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Fakedating auf einem idyllischen Landgut, ein Glamour-Winterball und jede Menge Gefühle Stadtpflanze Tia graut vor den Weihnachtsferien. Gerade ist ihre Beziehung in die Brüche gegangen und nichts findet sie schrecklicher, als ausgerechnet jetzt London verlassen zu müssen. Ihre sofortige Abneigung dem Landgut Saiyan Hedge gegenüber wird nur noch übertroffen von ihrer Abscheu vor Quincy, dem Sohn des Besitzers. Quincy wiederum ist wenig begeistert von Tia. Doch da er eine Alibifreundin für den Winterball braucht und Tia ihren Ex eifersüchtig machen will, gehen sie eine Fake-Beziehung ein. Als ein Schneesturm droht, den Winterball zu verhindern, wird ihre Beziehung auf den Prüfstand gestellt und die Grenzen zwischen Realität und Schein verschwimmen … So süß wie eine Tasse heiße Schokolade in der Weihnachtszeit – eine cozy Winter-Romance von der »Love in Winter Wonderland«-Autorin
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Seitenzahl: 435
Veröffentlichungsjahr: 2024
Abiola Bello
Fakedating auf einem idyllischen Landgut, ein Glamour-Winterball und jede Menge Gefühle
Stadtpflanze Tia graut vor den Weihnachtsferien. Gerade ist ihre Beziehung in die Brüche gegangen und nichts findet sie schrecklicher, als ausgerechnet jetzt London verlassen zu müssen. Ihre sofortige Abneigung dem Landgut Saiyan Hedge gegenüber wird nur noch übertroffen von ihrer Abscheu vor Quincy, dem Sohn des Besitzers. Quincy wiederum ist wenig begeistert von Tia. Doch da er eine Alibifreundin für den Winterball braucht und Tia ihren Ex eifersüchtig machen will, gehen sie eine Fake-Beziehung ein. Als ein Schneesturm droht, den Winterball zu verhindern, wird ihre Beziehung auf den Prüfstand gestellt und die Grenzen zwischen Realität und Schein verschwimmen …
So süß wie eine Tasse heiße Schokolade in der Weihnachtszeit – eine cozy Winter-Romance von der »Love in Winter Wonderland«-Autorin
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Abiola Bello, geboren und aufgewachsen in London, ist eine nigerianisch-britische Autorin. Sie setzt sich für Diversität in Kinder- und Jugendbüchern ein und erhielt 2018 den Trailblazer Award der Londoner Buchmesse. Love in Winter Wonderland ist ihr erstes Jugendbuch.
Widmung
1 Quincy
2 Tia
3 Quincy
4 Tia
5 Quincy
6 Tia
7 Quincy
8 Tia
9 Quincy
10 Tia
11 Quincy
12 Tia
13 Quincy
14 Tia
15 Quincy
16 Tia
17 Quincy
18 Tia
19 Quincy
20 Tia
21 Quincy
22 Tia
23 Quincy
24 Tia
25 Quincy
26 Tia
27 Quincy
28 Tia
29 Quincy
30 Tia
31 Quincy
32 Tia
33 Quincy
34 Tia
35 Quincy
36 Tia
37 Quincy
38 Tia
39 Quincy
40 Tia
41 Quincy
42 Tia
43 Quincy
44 Tia
45 Quincy
46 Tia
47 Quincy
48 Tia
49 Quincy
50 Tia
51 Quincy
52 Tia
53 Quincy
54 Tia
55 Quincy
56 Tia
57 Quincy
58 Tia
59 Quincy
60 Tia
61 Quincy
62 Tia
63 Quincy
64 Tia
65 Quincy
66 Tia
67 Quincy
68 Tia
69 Quincy
70 Tia
71 Quincy
72 Tia
73 Quincy
74 Tia
75 Quincy
76 Tia
77 Quincy
78 Tia
79 Quincy
80 Tia
81 Quincy
82 Tia
83 Quincy
84 Tia
Danksagung
Für meine wunderschöne Mum.
Du bist perfekt.
x
8. Dezember
Ich habe den Supermarkt erst vor knapp fünf Minuten betreten, da höre ich »Oh, Quincy!«
Als ich mich umdrehe, steht Mrs Huntington vor mir, eine weiße Frau um die Sechzig in Pelzmantel und mit Perlen behängt. Unter dem Mantel trägt sie eine taubenblaue Bluse und einen dazu passenden Rock. Sie ist die Eigentümerin von Huntington’s, einer Reihe Luxusferienhäuser, die sie hier in White Oak vermietet.
»Hallo, Mrs Huntington. Wie geht es Ihnen?«, sage ich und bin überrascht, als sie ihre behandschuhte Hand auf meinen Arm legt.
Bedrückt blickt sie mich an. Ich befürchte schon, dass sie mir gleich erzählen wird, ihr Mann sei gestorben, denn er ist seit Jahren krank, doch dann sagt sie: »Ich habe das von dir und Kali gehört, du Armer.«
Und da ist es. Wir haben uns vor wenigen Monaten getrennt, aber so etwas spricht sich schnell herum, vor allem in einer Kleinstadt wie White Oak.
»Was ist denn passiert?«, bedrängt sie mich nun regelrecht und macht noch einen Schritt auf mich zu, sodass mir der blumige Geruch ihres Parfüms in die Nase steigt. »Ihr wart doch seit Jahren zusammen, nicht wahr? Ich habe euch immer für ein so hinreißendes Paar gehalten.«
Ich zucke mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, dabei habe ich den vertrauten Kloß im Hals, wie immer, wenn ich an Kali denke. Trotz allem fehlt sie mir. Und wie soll ich das Ganze hinter mir lassen, wenn mich ständig jemand auf sie anspricht? Alle wollen wissen, wieso wir uns getrennt haben, doch wenn ich erzählen würde, was tatsächlich vorgefallen ist, wäre es mit Kalis Ruf als süßes unschuldiges Mädchen vorbei. Um ehrlich zu sein, habe ich tatsächlich darüber nachgedacht, die Wahrheit zu erzählen. Aber ich könnte wetten, dass Mrs Huntington völlig schockiert mitten im Supermarkt umfallen würde, wenn ich offen zu ihr wäre.
»Es sollte nicht sein«, erwidere ich nur und deute auf den vollen Einkaufskorb in meiner Hand. »Cameron sitzt draußen im Wagen, also gehe ich mal lieber bezahlen.«
»Oh, natürlich, mein Lieber, dein Bruder soll nicht unnötig warten. Und ich bin sicher, du findest eine andere bezaubernde junge Dame als Begleiterin für den Winterball.« Ihre Stimme hebt sich um eine Oktave. »Es freut mich so sehr, dass der Ball in diesem Jahr von deiner Familie ausgerichtet wird.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Auch wenn ich Mrs Huntington ganz nett finde, erkenne ich an ihrem Tonfall, dass sie lügt.
Der Winterball ist das Event des Jahres. Er findet immer am dreiundzwanzigsten Dezember im Renaissanceballsaal des Tudor-Herrenhauses statt, das ich früher immer für ein Schloss gehalten habe. Einst gehörte es einer superreichen Familie, die es im neunzehnten Jahrhundert der Stadt überlassen hat. Seitdem ist der Winterball zur Tradition geworden.
Wir sind eine der wenigen Schwarzen Familien hier und bisher wurde der Ball noch nie von einer Schwarzen Familie organisiert, obwohl sich meine Eltern jedes Jahr darum bemüht haben. Doch in diesem Jahr hat das Komitee zugestimmt.
»Ja, wir sind sehr aufgeregt«, erwidere ich freundlich und setze mich in Bewegung, ihre behandschuhte Hand rutscht von meiner Daunenjacke. »Grüßen Sie Mr Huntington von mir.« Sowie ich mich von ihr abgewandt habe, verdrehe ich die Augen.
Nachdem ich an der Kasse war, bringe ich den Einkauf zu unserem schwarzen Geländewagen, der am Straßenrand parkt. Die Scheiben sind heruntergelassen, obwohl es eiskalt ist, und ein Song von Kendrick Lamar dröhnt heraus. Ich bin sicher, dass es Schnee geben wird, aber Mum meint, ich sollte es nicht beschreien, denn wenn es in unserer Gegend schneit, dann richtig – die Straßen sind unbefahrbar und alle müssen zu Hause bleiben. Das ganze Geld und all die Zeit, die wir in die Vorbereitung des Winterballs gesteckt haben, wären dann umsonst gewesen.
Mein älterer Bruder Cameron – oder Cam, wie wir ihn nennen – nickt im Takt der Musik. Seine langen Dreadlocks schwingen vor und zurück. Im Kofferraum liegen seine DJ-Ausrüstung und seine Visitenkarten mit dem Schriftzug KING CAM unter dem Logo einer Krone mit Kopfhörern.
Ich gehe zur Fahrerseite und brülle gegen die Musik an: »Cam, dein ganzes Zeug liegt im Kofferraum. Soll ich die Tüten lieber auf den Rücksitz stellen?«
»Nee, ich hatte neulich Sex mit Stacey auf der Decke hinten. Die muss ich noch waschen.«
Was zum Geier? Ich werfe einen Blick nach hinten und sehe eine graue Fleecedecke über dem Rücksitz ausgebreitet. Stacey und Cam sind zusammen zur Schule gegangen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie was miteinander haben.
»Wenn wir zurück sind, kümmere ich mich darum«, fügt er hinzu.
»Das ist echt widerlich, Mann.«
Cam lacht nur. Ich gehe wieder zum Kofferraum und schiebe die Sachen so hin, dass die Einkaufstüten hineinpassen.
»Hast du alles?«, sagt er laut, als ich neben ihm einsteige.
Ich spüre den Bass bis in meine Knochen und drehe die Musik leiser. »Du beschallst die ganze Straße«, sage ich und klinge wahrscheinlich vorwurfsvoll.
Cam grinst. Er ist einundzwanzig, also drei Jahre älter als ich, und wir könnten nicht unterschiedlicher sein. Er ist extrovertiert, ich bin eher zurückhaltend. Er bekommt Tag und Nacht Handynachrichten von irgendwelchen Mädchen, ich bin lieber in einer festen Beziehung. Er hat hellbraune Dreadlocks, die ihm bis zur Taille reichen, meine sind dunkler und schulterlang. Dafür ähneln wir uns körperlich. Wir sind beide über eins achtzig groß, haben eine schlanke Statur, tiefbraune Haut und dunkle Augen. Weil er in unserer Gegend als DJ arbeitet, erkennt ihn jeder, wenn er irgendwo auftaucht. Mum und Dad hatten seinetwegen ständig Beschwerden, aber seit er der Ansprechpartner für Partys ist, scheint sich die ganze Stadt damit abgefunden zu haben.
Cam drückt aufs Gas und der Wagen rast los. Ich strecke die Arme aus und stütze mich am Armaturenbrett ab, um nicht zur Seite zu kippen. Er hat nicht mal gewartet, bis ich angeschnallt bin. Noch ein Unterschied zwischen uns: Mein Bruder fährt wie ein Besengter.
»Arschloch«, sage ich, als ich den Gurt anlege.
»Sorry« erwidert er, wirkt aber kein bisschen, als würde es ihm leidtun.
Seufzend verschränke ich die Arme.
»Was ist los mit dir?«, will er wissen.
»Nichts«, brumme ich.
»Q, was ist los?«
»Fahr einfach, Mann.«
Cam wirft mir einen Blick zu, dann wechselt er die Playlist. Nun dröhnt Wizkid aus den Lautsprechern – mein Lieblingsmusiker. Das ist das Gute an Cam. Er weiß immer, wann man etwas auf sich beruhen lassen und dafür die Musik sprechen lassen sollte.
Die Landstraßen um White Oak sind lang und kurvenreich, sodass man nicht sehen kann, was hinter der nächsten Biegung kommt. Wir sind damit aufgewachsen und dennoch fahre ich immer vorsichtig. Cam fährt dagegen, als würde er Grand Theft Auto spielen. Selbst nachts, obwohl es keine Straßenbeleuchtung gibt. Wenn uns ein anderes Fahrzeug entgegenkommt, halte ich jedes Mal die Luft an. Aber Tatsache ist, dass er noch nie einen Unfall gebaut hat. Zumindest bis jetzt nicht …
An einem Schild mit der Aufschrift SAIYAN HEDGE FARM biegen wir links ab und fahren auf das Gutshaus zu, ein dreistöckiges Georgianisches Gebäude mit cremefarbenen Säulen am Eingang. An der Seite funkeln Lichterketten im Efeu, der das Mauerwerk bedeckt. Unser Gärtner Harry hängt sie immer im Dezember auf, damit das Haus weihnachtlich aussieht.
Unsere Eltern haben das Landgut von den Saiyans gekauft, bevor unsere ältere Schwester Drew geboren wurde. Sie haben sich kennengelernt, als Mum mit ein paar Freundinnen Urlaub in White Oak gemacht hat. Dad ist hier aufgewachsen, während Mum ein Stadtkind war. Sie ist eine großartige Köchin, liebt Tiere und das Landleben, deshalb lag es für sie nahe herzuziehen, um bei ihm zu sein.
Das Haupthaus mit Rezeption und Speiseraum für die Gäste liegt inmitten einer sechzig Hektar großen Grünfläche, auf der auch drei Cottages stehen, die wir vermieten. Wir beschäftigen ein paar Angestellte, trotzdem helfen wir alle mit. Wir haben Pferde, Kühe, Schafe, Hühner und Kaninchen. Ich bin hauptsächlich für die Reitstunden der Feriengäste zuständig. Ich reite, seit ich klein war und ich liebe es. Es hat für mich etwas Befreiendes und Beruhigendes, auf dem Rücken eines Pferdes durch die offene Landschaft zu galoppieren.
Cam kümmert sich normalerweise um die Rezeption im Gutshaus, die perfekte Gelegenheit für ihn, mit den heißen Mädchen zu flirten, die auf dem Landgut Urlaub machen. In letzter Zeit ist er allerdings wegen der Feiertage oft als DJ unterwegs, sodass ständig jemand für ihn einspringen muss, was ziemlich ätzend ist. Ich stehe nicht gern an der Rezeption, aber ich habe nicht wirklich eine Wahl. Wenn Drew über Weihnachten nach Hause kommt, kann sie hoffentlich aushelfen.
Es fühlt sich an, als wäre es ewig her, seit ich Drew zum letzten Mal gesehen habe. Sie lebt mit ihrem Freund Daniel, einem Modefotografen, in London in einem unglaublichen modernen Apartment mit Blick über die Stadt und hat gerade erst ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Drew ist Schauspielerin und war eine Weile in einer Soap zu sehen, die sie jedoch vor ein paar Jahren verlassen hat, um sich mehr auf das Filmgeschäft zu konzentrieren. Seit Kurzem läuft auf Netflix ein Thriller mit ihr, der gute Kritiken bekommen hat, und sie wird andauernd zu Preisverleihungen und Afterpartys eingeladen. Letzte Woche war sie auf dem Cover der Rebel Pop. Es ist echt schräg, wenn dich das Gesicht deiner Schwester von einem Zeitungsstand aus anlächelt.
Cams Handy pingt, als er gerade den Wagen eingeparkt hat. »Das ist Drew«, sagt er. »Sie schreibt, dass sie nächste Woche nur Regal mitbringt. Daniel will dann später beim Ball dazustoßen.«
»Regal kommt mit?«, frage ich.
Cam lacht los. »Du solltest das mal abhaken, Mann.« Er lacht weiter vor sich hin, während er eine Antwort an Drew tippt.
Alle – auch Regal – wissen, dass ich früher megaverknallt in sie war. Ich habe sogar Gedichte geschrieben und Playlists mit Lovesongs für sie zusammengestellt. Ich war noch ein Kind, aber alle reiten immer noch darauf herum.
Ich kenne Regal Majekodunmi, seit ich klein war. Ihre Mum, die wir Tante Shola nennen, war hier Haushälterin, seitdem sie damals aus Nigeria herkam. Also ist Regal praktisch mit uns aufgewachsen. Sie ist genauso alt wie Drew und die beiden sind seit ihrer ersten Begegnung unzertrennlich. Regal hat Cam und mich immer als kleine Brüder betrachtet, was mich ziemlich genervt hat. Und habe ich erwähnt, dass sie ein berühmtes Model ist? Völlig bescheuert, dass ich mir überhaupt Hoffnungen gemacht habe.
Cam lacht wieder, und erst jetzt bekomme ich mit, dass er mit Drew hin und her textet.
»Lass mich mal sehen.« Ich will nach seinem Handy greifen, doch er lehnt sich zur Seite und hält es baumelnd aus dem Fenster. »Echt jetzt, Cam?«
Vor Lachen kann er nicht antworten. Ich weiß, dass er und Drew sich über mich lustig machen, also springe ich aus dem Wagen und knalle absichtlich die Tür zu. Sofort habe ich seine Aufmerksamkeit.
»Hey, pass doch auf!«, ruft er.
Eigentlich teilen wir uns das Auto, also kann ich die Tür zuknallen, wie ich will. Ich mache mir auch nicht die Mühe, die Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen. Soll er sich doch darum kümmern.
Als ich das Haus betrete, steht Mum elegant gekleidet in Bleistiftrock und cremefarbener Bluse an der Rezeption. Drei Frauen, die in der letzten Woche auf dem Landgut übernachtet haben, checken gerade aus. Oreo, unser schwarz-braun-weißer Border Collie, rennt auf mich zu und leckt meine Hand.
»Warte kurz«, gibt Mum mir zu verstehen, also lehne ich mich an die Wand, während sich Oreo vor meine Füße legt. Drew hat ihm den Namen verpasst, weil sie dachte, dass wir einen Dalmatiner bekommen. Aber da Oreo tatsächlich auf Oreos steht, passt es trotzdem.
Unser Haus und die Cottages sind alle gleich weihnachtlich geschmückt. Es gibt Lichterketten und große weiße Kerzen, an Weihnachtsbäumen hängen goldene, bronzene und weiße Kugeln, Geschenke in cremefarbenem Papier liegen darunter, und am Kamin hängen drei Socken, auf denen große weiße Buchstaben aufgenäht sind, die JOY ergeben, wobei das O als Kranz mit rot umwickeltem Band dargestellt ist. Die allgemein zugänglichen Räume im Gutshaus sehen makellos aus, doch hinter den geschlossenen Türen ergibt sich ein ganz anderes Bild. Dinge für den Winterball stapeln sich an jedem verfügbaren Platz – Stühle, Tische, Kerzen, Tischdecken … – dabei dauert es noch eine Woche, bis wir Zugang zum Ballsaal bekommen.
»Vielen Dank für Ihren Besuch auf dem Landgut Saiyan Hedge«, sagt Mum zu den Frauen. »Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest.«
»Das wünschen wir Ihnen auch, Mrs Parker«, erwidern die drei wie aus einem Mund. Als sie gehen, lächeln sie mir zu und ich winke zurück.
Mum seufzt. Cam und ich sehen ihr ähnlich, während Drew eher nach Dad kommt. Mums Hautton ist dunkler als unserer, aber sie ist genauso groß, hat große braune Augen und schwarze Locken.
»Gia ist krank«, sagt sie.
»Schon wieder?« Ich stöhne auf. »Was ist es diesmal?«
»Magen-Darm.«
Gia ist seit vier Jahren Chefköchin bei uns und beherrscht alle Rezepte von Mum perfekt. Aber nun fehlt sie schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Als wir anfingen, Gäste zu empfangen, hat Mum noch alles selbst gekocht, was uns schnell den Ruf für das beste Essen in White Oak einbrachte. Die Leute kamen von überallher und wir hatten immer mehr zu tun. Also hat Mum eine weitere Köchin eingestellt und ihr beigebracht, ihre Gerichte zuzubereiten. Im Laufe der Jahre habe auch ich einige ihrer Rezepte nur vom Zugucken aufgeschnappt.
Doch Gias Fehlen ist nicht das einzige Problem. Wir haben schon seit längerer Zeit Personalmangel. Seitdem es immer mehr Ferienhäuser in der Gegend gibt, ist es kaum noch möglich, Leute zu finden. Mum ist der Ansicht, dass niemand den Haushalt so gut im Griff hatte wie Tante Shola und dass unsere derzeitigen Reinigungskräfte keine so gute Arbeit abliefern. Vielleicht haben wir nach dem Ball bessere Chancen auf neue Angestellte.
Mum schlägt bittend die Hände zusammen. »Könntest du das Abendessen für die Gäste zubereiten, Quincy? Ich wäre dir unglaublich dankbar!«, fügt sie hinzu, bevor ich Einspruch erheben kann. »Dad holt gerade noch mehr Stühle ab, ich muss Schreibkram erledigen und Cam legt heute Abend auf.«
»Wieso bleibt das immer an mir hängen?«, beschwere ich mich zum hundertsten Mal.
»Weil du der Beste bist.« Mum stößt mich sanft an und ich muss lächeln. »Außerdem ist deine Carbonara köstlich. Hey, lad doch Simon zum Abendessen ein. Ich hab ihn schon ewig nicht mehr gesehen.«
Es kostet mich große Mühe, keine Reaktion zu zeigen, als Simons Name fällt. Er war jahrelang mein bester Freund. Streicht das – er war sogar wie ein Bruder für mich. Deshalb komme ich immer noch nicht damit klar, dass er mit meiner Freundin geschlafen hat.
Drew und Cam habe ich davon erzählt, weil ihnen aufgefallen war, dass ich Kali und Simon mit keinem Wort mehr erwähnte. Drew war stinksauer, bei Cam war es sogar noch schlimmer. Er ist einfach ins Auto gestiegen und weggefahren. Drew und mir war sofort klar, wohin er wollte. Also sind wir ihm in ihrem Auto hinterher. Wir konnten ihn gerade noch davon abhalten, an Simons Haustür zu hämmern, aber er tobte und fluchte weiter. Simon tauchte am Fenster auf, und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, wie erschrocken er war. Manchmal wünschte ich, ich hätte zugelassen, dass Cam ihn sich vorknöpft, damit Simon versteht, wie ich mich fühle. Aber Mum habe ich nichts von alldem erzählt. Sie und Simons Mum Sophie sind seit Jahren eng befreundet, und ich will nicht, dass die Sache mit Simon diese Freundschaft auch noch kaputt macht.
»Nein, schon gut«, sage ich. »Kommen morgen irgendwelche neuen Gäste?«
»Ja, die Adelaides und die Johnsons, aber das kläre ich noch mal mit Cam ab, weil er die Buchungen vorgenommen hat. Wo ist dein Bruder überhaupt?«
»Sitzt noch im Wagen und schreibt mit Drew. Ich kann heute das Abendessen übernehmen, aber wir brauchen jemanden, der für Gia einspringt, falls sie weiter krank ist. Sonst bekommen wir echt Schwierigkeiten mit dem Menü für den Ball.«
Mum seufzt. »Ich weiß. Und ich kümmere mich darum. Da fällt mir ein … wir müssen dir noch einen neuen Anzug kaufen.«
Ich stöhne auf, was mir einen missbilligenden Blick einbringt.
»Hör zu«, sagt Mum, »ich weiß, dass du dir Gedanken wegen des Balls machst, weil du nicht mehr mit Kali zusammen bist und keine Begleitung hast –«
»Das hat nichts mit Kali zu tun«, behaupte ich, obwohl das nicht stimmt.
In den letzten drei Jahren war ich immer mit Kali auf dem Winterball, und ausgerechnet in dem Jahr, in dem meine Eltern den Ball ausrichten, bin ich Single. Es ist eine altmodische Regel, dass man für die Teilnahme eine Begleitung braucht, aber es gibt kein Mädchen, an dem ich auch nur annähernd interessiert wäre.
»Du hast immer noch Zeit, jemanden zu finden«, sagt Mum. »Ich könnte mich für dich umhören.«
Umhören? Wie würde ich denn dastehen, wenn meine Mum nach einem Date für mich sucht?
»Lass mal, Mum. Das mach ich selbst. Vielleicht ist in der Schule noch jemand frei.«
Mum lächelt wieder, bevor sie geht. O Mann, ich muss ein Date finden, und zwar schnell.
8. Dezember
»Shit.« Mein weißer Kunstnagel fällt zu Boden. Rasch hebe ich ihn auf, stecke ihn in meine Manteltasche und lasse meine Hand darin, damit es niemand sieht. Na toll. Ich habe kein Geld, um mir ein neues Nagelset kaufen.
»Ich meine ja nur, sie hätte mir sagen können, was sie für ihn empfindet«, erklärt meine beste Freundin Remi, den Mund halb voll mit Bounty-Schokolade.
Wir verlassen gerade den Medienkurs, das Wochenende steht bevor. Remi redet mit den Händen und präsentiert dabei ihre neu gemachten Acrylnägel, auf die ich einen neidischen Blick werfe. Meine Nägel konnte ich mir seit über einem Jahr nicht mehr professionell machen lassen. Remi hat mir zwar angeboten, das für mich zu übernehmen, aber ich habe immer abgelehnt, weil ich es seltsam finden würde, auch wenn wir seit der Mittelstufe befreundet sind.
Remi ist klein, höchstens ein Meter fünfzig, sodass ich immer das Gefühl habe, über ihr aufzuragen.
»Absolut«, erwidere ich zum gefühlt hundertsten Mal. Ich liebe Remi, aber sie hat echt einen Hang zum Drama. »Rede am besten mit Ashleigh. Ich bin sicher, dass sie es verstehen wird. Ihr solltet euch nicht wegen eines Typen zerkrachen.« Besonders nicht wegen Aaron, der völlig ahnungslos ist. Aber das sage ich nicht laut.
»Ja, vielleicht«, antwortet Remi ebenfalls zum gefühlt hundertsten Mal. »Mal was anderes, was ziehst du eigentlich auf Mikes Geburtstagsparty an? Du solltest besser alles auffahren, was geht.«
Ich lache. »Oh, glaub mir, das werde ich.«
Die Party zum achtzehnten Geburtstag meines Freundes Mike ist die Party, von der alle an der Schule reden. Und ich bin diejenige, die sie organisiert. Zuerst gehen wir im kleinen Kreis zum Bowling, dann folgt die Party im Rye Levels, einer echt coolen Location im Stil einer Lagerhalle. Mike wollte eine exklusive Gästeliste, aber die Halle ist riesig, und ich hatte Bedenken, dass wir sie nicht voll bekommen, also habe ich fast alle aus der Schule eingeladen. Als er davon erfahren hat, fand er das nicht so toll, doch ich bin sicher, dass er sich freuen wird, wenn es voll wird. Und weil Mike auf Diddy’s White-Partys abfährt, habe ich das Motto daran angepasst. Ich habe sogar eine Geburtstagstorte ganz in Weiß geplant. Erst wenn er sie anschneidet, werden drei Schichten Schokolade sichtbar – weiße, dunkle und Vollmilchschokolade.
»Tia!«
Als ich mich umdrehe, kommt Mike eilig auf mich zu. Er trägt Baggy-Jeans und nur einen Hoodie, obwohl es draußen eiskalt ist. Ich halte den Atem an, als ich ihn sehe. Mike hat afrikanische und indische Wurzeln und unglaublich schöne Haare, lang und gewellt. Normalerweise trägt er sie zu einem hohen Knoten, doch vor ein paar Wochen hat er sich die Seiten abrasieren lassen. Zuerst dachte ich, es würde mir nicht gefallen, aber irgendwie sieht er damit noch attraktiver aus.
Wir sind jetzt seit fast einem Jahr zusammen, und manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass er zu mir gehört. Wir hatten denselben Freundeskreis und hingen deshalb oft auf denselben Events ab. Außerdem ist er Tänzer, also waren wir bei seinen Auftritten und Wettbewerben, um ihn zu unterstützen. Ich fand ihn schon immer gut, obwohl ich eigentlich nicht auf kleine Typen stehe – und Mike ist mit seinen eins siebzig nicht viel größer als ich. Ich hätte auch nie gedacht, dass er sich für mich interessieren könnte, bis es eines Abends auf dem Geburtstag unseres Freundes Winn zwischen uns gefunkt hat.
Es war etwa zu der Zeit, als Mum sich von Paul getrennt hat. Dann verlor sie auch noch ihren Job als Köchin, weil das Restaurant, in dem sie arbeitete, schließen musste. Sie konnte sich unsere Miete nicht mehr leisten, also mussten wir unser Zuhause in Peckham verlassen und in eine kleine, beengte Sozialwohnung etwa zehn Minuten entfernt ziehen. Seitdem teile ich mir ein Zimmer mit meiner älteren Schwester Willow, während Mum mit meiner dreijährigen Schwester Banks in einem Bett schläft. Ich will mich nicht beschweren, aber ich hasse es. Es gibt null Privatsphäre und überall liegen Banks Spielsachen herum. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit, um mich zu verdrücken.
Am Abend von Winns Party waren alle betrunken. Weil ich eine Pause von der lauten Musik und den feiernden Leuten brauchte, war ich nach draußen gegangen und dachte über die gravierenden Veränderungen nach, die meine Familie in letzter Zeit durchgemacht hatte. Ich fing an zu weinen und hatte keine Ahnung, dass Mike mich von drinnen beobachtete. Er kam zu mir in den Garten und fragte mich, was mit mir los sei. Also erzählte ich ihm alles und er war total süß. Es störte ihn nicht einmal, dass meine Foundation auf sein Shirt abfärbte, als er mich tröstete. Danach redeten wir häufiger miteinander und kamen uns immer näher, bis er mich offiziell zu einem Date einlud. Wir waren in einer VR-Spielhalle, und als das Spiel vorbei war und wir unsere Headsets abnahmen, beugte er sich zu mir und küsste mich. Es war perfekt. Ein paar Monate lang gingen wir zusammen aus, dann fragte er mich, ob ich seine feste Freundin sein wolle. Seitdem ist er mein Fels in der Brandung.
»Remi, was gibt’s?«, fragt er.
»Willst du ein Bounty? Ich hab eine ganze Packung.« Sie greift in ihre Tasche.
Mike schüttelt den Kopf. »Nee, lass mal, danke. Ich mag Kokosgeschmack nicht so.«
»Oh, na schön. Okay, ich muss dann mal Ashleigh suchen.« Remi spricht den Namen langgezogen Ash-a-leee aus, was Mike zum Lachen bringt.
Ich werfe ihr einen ernsten Blick zu. »Sei nett, ja?«
»Jaja.« Mit einem Winken geht sie davon.
»Also … ähm …« Mike wirkt auf eine Art nervös, die ich gar nicht von ihm kenne. Er fährt sich mit der Hand über die Haare und mein Herz beginnt wild zu klopfen. Wird er es aussprechen? Hier auf dem Flur? Ich sehe mich auf dem vollen Gang der Schule um. Es ist nicht gerade die romantischste Umgebung, aber damit kann ich leben. Obwohl wir schon länger zusammen sind, hat Mike noch nie Ich liebe dich zu mir gesagt. Wenn ich es zu ihm gesagt habe, hat er immer nur gelächelt, was ich schon etwas seltsam finde, aber tief in mir drin weiß ich, dass er für mich dasselbe empfindet. Wieso sollten wir sonst eine Langzeitbeziehung führen?
»Ja …?«, frage ich erwartungsvoll.
Er schaut auf meine Tasche. »Du summst.«
Was? Ich krame mein Handy heraus, und tatsächlich, auf dem Display steht Willow.
»Sorry, meine Schwester«, sage ich, bevor ich den Anruf entgegennehme. »Hallo?«
»Ballons«, sagt Willow außer Atem. »Wir brauchen mehr Ballons.«
»Okay, cool. Bin schon unterwegs.« Ich beende das Gespräch und wende mich wieder Mike zu. »Mum hat einen neuen Job, und wir wollen die Wohnung schmücken, um ihr zu gratulieren. Ich soll noch Luftballons mitbringen.«
Mikes Miene entspannt sich. »Das ist toll. Freut mich echt, das zu hören.«
»Danke!« Ich lächle. »Jetzt ist dieses Scheißjahr hoffentlich vorbei. Wenigstens hatte ich dich an meiner Seite. Du bist das Beste, was mir in diesem Jahr passiert ist.« Ich nehme seine Hand und drücke sie.
Mike lächelt ebenfalls, aber es erreicht seine Augen nicht. Mir wird plötzlich ganz flau im Magen. Was, wenn er gar nicht Ich liebe dich sagen will, sondern es um eine schlechte Nachricht geht?
»Ich geh dann mal besser«, sage ich und lasse seine Hand los, denn ich will hier nicht festhängen und es herausfinden. Rasch knöpfe ich meinen Mantel zu, den ich letzte Woche in einem Secondhandshop gekauft habe, ein waldgrüner Vintage-Kunstpelz mit Lederkragen. Nicht für Regenwetter geeignet, aber sehr cool.
Mike runzelt die Stirn. »Kannst du später noch mal raus?«
»Weiß nicht. Vielleicht«, sage ich und setze mich in Bewegung, während ich meinen rasenden Puls und den Knoten in meinem Magen zu ignorieren versuche.
»Ich schick dir eine Nachricht«, ruft er mir hinterher und ich hebe den Daumen.
Ich spüre, dass er mir nachschaut, aber ich drehe mich nicht um. Sowie ich draußen bin, atme ich tief durch, mein Herzschlag beruhigt sich. In letzter Zeit lief es so gut zwischen uns. Wieso habe ich dann das Gefühl, als hätte mich gerade eine Kugel getroffen?
Willow balanciert auf der Armlehne des Sofas, um das riesige Banner mit der Aufschrift Herzlichen Glückwunsch, Mum! zurechtzurücken. Als ich die Tür hinter mir schließe, wirft sie mir einen flüchtigen Blick zu.
»Hast du sie?«, fragt sie und ich wedle mit der Packung rosa Ballons. Sie bemerkt natürlich meinen fehlenden Nagel und hebt eine Augenbraue.
»Ich weiß! Jetzt muss ich alle abmachen.« Ich schlüpfe aus meinem Mantel und fange an, die Luftballons aufzupusten.
Willow lehnt sich zurück und lässt den Blick prüfend von links nach rechts über das Banner wandern. »Ist es gerade?«, will sie wissen.
Ist es nicht, aber wenn ich ihr das sage, beschäftigt sie das den ganzen Abend, denn Willow ist Perfektionistin.
»Ja«, erwidere ich deshalb, während ich einen Ballon zuknote.
Willow springt vom Sofa und klopft sich unsichtbaren Staub von den Shorts, aus denen ihre langen, schlanken Beine ragen. Ihr goldener Nasenring fängt funkelnd das Licht ein. Wir haben uns letztes Jahr zu meinem Geburtstag beide einen stechen lassen.
»Wie war die Schule?«, fragt sie und schnappt sich ein paar Ballons. Einen hält sie neben ihr pinkes Haar. »Ich liebe die Farbkombi.«
Um sich etwas nebenbei zu verdienen, stellt Willow Perücken her. Zuerst nur für sich selbst und für ein paar Freunde, doch inzwischen hat sie einen treuen Kundenstamm und kann Preise ab zweihundert Pfund aufwärts verlangen. Als Mum arbeitslos war, hat Willow mit dem Geld, das sie bei Nando’s und mit ihren Perücken verdient, beim Bezahlen der Rechnungen geholfen. Sie experimentiert ständig mit Farben herum und möchte unbedingt meinen schulterlangen schwarzen Bob in die Finger bekommen, aber ich bleibe bei einem klaren Nein. Ich lasse mich nur auf Experimente ein, wenn es ums Backen geht. Im Moment ist das noch ein Hobby für mich, aber ich hoffe, dass ich das Backen eines Tages zum Beruf machen kann. Auf Instagram habe ich Backprofis gesehen, die mit einer Torte mehrere Hundert Dollar verdienen.
»Es war okay, aber Mike hat irgendwas«, gestehe ich.
Willow hockt sich auf die Armlehne. »Inwiefern?«
Ich zucke mit den Schultern. »Er wirkte irgendwie neben der Spur, als wäre er nervös oder so. Ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte, aber nichts Gutes.« Ich schüttle den Kopf. »Ist wahrscheinlich albern. Was hätte er mir schon sagen wollen?«
Willow hält den halb aufgeblasenen Luftballon zwischen ihren Fingern fest. »Vielleicht ging es um die Party?«
Natürlich! Mike hat mich gebeten, alles zu organisieren … Es könnte etwas geben, was er anders haben will.
»Du hast recht, das muss es sein.«
Willow zeigt mit dem Finger auf sich. »Bin ich klug!«
Lachend verdrehe ich die Augen. Ich habe wirklich Glück mit Willow. Sie ist zwei Jahre älter als ich und wie eine beste Freundin. Auch mit Mum habe ich Glück gehabt. Sie ist nigerianisch-britisch in der ersten Generation und sieht alles viel lockerer als meine Großeltern, die sehr traditionell sind. Sie zitiert gern Regina Georgs Mum aus Mean Girls: »Ich bin keine normale Mutter. Ich bin eine coole Mutter.« Und sie hat Willow und mich immer darin bestärkt, füreinander da zu sein, so wie sie es von ihrer Schwester kennt.
Deshalb sind wir damit aufgewachsen, uns alles zu erzählen. Ich wusste als Erste, wann Willow ihren ersten Kuss bekommen hat und sogar, wann sie ihr erstes Mal hatte. Zwischen uns gibt es keine Geheimnisse. Nur mit Mike ist Willow nie richtig warm geworden. Sie denkt, dass ich zu gut für ihn bin. Es ist mir ein Rätsel, wieso sie ihn nicht mag, denn ich finde ihn perfekt, aber vielleicht liegt es nur an ihrem Beschützerinstinkt.
Wir blasen die restlichen Ballons auf und verteilen sie im Wohnzimmer. Willow hat von ihrer Schicht bei Nando’s etwas mitgebracht, sodass auch für das Abendessen gesorgt ist. Ich könnte dort jeden Tag dasselbe essen, ohne dass ich es über hätte – ein Viertelhähnchen extrascharf mit würzigem Reis, Erbsen, Krautsalat und Halloumi als Beilage. Mum ist eine fantastische Köchin, besonders was ihre nigerianischen Gerichte betrifft – Jollof-Reis, Egusi-Eintopf und Moi Moi –, aber Nando’s wird bei uns zu Hause immer heißgeliebt bleiben. Ich decke den Tisch und stelle das Essen bereit, als auch schon die Wohnungstür aufgeht.
»Herzlichen Glückwunsch!«, rufen wir gleichzeitig. Willow lässt einen Partyknaller los.
Mum zuckt zusammen und Banks klatscht begeistert in die Hände. Dann legt Mum eine Hand auf ihre Brust. »Oh, ihr Süßen, das ist ja unglaublich! Sieh mal, Banksy, was deine Schwestern gemacht haben!«
»Kommt, Gnädige Hoheit«, sagt Willow und hilft Mum aus ihrem Ledermantel.
Beim Anblick der vielen Ballons leuchten Banks Augen auf. Der Wind hat ihre hellbraunen Locken zerzaust, aber als ich darüberstreichen will, entwischt sie mir. Anders als Mum, Willow und ich mit unserer dunkelbraunen Haut, den weit auseinanderstehenden Augen und vollen Lippen hat Banks wegen ihres weißen Dads hellbraune Haut, blaue Augen, schmale Lippen und hellbraune Haare, die im Sommer fast blond werden. Ich kann gar nicht sagen, wie oft Mum gefragt wird, ob das ihr Kind sei. Als hätte sie Banks gekidnappt.
Mums Ex Paul ist Banks Vater, und er ist der netteste Typ, den man sich vorstellen kann. Mir ist nach wie vor schleierhaft, wieso die beiden sich getrennt haben. Mum hat nur gesagt, dass sie als Freunde besser passen. Sie ist mit all ihren Ex-Männern befreundet. Nehmen wir zum Beispiel meinen Dad. Die beiden haben sich in der Mittelstufe kennengelernt und verliebt, sich ein gemeinsames Leben aufgebaut und Willow und mich bekommen. Ein paar Jahre später, als wir noch klein waren, hat Dad eine Beförderung bekommen und wir sind nach San Diego gezogen. Dort haben Mum und Dad die ganze Zeit gestritten, bis Mum schließlich beschlossen hat, nach London zurückzukehren. Dad ist in den USA geblieben. Doch obwohl ihre Beziehung nicht gehalten hat und sie Tausende Kilometer voneinander entfernt leben, telefonieren sie andauernd miteinander und schaffen es immer noch, sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Willow würde nach einer Trennung wohl eher das Haus ihres Ex in Brand setzen. Und ich? Ich habe keine Ahnung, was ich tun würde. Mike ist mein erster Freund.
»Ich danke euch! Das ist so lieb!«, sagt Mum, bevor sie in eine Pommes beißt und genießerisch die Augen schließt. »Ich habe heute kaum etwas gegessen.« Sie merkt, wie Willow und ich einen Blick wechseln. Mum lässt öfter mal das Essen ausfallen, um Geld zu sparen. »Keine Sorge, ich war nur zu beschäftigt damit, das neue Team und die ganzen Abläufe kennenzulernen. Ich bin so aufgeregt!«
Mum ist jetzt Küchenchefin im Simone’s, einem echt schicken und teuren Restaurant in Chelsea. Früher hatte sie alle möglichen Gelegenheitsjobs, aber nachdem sie ihre Leidenschaft fürs Kochen entdeckt hatte, gab es kein Zurück mehr.
»Es ist ein Neuanfang für uns. Das spüre ich.« Sie schenkt uns ein breites Grinsen. »Wenn ich im neuen Jahr richtig dort anfange, wird uns das zusätzliche Geld helfen. Aber vorher habe ich noch eine Überraschung für euch!«
»Für mich?«, fragt Banks, den Mund voller Peri-Peri-Soße.
»Für uns alle!« Mum zieht eine Broschüre aus ihrer Handtasche und legt sie in die Mitte des Tisches.
Ich neige den Kopf, um etwas lesen zu können. »Landgut Saiyan Hedge?«
»Was ist das?«, fragt Willow und schaut kurz von ihrem Teller auf.
»Dort werden wir Weihnachten verbringen!« Mum klatscht in die Hände.
Mir wird flau im Magen. Ich kann über Weihnachten nicht wegfahren. Mikes Party ist am einundzwanzigsten – dafür muss ich in London sein. Außerdem mag ich unser Familienweihnachtsessen. Mum verbindet die nigerianische und britische Esskultur, sodass es gefüllten Truthahn, Jollof, Kochbanane und zum Dessert Mince Pie und Puff-Puffs, frittierte Hefeteigbällchen, gibt. Ich will Mum gerade erklären, wieso das keine gute Idee ist, als mein Handy piept – und ich eine Nachricht sehe, bei der sich mir endgültig der Magen umdreht.
Tia, sorry, aber ich brauche eine Auszeit.
8. Dezember
Das Abendessen für die Gäste wird normalerweise zwischen sechs und acht Uhr im Speiseraum serviert, es sei denn, sie möchten auswärts essen. Eigentlich können die Gäste aus einem großen Angebot wählen, aber wegen des Personalmangels bieten wir im Moment nur ein festes Menü mit weniger Wahlmöglichkeiten an. Ich kann ganz gut kochen, aber es ist nicht mein Job und ich mache es nicht gern.
Die Gäste sind gerade fertig, und ich stelle die Töpfe in die Spülmaschine. Zum Glück hat heute Abend nur eine Familie bei uns gegessen. Die Küchentür geht auf und Evan, einer der jungen Kellner, ein Weißer mit lockigen schwarzen Haaren, kommt mit einem Tablett, beladen mit benutztem Geschirr, herein und stellt es an der Seite ab.
»Ich kümmere mich darum«, sage ich.
Er hebt den Daumen und geht wieder.
Aus dem Speiseraum höre ich Mum mit unserer Servicekraft Emma reden, Dad gibt hin und wieder seinen Senf dazu. Nachdem ich alles weggeräumt habe, bleibe ich in der Küche, weil ich keine Lust auf Small Talk habe, und denke über den Winterball nach. Wie soll ich rechtzeitig eine Begleitung finden? Mein Kumpel Sean hat eine heiße Cousine, die ich vor ein paar Monaten kennengelernt habe, aber er ist in Bradford und besucht dort seine Grandma im Krankenhaus, deshalb kann ich ihn nicht fragen. Es ist noch nicht mal sicher, ob er vor dem Ball wieder zurück sein wird.
Ich schicke eine Nachricht an meine beste Freundin Eliza. Seit dem Kindergarten waren sie, Simon und ich ein unzertrennliches Trio. In der Mittelstufe kam dann Sean dazu. Er ist Filipino und damit einer der wenigen anderen Angehörigen einer ethnischen Minderheit hier in der Gegend. Als Kali und ich dann zusammengekommen sind, hing sie auch mit uns ab. Eliza will am liebsten allein zum Ball, doch ihre Mum schafft es jedes Jahr, noch im letzten Moment einen Typen für sie aufzutreiben. Aber ihrer Mum gehört auch der einzige Friseursalon der Stadt, deshalb weiß Eliza immer über alle hier Bescheid.
Ich brauche ein Date für den Ball. Fällt dir jemand ein?
Sie antwortet auf der Stelle:
Ja, aber du darfst nicht wählerisch sein.
Was soll das heißen?!
Wie wär’s mit Amber? Sie ist nervig, aber hübsch.
Wenn ich den ganzen Abend mit Amber verbringen muss, drehe ich durch!
Eliza tippt, also warte ich.
Ich höre mich um und melde mich wieder. x
Okay, damit sollte mein Problem vom Tisch sein.
»Alles okay, Schatz?« Mum kommt herein und inspiziert die Küche.
»Ja, alles cool. Ist es schon Zeit zu essen?«
Mum nickt. »Ich habe das Personal eben nach Hause geschickt. Setz dich schon mal, ich wollte gerade das Essen holen. Und danke, dass du eingesprungen bist, Quincy.«
»Kein Problem.« Ich stecke mein Handy in die Hosentasche, gehe in den Speiseraum und setze mich zu Dad und Cam an den Tisch. Oreo liegt vor Dads Füßen. Er mag Dad am liebsten, weil er der Einzige ist, der früh aufsteht, um ihn nach draußen zu lassen. Aber ich glaube, dass ich gleich an zweiter Stelle komme.
»Ich dachte, du hast heute einen Gig?«, sage ich zu Cam.
»Später«, erwidert er, ohne von seinem Handy aufzublicken.
»Also hättest du mir beim Abendessen helfen können?« Ich sehe zu Dad, um mir Unterstützung zu holen, doch er hat sich mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Hände über seinem runden Bauch verschränkt.
Dad erinnert mich ein bisschen an einen Bären – groß und breit, mit Vollbart und ernster Miene, dabei ist er immer freundlich. Er steht bei Tagesanbruch auf, versorgt die Tiere, kontrolliert die Weiden und was noch zum Landgut gehört. Normalerweise sehe ich ihn nur, wenn ich in den Stall gehe oder beim Abendessen. Aber jetzt, da die Vorbereitungen für den Winterball in vollem Gange sind, schickt Mum ihn ständig los, um irgendetwas zu besorgen, das wir angeblich unbedingt brauchen.
»Alles in Ordnung, Dad?«, frage ich.
Er brummt nur mit geschlossenen Augen. Kein Mann vieler Worte.
Mum kommt herein und tippt Dad auf die Schulter. »Das Essen ist da, Will.«
Dad setzt sich auf und reibt sich die geröteten Augen, während Mum das Knoblauchbrot und die Spaghetti Carbonara verteilt, die ich vorhin gekocht habe. Ich gieße mir ein Glas Saft ein, und während ich etwas trinke, beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie Cam grinsend einem Mädchen schreibt. Er bekommt es natürlich mit und hält mir prompt das Handy unter die Nase.
»Na, was sagst du?«
Ich verschlucke mich und muss mir die Hand vor den Mund halten, damit mir kein Saft herausläuft.
»Quincy!«, ermahnt Mum mich, aber ich kann den Blick nicht von dem Handybild nehmen.
Das Mädchen sieht verdammt gut aus. Dunkelbraune Haut, Kurven zum Wegträumen und ein sexy Lächeln. Sie kann unmöglich von hier sein.
»Wer ist das?«, frage ich langsam. Unsere Eltern haben ein Gespräch begonnen, natürlich über den Ball.
»Das ist Kelly, sie lebt in Manchester. Hab sie vor ein paar Monaten auf einem Event kennengelernt«, sagt Cam selbstgefällig.
»Ist sie dein Date?«
Er zuckt mit den Schultern. Als DJ lernt er immer coole Leute kennen.
»Könnte sie fragen. Hab aber vielleicht was Besseres am Start.«
»Was Besseres?«, wiederhole ich ungläubig. Wen sollte Cam Kelly vorziehen? Würde ich mit ihr auf dem Winterball aufkreuzen, würde Kali ausrasten – und genau das will ich erreichen.
»Was ist mit Stacey?«
Cam verzieht das Gesicht. »Was soll mit ihr sein?«
»Du weißt schon …« Als Cam mich nur ratlos ansieht, füge ich hinzu: »Die Decke?«
»Ach, das war keine große Sache. Ist nichts Ernstes.«
Typisch Cam. Es ist mir ein Rätsel, warum die Mädchen so auf ihn abfahren. Er liebt die Jagd, und sobald er eine rumgekriegt hat, zieht er weiter. Und dann folgt meistens ein Drama. Ich wette, Stacey hat schon ein Kleid für den Ball, nur um ihn zu beeindrucken.
»Hast du Stacey gesagt, dass du nicht interessiert bist?«
»Nein!«, erwidert er spöttisch. »Wieso mischst du dich überhaupt ein? Ist doch meine Sache.«
»Äh, du hast es auch zu meiner Sache gemacht, als du mir von der –«
»Jungs!«, sagt Dad, während Mum gleichzeitig fragt: »Was seht ihr euch da an?«
Cam sperrt sein Handy und legt es auf den Tisch. »Nichts. Ich wollte nur wissen, wen Quincy zum Ball mitbringt.« Cam grinst mich hämisch an.
Ich stoße ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, und er zuckt zusammen.
»Gehst du nicht mit Kali hin?«, fragt Dad, bevor er ein paar Spaghetti von der Gabel schlürft.
»Will!«, zischt Mum. »Ich habe dir doch von ihr und Quincy erzählt …«
Dad schaut erst sie und dann mich verständnislos an. Muss es jetzt auch beim Abendessen um meine Ex gehen?
»Sie haben Schluss gemacht, und nun hat Quincy keine Begleitung für den Winterball.« Cam springt auf, bevor ich ihm eine verpassen kann, und setzt sich auf die andere Seite des Tisches neben Mum. Weichei.
»Cam, du solltest deinen Bruder unterstützen, anstatt ihn damit aufzuziehen«, schimpft Mum. »Es muss doch noch eine Verabredung möglich sein.«
»Sind alle vergeben«, behauptet Cam.
Mir rutscht das Herz in die Hose. Das muss ein Scherz sein.
»Alle begehrten Mädchen haben ein Date«, fährt er fort und zählt dann an den Fingern auf: »Maria Hunter, Sarah Gibson, Harley Sutherland, Lisa Shah … sogar Eliza ist verabredet, obwohl sie das völlig sinnlos findet.«
Eliza hat ein Date?! Mit wem?
Mum und Dad wechseln einen Blick. Ich weiß, unter welchem Druck sie stehen. Der Winterball ist eine große Sache. Außerdem nehmen Drew und Regal teil, was bedeutet, dass noch mehr Lokalpresse auftauchen wird. Und irgendein Modemagazin wird garantiert über Regals Kleid berichten. Der Punkt ist, dass ich mich unmöglich ohne Begleitung blicken lassen kann. Moment … Cam meinte gerade, dass alle vergeben sind. Mit wem geht dann Kali hin?
Ich räuspere mich. Eigentlich will ich diese Frage gar nicht stellen, aber ich muss es wissen.
»Was ist mit Kali?«, fragt Dad in diesem Augenblick. Ich hätte ihn küssen können.
Cam schaut kurz zu mir. »Keine Ahnung.«
Und Simon? Hat er eine Begleitung? Überlegen die beiden vielleicht, zusammen hinzugehen? Mein Herz beginnt zu rasen, und plötzlich ist es im Speiseraum viel zu warm. Ich schiebe die Pulloverärmel hoch und versuche, mich zu beruhigen. Mum und Cam reden miteinander, aber in meinen Ohren kommt nur ein Summen an. Was würde ich tun, wenn Kali und Simon vor aller Augen Hand in Hand den Ballsaal betreten? Mein Mund arbeitet schneller als mein Hirn und bevor ich etwas dagegen tun kann, platze ich mit fünf kleinen Wörtern heraus: »Eigentlich habe ich ein Date.«
Augenblicklich wird es still am Tisch, während ich mich angestrengt auf meinen Teller voller Pasta konzentriere. Als niemand etwas dazu sagt, schaue ich hoch und fange Dads fragenden Blick auf. Mum wirkt irritiert und Cam runzelt die Stirn.
»Echt jetzt?«, fragt Cam schließlich.
Ich atme tief durch. »Ja, ich habe ein Date, also alles gut.« Rasch stehe ich auf und greife nach dem leeren Wasserkrug. »Ich füll den mal kurz auf.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, gehe ich in die Küche und schließe die Tür hinter mir. Ich drehe den Hahn auf und lasse das Wasser hörbar laufen, während ich mich an die Küchenzeile lehne, das Gesicht in den Händen vergraben.
Fuck.
8. Dezember
Mike braucht eine Auszeit. Von mir? Mum redet weiter über den Weihnachtsurlaub, aber in meinen Ohren rauscht es nur und mein Atem geht schnell. Warum schickt Mike mir so eine Nachricht? Was habe ich falsch gemacht? Fragen jagen in Blitzgeschwindigkeit durch meinen Kopf.
»Was soll der Scheiß!«, stoße ich laut aus.
Sofort ist es still am Tisch.
»Tia!«, sagt Mum scharf und schaut zu Banks, die mich mit offenem Mund anstarrt.
»Tut mir leid … Banks, das darfst du nicht wiederholen … Zwei Sekunden, ich … ich bin gleich zurück.«
Ich stürze aus dem Wohnzimmer und umklammere mein Handy so fest, dass es garantiert einen Abdruck auf meiner Handfläche hinterlässt. Schwer atmend schließe ich die Zimmertür hinter mir und lehne den Kopf dagegen. Eine Auszeit? Ich wähle Mikes Nummer, erreiche ihn jedoch nicht. Wieder und wieder rufe ich ihn an, bis mir einfällt, dass er Tanzprobe hat, die nicht vor acht zu Ende ist.
»Tia?« Willow öffnet die Tür. »Alles okay?«
Ihr Gesicht ist so voller Sorge, dass mir Tränen in die Augen steigen. Ich reiche ihr mein Smartphone und ihre Brauen wandern nach oben, als sie die Nachricht liest. »Wieso will er eine Auszeit?«
»Ich weiß es nicht!«, schluchze ich. »Alles lief gut. Mehr als gut …«
Oder nicht? Ich zermartere mir das Hirn, ob ich irgendwelche Zeichen übersehen habe, aber mir fällt nichts ein. Ich weiß nur, dass er mir vorhin auf dem Flur etwas sagen wollte. Wir sind jetzt seit fast einem Jahr zusammen, und er schickt mir diesen Mist als Textnachricht?
»Was für ein Arsch!«, sagt Willow.
»Vielleicht habe ich es nur falsch verstanden.« Ich klammere mich an meine Hoffnung.
»Hast du nicht. Wenn er dich nicht mal genug respektiert, um dir das ins Gesicht zu sagen, ist es gut, dass du ihn los bist.«
Gut, dass ich ihn los bin? Ich will Mike doch nicht loswerden. Ich muss nur mit ihm reden. Dann wird alles wieder gut. Da bin ich mir sicher. Ich will ihm keine Auszeit geben. Was, wenn ihm das gefällt und er dann Schluss machen will? Shit! Läuft das auf eine Trennung hinaus?
»Willow, ich kann nicht mit auf dieses Landgut kommen. Und was ist mit deiner Kundschaft? Um Weihnachten ist doch immer besonders viel los. Wir beide könnten in London bleiben, und Mum fährt nur mit Banks«, bettle ich.
Willow seufzt. »Du hast recht, der Zeitpunkt ist nicht gerade ideal und etwas Extrageld wäre nicht schlecht. Aber es ist auch mal schön, aus der Stadt rauszukommen. Außerdem können wir Weihnachten nicht ohne unsere Familie verbringen.«
»Wir könnten nach Mikes Party zu ihnen fahren«, erwiderte ich.
»Mikes Party? Tia, er hat dich gerade um eine Auszeit gebeten!« Sie sieht mich aus schmalen Augen an. »Du willst dem Kerl doch nicht weiter bei den Partyvorbereitungen helfen, oder? Und du solltest auf keinen Fall hingehen.«
»Ich muss! Ich will ihn nicht verlieren!«
Willow schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Okay, ich weiß, dass ich leicht hysterisch klinge, aber sie versteht das nicht. Ich liebe Mike. Wir hatten bis jetzt keine Probleme, deshalb bin ich sicher, dass wir alles klären und wieder zusammenfinden können.
»Mädels?« Mum kommt herein und blickt von mir zu Willow. »Was ist hier los?«
Willow reicht Mum mein Smartphone und genau wie bei meiner Schwester wandern ihre Augenbrauen nach oben. Aber anders als Willow zieht Mum mich dann sofort in eine Umarmung und tröstet mich.
»Es tut mir so leid, Schatz.« Sie streicht mir über den Rücken und ich sinke in ihre Arme. Tränen laufen mir über das Gesicht. »Er hat dich nicht verdient. Vielleicht seid ihr als Freunde besser dran.«
»Freunde?« Ich löse mich von ihr und wische mir mit den Handrücken über die feuchten Wangen. Was stimmt nicht mit den beiden? Sie verhalten sich, als hätte Mike mich abserviert. Aber Schluss machen und um eine Auszeit bitten ist nicht dasselbe … oder?
»Mum, ich kann über Weihnachten nicht mit auf dieses Landgut kommen.«
Sie lächelt traurig. »Es ist schon alles gebucht.«
Ich stampfe mit dem Fuß auf wie Banks, wenn sie ihren Willen nicht bekommt. Spreche ich eine fremde Sprache? Niemand hört mir zu!
»Es ist nicht cool, dass du einfach einen Urlaub buchst, ohne uns zu fragen. Du weißt doch, dass ich seit Monaten Mikes Party plane.«
Mum verschränkt die Arme und funkelt mich an. »Euch fragen? Soweit ich weiß, bin ich das Elternteil und ihr die Kinder. Pass auf deinen Ton auf, Tia.«
Ich sage nichts, denn wenn Mum sauer wird, hat sie kein Problem damit, jemanden zur Schnecke zu machen.
»Dieser Familienurlaub ist ein wunderbares und aufmerksames Geschenk von Tante Bimpé, eine Belohnung, weil ich einen neuen Job gefunden habe. Ich habe mich so gefreut, euch erzählen zu können, dass wir Weihnachten in einem hübschen Cottage auf dem Land verbringen werden. An Thanksgiving hattet ihr eine großartige Zeit bei eurem Dad. So etwas kann ich euch nicht bieten. Aber jetzt können wir diese Reise machen – und du benimmst dich wie ein undankbares Kind.«
Ich sehe kurz zu Willow, doch sie weicht meinem Blick aus. Na toll, sie ist also auch sauer auf mich.
»Ich verstehe, dass du wegen Mike durch den Wind bist. Und du musst unbedingt mit ihm reden, denn was er sich da erlaubt hat, geht gar nicht«, fährt Mum fort, und sie hat recht, deshalb halte ich den Mund. »Aber nach dieser Nachricht von ihm sollte die Party das Letzte sein, was dir durch den Kopf geht.«
»Sollte man meinen«, murmelt Willow und ich werfe ihr einen wütenden Blick zu.
»Könnt ihr zwei jetzt wieder mit ins Wohnzimmer kommen? Wir essen zusammen und ich erkläre euch den Ablauf unserer Reise.«
Mum geht einfach, mit meinem Smartphone in der Hand, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu folgen. Ich setze mich neben Banks, die mich fragend anschaut.
»Alles okay.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und sie lächelt. Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. »Mum, von wann bis wann ist die Reise gebucht?«
»Wir fahren am Montag und bleiben bis zum Siebenundzwanzigsten.«
Ich unterdrücke einen Jubelschrei. »Bis Freitag muss ich aber noch zur Schule. Ich darf die letzte Woche nicht verpassen.« In der Woche vor den Weihnachtsferien läuft zwar alles etwas entspannter ab und ich liege mit dem Lernstoff gut in der Zeit, aber Mum wird bestimmt nicht wollen, dass ich meine Kurse sausen lasse.
Doch sie winkt nur ab. »Remi gibt dir sicher ihre Notizen. Sie ist doch in denselben Kursen wie du, hab ich recht?« Mum legt mein Handy auf den Tisch, und ich schnappe es mir sofort, während sie die Broschüre aufklappt.
Verdammt! Ich dachte, sie ändert ihre Meinung, wenn ich mit der Schule anfange. Offenbar nicht. Rasch werfe ich einen Blick auf das Display, ob Mike mir noch mal geschrieben hat, aber es werden keine Nachrichten angezeigt. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sinke in meinen Sitz.
Mum zeigt lächelnd auf die Bilder. »Seht mal, wie herrlich es dort aussieht! Bimpé war vor ein paar Jahren mit euren Cousinen dort und schwärmt immer noch davon. Auf dem Gut gibt es Pferde und andere Tiere für Banksy, die Kleinstadt hat viele süße Geschäfte und Cafés und zu Weihnachten findet immer ein besonderes Krippenspiel statt.«
»Pferdchen!«, ruft Banksy aus.
Ich hasse Pferde. Sie machen mir Angst. Wusstet ihr, dass Superman gelähmt war, weil er von einem Pferd gestürzt ist? Seitdem ich das herausgefunden habe, kann ich keine Pferdehufe mehr sehen, ohne zu schaudern.
»Außerdem wird dort jedes Jahr ein Winterball veranstaltet.« Mum deutet auf ein Bild, das einen wunderschönen Saal voller Menschen in Ballkleidern und Anzügen zeigt. »Genau wie in der Serie, die wir uns neulich angeguckt haben, Willow. Bridgey-irgendwas.«
»Bridgerton«, sagt Willow. »Stimmt, wirkt ganz ähnlich. Vielleicht treffen wir dort unseren eigenen Duke of Hastings.« Willow grinst mich an, sodass ich tatsächlich ein bisschen lachen muss, denn ich fahre total auf Regé-Jean Page ab.