was sie sich abringen konnte, bevor sie floh wie vom Schauplatz eines Verbrechens.

Diesmal war es der Beruf – »Arbeitet Ihr Mann auch an der Universität?« –, aber ebenso gut hätten es die Ferien sein können oder Fußball oder die Zubereitung von Cordon Bleu. Es schien kein Thema unter der Sonne zu geben, mochte es noch so unverfänglich daherkommen, das nicht innerhalb von zwei Minuten unter hässlichem Knirschen mit ihrer Witwenschaft kollidierte. Und diesmal war es peinigender denn je, denn dieser Terry war noch einmal jünger, als seine Vorgänger es gewesen waren – ein Doktorand, so vermutete Imogen, ganz am Anfang seiner Arbeit –, und dementsprechend schüchtern. So schüchtern sogar, und so unbeholfen, dass er bei der Nachricht von Imogens Verlust nicht nur zuckte, er verschüttete vor lauter Schreck seinen Wein. Sein Kopf auf dem langen, rot anlaufenden Hals ruckte nach hinten; der Wein schwappte auf seine Hose; als er sie abtupfen wollte, fand er sein Taschentuch nicht, und Imogen, die auszuhelfen versuchte, fand ihres auch nicht.

Ich muss hier weg, dachte sie, während sie mit abgewandtem Gesicht in ihrer Handtasche kramte, als würde sie immer noch suchen. Ich muss weg hier, ich halte es nicht aus, ich ertrage diese ganzen Leute nicht. Ivor wird fuchsteufelswild sein, er hasst es, früh zu gehen, aber …

Aber Ivor ist tot. Ivor kümmert es nicht, wann du heimgehst. Ihn wird nie wieder etwas kümmern. Du kannst gehen, so früh es dir passt.

Also geh. Geh jetzt sofort, ohne dich auch nur zu verabschieden, und pfeif auf sie alle.

Die stillen, baumbestandenen Straßen zwischen Myrtles Haus und dem von Imogen waren selbst um diese vergleichsweise frühe Zeit fast menschenleer. Die Nacht war mondlos, die Luft schwer und feucht, nirgends ein Laut. Imogens Füße in den schmalen Schuhen rutschten auf dem durchweichten Novemberlaub – rutschten und schlitterten auf dem nassen Asphalt, wie auch Ivors Wagen geschlittert sein musste, als er in jener Nacht auf der Landstraße heimwärts fuhr, etwas zu flott im Zweifel, eine kleine Kraftdemonstration für die wenigen Verkehrsteilnehmer, die um halb zwei Uhr früh noch unterwegs waren. Sollten sie staunen, was sein neuer Wagen draufhatte, was er selbst mit fast sechzig noch draufhatte! Er, der Professor auf dem Feuerstuhl, der unsterbliche Überflieger, Liebling des Zeus – so hatte es ihn ereilt.

Es war noch nicht einmal zehn Uhr, als Imogen heimkam, aber das Haus, schwarz aufragend vor dem sternenlosen Himmel, lag im Dunkeln.

Natürlich lag es im Dunkeln. Wenn man kein Licht anknipst, bevor man nachmittags aus dem Haus geht, dann brennt auch keins, wenn man spät abends zurückkommt.

Doch so war es nicht immer gewesen. Noch vor Kurzem waren hier die Lichter so selbstverständlich erstrahlt, wie das Gras wuchs. Ivor schaltete nie irgendwo das Licht aus, er verabscheute solche Knauserei, und so hätte jetzt, zehn Uhr abends, zu seinen Lebzeiten jedes Fenster hell geleuchtet, das große Haus funkelnd wie ein Ozeanriese, der durch den Nachthimmel pflügt, mit Ivor am Ruder.

Imogen fröstelte. Als sie das Gartentor aufstieß, ging von den überhängenden Büschen ein kleiner Tropfenschauer auf ihr Haar und die Schultern nieder. In der Dunkelheit des Vordachs tastete sie nach ihrem Schlüssel, fand ihn, steckte ihn ins Schloss. Dann stählte sie sich, wie ein Schwimmer, bevor er ins eisige Wasser steigt, drückte die Tür auf und ging hinein.

Sie waren jetzt alle weg: die Verwandten, die Anwälte, die Nachbarn, die Freunde der Familie. Nicht einmal ihre Stieftochter Dot aus Ivors erster Ehe war mehr da; sie war heute Morgen abgereist. Richtig abgereist, hieß das, nachdem sie acht Wochen lang zwischen ihrem Haus und dem von Imogen gependelt war, gefangen in einem beglückenden Wirbel widerstreitender Pflichten. Dot liebte Pflichten, sie gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit und Unentbehrlichkeit, und widerstreitende Pflichten waren die besten von allen, denn sie erhoben sie geradewegs in den Stand der geistlich Reichen, machten aus ihr eine Magnatin der Begehrtheit, von allen gebraucht und vermisst. Selbst Herbert, ihr Mann, begann sie zu vermissen, wenn sie so lange fortblieb, dass das Haus sichtbar verlotterte und ihre kleinen Söhne Vernon und Timmie keine sauberen Kleider mehr für die Schule hatten. »Wann kommst du zurück, Dot?«, drängte er widerstrebend; doch kaum war sie einen Tag oder zwei daheim und die Familie nahm sie wieder als gegeben hin, fiel ihr ein, wie unersetzlich sie doch für ihre Stiefmutter war, welch unverzichtbare Hilfe bei der Sichtung der väterlichen Habe.

»Das kenne ich noch, das gehörte Mutter«, raunte sie mit andächtigem Unterton, während sie adleräugig durch die Räume ging und bald auf dies herabstieß, bald auf jenes. Oder: »Die hat ihm Tante Bertha geschenkt, sie hätte ganz sicher gewollt, dass sie auf unserer Seite der Familie bleiben.«

»Sollte Robin nicht auch gefragt werden?« war Imogens einziger Einwand gegen Dots sehr schlichtes Prinzip der Aufteilung gewesen, und Dot hatte mit einiger Strenge erwidert, wenn ihr kleiner Bruder mitreden wolle, dann solle er sich gelegentlich blicken lassen und helfen, statt unmittelbar nach der Beerdigung abzuhauen und nicht einmal eine Karte zu schicken.

Auch wieder wahr. Aber so war Robin eben; es überraschte sie kein bisschen, dass er sich rarmachte. Wobei sie auch Dot ab jetzt deutlich seltener sehen würde – die mehr als sechzig Meilen von London bis hierher waren doch eine weite Strecke, nun, da keine echte Not mehr am Mann war. Die Nachbarsbesuche wurden ebenfalls spärlicher; sie waren großartig gewesen, ausnahmslos, alle hatten sie anfangs angerufen oder waren gekommen, um zu fragen, ob sie irgendetwas tun könnten. Während dieser ersten Tage war die Hilfsbereitschaft über das Haus hereingebrochen wie ein Tornado, aber jetzt flaute der Wind langsam ab; das Auge des Mitleidssturms war weitergezogen, fort von diesem Haus, zu anderen Unglücksstätten. Selbst Edith Hartman von nebenan kam nicht mehr ganz so oft mit Tassen lauwarmer Brühe und aufbauenden Geschichten über Leute, die kürzlich an Krebs verstorben waren.

Heute würde Imogen zum ersten Mal ganz und gar allein sein. Eine volle Minute stand sie, nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte, reglos in der pechschwarzen Stille und wartete darauf, dass die Einsamkeit über ihr zusammenschlug. Wie wenn man sich den Zeh an einem Stein gestoßen hat und darauf wartet, dass der Schmerz einsetzt.

Sie empfand nichts als eine überwältigende Dankbarkeit. Endlich Ruhe! Die Stimmen, das Gepäck, der Wirrwarr des Kommens und Gehens; die Tränen, die Mahlzeiten, die Streitereien – all das war vorbei. Jetzt hatte sie endlich, wonach sie sich so lange schon sehnte: Stille, Einsamkeit und Frieden.

Und Ivor. Es war wieder Platz für Ivor, nun, da alle anderen weg waren. Nachdem sie den Mantel ausgezogen und ihre kippeligen Ausgehschuhe gegen weiche Pantoffeln vertauscht hatte, ging sie durch das leere Haus und versuchte, seiner wieder habhaft zu werden. Raum für Raum wanderte sie ab und betrachtete Gegenstand um Gegenstand, berührte seine Bücher, seinen Schreibtisch, seinen großen Ledersessel, roch an dem schweren bronzenen Aschenbecher, in dem noch die Aschereste seiner Pfeife klebten: kalt wie seine eigene Asche und fast exakt gleich alt wie sie. Und während sie über die Teppiche tappte, über die schweren, exotischen Läufer, die er wie Kriegsbeute aus allen Teilen der Welt mit heimgebracht hatte, kam es ihr vor, als wäre sie selbst es, die tot war: ein Geist, der an die Orte von früher zurückkehrte. Ihre Füße erzeugten kaum mehr an Geräusch als die Herbstblätter draußen.

Die Küche, sauber und blitzend, wie Dot sie am Morgen hinterlassen hatte. Das Wohnzimmer, schon jetzt museal anmutend nach all den Wochen des Nichtgebrauchs, der gedämpften Stimmen und feierlichen Beratungen. Das Esszimmer, nicht länger der Schauplatz von Candle-Light-Dinners für Ivors bedeutende Freunde, sondern eine Art Hauptverwaltung für die geschäftliche Seite der Trauer. Auf dem langen Refektoriumstisch türmten sich die Beileidsschreiben, die sie aus aller Welt erreicht hatten.

Wie Ivor es genossen hätte, tot zu sein! Welch ein Jammer, dass er das alles verpasste! Er hätte geschwelgt in der Flut von Briefen, die mehrmals täglich zu Dutzenden eingegangen waren, jeder einzelne ein Tribut an seine Person. Imogen sah ihn vor sich, wie er sie in dicken Packen von der Fußmatte aufgeklaubt hätte, Gleichgültigkeit heuchelnd. »Die schau ich später durch«, hätte er gewollt beiläufig gesagt, um dann, verstohlen wie ein Alkoholiker, mit ihnen im Arbeitszimmer zu verschwinden. Und dort, hinter verschlossener Tür, hätte er sich auf sie gestürzt, mit leuchtenden Augen; gar nicht schnell genug hätte er sie aufreißen können …

»… ein Freund, wie ich ihn mit Sicherheit kein zweites Mal finden werde …«

»… ein großer Gelehrter und doch von beispielhafter Demut …«

»… Sein Mut ist es, den ich immer in Erinnerung behalten werde, sein Mut und seine Lebensfreude. Dieser unvergessliche Abend damals – es dämmerte schon, und die Kamele trafen und trafen nicht ein …«

»Der beste Dozent, den wir jemals hatten, und der großherzigste aller Menschen. Sein Einsatz für seine Studenten war unermüdlich … Inspiration für die Begabten … ein Quell der Kraft für die Schwachen … ein brillanter Gelehrter und ein brillanter Lehrer … ein loyaler und allseits beliebter Kollege …«

»… Nie werde ich vergessen, wie gütig er an diesem Tag zu mir wahr … ich, die schüchterne, unbedeutende Studienanfängerin, und er, schon damals auf seinem Gebiet weltberühmt … Er sagte nicht viel, saß nur da, die Pfeife im Mund, und ließ mich reden … aber es war genau das, was ich brauchte …«

Langsam faltete Imogen den letzten Brief wieder zusammen und legte ihn auf den Stapel zurück. Das also war Ivors Denkmal: goldene Erinnerungen in Tausenden von Herzen, Loblieder aus allen Teilen der Erde. Das war es, was von ihm übrig blieb.

Und irgendwo unter alledem, tiefer vergraben, als das tiefste Grab es vermochte, lag der echte Ivor.

Ein Gefühl so absoluten, unwiederbringlichen Verlusts übermannte sie, dass sie den Kopf auf die verstreuten Papiere legte und ihren Tränen freien Lauf ließ.

»O Gott«, murmelte sie – und näher an einem Gebet war wohl nichts, was Imogen jemals geäußert hatte –, »bitte, lieber Gott, lass mich nie vergessen, was für ein Ekel er sein konnte.«

2

Die große Standuhr, die Mitternacht schlug, rüttelte sie auf.

Sie sollte diese Briefe beantworten, statt sie nass zu weinen. In zwei ganzen Monaten hatten sie und Dot es gerade mal geschafft, ein Drittel abzuarbeiten, und es kamen immer noch neue dazu.

»Zehn pro Tag«, hatte Dot vorgeschlagen, auf diese schwerfällige, humorlose Art, die ihren Mann schon seit Jahren zu Überstunden trieb. »Wenn wir beide jeden Tag zehn schreiben, Imogen, dann sind wir in – warte mal, zwanzig am Tag sind hundertvierzig die Woche – in einem Monat durch. Ein bisschen über einem Monat.«

Nur bekamen sie schon sehr bald das Gefühl, dass fünf am Tag ein realistischeres Ziel sein könnte … dann drei … dann zwei; und an diesem Punkt waren die rechnerischen Aussichten so deprimierend geworden – das Projekt, so schien es, würde sie beide den Großteil ihrer verbleibenden Lebenszeit kosten –, dass Dot entschieden hatte: Ein System musste her. Darum die Eingangskörbe, die Pappkartons und die Zettel, auf denen Dinge standen wie »Zu beantworten vor dem 7. Dezember«, »Freunde, aktuell«, »Freunde, divers«, »Verlage etc., außer Charlie« und »Die australische Truppe«. Imogen fand die Klassifikationskriterien nicht ganz durchschaubar, aber sie sah ein, dass eine solche Aufteilung leichter war, als die Briefe tatsächlich zu schreiben.

Letztlich entledigte man sich einer Aufgabe natürlich nur auf eine Weise, nämlich indem man sie anging, aber mit dieser Logik drang man zu Dot nicht durch. Sie komme nach ihrer Mutter, hatte Ivor oft gesagt, womit er recht gehabt haben konnte oder auch nicht. In all den Jahren hatte Imogen diese früheste ihrer Vorgängerinnen nie kennengelernt, darum konnte sie solch elterliche Schuldzuweisungen schwer einschätzen.

Sie wischte sich die Augen, die sich geschwollen und wund anfühlten, und griff blindlings nach dem obersten Brief auf dem nächstliegenden Stapel. »Immer von der Platte nehmen, die dir am nächsten steht«, pflegten sie einem als Kind am Teetisch zu sagen, ein sehr brauchbarer Rat. Egal, was für ein Brief dieser oberste war, wichtig oder unwichtig, leicht oder schwierig, dringend oder nicht, sie würde ihn beantworten, schlicht und einfach beantworten, jetzt sofort. Und damit der furchtbaren Entscheidung, wo sie beginnen sollte, enthoben sein.

O nein, ausgerechnet! Tja, Imogen, recht geschieht dir, wenn du die Wahl dem Schicksal überlässt. Gerade du, als Frau eines Altphilologen! All diese griechischen Tragödien – wer sollte besser wissen als du, was dem Schicksal alles einfallen kann, wenn die Götter nicht länger auf deiner Seite sind?

Witwe eines Altphilologen, verbesserte sie sich und fing zu lesen an. Ein zweites und dann ein drittes Mal las sie die fünf eng beschriebenen Seiten durch und starrte danach fast eine Minute lang auf die schweren Samtvorhänge, die die Nacht hinter den großen Fenstern aussperrten.

Schließlich zog sie die Schreibunterlage zu sich und griff nach ihrem Füller.

»Liebe Cynthia« – oder schrieb sie besser »Liebe Mrs Barnicott«? Wie spricht man die Ex-Frau – zweite Ex-Frau – seines Ehemanns an, die einen in dreizehn Jahren kaum eines Wortes gewürdigt hat? Imogen durchblätterte die dünnen Seiten des Luftpostpapiers nach irgendeinem Hinweis darauf, welche Regel hier griff, aber sie fand nichts.

»Ach, meine Liebe«, so begann der Brief. »Ach, meine Liebe, Worte vermögen nicht auszudrücken, was …«

Ein guter Grund, hätte man meinen sollen, nicht gar so viele zu verwenden. Fünf Seiten!

Sei’s drum, los geht’s …

Sie hatte ihren Brief kurz halten wollen: kurz und würdevoll, in möglichst markantem Gegensatz zu Cynthias weitschweifigen Übertreibungen. Aber hier war sie nun, bereits auf der dritten Seite, und noch immer waren die eigentlichen Punkte nicht angesprochen – oder umschifft.

»Nein, natürlich finde ich es nicht seltsam, dass Sie ihn immer noch lieben«, schrieb sie, »und ich bin überzeugt, tief in seinem Herzen wusste er das …«

Natürlich hatte er es gewusst, der alte Schlawiner. Es gewusst und sich darin gesonnt, so wie er sich in jedermanns Liebe sonnte, zu jeglicher Zeit. Nur Mühe durfte es ihm keine machen, und bei Ex-Frauen gab es noch dazu die Geldfrage, die den nostalgischen Glorienschein, mit dem er sie sonst gern umgeben hätte, eine Spur trübte.

»… Wie Sie sagen, eine Entscheidung hinsichtlich der Fortführung der Unterhaltszahlungen an Sie muss getroffen werden«, schrieb Imogen hastig, als würde sich die Angelegenheit in nichts auflösen, wenn sie die Worte nur rasch genug zu Papier brachte: »… Ich bin mir sicher, der Nachlassverwalter nimmt sich der Sache an, und Sie werden recht bald von ihm hören …«

Recht bald, Pustekuchen! Es wird sich Monate hinziehen, das tun diese Geldangelegenheiten immer, wie du, liebe Cynthia, besser wissen solltest als irgendjemand sonst. Wie viele Jahre hat es gedauert, bis du deine Unterhaltsansprüche gegen Ivor endlich durchgesetzt hattest? Fünf Jahre? Sieben? Fast die Hälfte meiner Ehe mit ihm auf alle Fälle. Wenn du wüsstest, wie er über dich hergezogen ist, meine Liebe, beim Frühstück, denn das war die Zeit, zu der deine nörgelnden Briefe in aller Regel eintrafen. Während die schönen krossen Speckstreifen, die ich ihm gebraten hatte, auf seinem Teller erstarrten und das perfekt gelungene Spiegelei kalt und ledrig wurde … Und jetzt hast du die Stirn, mir einen Kondolenzbrief zu schreiben.

Egal. Weiter im Text.

»… So sehr ich Ihre Empfindungen nachfühlen kann, glaube ich doch, dass nichts gewonnen wäre, wenn Sie zum jetzigen Zeitpunkt nach England kämen (Umbringen würde ich sie!), und so schön und ergreifend ich Ihre Vorstellung finde, Ivor hätte gewollt, dass wir gemeinsam um ihn trauern …«

O ja, es wäre genau das, was Ivor gewollt hätte: seine Frau und seine Ex-Frau in trautem Beisammensein, bitterlich weinend über sein Ableben. Vielleicht würde ja auch Nummer eins gern dazukommen, aus ihrer Trinkerheilanstalt Gott weiß wo, sodass sie ein Dreigespann bilden konnten?

Also gut, Ivor hätte es gefallen. Nur ist Ivor leider nicht mehr da, liebe Cynthia. Was jetzt zählt, ist, ob mir etwas gefällt oder nicht. Ich bin diejenige, die dich am Flughafen abholen müsste, dein Bett beziehen, dich fragen, ob du eine Wärmflasche möchtest, einen Kakao, Cornflakes … Und am zweiten Tag würdest du immer noch da sein, und ich müsste mit dir reden, dir die Marmelade reichen, mir überlegen, was zum Teufel ich mit dir anfangen soll. Denn du würdest natürlich wochenlang bleiben wollen, nachdem du einmal den weiten Weg von den Bermudas auf dich genommen hättest, 400 Pfund hin und zurück, nicht wahr?

Ich hasse dich nicht, meine Liebe, keineswegs, ich will mich nur nicht mit dir herumschlagen müssen. Genau wie Ivor.

Genau wie Ivor. Wie hätten Ivor die maliziösen Gedanken gefreut, die ihr beim Abfassen ihres korrekten, schicklichen Briefs durch den Kopf gingen. Im Geist hörte sie sein leises, kehliges Lachen, während er ihr über die Schulter sah und las, was sie geschrieben hatte. Hörte seine klangvolle, spöttische Stimme, mit der er sie zu schändlichen Postskripten und Zusätzen anstiftete.

»Schick ihr viele Küsse von mir«, hätte er etwa gesagt, in dem ganz eigenen süffisanten Ton, der den Bemerkungen über seine Ex-Frauen vorbehalten war, »sie weiß ja nicht, dass das ›X‹ im Altakkadischen das Ideogramm für ›hau ab‹ ist. Schau, so – ein stolpernder Mann, der über die Schwelle geschubst wird …«

Wie hätten sie miteinander darüber gelacht, sie und Ivor – vielleicht sogar tatsächlich die Reihe von Kreuzchen ans Ende des Briefes gesetzt, kichernd wie zwei Schulkinder. Über seine Ex-Frauen zu spotten war ein Lieblingszeitvertreib von Ivor und Imogen, sie brillierten darin – wie eines dieser perfekt aufeinander eingespielten Tänzerpaare, so kam es ihr immer vor. Irgendwie schuf es eine große Nähe zwischen ihnen beiden.

Nie wieder. Nie wieder würde sie mit jemandem so witzig und boshaft sein können wie mit Ivor. Witzig, ruchlos, sich biegend vor herzlosem Gelächter, skrupellos vor Liebe …

Herrgott, jetzt weinte sie schon wieder! Sie war die ständigen Tränen so leid, und nun flossen sie von Neuem, tropften unkontrolliert auf ihren Brief hinab, sodass er fleckig wurde, mitleiderregend.

Hör auf, du Idiotin, hör sofort auf!

Mitleiderregend, o ja. Ein Jammer, dass Cynthia sie nicht sehen konnte, das wäre ein Anblick so recht nach ihrem klischeeverliebten kleinen Herzen gewesen: die arme, einsame Witwe, die tiefnachts in ihrem leeren Haus sitzt und den Albernheiten nachweint, die von nun an nie mehr jemand komisch finden wird.

Es mochte eine halbe Stunde später sein, irgendwann zwischen eins und zwei, als plötzlich das Telefon klingelte, und im ersten Moment bildete sich Imogen in einer Umnachtung, die halb dem Kummer geschuldet war, halb dem Schlaf, ein, dass schon Morgen sei – dass sie verschlafen hatte und ihr der Tag schon davonzog mit seiner Geschäftigkeit, seinem Lärm: Türklingeln, Telefonen, Wäschereiangestellten, Nachbarn. Sie wollte aus dem Bett springen – und merkte da erst, dass sie gar nicht im Bett lag, ja dass sie die ganze letzte Nacht nicht ins Bett gekommen war … Himmel, nein, es war ja noch letzte Nacht!

Sie war aufgeblieben, um Briefe schreiben … Das war es. Der unvollendete Brief an Cynthia lag noch vor ihr auf dem Tisch.

Klingeling … Klingeling … Wer konnte es sein, der um diese Zeit anrief? Und mit was für einer Nachricht? Imogen empfand nichts von der Unruhe, die ein normaler Mensch verspürt hätte. Sie fühlte sich durch ihre Trauer gefeit gegen jedweden weiteren Kummer, und so hob sie den Hörer ohne das leiseste Angstbeben ab – ja, fast ohne ein Flackern der Neugier. Hätte man ihr mitgeteilt: »Ihre Schwester in Australien ist tot« oder »Ihre Stieftochter Dot ist tot« oder »Ihr Stiefsohn Robin« oder eines der Enkelkinder – sie hätte lediglich gesagt: »Ja, ich weiß.«

Aber nichts von alledem zu hören – das warf sie aus der Bahn. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Mrs Barnicott?«, sagte die Stimme mehrmals. »Hier spricht doch Mrs Barnicott, oder?«

Eine Männerstimme. Die eines jungen Mannes – eines sehr jungen –, und als er weitersprach, wurde ihr Denken allmählich klarer.

»Auf der Party?« Natürlich, Myrtles Party. Diese grässliche Party gestern Abend – heute Abend – was auch immer. Aber wer …?

»Ja … selbstverständlich erinnere ich mich …«, behauptete sie, um Zeit zu gewinnen, und dann plötzlich erinnerte sie sich tatsächlich, und ihre Stimme wurde spröde vor Verlegenheit, als ihr die Einzelheiten wieder einfielen.

»Sie sind – wir haben über diesen Ulmenpilz geredet?«, sagte sie vorsichtig.

»Nun ja, nein.«

Unkonstruktiv, aber sachlich richtig. Myrtle war es gewesen, die ihn als Fachmann für das Ulmensterben vorgestellt hatte. Fixiert sei er darauf, hatte sie gesagt.

Imogen nahm einen neuen Anlauf.

»Sie sind …«, sie fischte in dem Wust ihrer Eindrücke, »Sie sind Terry, nicht wahr? Sie sind …«

»Nun ja, nein«, sagte er wieder, vielleicht noch unkonstruktiver als zuvor. »Der Name ist ›Teri‹. T-E-R-I …«

»Oh.« Ein Zusatz, so schien es Imogen, der jedes weitere Gespräch erfolgreich verbaute. »Hoffentlich geht’s Ihrer Hose halbwegs?«, haspelte sie sinnlos – aber die ganze Angelegenheit war ja ohnehin so aberwitzig, um diese Nachtzeit noch dazu, »… wegen dem Wein, meine ich.«

Was für eine schwachsinnige Unterhaltung! Niemand hatte das Recht, einen zu solchen Schwachsinnigkeiten zu treiben.

»Ja, alles gut.«

Die nächste Sackgasse. Imogen konnte hören, wie er Atem schöpfte, sich bereit machte, während das, was der eigentliche Grund seines Anrufs war, sich seine Kehle hocharbeitete.

»Hören Sie, Mrs Barnicott, ich wollte Ihnen sagen … beziehungsweise, ich wollte mich entschuldigen, ich meine, so wie es mich gerissen hat … mit dem Wein und allem. Es tut mir leid.«

»Schon gut«, sagte Imogen eine Spur frostig. Wie breit wollte er das Missgeschick denn noch treten?

»Verstehen Sie«, fuhr er fort und machte es dadurch mit jeder Silbe schlimmer, »es war einfach ein Schock, als Sie mir gesagt haben, dass Ihr Mann – also, als mir klar geworden ist, dass Sie …«

Dass ich Witwe bin. Ist ja gut, ist ja gut. Glaubte der Einfaltspinsel allen Ernstes, sie wüsste nicht, welches Wort ihn so aus der Fassung gebracht hatte? Natürlich war er erschrocken, jeder erschrak. Aber musste er nachts um zwei anrufen, um ihr das zu verkünden?

Sie wappnete sich gegen sein Mitleid wie gegen den Rückschwung einer Pendeltür. Das Mitleid der Jungen, Unversehrten war am schwersten zu ertragen.

»Nun, ich fürchte …«, setzte sie an, kalt und rachsüchtig – nur um plötzlich zu merken, dass ihr Anrufer noch weitersprach.

»Verstehen Sie«, sagte er, »mir war anfangs nicht bewusst, wer Sie sind – Myrtle hatte uns ja nur mit den Vornamen vorgestellt, wenn Sie sich erinnern, und daraus konnte ich natürlich nichts ableiten. Aber als Sie mir dann Ihren Nachnamen gesagt haben, und wer Ihr Mann war – das war das, was mich umgehauen hat. Denn schauen Sie, Mrs Barnicott, ich weiß zufällig recht viel über Ihren Mann und über die Umstände seines Todes. Zum Beispiel, dass sein Tod kein Unfall war. Und Sie wissen das auch, Mrs Barnicott, und zwar besser als jede andere, denn Sie haben ihn ja umgebracht.«

3

Ein Irrer, was sonst. Imogen lauschte entsetzt, mit zitternden Händen. Ein Irrer, der seinen Spaß daran hatte, auf die einzutreten, die bereits am Boden lagen; der sich die Hände rieb, wenn eine ohnehin schon verzweifelte Witwe sich noch elender fühlte.

Nur dass sie sich keineswegs elender fühlte. Im Gegenteil, sie fühlte sich schlagartig besser. Bei den Worten »Sie haben ihn ja umgebracht« hatte ein Strahl unfasslichen, sirrenden Glücks sie durchfahren – eine Empfindung, die noch schockierender, noch unbegreiflicher war als die Bezichtigung selbst. Eine überwältigende, grell leuchtende Sekunde lang war sie nicht mehr die arme, bedauernswerte Witwe, sondern eine glitzernde Ausgeburt von Niedertracht. Kommen Sie, mein Lieber, ich stelle Sie meiner Freundin, der Mörderin, vor. Das wäre mal ein Grund zum Zucken und Stottern. Sollten sie sich aus Angst verschlucken und ihre Hosen mit Rotwein bekleckern, nicht aus Mitleid. »Witwe«, ha!

Den Hörer ans Ohr gedrückt, ihr Schädel noch widerhallend von der irrwitzigen Anschuldigung, verspürte Imogen ein schwindelerregendes Gefühl von Umkehr, Hoffnung, Befreiung. Es gab sie noch, die verrückte, gefährliche, unberechenbare Welt dort draußen, mit ihren Spinnern, ihren Abartigkeiten, ihren Blitzschlägen aus heiterem Himmel. Diese graue Kapsel des Trauerns, in die sie seit Wochen eingeschlossen war wie in eine Gummizelle, war doch nicht alles, was das Leben noch zu bieten hatte. Irgendwo jenseits ihrer Wände drehte sich die reale Welt weiter wie zuvor. Für diesen kurzen Augenblick war es Imogen vergönnt, wieder das Zischen ihrer Giftpfeile zu hören, die Zacken und Kanten ihrer Drangsale und Wirren zu spüren.

Der Augenblick war vorbei, ehe sie sich seiner so recht bewusst werden konnte. Sie war wieder gefangen in ihrer Kapsel, weinend.

»Ein Irrer«, schluchzte sie wütend und knallte den Hörer auf die Gabel. »Als ob es mir nicht eh schon bis hier stehen würde – ein Scheißirrer!«

»Ein Irrer«, bestätigte Edith von nebenan am nächsten Morgen, die Lippen gespitzt über ihrem süßen, starken Kaffee, mit einem düsteren Nicken zu ihrer Nachbarin hin, die jetzt demütig und leidtragend bei ihr am Kamin saß – oder was der Kamin gewesen wäre, muss man wohl sagen, hätte Edith nicht im ganzen Haus Zentralheizung gehabt, weshalb da, wo einst die Flammen ihren flackernden Tanz aufgeführt hatten, nun Plastiknarzissen und trockene Gräser standen. Es war absurd früh für einen Kaffee, Imogen hatte eben erst gefrühstückt, aber Edith mochte ihre schlechten Nachrichten am liebsten frisch, und sobald sie gemerkt hatte, dass es neue Probleme im Trauerhaus gab (wie sie das Nachbarhaus derzeit nur nannte), hatte sie Telefon, Kaffeekanne und Kessel mit einem einzigen, geübten Griff zur Hand genommen.

»Da müssen Sie wirklich aufpassen«, belehrte sie Imogen, während sie in einem damenhaften kleinen Schauspiel der Gier den Zucker vom Grund ihrer Tasse löffelte und dabei den Eindruck zu erwecken verstand, dass sie mit irgendetwas wieder einmal recht gehabt hatte. »Sie können gar nicht vorsichtig genug sein, meine Liebe … eine Frau ganz für sich allein, ohne Schutz. Ich weiß, wovon ich rede. Ist Ihnen klar, Imogen, dass es jetzt vier Jahre sind – vier ganze Jahre –, seit mein lieber, guter Desmond von mir gegangen ist? Vier Jahre nächsten Donnerstag …?«

Auf diesen vier Jahren Vorsprung im Verwitwetsein ritt Edith ziemlich herum, fand Imogen. Sie erwähnte sie in jeder Unterhaltung, bald als Trost, bald als Warnung, bald um, sehr behutsam, anzudeuten, dass Imogen nicht ganz so sehr trauerte, wie sie sollte.

»Sie sind so tapfer«, pflegte sie zu sagen, »und das nach nur zwei Monaten. Also ich konnte nach zwei Monaten nur weinen, weinen und nochmals weinen. Wissen Sie, meine Liebe« – hier begann sie sich die Augen zu tupfen und dabei an ihrem Taschentuch vorbei scharf zu Imogen hinüberzuspähen, ob diese hoffentlich auch tupfte –, »bei mir brauchen Sie die Ohren nicht steifzuhalten. Lassen Sie es heraus, halten Sie es nicht unter Verschluss, weinen Sie nach Herzenslust. Denken Sie dran, ich habe das alles selbst durchgemacht, ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.«

Nichts weißt du, dachte Imogen dann missmutig. Wenn du das tätest, würdest du die Klappe halten, verdammt! Während sie laut sagte: »Ja, Edith, ich weiß« – fügsam und vage schuldbewusst, dass sie nicht eine einzige Träne aufbrachte. Und das Seltsame war, sann sie mitunter, ihre Ohren fühlten sich wirklich steif an in Ediths Gegenwart, und nicht nur sie, sondern der ganze Rest ihres Körpers.

Aber heute Morgen war Edith zu fasziniert von dem nächtlichen Zwischenfall, um sich lange mit der Etikette des Trauerns aufzuhalten. Sie hatte Ratschläge und zweckdienliche Warnungen en masse zu bieten.

»Sie können nicht vorsichtig genug sein«, wiederholte sie, wissend und eine Spur auftrumpfend. »Ich habe ständig Anrufe dieser Art bekommen. Monatelang, jede Nacht, und manchmal untertags auch noch. Oh, es war schrecklich!«

Natürlich. Alles – aber auch wirklich alles! – war bei ihr um diese eine, entscheidende Nuance schrecklicher gewesen als bei Imogen. Sich ihres niederen Ranges in der komplexen Hierarchie der Witwenschaft bewusst, beugte Imogen den Kopf über ihren Kaffee. Was immer dazu vonnöten war, um Anrufe »dieser Art« jede Nacht und manchmal auch untertags zu bekommen, sie, Imogen, besaß es eindeutig nicht. Sie hatte nach acht Wochen nur einen einzigen Anruf »dieser Art« vorzuweisen.

Aber welcher Art überhaupt? Ein Fünkchen Kampfgeist regte sich nun doch in ihr, und sie hob den Kopf wieder.

»Man hat Sie beschuldigt, Desmond ermordet zu haben? Jede Nacht?«, erkundigte sie sich harmlos, und im Sprechen durchfuhr Ivors Fehlen – dass er sie nicht hörte, nicht sah, sich nicht mit ihr amüsierte – sie wie ein Schwerthieb. Wie hatte er es genossen, versteckte Spitzen gegen Edith-von-nebenan abzufeuern oder von Imogens versteckten Spitzen gegen sie zu hören. Sich vor ihm damit schmücken zu können, hatte der Sache erst ihre Würze verliehen. Wenn sie Edith künftig auf die Schippe nahm, dann blieb sie allein damit.

»Imogen! Wie können Sie nur so etwas Furchtbares sagen! Natürlich hat mich niemand jemals beschuldigt, ich hätte … ich könnte … was für ein Gedanke! Meinen liebsten Ehemann … so innig waren wir … solch gute Freunde … nicht ein böses Wort in all den Jahren …«

Ivors gesammelte böse Worte über die Jahre zerschnitten das Gespräch wie ein Peitschenknall, und beide Frauen verstummten einen Augenblick, um ihrem Nachhall zu lauschen … quer über den sommerlichen Rasen tönend … aus der eiskalten Garage dröhnend … laut und klar aus den offenen Treppenhausfenstern dringend: Wo zum Teufel ist mein Dies? Welcher Idiot hat mein Das weggenommen? Wie blöd bist du eigentlich, dass du denkst, ich …? Vier Jahre lang, seit sie ins Nachbarhaus gezogen war, musste Edith ihn über die Hecke hinweg brüllen gehört haben, und mit Sicherheit hatte sie sich alles gemerkt.

Es war schlicht nicht fair. Ivor war verdammt noch mal am Leben