Operation 5 minus - Charlotte Inden - E-Book

Operation 5 minus E-Book

Charlotte Inden

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Beschreibung

Das alles wäre nie passiert, wenn Matze rechnen könnte. Dabei sitzt er über seinen Büchern, bis ihm die Zahlen vor den Augen verschwimmen. Ohne Erfolg. Deshalb gilt er in der Schule jetzt als versetzungsgefährdet. Da hat sein Freund Gogol eine wirklich blöde Idee: Man könnte doch die Tochter des Mathematik-Lehrers entführen. Und er kriegt sie erst zurück, wenn er Matze eine Vier gibt. So lange wartet das Mädchen in der Waldhütte, da gibt es sogar fließendes Wasser. Wie aus der albernen Idee auf einmal Ernst geworden ist, weiß hinterher keiner mehr. Doch plötzlich stecken die Jungen mittendrin in der "Operation 5 minus". Wie kommen sie da bloß wieder heraus?

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CHARLOTTE INDEN

OPERATION5 MINUS

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24716-1

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Marion Blomeyer, Lowlypaper, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meine Hörmänner,

den großen und den kleinen.

1

Vor zweihundert Jahren hätten sie uns einfach ins Gefängnis gesteckt. Obwohl wir erst zwölf sind. Tür auf, rein mit der Bande. Hier habt ihr Wasser und Brot, viel Spaß damit, setzt doch Schimmel an.

Und das hätten wir dann auch erst mal getan.

So wie der Graf von Monte Christo.

Was für ein Glück also, dass wir im einundzwanzigsten Jahrhundert geboren wurden. Weil wir jetzt erklären können, dass doch alles nur passiert ist, weil der Matze nicht rechnen kann.

Er strengt sich ja wirklich an! Er sitzt über seinen Büchern, bis ihm die Zahlen vor den Augen verschwimmen, aber es macht einfach nie klick bei ihm. Sein Vater denkt, wenn er dem Matze nur oft genug das Heft um die Ohren haut, wird der schon kapieren, wie man eine Gleichung mit zwei Unbekannten löst. Vielleicht hat Matzes Vater nicht oft genug zum Heft gegriffen, ein paar Wochen vor den großen Ferien war der Matze jedenfalls in Gefahr, wegen Mathe durchzufallen.

»So eine Scheiße«, sagte der Graf voller Inbrunst.

Der Matze sagte gar nichts. Er hockte nur kreidebleich unter der alten Kastanie hinten im Pausenhof. Der Wind rauschte in ihren Blättern und tat ganz feierlich, aber uns war eher trübsinnig zumute.

Der Gogol hatte die Idee. Er sagte: »Wir werden den Biglmaier einfach zwingen, dich nicht durchfallen zu lassen.«

Der Laurenz schnaubte. Darin ist er weltklasse. Er schafft es, dabei gleichzeitig verächtlich und amüsiert zu klingen. Beides kann der Gogol nicht gut vertragen.

Deshalb setzte der Gogol noch einen drauf. Etwas schärfer sagte er: »Klar, wir zwingen ihn. Jeder hat seine Achillesferse.«

»Seine was?«, fragte der Matze.

»Seine Schwachstelle«, übersetzte der Graf. »Seinen wunden Punkt.«

»Ach so«, sagte der Matze.

»Und was, bitte schön«, fragte der Graf den Gogol, »sollte der wunde Punkt vom Biegel sein?«

Der Gogol musste nicht mal überlegen. »Seine Tochter«, sagte er wie aus der Pistole geschossen.

Wir schwiegen, zugegebenermaßen beeindruckt. Ja, die Tochter vom Biglmaier war ganz klar seine Achillesferse. Nicht, dass er uns gegenüber je von ihr gesprochen hätte. Das war ihm viel zu privat. Aber jeder bei uns hat schon davon gehört, wie klug sie ist. Wie schön. Und wie talentiert am Klavier. So viele kluge, schöne und talentierte Mädchen gibt es nämlich in unserer Stadt nicht. Was vielleicht daran liegt, dass wir hier generell nicht so viele sind.

»Und wie genau soll die Tochter vom Biglmaier uns helfen?«, wollte der Graf wissen.

Der Gogol lächelte triumphierend. »Der Biglmaier kriegt sie erst zurück, wenn er Matze ein Sehr gut ins Zeugnis setzt.«

Das hat er wirklich gesagt. Wir starrten ihn ungläubig an. Also lenkte er ein: »Okay, vielleicht sollte er Matze einfach nur eine Vier geben. Fällt ja sonst auf.«

Der Laurenz lachte.

Und die anderen lachten nach einer Schrecksekunde mit.

Ich dachte ja erst auch, es sollte ein Witz sein. Aber ich kenne den Gogol und seine verrückten Ideen und irgendwie regte sich in mir der böse Verdacht, dass er es todernst meinte. Und ich hatte recht!

Der Gogol erklärte schon weiter: Dass wir die Biglmaier-Tochter nach ihrer Klavierstunde abfangen und in unserem Hauptquartier verstecken könnten. Dass sie da ja sogar quasi fließendes Wasser hätte und so. Also totalen Komfort.

»Das wird eine Luxusentführung. Da kann sie sich doch freuen.«

Der Laurenz wandte ein, dass die Biglmaier-Tochter bei sich zu Hause bestimmt mehr Luxus hätte.

Der Gogol warf ihm einen bösen Blick zu und ätzte: »Du musst es ja wissen.«

Das stimmt. Der Laurenz weiß, wovon er spricht. Seine Eltern haben ein riesiges Haus direkt am See. Mit einem Pool. Obwohl der See wie gesagt direkt vor der Tür liegt. Wieso Laurenz’ Einwand dann aber nicht galt, wenn der Laurenz doch weiß, wovon er spricht, leuchtete mir nicht ein.

Ich wollte gerade etwas sagen, da machte der Matze den Mund auf. »Meint ihr wirklich, das funktioniert?«, fragte er. Und kriegte ganz hoffnungsvoll große Augen.

Also habe ich doch nichts gesagt. Blöd, ich weiß.

Der Laurenz war nicht so zurückhaltend. Er sagte zu Matze: »Nein, wir denken nicht, dass das funktioniert, Mätzchen. Gogol spinnt total.«

Woraufhin der Gogol sich auf den Laurenz warf. Und dann hatten wir den Rest der Pause damit zu tun, die beiden erst ein bisschen anzufeuern und den Gogol dann vom Laurenz runterzureißen. Nicht, dass uns das schwerfiel. Wir haben ziemlich viel Übung darin.

In der nächsten Stunde hatten wir Latein. Auch beim Doktor Biglmaier. In Latein steht der Matze genauso schlecht wie in Mathe. Für Latein bemüht sein Vater aber nicht die Heftohrfeigen. Er beherrscht es selbst nicht, hat es nie gebraucht und glaubt deshalb nicht, dass irgendjemand sonst auf dieser Welt es können müsste. Basta.

Alle saßen mit gebeugten Köpfen über ihren Lateinbüchern, beteten, dass sie nicht zum Übersetzen drankamen, und starrten Löcher ins Papier. Nur ich starrte den Gogol an. Sein schwarzes Haar stand wild in alle Richtungen ab, weil der Laurenz daran gezerrt hatte.

Der Gogol starrte auch nicht in sein Buch. Der Gogol starrte jemandem hasserfüllt ins Genick. Aber nicht etwa dem Laurenz, sondern dem Biglmaier, der gerade zur Erinnerung die Endungen der u-Deklination an die Tafel schrieb. Und da dachte ich: Der Gogol würde diesen Entführungswahnsinn gar nicht für den Matze durchziehen, sondern für sich selbst. Weil er den Biglmaier hasst.

Außer mir weiß keiner, warum der Gogol den Biglmaier hasst. Und keiner weiß, dass ich es weiß. Nicht mal der Gogol. Wie ich dahinterkam? Das kam so:

Ich war wie immer zu spät dran. Wir hatten nachmittags noch Sportstunde, Hochsprung auf der Aschebahn, und ich war auch nach dem Mittagessen rechtzeitig von zu Hause losgefahren, das heißt, mein Vater hatte mich rechtzeitig rausgeworfen, aber unterwegs hatte ich irgendwie wieder ein paar kostbare Minuten verloren. Vielleicht, weil ich mir noch einen Comic gekauft hatte, vielleicht, weil ich an der Brücke zu lange von den Enten und ihren Küken abgelenkt war, ich weiß es nicht genau.

Jedenfalls musste ich Zeit gewinnen. Der kürzeste Weg zum Sportplatz führt durch unser Schulhaus. Der Hof lag völlig verlassen da, als ich in aller Hast, wie immer, mein Rad abschloss. Nur ein paar Spatzen hüpften unter der Kastanie herum. Und nur der rote Golf vom Doktor Biglmaier stand noch auf dem Lehrerparkplatz.

Der Doktor Biglmaier reagiert hochallergisch auf Zuspätkommer. Wenn wir in der ersten Stunde bei ihm haben und ich wieder nicht aus dem Bett gekommen bin oder meinen linken Schuh nicht gefunden habe oder noch meinen Vorderreifen aufpumpen musste, dann habe ich Herzrasen und kriege feuchte Handflächen, bevor ich an die geschlossene Tür klopfe. Doch wenn er »Herein!« gerufen hat und ich vor neunundzwanzig neugierig dreinblickende Schüler trete und vor einen sehr grimmig schauenden Lehrer, dann tue ich einfach völlig unverfroren das, was ich, unter uns gesagt, am besten kann: Ich erfinde eine Geschichte.

Am Anfang habe ich noch behauptet, ich hätte verschlafen. Weil das ehrlich klingt. Aber jemand, der drei Mal die Woche verschläft, darf nach einer Weile keine Sympathien mehr erwarten. Weder von den Lehrern noch von den Mitschülern, die sich brav beim Weckerklingeln aus dem Bett gequält haben. Deshalb steigerte ich mich langsam zu Wasserrohrbrüchen und kleineren Verkehrsunfällen. Je detaillierter die Geschichte, desto glaubwürdiger, das lehrt mich die Erfahrung.

Ich erzählte das alles stets, ohne rot zu werden. Und eigentlich hätte ich es damals schon wissen müssen: dass ich kriminelle Energie in mir habe.

Wie ein richtig kriminelles Subjekt schlich ich also an jenem Nachmittag durchs Schulhaus den linoleumgrünen Flur entlang. Und weil ich so schlich, hörte ich den Biglmaier sprechen. Das allein wäre nicht so erstaunlich gewesen. Erstaunlich war, dass der Biglmaier freundlich klang. Das tut er sonst nämlich nie!

Und weil ich nicht nur kriminell veranlagt, sondern auch noch kriminell neugierig bin, blieb ich stehen und hörte zu.

»Willst du denn dazu gar nichts sagen, Nikolas?«, fragte der Biglmaier gerade in diesem ungewohnt freundlichen Ton.

Nikolas heißt der Gogol richtig. Und wenn ihn ein Lehrer mit Nikolas anredet, antwortet er normalerweise auch darauf. Jetzt aber schwieg er verstockt. Gut, von draußen konnte ich nicht sehen, ob er da drinnen im Klassenzimmer sein böses Gesicht machte, doch daran, wie sich dieses Schweigen ausdehnte, meinte ich zu spüren, dass es kein sehr angenehmes war.

»Es hilft dir nichts, Nikolas, wenn du tolldreist um Aufmerksamkeit heischst«, sagte der Biglmaier und klang immer noch wie jemand, der es richtig gut mit dem Gogol meint. »Wenn du nicht selbst von dir überzeugt bist, bringt die Bewunderung deiner Mitschüler dich auf Dauer auch nicht weiter. Verstehst du das?«

Ich sage nicht, dass ich damals richtig kapiert habe, was der Biglmaier wollte. Aber mir war klar: Das hier ist starker Tobak. Und ich selbst hätte nicht gewollt, dass jemand Zeuge wird, wie mir unangenehme Wahrheiten um die Ohren gehauen werden. Also bin ich genauso leise weitergeschlichen, wie ich gekommen war. Und zu spät zum Hochsprung erschienen.

Seitdem bin ich sicher: Der Biglmaier durchschaut den Gogol. Und das ist der Gogol nicht gewohnt. Aber anstatt dass der Gogol dann auf sich wütend wird, weil er Charakterschwächen hat, an denen er arbeiten sollte oder so, ist er wütend auf den Biglmaier. Und deshalb durchbohrt er ihn auch in jeder Lateinstunde mit seinen Blicken. Wäre der Gogol ein Superheld, hätte er dem Biglmaier sicherlich schon ganze Löcher ins hintere Haupthaar gebrannt.

Der Gogol ist aber kein Superheld. Der Gogol ist schlecht in Latein. Und als der Biglmaier ihn schließlich aufrief, stolperte er sich zähneknirschend durch die Übersetzung der nächsten Sätze.

2

Ich denke, es wäre gar nichts passiert. Ich denke, wir hätten Gogols blöde Idee einfach vergessen. Der Gogol selbst hätte das auch getan. Weil er sie ja, wenn wir alle ehrlich sind, das heißt er auch, nur in diesem einen Moment richtig gut fand, in dem wir unter der Kastanie um ihn herumstanden und ihn bewundernd anstarren sollten. So hatte er sich das gedacht. Und weil das nicht so kam, wollte er den Laurenz verdreschen.

Jedenfalls hätte nicht mal der Gogol mit dem Tochterraub-Irrsinn wieder angefangen.

Aber der Matze tat es.

Wir badeten im See. Das heißt, wir schwammen um die Wette, drückten uns gegenseitig unter Wasser und schluckten jede Menge trübe Seebrühe. Nur der Matze fehlte. Der Matze ist ein großer, breiter Kerl. Allein deshalb fällt schon auf, wenn er fehlt. Als er endlich unter den Bäumen auftauchte, sah er aber kleiner aus als sonst. Er kam nicht ins Wasser, sondern ließ sich mitten auf unsere Sachen fallen. Ich hoffte nur, er hatte nicht die Brille vom Graf zerquetscht. Der Graf hoffte das auch, er war als Erster aus dem Wasser und beim Matze.

Die Brille war noch heil, der Matze irgendwie nicht.

»Das war’s«, sagte er mit einer Stimme, die seiner gar nicht ähnelte. »Ich kriege nicht nur in Mathe ein Mangelhaft. Die Fünf in Latein ist auch gesetzt. Der Biglmaier lässt keine Gnade walten. Weil’s nichts bringt. Weil wir nicht alle zum Humanisten geboren sind, sagt er. Und es besser ist, das früher als später einzusehen.«

Keiner sagte etwas.

»Alles verliere ich«, redete er weiter. »Euch verliere ich dann auch.«

»Nein«, sagte der Graf sofort.

»Doch«, schniefte der Matze. Ja, er schniefte. Es klang, als hätte er eine ganze Menge Rotz in der Nase. Wir hielten alle den Atem an. Würde der Matze jetzt weinen? Er weinte nicht. Er wischte sich mit dem Ärmel erst über die rotzige Nase, dann über die feuchten Augen, leider nicht umgekehrt. Und sagte dann: »Mein Alter hat getobt, er nimmt mich von der Schule, wenn ich sitzen bleibe. Von einem Internat hat er geredet, aber das können wir uns eh nicht leisten. Wahrscheinlich wird es das Bismarck, das ist schlimm genug.«

Wir schwiegen betroffen. Die Bismarckschule war in der nächsten Kreisstadt. Eine Weltreise war es bis dahin. Wenn der Matze wirklich dorthin musste, würden wir ihn kaum mehr zu Gesicht kriegen.

»Alles ist aus«, murmelte der Matze. »Es sei denn, wir ziehen das Ding mit der Biglmaier-Tochter durch.«

Was sollten wir da tun?

Keiner sagte: Wir machen es.

Aber es sagte auch keiner: Wir machen es nicht.

Und ich weiß wirklich nicht mehr, wer sagte: Wie fangen wir’s an? Weil wir es alle zusammen ausgeheckt haben. Wir saßen um unser Lagerfeuer, kratzten unsere Mückenstiche und versuchten, das mulmige Gefühl in unserem Bauch mit Cola und Grillwürstchen zuzuschütten.

Wir hatten ziemlich schnell einen Plan. Ob das bedeutet, dass wir alle in ein Verlies mit Wasser und Brot gehören? Ich weiß es nicht genau.

Phase eins war: Auskundschaften.

Das übernahmen der Gogol und ich. Der Gogol, weil er an jeder Phase maßgeblich beteiligt sein wollte. Er traut uns nicht zu, dass wir irgendetwas ohne ihn richtig machen. Ich, weil ich aussehe wie ein ehrliches Kerlchen. Sagte der Laurenz.

»Ich sehe nicht aus wie ein ehrliches Kerlchen«, widersprach ich ärgerlich.

»Aber, Jo, du bist ein ehrliches Kerlchen«, gab der Laurenz zu bedenken.

Das stimmt wohl. Denn obwohl ich so großartig flunkern und fabulieren kann und es auch tue, habe ich das, was der Biglmaier moralische Werte nennt. Was man mir wohl ansieht. Jedenfalls hält mich alle Welt für einen braven Jungen, und bis jetzt ist noch keiner drauf gekommen, dass ich mir das Leben durch Notlügen leichter mache. Nicht mal der Biglmaier! Dass der Biglmaier mir allerdings noch moralische Werte zuschreiben würde, wenn er wüsste, dass ich samt Gogol zum Spionieren unter seiner Hecke lag, wage ich zu bezweifeln.

Es war wieder so ein Sommernachmittag, den man eigentlich am See verbringen sollte. Oder bei unserem Hauptquartier im Wald. Während ich mit dem Gogol zwischen Rhododendren herumkroch, dachte ich einen Moment sehnsüchtig daran, wie die anderen jetzt johlend ins Wasser sprangen oder im Schatten dichter Tannen eine Tür für unsere Hütte zusammennagelten. Doch dann bemerkte ich, wie nett grün das Licht unter den Rhododendren war, wie warm sich die Erde unter meinem Bauch anfühlte und wie süß die Rosen neben der biglmaierschen Haustür bis zu uns herüber dufteten.

Eigentlich, dachte ich, als ich mich dort lang ausstreckte und aufs Warten einrichtete, ist es unter diesem Busch auch ganz hübsch.

Und friedlich.

Und still.

Da fluchte der Gogol neben mir.

»Sch!«, machte ich. »Sonst hört uns der Biegel.«

Da fluchte der Gogol nicht mehr, sondern wischte sich nur noch in wilden Bewegungen die Arme.

Oh. Angriff der Gartenameisen. Sie krabbelten über den Gogol hinweg und attackierten ihn nach Kräften.

Verständlich, dachte ich, und betrachtete interessiert ihr aufgeregtes Herumgerenne. Wir stören ihre Bahnen, das macht sie verrückt.

Gerade als mir der unangenehme Gedanke durch den Kopf schoss, dass sich unser Lehrer sicher ähnlich unerfreut zeigen würde, wenn er uns so unaufgefordert in seinem Vorgarten herumliegen sehen könnte, knuffte mich der Gogol in die Seite.

»Da ist das Zielobjekt«, zischte er.

Ja, da war sie tatsächlich.

Eine Notenmappe in der rechten Hand schlenkernd, kam sie den Berg herauf. Und vielleicht weil sie so helle Haut und so dunkle Haare hatte, vielleicht aber auch weil ich bei dem Begriff Zielobjekt eine Gänsehaut kriegte, gab ich Biglmaiers Tochter in diesem Moment einen anderen Namen. Ich nannte sie Schneewittchen.

Plötzlich atemlos, beobachtete ich, wie das Schneewittchen näher kam. Sie könnte uns ja unter den Büschen entdecken. Sie könnte ja ausgerechnet heute die Rhododendren auf letzte Blüten untersuchen wollen. Uns sehen, laut schreien und damit den Biglmaier aus dem Haus locken.

Sie tat es nicht. Sie ging beschwingt den gepflasterten Gartenweg entlang, klemmte sich noch im Gehen die Mappe unter den Arm, schob einen Schlüssel ins Schloss und stemmte mit einer Schulter die Haustür auf.

»Vatilein!«, hörten wir sie auf der Schwelle rufen. »Jubiliere und frohlocke: Dein geliebtes Kind ist wieder da.«

Gogol und ich warfen uns einen Blick zu. Gogol sah angewidert aus. Ich aber fühlte etwas anderes. Erstaunen, glaube ich. Denn darauf, dass jemand, der für uns »der Biglmaier« war, für jemand anderen ein »Vatilein« sein konnte, wäre ich nie gekommen.

Das hatte fast zärtlich geklungen.

Und plötzlich fand ich es nicht mehr so hübsch da unter meinem Busch. Ich war herzlich froh, als der Gogol mit dem Gekritzel Zielobjekt-Ankunft-um-soundso-viel-Uhr in sein altes Vokabelheft fertig war, den Abmarschbefehl gab, zum Abschied noch zwei Ameisen zerquetschte und wir sehen konnten, dass wir Land gewannen.

Zu Hause wartete niemand auf mich.

Also ich meine nicht, dass niemand da gewesen wäre. Mein Vater ist zurzeit fast immer da, er ist Professor und legt gerade ein Forschungssemester ein, was bedeutet, dass er in seinem Arbeitszimmer herumsitzt und an seinem neuen Buch schreibt. Aber er beobachtet nicht den ganzen Tag die Uhr und sieht den Zeigern beim Ticken zu, bis ich, verlorener Sohn, endlich heimkehre.

»Ah, da bist du«, sagt er für gewöhnlich nur, wenn ich den Kopf zur Tür hineinstecke, um ihn von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen.

»Ja, da bin ich«, bestätige ich.

»Alles klar?«

»Klar.«

»Hunger?«, fragt er dann meist.

Was ich in der Regel ebenfalls bejahe.

»Ich komme sofort, ich muss nur noch diesen Gedanken zu Ende denken«, erklärt er dann.

Was eine Lüge ist. Denn meist führt ihn der eine Gedanke zu einem anderen Gedanken und der wiederum zu einer Erkenntnis, die unbedingt noch notiert werden muss. Und so weiter.

Aber ich kenne das ja. Ich poltere einfach völlig unbeeindruckt die Treppe wieder hinunter und gucke in der Küche nach, ob ich irgendetwas Essbares finde, das mich rettet, bis unsere Mutter nach Hause kommt.

Nicht dass sie uns dann ein exquisites Drei-Gänge-Menü vorsetzen würde oder so, aber sie hat diese Vorstellung, dass wir uns alle zumindest einmal am Tag am selben Tisch zusammenfinden müssen. Auch für belegte Brote oder die Pizza von gestern oder einfach nur für eine Tasse Tee. Und auch, wenn Nils eigentlich ausgehen will. Denn sogar Nils muss auf das hören, was unsere Mutter sagt.

Nils ist mein Bruder. Mein großer Bruder. Das heißt, er ist nicht nur älter, sondern auch tatsächlich größer als ich. Und er lässt es mich gern spüren.

»Hallo, Knirps«, sagte er zur Begrüßung, als ich in die Küche gelatscht kam. »Mach dir keine Hoffnungen. Es ist nichts da außer Cornflakes. Man müsste wirklich dringend einkaufen gehen.«

So wie er das sagte, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass er ernsthaft überlegte, zum Supermarkt zu fahren, oder? Tat er aber nicht. Er geht nämlich nur genau dann freiwillig einkaufen, wenn wir einmal im Monat zusammen mit unserem Vater losziehen und Nils und ich alles in den Einkaufswagen werfen dürfen, was wir wollen.

Für unseren Vater schreibt unsere Mutter Einkaufslisten, die er akribisch abarbeitet und sogar durch äußerst ansprechende Funde ergänzt (unvergessen: die drei Kilo Schokoeier, die es nach Ostern zum halben Preis gab). Wenn er einmal aus den Tiefen seines Arbeitszimmers auftaucht, das muss gesagt werden, ist er sowieso erstaunlich brauchbar. Ich meine, er kann echt kochen. Besser als Ma. Er kann auch mit dem ganzen Werkzeug umgehen, das er in der Garage aufbewahrt. Und mit der alten Vespa fahren, die daneben aufgebockt steht. Er vergisst nur gern solche Sachen wie die Stromrechnung zu bezahlen (hatten wir schon, wir saßen mal an Weihnachten im Dunkeln) oder die Oma von der Bahn abzuholen (sie wartete aber nicht lange, sie kennt das bereits und nahm sich ein Taxi). Deshalb hat Ma die Familienorganisation übernommen, samt Rechnungenbegleichen und Großelterneinsammeln. Nur ist sie eben auch nicht allwissend oder allgegenwärtig, gerade hockte sie zum Beispiel noch in ihrem Verlag und konnte nichts gegen die gähnende Leere im Kühlschrank tun.

Cornflakes waren tatsächlich noch da. Milch dazu gab es allerdings keine mehr.

Ich schlug enttäuscht die Kühlschranktür wieder zu – und sah, wie mein Bruder sich grinsend am Küchentisch zurücklehnte. Vor sich hatte er die Tageszeitung und eine riesige, leere Müslischüssel, in der noch der Löffel lehnte. Es war ganz klar, wieso keine Milch mehr im Haus war. Und es war klar, dass der grinsende Nils sich nun Protest meinerseits erhoffte, also eine willkommene Entschuldigung, sich mit mir zu streiten.

Ich tat ihm den Gefallen nicht. Ich riss stattdessen den Gefrierschrank auf, holte den Literpack Speiseeis Schokolade-Surprise heraus, angelte mir einen Löffel aus der Besteckschublade, setzte mich dem Nils gegenüber und begann, Eis in mich hineinzuschaufeln.

Das ließ sein Lächeln verschwinden. Er beugte sich vor, nahm seinen Cornflakeslöffel und wollte mitessen. Und weil ich wiederum auch etwas von ihm wollte, ließ ich ihn. Ausnahmsweise.

»Sag mal«, fing ich möglichst beiläufig an, »kennst du eigentlich die Tochter vom Biglmaier?«

Nils hat früher auch den Biglmaier gehabt. Aber soweit ich mich erinnere, war der Biglmaier für ihn nicht ganz so ein Schreckgespenst, wie er es für uns ist. Was daran liegen könnte, dass mein Bruder gut ist in Latein. Ich meine, für ihn machen diese verqueren Satzkonstruktionen wirklich Sinn. Erstaunlicherweise. Und er hat sicher nie eine Panikattacke mit Schweißausbrüchen bekommen, wenn er zum Übersetzen und anschließendem Interpretieren einer völlig unverständlichen Fabel von Phaedrus aufgerufen wurde.

»Den Feger?«, fragte Nils zurück. »Klar.«

Mehr sagte er nicht. Logisch. Der Herr ließ sich bitten.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Und löffelte weiter Eis. Ich grub in der rechten Packungsecke, er in der linken. Aber an die »surprise«, den dicken Karamellklumpen in der Mitte nämlich, wollten wir beide. Als unsere Löffel sich in die Quere kamen, zog ich mir die Packung an die Brust.

»Hey!«, sagte Nils und kriegte dieses Funkeln in den Augen.

»Woher«, fragte ich, »kennst du sie denn?«

Nils stöhnte, als hätte ich etwas total Blödes gesagt. »Ich kenne sie nicht wirklich, du Nase, sie geht doch gar nicht bei uns zur Schule.«

»Aber?«, hakte ich nach.

»Aber ich sehe sie immer, wenn ich zum Schwimmen muss. Dann steigt sie am Marktplatz aus dem Bus.«

Nils ging montags zum Training. Und donnerstags. So gegen vier. Kurz nach vier war das Schneewittchen heute auch den Berg hinaufmarschiert. Das schien also zumindest an drei von fünf Schultagen erwiesenermaßen die Zeit zu sein, zu der sie nach Hause kam. Ich gratulierte mir im Stillen: Da hatte ich doch so ganz nebenbei noch ein paar interessante Informationen zusammengesammelt, die der Gogol in sein Vokalheft schreiben konnte.

Manchmal, dachte ich und schob Nils den Rest vom Eis über den Tisch, ist es doch ganz nützlich, einen großen Bruder zu haben.

3

Der Name Schneewittchen blieb hängen.

»Sie sieht tatsächlich so aus«, sagte der Laurenz verwundert, als wir ihnen am nächsten Tag die ersten Schnappschüsse zeigten. »Guckt nur.« Und dann betrachtete er die Aufnahmen auf dem Display meiner kleinen Digitalkamera noch ein bisschen länger.

Der Graf grinste.

Der Laurenz mag Mädchen. Und da Mädchen auch den Laurenz mögen, ist das irgendwie okay, finde ich.

Für jemand, der Mädchen mag, ist das Schneewittchen bestimmt ein erfreulicher Anblick. Mit der hellen Haut und dem dunklen Haar und so. Ich aber hab das Schneewittchen vor allem deshalb Schneewittchen genannt, denke ich, weil es ihr so geht wie der Königstochter im Märchen: Ihr naht Unheil, nur hat sie davon keine Ahnung.

Bei dem Gedanken kriegt man doch wirklich Gänsehaut, oder?

Allerdings ist es so schwer, eine Gänsehaut zu behalten, wenn man beim Laurenz zu Hause ist und dort am Pool herumlungern darf.

Die Sonne schien. Schon wieder. Das unnatürlich blaue Poolwasser glitzerte, jeder von uns hatte einen Liegestuhl für sich und unten am See schaukelte das Boot am Steg so munter, als wolle es uns zu einer Ausfahrt einladen.