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Beschreibung

Dietmar Bittrichs alljährlicher Klassiker zu Weihnachten ist in der Adventszeit nicht wegzudenken und so etabliert wie amüsant. Mit einer neuen Auswahl Geschichten und Autor:innen gibt uns der Satiriker wieder allen Grund zum Lachen, ob über uns selbst, die bucklige Verwandtschaft, den an Wahnsinn grenzenden Weihnachtstrubel oder absurde Weihnachtsgeschenke – hier bleibt kein Auge trocken. Mit Beiträgen von u. a. Daniel Bielenstein, Anna Herzog, Wiebke Lorenz u. v. m.

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Seitenzahl: 272

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Dietmar Bittrich (Hg.)

Opa, gib die Krippe her!

Alle Jahre wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

 

 

Über dieses Buch

Weihnachten kann so viel Spaß machen! Die Katze verstrickt sich in Lichterketten, die Flötenkinder vermischen die Melodien, und unsere Plätzchen verglimmen zu Holzkohle. Wenn dann noch der Spieleabend zur Nahkampfzone gerät, unsere hauseigene Influencerin über der Bratensoße zusammenbricht und der alkoholfreie Punsch sich als hochprozentig entpuppt – dann ist die familiäre Idylle vollkommen! Warum nur hat Opa eine völlig andere Idee von einem gelungenen Weihnachtsabend?

Überlebende der Feierlichkeiten berichten!

Vita

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirepreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschien von ihm u. a. der Bestseller «Alle Orte, die man knicken kann». Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Patrick Wirbeleit

ISBN 978-3-644-02480-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

York PijahnZeit der Wunder

«Ist es das da? Nee! Das da?» Es ist jedes Jahr dasselbe. Am 24. Dezember fahren meine Freundin, unsere beiden Kinder und ich im Auto durch das Neubaugebiet, in dem mein ältester und in jeder Hinsicht großer Bruder samt Familie wohnt. Durch das Neubaugebiet, in dem das Klinkerhaus steht, das er vor zehn Jahren gebaut hat. Die Bielefelder Vorstadt öffnet ihre höllischen Tore. Das da? Nee. Das da? Carport, Buchsbaumhecke, leise schließender Edelstahlbriefkasten, der in der Dunkelheit angestrahlt wird. Das Nachbarhaus hat den gleichen Briefkasten, und das Haus daneben?

Alles sieht gleich aus. Jedes Jahr fahren meine Familie und ich von Berlin aus hierhin: von der Großstadt ins Dorf bei Bielefeld, in dem ich geboren wurde. Meine beiden Brüder leben noch hier. Der eine feiert mit seiner neuen Frau in Südafrika. Der andere im Neubaugebiet. «Schön, dass ihr vorbeikommt, dann können wir als Großfamilie feiern – wo ihr schon sonst nie kommt», hatte mein Neubaugebietsbruder am Telefon gesagt. Er schafft es, Gastfreundschaft und Schuldgefühle so zu verquirlen, dass man sich permanent am Ohrläppchen gezogen und auf die Schulter geknufft fühlt.

«Das da!», ruft meine Freundin, deutet auf ein Haus, über dem gerade die Sonne untergeht. Endlich. Parken, klingeln, großes Hallo in der offenen Haustür. «Schön, dass ihr hier seid», sagt mein Bruder. «Und Schuhe aus.» Er sagt es zu meinen Kindern; meint aber auch meine Freundin und mich. Natürlich. Das läuft ja spitze.

Weil mein Bruder das Großstadtleben für eine kranke Verwachsung hält, aus der nur Drogensucht, Kirchenaustritte und schlappe Körperhaltung entstehen, hätten wir über Weihnachten genug Themen, um uns zu zanken. Auch weil ich im Gegenzug das Landleben in der Bielefelder Vorstadt für latent pupsig halte, abgesehen von der Angewohnheit meiner Bielefelder Verwandtschaft, zwischen März und November jeden Tag zu grillen. Warum fahren wir Weihnachten hier jedes Jahr hin? Weil ich meinen Bruder heiß und innig liebe, ernsthaft. Bruder, falls du das hier gerade liest, du bist der Beste.

Wo war ich? Ach ja, wir fahren nach Bielefeld, weil meine Mutter immer Weihnachten mitfeiert – und sich in ihrer Gegenwart alle zusammenreißen. Mama ist für meinen Bruder und mich das, was der Bundespräsident für die Republik ist oder die Blauhelmtruppe fürs Krisengebiet. Sie hat nix zu sagen, ist aber doch der Boss. Auf Fotos der letzten Feiern sieht man sie zwischen mir und meinen Brüdern stehen, in einer bodenlangen, silbernen Strickjacke, in der sie wie der Papst aussieht. Und ein bisschen wie Prince.

Rein ins riesige Wohnzimmer mit den Glas-Schiebetüren, hinter denen man den manikürten Garten sieht. Es ist behaglich und auf die Art schick, auf die Douglas-Filialen schick sind oder die Bahn-Lounge. Ausatmen. Themensuche. «Übrigens», sagt mein Bruder. «Mama kommt nicht. Hat gerade angerufen.» Was? Seit einer Herz-OP vor einem halben Jahr ist Mama oft müde und geht um 21 Uhr ins Bett. Aber zu Weihnachten?

«Na dann», sage ich enttäuscht. Ein besserer Mensch als ich würde es jetzt schaffen, in Abwesenheit des Schiedsrichters weiter fair zu spielen. Aber ich kriege es nicht hin. Ich wäre gern ein Weihnachtsengel, aber ich bin der Grinch aus Kreuzberg, der den Provinzlern zeigen will, wo der Hammer hängt. Ich mache spitze Bemerkungen über den Thermomix meiner Schwägerin («Kann der auch Beton mischen?»), verteile falsches Lob für die neue Sitzecke («Da will man gleich schunkeln, oder?») und frage nach dem Rasenmähroboter und ob er eigentlich schon die Maulwürfe zerfleischwolft hat, auf das Wort bin ich kurz stolz: zerfleischwolft.

Mein Bruder ist zu Recht beleidigt und latscht im Gegenzug auf Berlin herum. «Wann wird denn euer Flughafen fertig, ach nee, der ist schon fertig und funktioniert nicht, wie war das doch gleich?» – «Ihr in Bielefeld wärt doch froh, einen Flughafen zu haben, hoho, ist nur die Frage, wer hier landen will.»

Wir schleppen uns stichelnd in Richtung Abend. Noch drei Stunden bis Kirche. «Komm, wir rufen Mama an», sage ich, ohne den Satz in meinem Kopf vorher Probe zu hören. Es ist offensichtlich der Wunsch nach dem Schiri. «Oder weißt du was?» Mein Bruder legt das Schlaubergergesicht des Erstgeborenen auf: «Wir fahren hin.»

Die Kinder finden es toll, wir Erwachsenen feiern uns für unsere Spontaneität, die in Wahrheit ein Fluchtmanöver ist, was aber allen egal ist. Mein Bruder packt Essen, Getränke, seine Familie und, kein Witz, das Fondue-Set ein. Eine Stunde später stehen wir vor der Zweizimmerwohnung meiner Mutter. Eine winzige, 83-jährige Frau im Gegenlicht der Flurlampe, Bademantel. Mensch, Mama.

«Aber nein das gibt’s doch nicht.» Alle quetschen sich ins Wohnzimmer, Lagerfeuergemütlichkeit Knie an Knie auf Mamas goldener Couch. Man kann gar nicht anders, als sich beim anderen anzulehnen. Mein Bruder legt 80er-Jahre-Hits auf. Und weil meine Mutter die Coolste ist, tanzt sie, im Bademantel. Und sie tanzt alles weg: das schwache Herz, die komische Einsamkeit der Seniorenwohnung, die heute Abend voll ist, ihre beknackten Söhne, die sich langsam locker machen. Sie hat keinen Weihnachtsbaum, aber ein Gesteck aus Zweigen, die – natürlich – mein großer Bruder vorbeigebracht hat.

Wir sind zu schlapp für die Kirche, vielleicht weil Mamas Wohnung auch schon maximale Stall-von-Bethlehem-Atmosphäre ausdampft. «Frohe Weihnachten», sagt meine Mutter. «Frohe Weihnachten», sagt meine Schwägerin. «Es schneit», ruft, nein, quietscht meine fünfjährige Tochter. Alle gehen in den Garten, der eigentlich nur ein Rasenquadrat mit Plastikbank an der Seite ist. Es gibt hierzu keine Pointe, außer dieser vielleicht: Mein Bruder schaut mich an. Eine ungelenke Jungsumarmung im Schnee, der von den Tannen rüberweht.

Meine Familie ist kompliziert: Wir sind Stinker, wir sind Besserwisser, Neidhammel, Sich-zu-selten-Melder. Aber in den guten Momenten – und dies hier ist so einer, sind wir nicht zu schlagen.

 

Ein Jahr später will meine Freundin, dass wir eine Party feiern wie in einer amerikanischen Fernsehserie. Fünfzig Gäste. Alle mit Punschglas in der Hand und crazy Elchgeweih-Mütze auf. Mistelzweige über den Türen; Feuer im Kamin. Jemand sitzt am Klavier und spielt Dean-Martin-Songs. Die Lässigkeit einer Bar, aber eben: zu Hause. «Das wäre doch so was von super, oder?», fragt meine Freundin. Ja, wäre es. Wir haben allerdings keinen Kamin. Und ich kenne auch keine fünfzig Leute. Beim genaueren Nachdenken haben wir auch kein Klavier, bloß das Kinder-Xylophon unserer fünfjährigen Tochter. Auf dem klimpere ich zwar manchmal die Nationalhymne – aber eigentlich nur, um meine Alt-68er-Schwiegermutter zu ärgern, die alles Patriotische für Werke Satans hält.

Vor allem aber bin ich gegen die Party, weil ich während der Feiertage das Gefühl mag, wie eingeschneit zu sein. Drei Tage Family only, Essen, Brettspiele, Downton Abbey. Mehr stille Nacht, weniger totaler Wahnsinn. Doch dann … habe ich schleimiger Schleimer, weil ich es meiner Freundin recht machen wollte, folgenden Satz gesagt: «Wir können ja mit der Verwandtschaft Video-Konferenzen per Computer machen. Und so alle ein bisschen dazu holen.»

Ich bin mir ganz sicher, dass ich «so ein bisschen» gesagt habe. Ganz sicher. Corona steckt uns allen zu diesem Zeitpunkt noch in den Knochen, wenn ich ehrlich bin, steckt es mir sogar in der Seele. «Ich bin so ausgehungert nach Gesellschaft, dass es wehtut», hat meine Freundin kürzlich gesagt, und ich weiß, was sie meint. Sie hat schon unseren Postboten umarmt, und zwar mehrfach und gegen seinen Willen. Na gut, dann Videoweihnachten mit der in der Welt verteilten Verwandtschaft oder, wie unser Sohn sagt, «WLAN-Weihnachten», let’s go.

Heiligabend, 12 Uhr: In unserem Wohnzimmer sieht es aus wie in einem Lagezentrum der CIA während einer verdeckten Operation. Offene Laptops, offene iPads. Unsere Kinder, die all das spitze finden, tragen Headsets, genau wie meine Freundin. Nein, das hier ist Houston Ground Control, jetzt habe ich es. Ich bin total erkältet, was mich zu dem Kalauer «Husten, wir haben ein Problem!» treibt. Keiner lacht, alle sind mit Technik beschäftigt, na gut.

Auf Laptop 1 sind wir mit meinem Bruder in Bielefeld verbunden, von dem man nur Doppelkinn und Nasenlöcher sieht, weil er seinen Tablet-Computer permanent und horizontal durch die Wohnung trägt, «um euch so ein bisschen teilhaben zu lassen». Ich höre meine Freundin dankbar seufzen. Rasender Schwenk auf den Baum, auf einen Kochtopf mit irgendwas Blubberndem, wenigstens wird nix gegrillt. Dann wieder Nasenlöcher, bei wackeliger Bildästhetik wie in Blair Witch Project. «Sieht toll aus!», jubelt meine Freundin, die sich zu einer Art Feiertagsmoderatorin entwickelt.

Auf Laptop 2 sind wir mit Marc, ihrem südfranzösischen Cousin, verbunden, der aber zu doof ist, Kamera und Ton anzuschalten, wodurch das Gespräch den Charme einer Séance hat, bei der meine Freundin versucht, Kontakt zu einem Toten zu kriegen. «Bist du da, Marc? Ja? Jetzt kann ich dich hören, aber nicht sehen! Jetzt kann ich dich sehen, aber nicht hören!» Ich bin kurz versucht, «aber wir können deine Gegenwart spüren, Marc» zu raunen, will aber nicht die Feiertagslaune verbal vollpupsen und putze mir stattdessen die Nase.

15 Uhr: Nach anfänglicher Scheu und auch, weil ich nicht das blöde analoge Anhängsel sein will, komme ich langsam auf den Geschmack und übertrage deshalb unseren Spaziergang zum Weihnachtsgottesdienst an meinen Freund Stulli per Facetime. Nur kann ich mich nicht so richtig konzentrieren, weil ich vor allem auf den Mini-Ausschnitt des Bildschirms schiele, der mein eigenes dauergrinsendes Gesicht zeigt. Wenn ich das Handy ganz weit weg und ganz hoch halte, sehen meine Familie und ich am besten aus und ich weniger fett. Ich kämpfe kurz den Impuls nieder, von der Teenagertochter unserer Nachbarn den Selfie-Stick zu holen für ein paar besinnliche Shots aus der Kirche. Während des «O du fröhliche» merke ich, dass unsere Kirche kein offenes WLAN hat. Analoge Amateure, kein Wunder, dass denen die Leute wegbleiben.

18 Uhr: Auch mein zweiter Bruder – dieses Jahr in Bielefeld statt in Südafrika –, der zwar etwas kleinere Nasenlöcher hat, aber genauso ein rabiater Kamera-Schwenker ist, meldet per WhatsApp, dass er für die ganze Familie eine Zoom-Konferenz eingestellt hat: in die wir uns jetzt bitte alle einwählen sollen. Machen wir, auch wenn wir dafür zwei Schreibtischlampen ins Wohnzimmer bringen müssen, um (Formulierung meiner Freundin) «die Lichtsituation etwas zu pimpen».

Um 18.15 schließlich sind wir alle online, auf Sendung, und zwar gleichzeitig, ich kann auf meinem Computer ein Schachbrettmuster von Köpfen sehen. Alle rausgeputzt, ausgeleuchtet, aufgekratzt und abgewohnt. Leute, die sich über eine Ziellinie geschleppt haben. Nach all dem Hustle weiß jetzt keiner so recht, was sagen. «Ja, der Igel ist gelandet», versuche ich einen Witz. «Igel, also wie der Eagle, das war ja der Name der Landefähre bei der Mondlandung. Und da wir hier so viel Technik aufgefahren haben, passt das doch ganz gut.» Kein Lacher, nirgends. Meine Schwägerin sagt: «Ja, prima», kontextfrei und vor allem, um die Stille zu füllen. Die Tochter meines ältesten Bruders spielt Blockflöte. Es ist schief und krumm, es ist improvisiert und rumpelig. Aber es ist das, was wir gerade gemeinsam hinbekommen. Wir schicken digitale Herzen und lassen virtuelle Hände klatschen. Draußen ist es jetzt richtig dunkel, und drinnen ist es hell.

 

Wiederum ein Jahr später bin ich ein Mix aus zwei schrägen Gefühlen. Nummer 1: Ich bin gestresst. Weil ich vor Weihnachten alle Freunde noch mal treffen möchte, die Bielefelder Familie besuchen will und auch irgendwie muss. Und derweil versuche, meine Jahresend-Erschöpfung in den Griff zu bekommen, dank der ich mich immer fühle wie ein Sack Schrauben. Gefühl Nummer 2 ist das folgende: Älter werdend bin ich auf schon lachhafte Art sentimental geworden. Ich heule jetzt bei schmieriger, alle Klischees bedienender Schokoladenwerbung und schief geflöteten Weihnachtsliedern.

Ich vermute, weil Weihnachten ein Zeittunnel in die eigene Kindheit ist. Und sich mein Wunsch, wieder das jüngste Kind auf dem Polaroidfoto von 1979 zu sein, als (surprise) unerfüllbar entpuppt. Nicht sehr originell, ich weiß. Aber so fühlt sich meine Vorweihnachtszeit an. Hinzu kommt, dass Mutter Helga gestorben ist, ich will das hier gar nicht endlos ausbreiten. Aber es tut weh. Und die Lücke, die sie hinterlassen hat, ist Weihnachten spürbar wie ein Abgrund. Ich will am liebsten um mich schlagen und warte derweil darauf, dass mich jemand in den Arm nimmt.

In diesem Winter stehe ich exakt mit diesem Gefühlsmix an einem Bahngleis in Hannover. Wollmantel, Reiserucksack. Ich muss den ICE wechseln, um nach Bielefeld zu fahren: zu meinen Brüdern und den Abifreunden. Für eine Vorweihnachts-Stippvisite und eine Nacht auf der Besuchercouch. Es schneit, aber in Wahrheit ist es Regen; ich freue mich auf zu Hause, aber in Wahrheit bin ich fertig. Vom Hochgeschwindigkeits-Leben, das mittlerweile jeder um mich herum zu führen scheint. Vom Wegschieben der Nachrichten, vom Kraftakt, weiter zu lächeln.

Als die Durchsage der Bahn kommt, dass der Zug nach Bielefeld leider ausfällt, schwappt eine Welle schlechter Laune über den eh schon ziemlich düsteren Bahnsteig, der voller Reisender ist. Weihnachtspendler, jetzt mit der Körperhaltung einer geschlagenen Fußballmannschaft. Leute beginnen, auf ihre Telefone zu tippen, Verwandte anzurufen, wütend, traurig, die Endmoräne ihrer Geduld erreichend.

«Ja, ich bin’s, nee, wird später, die Bahn.»

Ich bin zu diesem Zeitpunkt so platt und abgerockt, dass ich entweder ein Taxi nehmen, etwas zerschlagen oder mich aus Protest auf den Bahnsteig legen will. Es ist kalt, es ist windig, es ist kacke. Dann schickt die Bahn einen Mitarbeiter auf den Bahnsteig. Ein Typ mit Bauch und Fusselbart, einen Bollerwagen mit Kaffeekanne und Bechern hinter sich herziehend. Ein billiger PR-Trick, vermutlich um zu verhindern, dass die Fahrgäste den Bahnhof niederbrennen oder einen Social-Media-Kreuzzug beginnen. Ich drängele mich nach vorne, weil ich einen Kaffee will und nicht bereit bin, mich noch mehr rumschubsen zu lassen von … keine Ahnung, von wem genau. Vom Leben, von diesem ganzen Weihnachtsgefühls-Mix-Schrott.

Bahntyp füllt einen Becher, die Frau vor mir, Ende 60, Wanderjacke, bekommt ihn gereicht. Und dann ereignet sich das Wunder. Was jetzt passiert, ist so trivial wie großartig. Und ich weiß jetzt schon, dass ich es nicht angemessen aufgeschrieben bekomme.

Denn es passiert das hier: Die Frau vor mir bekommt ihren Kaffee, trinkt ihn aber nicht, sondern dreht sich zu mir um und sagt: «Hier, bitte.» Ich halte den Becher in der Hand, wir haben kurz Blickkontakt, und es ist klar, was ich jetzt machen soll. Ich drehe mich auch um und reiche den Becher nach hinten, zu einem Teenager hinter mir. «Hier.» Auch der Teenager reicht ihn weiter. Wanderjackenfrau bugsiert jetzt immer mehr Becher nach hinten, ich gebe sie weiter, alle lächeln, alle finden es plötzlich toll, nehmen ihr Ego zurück und machen Platz für etwas anderes. Für: Was auch immer uns allen gerade fehlt. Großzügigkeit. Verbundenheit. Ich lehne mich jetzt sehr weit raus: Liebe. Hannover, auf Gleis 7. So eine kleine Geste. Ich könnte losheulen. Aber das liegt sicher nur an Weihnachten. Ich reiche das mal so weiter.

Larissa HoppeDas Wichtelhaus

Ich bin eine Bastelmutti. Ich bin eine Bastelmutti. ICH. BIN. EINE. BASTELMUTTI. Mantraartig versuche ich die Worte zu verinnerlichen, während wir auf den Eingang des Bastelgeschäfts zusteuern. Großeinkauf für ein Wichtelhaus. Das wir selbst bauen wollen. Wir, das sind ich und meine zweitbeste Hälfte, Tim.

Ich bin eine Bastelmutti. Ich bin eine Bastelmutti. Ich bin eine verdammte Bastelmutti … Engagierte Mütter und junge Frauen zeigen in kurzen Videos auf Facebook oder Instagram, wie man Haus und Wintergarten verschönern kann. Mit selbst gemachten Kränzen, verzierten Lampions, raffinierten Tischgestecken, mit selbst gemalten Grußkarten und natürlich mit Bastelideen für die lieben Kleinen. Die Videos, die die Arbeit im Zeitraffer zeigen, dauern nicht länger als 30 Sekunden. Feine Fingerspitzen mit perfekt manikürten Nägeln fliegen blitzschnell über Tannengrün, fixieren filigrane Äste in Steckschaum, arrangieren noch ein bisschen Blüten-Chichi dazu, ein paar Kerzen, fertig ist das Bouquet. «Das ist schnell gemacht und schmückt jeden Tisch», säuseln die Bastelmuttis mit extrem sanfter Stimme in die Kamera.

Nun. Ich habe kein Haus, keinen Garten, keine Kinder und auch keine Lust, mich in Schleifenband und Kartonpapier zu suhlen. Aber dieses Mal muss es sein. Und es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege. Ich kann doch wohl auch so itzibitzi kleine Schleifchen schnüren, Sterne auf Kork kleben, mit meinen nicht ganz so perfekt manikürten Nägeln Papier zusammenfalten.

«Na, dann wollen wir mal», sagt Tim und schnappt sich einen Korb. Er ist müde von der Arbeit, und die Aussicht darauf, an einem Freitagabend die Welt der Pappkartons und Knöpfe zu erobern, ließ ihn nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen. Aber es ist ja auch sein Wichtelhaus. In den nächsten vier Wochen soll es im Wohnzimmer stehen. Vorausgesetzt, wir finden heute alles und legen die kommenden Tage noch ein, zwei oder auch drei Bastelsessions ein. Es ist unser erstes Wichtelhaus, und zu so einer Premiere kann man sich ein wenig Mühe geben.

Was das soll mit dem Wichtelhaus? Der Brauch kommt angeblich aus Skandinavien. Zur Adventszeit wird eine Art Puppenhaus aufgestellt. Darin versteckt sich der Wichtel. In der Nacht, wenn die Hausbewohner schlafen, traut er sich hinaus – und hinterlässt kleine Geschenke, Briefe, Rätsel, Aufgaben, Süßigkeiten. Oder er spielt Streiche. Er leert den Wäschekorb aus und verteilt den Inhalt auf dem Boden, zum Beispiel. Eltern und Kinder können jeden Morgen gespannt sein, was sich der Wichtel in der Nacht ausgedacht hat.

Und ich kann gespannt sein, was sich mein Schatz ausgedacht hat. Es ist so ähnlich wie ein selbst gemachter Adventskalender. Nur aufwendiger. Und teurer. Denn wir haben noch kein Haus. Und wir haben auch keinen Kunstschnee. Wir haben weder Glitzer noch Sterne, um das Haus zu verzieren. Und geht man es richtig an, bekommt das Haus neben weihnachtlicher Dekoration mit Lichterketten und Kränzen noch einen Briefkasten und einen Gartenzaun und eine Fußmatte, drinnen ein paar Möbel, auch Geschirr, ein liebevoll bezogenes Bett oder zwei, einen Kamin, einen Schlitten. Alles im Mini-Mini-Format.

«Wollen wir denn wirklich ein Haus, oder reicht eine Tür», fragt mich Tim, während er orientierungslos durch die Gänge schlurft. Ja, es gibt auch Wichteltüren. Die werden über der Fußleiste an der Wand angebracht. Dahinter soll der Wichtel wohnen, und von dort kann er auch Schabernack treiben oder Geschenke ablegen. Aber bei uns soll er ein Haus bekommen; ein großes, ein schönes.

«Hier, schau mal. Da stehen Möbel.» Ich beuge mich über die Ausstellungsfläche. Alles im Maßstab 1:12. Einem Stuhl mit einer Sitzhöhe von 48 Zentimetern entspricht also ein Stühlchen mit Sitzhöhe vier Zentimeter. Auf die Sitzfläche passt ein Fingerhut. Oder ein schlanker Wichtel. «Was – sieben Euro für so einen Stuhl?» Scharf ziehe ich die aufgeheizte Luft des Ladens ein. «Und wenn wir es einfach ohne Möbel einrichten?», frage ich. «Ich meine, es ist ja unser erstes Haus. Vielleicht ist es besser, wir fangen klein an?» Tim betrachtet den Stuhl mitleidig. «Kommt auf den Wichtel an.»

Langsam steuern wir durch den nächsten Gang. «Was ist hiermit?» Tim zeigt auf ein Stück grüne Filzmatte. Na gut. Mir fehlt die Fantasie, wie das am Ende gut aussehen soll. Auf Fotos im Netz sind die Häuschen bis ins letzte Detail rundum liebevoll und nur aus Holz und Papier gestaltet. Bei uns scheitert es schon an Möbeln, und die Grundlage wird grober Filz. «Jetzt brauchen wir noch Tannen und Schnee», sage ich schnell, um nicht zu lustlos zu werden. 100 Gramm Deko-Schnee (sieben Euro) und vier kleine Tannenbäume, vier Euro je Stück, landen im Korb. Ich denke an die Bastelmuttis. Ihre Wichtelhäuser platzen vor Mobiliar und Schnickschnack. Töpfe, Pfannen, Tellerchen, Teeservice in Blau-Weiß, Miniaturmarmeladengläser, Körbe mit Wolle, kleine Blumentöpfe, Werkzeugkoffer und mindestens eine Leiter. Welcher Normalsterbliche soll das bezahlen? Oder darf man von Wichteln Miete verlangen?

Tim hypnotisiert die Regale links und rechts. «Hier! Das ist es! Unser Haus!» Er greift einen Kasten heraus. Schlichtes Naturholz, eine Rückwand, zwei Seitenwände, Satteldach, Boden, offene Front. Acht Euro. «Das find ich gut.» Er nickt zufrieden, dreht und wendet den Holzkasten. «Dann braucht es auch gar nicht mehr so viel. Das wird nett.» Nett. Nett ist an Weihnachten nicht genug. Nett ist an Weihnachten ein Armutszeugnis. Weihnachten und alles, was dazugehört, muss glanzvoll sein. Alles nur Konsum und kommerzieller Druck, der ganze Familien zerstören kann? Es braucht nur Nächstenliebe und Besinnlichkeit? Papperlapapp. Wäre das so, könnten wir in Turnhallen unter Fluchtlicht feiern.

Wir spazieren weiter die Gänge ab. Der Laden ist zu warm. Unter meinem Strickpulli staut sich die Hitze. Dazu rutscht der rechte Ärmel von meinem Wintermantel immer wieder runter, sodass mein XXL-Schal eingeklemmt wird und eng an meinem Hals liegt. Der Gurt der Handtasche drückt auf meine Schulter. Ist das alles anstrengend. «Und hier?» Tim hält ein Starter-Weihnachts-Deko-Set in die Höhe. Glocken, grüne und rote Pfeifenputzer, Sternensticker in Gold und Silber, zwei Päckchen Glitzerstaub.

Auch gut. Landet im Korb. Genau wie Krepppapier in Orange und Rot, goldfarbenes Schleifenband, zwei kleine Strickmützen, Moos-Imitat, Flüssigkleber, ein Wollknäuel und eine Bastelschere. Wir stehen vor Christbaumkugeln und mit Goldglitzer bestäubten Rentierchen. Ich beobachte die anderen Frauen. Bastelmuttis. Sie sortieren Wäscheklammern und Miniaturgeschenke aus Kisten und Boxen, die auf einem überladenen Ausstellungstisch stehen. Verliebt betrachten sie kunstvoll gepresstes Glas. So haben die ihre Männer seit zehn Jahren nicht mehr angeschaut.

«Dann haben wir’s, oder?» Mein Schatz ist schon halb auf dem Weg zur Kasse. Ich nicke. «Ja, das muss reichen. Es ist ja nur ein Wichtelhaus.» Ein Wichtelhaus, das gewaltig zu Buche schlägt: 107 Euro und 86 Cent. «Als hätte ich ein echtes Haus gekauft», witzle ich mit schiefem Lächeln. «Ja, na ja», antwortet die Kassiererin und schiebt die prall gefüllte Tüte über den Tresen. «Jetzt können Sie richtig loslegen, viel Freude damit!» Ich nicke. Richtig loslegen. Freude. Ich bin gespannt.

Natürlich legen wir nicht richtig los. Nicht an diesem Abend. Auch nicht am Wochenende. Und nicht an den Feierabenden in der Woche danach. Zehn nach unserem Einkauf steht die Tüte noch unberührt vor dem Esstisch. Meine bessere Bastelhälfte hat es vermieden, das Thema anzusprechen. «Wir müssen das aber noch machen», hatte ich an einem Abend zu ihm gesagt, als wir auf dem Sofa saßen. «Hmmm», hatte er gebrummt, halb im Schlaf versunken – und dann nie wieder ein Wort dazu verloren.

Ich habe nicht die Muße gefunden, ihn noch mal zu animieren und dabei zu erklären, dass das eine sehr lustige Sache sein könnte! So lustig wie bei den Bastelmuttis, deren Videos ich seit unserem Einkauf noch viel häufiger in meinem Facebook- und Instagram-Kanal angezeigt bekomme. «Fünf einfache Tipps und Tricks für den perfekten Weihnachtskranz.» Zu sehen sind lachende Kinder an einem ohnehin schon festlich geschmückten Tisch. Und noch breiter lachende Eltern, die mit aller Seelenruhe Tannenzweige zusammentüdeln. Das alles ohne den leisesten Anflug von Verzweiflung, Stress oder Chaos auf Tisch und Boden. «Wenn ihr mögt, könnt ihr noch ein paar kleine Kugeln oder Schleifen einarbeiten», trällert die Bastelmutti in die Kamera. «Eurer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.» Ihr Mann steckt konzentriert den nächsten Tannenzweig fest. Wi-der-lich. Und bei uns? Nix. Unser Wohnzimmer ist von Weihnachtsglanz so weit entfernt wie der Bastelpapa von einem selbstbestimmten Leben.

Noch gute zwei Wochen, dann werde ich zu meiner Familie in den Weihnachtsurlaub fahren. Mein Blick fällt auf die Tüte am Esstisch. Meine zweitbeste Hälfte ist gerade nicht daheim. Ich habe freie Gestaltungsbahn und kann zumindest mal anfangen. Guter Plan. Ich springe vom Sofa auf. Schnell. Nicht, dass ich es mir noch anders überlege.

Also zuerst der Filzboden. Darauf klebe ich das Haus. Flüssigkleber gezückt, los geht’s. Einen Streifen hier, einen Streifen da. Da kann auch noch einer hin. Ich schmiere zehn Klebstofflinien auf den Unterboden des Hauses. Das soll ja schließlich halten. Festdrücken. Es hält nicht. Noch mal die Tube auf. Noch mal zehn Linien. Jetzt muss es aber halten.

Passt! Zumindest ein bisschen. Einfach nie wieder bewegen, dann klappt das schon. Jetzt der Weg über den Rasen zum Hauseingang. Ich krame mich durch die Tüte. Einen Zaun haben wir nicht gekauft; der war zu teuer. Aber man kann einen Weg ja auch andeuten. Ah, Pfeifenputzer in Rot. Das gibt gleich einen starken Kontrast. Soll der Wichtel später nicht behaupten, er habe den Weg nicht gefunden. In einer leichten S-Kurve klebe ich die puscheligen Drahtwürmer auf den Filz. Aha. Ja, kann man so machen. Andere basteln aus so was Blumen und Schildkröten. Ich lege die einfach aus. Toll.

Jetzt der Kunstschnee. Großzügig verteile ich Kleberkleckse auf dem Filz. Allzu oft sollte ich diesen Trick nicht mehr anwenden müssen. Der Inhalt der Tube neigt sich dem Ende zu. Aber noch ist es nicht so weit, also rauf damit. Ich rupfe ein paar Flocken aus der Tüte, verteile sie auf der zähflüssigen Masse. Hier noch eine Flocke. Und da … Mist. Die weißen Büschel kleben an den Fingern. Mit der linken Hand versuche ich, die rechte zu befreien. Vorsichtig abzupfen. Jetzt kleben sie an der linken Hand. Oooch. Vielleicht kann ich die Finger auf dem Filz sauberstreichen. Dumme Idee. Jetzt ist alles gelaufen.

Schnaubend stapfe ich in die Küche. Gründlich abspülen. Und dann eben Glitzerstaub. Das sollte selbst mir gelingen. Tut es nicht. Zu viel an der einen Stelle, zu wenig an der anderen, das meiste unter den Fingernägeln. Und dann fällt die Tüte auf den Boden. Warum ist das denn so? Verzweifelt schaue ich auf den feinen Glitzergriesel, der sich auf dem Parkett verteilt hat. Also Staubsauger holen. Und vorher wieder Hände waschen.

Jetzt weiß ich wieder genau, warum ich seit der Grundschule keine Bastelschere mehr in der Hand hatte. Schon damals war es nervig. Ich brauchte drei Anläufe, um mithilfe eines Luftballons, reichlich Kleister und Unmengen Papier eine Laterne zusammenzustöpseln, nur damit sie am Ende doch nicht so schön war wie eine gekaufte. Oder Windräder. Da wurde geschnibbelt, gefaltet, geknickt und gesteckt. Mit Wutanfällen zwischendurch. Und wofür? Damit man am Ende einmal reinpustet, feststellt, dass sich das olle Ding nicht dreht, worauf es bis zum nächsten Großputz in der Ecke vergammelt.

Nach weiteren fünf Minuten unterm Wasserhahn trotte ich zum Sofa. Aus sicherer Entfernung analysiere ich den Schaden. Schneegriesel hat sich auf Esstisch, Stühlen und Boden verteilt, Glitzerstaub hängt an der Fußleiste. Das Haus steht genauso kahl wie vorher da. Die Pfeifenputzer sind an einem Ende vom Filz hochgeploppt. So wird der Wichtel nicht einziehen. Es sieht abschreckend aus. Aber ich werde jetzt keine Korrektur betreiben. Ich werde nicht mal aufräumen. Es bleibt so. Als Mahnmal, sollte ich wieder auf die Idee kommen, allein basteln zu wollen. Enttäuscht schlurfe ich in Richtung Bett.

«Was ist denn im Wohnzimmer passiert?», fragt mein Schatz am nächsten Morgen, während er sich einen Kaffee eingießt. Er grinst. Es ist ihm bewusst, dass er gerade sehr, sehr dünnes Eis betreten hat. Denn er hat mich mit unserem Wichtelhaus alleingelassen. Das ist immer so. Am Anfang ist er dabei und findet die Ideen richtig gut, um sich nach einem Drittel der Strecke auszuklinken. Fertig machen sollen andere. Also ich.

«Ich habe versucht, unser Wichtelhaus zu bauen.» Kurzes Schweigen. «Sieht gut aus», sagt er. Wieder Schweigen.

«Aha», sage ich knapp. «Finde ich nicht so.»

Er geht ins Wohnzimmer. Behutsam nähert er sich dem Tisch, als ob er ein Minenfeld betritt. Richtig so. «Also ich finde, mit dem Rasen und dem Schnee passt das doch ganz gut. Noch ein bisschen Verkleidung ans Haus, und dann ist das fertig.» Ich schaue auf den Filzboden mit den weißen Flecken und auf den nackten Holzkasten. «Das ist überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Das ist nicht charmant. Null.»

«Das ist doch nicht schlimm.» Vorsichtig zupft er an einem Schneepuschel. «Es ist doch unser Haus. Und wenn es so aussieht, ist das schön so. Ich mache heute Abend noch Krepppapier drum und ein paar Sterne dran. Das wird.»

Ich nicke matt. Die Illusionen sind dahin. Ich habe keinen Nerv, mich weiter mit der Akte Wichtelhaus zu beschäftigen. Aber ich bin gespannt, ob Tim sein Versprechen wahr macht.

Und er macht. Als ich nach Hause komme, steht er mit Krepppapier am Esstisch und klebt vorsichtig einen Streifen aufs Dach. «Schau mal.» Stolz präsentiert er die Rückseite des Holzkastens. «Unten ist jetzt überall das Rote für die Backsteine. Und oben nehme ich jetzt das Orangefarbene, als Dach. Innen kommt auch noch Verkleidung rein, und darauf die Sterne.» Er sieht so zufrieden aus, dass ich lächeln muss.

«Klingt gut», sage ich und setze mich an den Tisch. «Kann ich dir helfen?»

«Du kannst diese Seite festhalten.» Er zeigt auf ein Endstück Krepppapier, das er auch allein hätte festhalten können. Aber wir wollten es ja zusammen machen. Trösten kann er. Dann hält er die fast leere Tube mit Flüssigkleber hoch: «Und sag mal, haben wir noch mehr davon?» Jetzt muss ich lachen.

Nach einer Stunde ist das Häuschen fertig und das Chaos auf Tisch und Boden beseitigt. Am nächsten Morgen, mein Schatz schläft noch, mache ich schnell einen Zettel fertig. Mögen die Wichtelspiele beginnen.

Es bleibt der einzige Zettel in diesem Advent. Keine Aufgaben, keine Rätsel, keine Geschenke. Unser Wichtel kommt einfach nicht so richtig bei uns an. Verlassen steht das Ungetüm von Haus auf dem Esszimmertisch und nimmt ein Drittel der Fläche ein. Als mein Bruder zu Besuch kommt, betrachtet er den zusammengeschusterten Korpus. «Äh, was soll das sein?» – «Ein Wichtelhaus.» – «Ah.» – «Jap.» – «Und das bleibt so, oder wird das noch fertig?»

Er hat ja recht. Es sieht nicht gut aus. Wegschmeißen kann ich es aber auch nicht. Es stecken zu viel Geld und Zeit und Nerven drin. Das Schlimmste: Über den ganzen Ärger ist mir die Lust vergangen, die eigentliche Weihnachtsdeko aus dem Keller zu holen. So sieht meine Wohnung am 15. Dezember noch immer ziemlich trostlos aus.

Bis zum nächsten Abend. Als ich nach Hause komme, stehen zwei Tüten in der Diele. «Was ist da drin?», frage ich Tim, während ich Jacke und Schuhe ausziehe.

«Ein kleines Geschenk.»

Uuhhh, ich liebe Geschenke. Als ich nachsehe, die Überraschung: In den Tüten sind Weihnachts-Ballon-Figuren. Zwei XXL-Zuckerstangen mit pink-weißen Streifen, zwei Herzen, zwei kleine Zuckerstangen in Rot-Weiß und zwei XXL-Lebkuchenmännchen in knalligem Rot.

«Die können wir an die Türen oder an den Rahmen kleben, dachte ich», sagt er und schaut mich gespannt an.

«Oooh, die sehen ganz fantastisch aus! Richtig schön. Das gefällt mir. Wo kommen die her?»

«Gekauft.» Er grinst breit. «Ich dachte, die selbst zu basteln, sprengt nun wirklich den Rahmen. Und dein Nervenkostüm. Ein bisschen weihnachtlich soll es aber schon noch werden.»

Vorsichtig stelle ich eines der Männchen in eine Ecke im Flur. Sehr süß. Kitschig, weihnachtlich, schön. So habe ich mir das vorgestellt. Die gute alte Massenware aus China. Herrlich.

«Und ich habe noch was», sagt Tim und geht mit langen Schritten ins Wohnzimmer. «Damit habe ich mich, so viel kann ich sagen, selbst übertroffen.»

Was kommt jetzt? Er zeigt auf den Wohnzimmertisch. Ein Adventskranz! Oha.

«Der ist schick, ne?»

«Ja, der ist sehr schick.»

Mit Tannenzweigen, Ästen und kleinen Blättern. Sehr aufwendig und fein gearbeitet. Das sieht nicht nach Massenware aus. «Und wo kommt der her?» Ich mustere die Fäden, die vorsichtig um das Grün gewickelt wurden. «Den habe ich selbst gemacht», flötet er. Die beste Bastelmutti, sie sitzt abends neben mir auf der Couch.

Michele CovielloAlles für die Katz

Die Weihnachtszeit begann schöner denn je: Himmel wolkenlos, Rodelbahn leer. In der scharfen Linkskurve erreichte unsere Stimmung den Höhepunkt. Ich kippte vom Schlitten und überschlug mich zweimal. Ein drittes und viertes Mal rollte ich als Showeinlage wie ein Stuntman weiter. Die Kinder prusteten und rangen nach Luft. Ihr Lachen hielt bis zur Talstation. Unten stampften wir den Schnee von den Stiefeln und setzten uns auf die Terrasse. Es roch nach Sonnencreme und Zimtrollen.