Operation Castus - Ilona Bulazel - E-Book
SONDERANGEBOT

Operation Castus E-Book

Ilona Bulazel

0,0
3,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mai 2017, der »Europaflughafen« nahe Mainz wird durch Explosionen beinahe dem Erdboden gleichgemacht. Die Behörden gehen von einem Unfall aus. Doch der deutsche Abenteurer Peter Kromus findet schnell Hinweise auf eine finstere Verschwörung, die bis in die Zeit des Nazi-Regimes zurückreicht. Zusammen mit dem südafrikanischen Geheimdienstler Thabo Zuma und der Französin Catherine Morel begibt er sich auf eine spannende Jagd nach der Wahrheit, die um den halben Erdball führt. Aber ihr wahnwitziger Gegner ist bereit zu töten, und verfolgt jeden ihrer Schritte – das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel. Eine dunkle Zukunft droht. Der Thriller »Operation Castus« greift die Spekulationen über die »Glocke« der Nazis auf und zeigt, dass dahinter weitaus mehr als nur eine Fantasie stecken könnte. (Seitenzahl der Taschenbuchausgabe: 304 Seiten)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Operation Castus

 

Copyright © 2014 Ilona Bulazel

Alle Rechte vorbehalten.

 

Impressum:

Ilona Bulazel

Sinzheimer Str. 40b

76532 Baden-Baden

Deutschland

E-Mail: [email protected]

Website: https://www.autorib.de

Facebook: https://www.facebook.com/ilonabulazel

Newsletter-Anmeldung über: https://www.autorib.de/newsletter

 

Ausgabe 22.03/2020/TL

 

Covergestaltung: TomJay - bookcover4everyone / www.tomjay.de

Bilder: Photo Images © Shutterstock / Milkovasa, Ursa Major, TanyaLovus

 

Lektorat/Korrektorat: Schreib- und Korrekturservice Heinen

www.sks-heinen.de

 

* * *

 

Über das Buch:

 

Mai 2017, der »Europaflughafen« nahe Mainz wird durch Explosionen beinahe dem Erdboden gleichgemacht. Die Behörden gehen von einem Unfall aus. Doch der deutsche Abenteurer Peter Kromus findet schnell Hinweise auf eine finstere Verschwörung, die bis in die Zeit des Nazi-Regimes zurückreicht. Zusammen mit dem südafrikanischen Geheimdienstler Thabo Zuma und der Französin Catherine Morel begibt er sich auf eine spannende Jagd nach der Wahrheit, die um den halben Erdball führt. Aber ihr wahnwitziger Gegner ist bereit zu töten, und verfolgt jeden ihrer Schritte – das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel. Eine dunkle Zukunft droht.

Der Thriller »Operation Castus« greift die Spekulationen über die »Glocke« der Nazis auf und zeigt, dass dahinter weitaus mehr als nur eine Fantasie stecken könnte.

 

Für meinen Mann Sascha,

dem ich all mein Glück verdanke

und ohne den dieses Buch

niemals entstanden wäre.

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Schlusswort und historische Anmerkungen

Kapitel 1

 

Tagebucheintrag, 08. Mai 2017

»Operation Castus« ist gescheitert. Um 12.00 Uhr MEZ wurde das erste Ziel getroffen. Die Anlage in Grünau ist zerstört. Um 12.01 Uhr MEZ detonierten neun weitere Sprengladungen auf dem Europaflughafen bei Mainz. Die Auswirkungen waren verheerend – Terminal 1 und 2 haben schwere Schäden erlitten, während Terminal 3 fast dem Erdboden gleichgemacht wurde. Lediglich der Rohbau des neuen Terminals 4 steht noch. Auf allen Kanälen sieht man die Bilder der Zerstörung. Welch ein Anblick! Die Ergebnisse sind beeindruckend, waren jedoch so nicht geplant. Ich muss jetzt alles noch einmal durchgehen. Irgendwo steckt ein Fehler, irgendetwas habe ich übersehen … Ich muss die Tagebucheintragungen meines Vaters nochmals durcharbeiten. Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben und das werde ich halten. Koste es, was es wolle – wir werden siegen!

 

Deutschland, 8. Mai 2017, später Abend – SoKo »Europaflughafen«

 

»Sehen Sie das?«

Die anderen im Raum traten näher.

»Spielen Sie das noch mal ab!« Der Beamte am Computer ließ die Aufzeichnung erneut über den großen Bildschirm laufen. Erst in normalem Tempo, dann immer langsamer.

»Und das ist alles, was wir haben?«, fragte einer der Anwesenden. Der Beamte am Computer nickte. Er war erschöpft, genauso wie die anderen Mitarbeiter im Raum. Nach der Katastrophe waren sie alle hier zusammengezogen worden. Eine notdürftig eingerichtete Ermittlungszentrale, so nah wie möglich am zerstörten Europaflughafen. Sie alle waren Spezialisten auf ihrem Gebiet. Dafür ausgebildet, im Falle eines Horrorszenarios wie diesem die Arbeit aufzunehmen. Aber darauf hatte sie niemand vorbereitet. Es gab keine Spuren, keine Hinweise. Niemand wusste, was passiert war. Es gab kein Muster und keinen Anhaltspunkt darüber, was überhaupt die Detonationen ausgelöst hatte. Ein Angriff aus der Luft konnte ausgeschlossen werden. Ein Angriff von innen schien unwahrscheinlich.

In den letzten zwei Jahren war der Europaflughafen zu einem der sichersten Plätze der Welt gemacht worden. Alle renommierten Sicherheitsexperten schlossen Selbstmordattentäter oder Bombenkoffer aus. Vielleicht wäre ein Sprengstoffkoffer durchgekommen. Eine Explosion, die man nicht hätte verhindern können, aber das … Alle waren sich darüber im Klaren, dass man, was die Theorie eines Anschlags anging, komplett im Dunkeln tappte. Ein Sachverhalt, der die leitenden Beamten der Sonderkommission über einen möglichen Unfall nachdenken ließ. Eine Theorie, die man nun mit Eifer versuchte zu belegen.

 

Der Beamte fing an zu sprechen: »Sämtliche Kameras im Innenbereich sind ausgefallen, bis auf diese.« Er deutete mit dem Finger auf den Bildschirm, dann fuhr er fort: »Wir wissen, dass es kurz vor den Explosionen einen riesigen Energieanstieg gegeben hat, dann ist die gesamte Technik ausgefallen. Einige Außenkameras haben ›überlebt‹. Aber bis auf diese Aufnahmen aus Terminal 1 haben wir nichts wirklich Brauchbares.«

Wieder startete der Beamte die Sequenz. Die Männer und Frauen im Raum starrten reglos auf den Bildschirm. Der Anblick, der sich ihnen bot, würde sich für immer in ihre Köpfe einbrennen. Einige rangen nach Luft, hofften, dass die anderen ihren Schmerz und ihre Angst nicht bemerkten. Sie wollten stark sein für diese Aufgabe, doch die Bilder zwangen die meisten in die Knie. Auch erfahrene Ermittler schluckten schwer.

Die belegte Stimme des Beamten durchbrach das Surren der Computer: »Das Mädchen, es scheint etwas zu bemerken. Es streckt die Hand aus …« Dann brach ihm kurz die Stimme, bevor er sich räusperte und fortfuhr: »Für das Protokoll: Auf dem Bildschirm sieht man dieses Kind, vielleicht sechs Jahre alt. Es trägt eine blaue Latzhose, weiße Söckchen und kleine Turnschuhe. Die braunen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten. Die Anzeige auf dem Bildschirm zeigt 11.59 Uhr.« Wieder musste sich der Sprecher räuspern. Die Sekunden auf der Leinwand zählten unbarmherzig weiter, als der Beamte erneut ansetzte: »Um 12.00 Uhr dreht das Mädchen den Kopf ein wenig. Die Kamera erfasst den Blick des Kindes. Es reißt die Augen weit auf und öffnet den Mund. Dann streckt es einen Arm aus und deutet mit dem Finger in Richtung Gepäckbänder. So, als hätte es etwas entdeckt. Neben dem Mädchen steht die Mutter. Um 12.01 Uhr sieht man weiße Blitze, die Explosion.«

Die nächsten zehn Minuten vergingen für alle Anwesenden endlos langsam. Der Bildschirm blieb weiß, nur die Uhr zählte weiter. Dann konnte man wieder etwas erkennen. Den Ermittlern bot sich ein Bild der Zerstörung: Chaos, Feuer, leblose Körper und einzelne blutige Gliedmaße. Mittendrin stand das kleine Mädchen. Den Arm immer noch ausgestreckt. Es war, als hielte es etwas in seiner Hand, etwas, das tropfte. Einer der geflochtenen Zöpfe hatte sich gelöst. Das Mädchen klammerte sich mit dem anderen Arm ängstlich an das Bein seiner Mutter. Man konnte den weißen Damenpumps erkennen, die leicht gebräunte Haut; um das Knie legte sich der Rocksaum mit hübschem Blumenmotiv. Das Mädchen drückte sich ganz fest daran. Eine Beamtin konnte ein lautes Schluchzen nicht unterdrücken. Die Mutter hatte die Explosion nicht überlebt. Ihr Körper war zerfetzt worden. Alles, was von ihr geblieben war, war dieses eine Körperteil. Das Bein, das das Mädchen nun mit all seiner Kraft umschlang.

 

Südafrika, 8. Mai 2017, zur gleichen Zeit – Kapstadt

 

Peter Kromus rieb sich den rasierten Kopf. Er hatte ja schon in einigen unangenehmen Situationen gesteckt, aber dieses Mal war er in Panik. Was, wenn sie ihn foltern würden? Er hatte sich bisher immer in Sicherheit gewogen mit seinem deutschen Pass. Vielleicht zu Unrecht? Schließlich saß er in einer Gefängniszelle, die alles andere als einladend war. Was, wenn er hier nie mehr herauskäme? Wäre er dieses Mal nur vernünftiger gewesen.

Blödsinn!, dachte er. Seit seiner Kindheit hatte er sich auf das Erwachsenenalter gefreut. Diese fantastische Zeit nach all den Gängeleien der Älteren, die einem ständig Vorschriften machten. Er hatte sich damals geschworen, seine Volljährigkeit in vollen Zügen zu genießen. Und das tat er nun bereits seit seinem achtzehnten Lebensjahr sehr ausgiebig. Die letzten zwölf Jahre waren eine Aneinanderreihung von Abenteuern und leichtsinnigen Aktionen gewesen. Trotz seiner Angst musste Peter jetzt schmunzeln. Er dachte an einige verärgerte Damen aus seiner Vergangenheit, die ihm ein einsames und jähes Ende im Gefängnis prophezeit hatten und sich, wüssten sie über seine momentane Situation Bescheid, sicher die Hände reiben würden. Vermutlich käme von mindestens einer der Spruch: »Na, dann wärst du mal lieber bei mir geblieben ...« Aber mit dem »bei mir bleiben« stand Peter nunmal auf Kriegsfuß.

So hatte er dann vor drei Monaten, nach einer etwas turbulenten Geschichte mit einer Frau namens Giselle, die nächste Maschine Richtung »Weit weg« genommen und war in Kapstadt gelandet. Peter betrachtete sich in der Spiegelscherbe über dem verdreckten Miniwaschbecken. Die Bräune hatte er erfreulicherweise noch nicht verloren. Allerdings war er auch erst seit einer Nacht in dieser ungastlichen Behausung. Die Haare hatte er sich glücklicherweise gleich nach seiner Ankunft in Südafrika auf zwei Millimeter herunterrasiert. So musste er jetzt wenigstens keine Probleme mit Ungeziefer fürchten, das sich in seinen dunklen Locken sicher sehr wohlgefühlt hätte. Seine braunen Augen blickten ihn unsicher aus dem Spiegel an. Kurz flackerte erneut die Furcht auf, als er hörte, wie die Tür zum Zellentrakt aufgeschlossen wurde. Sein Herz klopfte und er bekam weiche Knie. Der Wärter öffnete die Tür seiner Zelle und gab ihm ein Zeichen mitzukommen. Peter dachte kurz über eine Flucht nach, als sie sich ihren Weg durch die Menschenmassen suchten, die beschlossen hatten, um diese Zeit die Polizeistation zu bevölkern. Der Wärter sprach Englisch mit Peter. Damit hatte er keine Probleme. Afrikaans wäre ihm jedenfalls sehr viel schwerer gefallen. Ganz zu schweigen von den vielen anderen offiziellen Amtssprachen wie zum Beispiel Siswati, Zulu oder Xitsonga.

Er äugte sehnsüchtig Richtung Ausgang. Leider wurde ihm der Fluchtweg durch eine Gruppe stark übergewichtiger Frauen versperrt, die gerade wild gestikulierend ein Schreikonzert zum Besten gaben. Er seufzte, als ihn der Wachmann unsanft weiterschob. Als sich die Tür des Verhörzimmers hinter ihm schloss, verstummten auch die Schreihälse.

Peter sah sich einem Südafrikaner gegenüber. Der Mann mochte etwa Mitte vierzig sein. Er schaute nur kurz zu Peter auf, nickte und vergrub seinen Kopf wieder in einer Akte. Peter fühlte sich unwohl und dachte an diverse Kinofilme, in denen üble Verhörtaktiken zum Einsatz kamen. Sein Gegenüber sah harmlos aus. Aber sind nicht die Harmlosen die Schlimmsten?

Die Stimme des Südafrikaners riss Peter aus seinen Gedanken. »Mein Name ist Thabo Zuma«, sagte der Schwarze in perfektem Deutsch.

Peter war perplex und verunsichert, aber er hatte keine Zeit zu antworten, der Mann sprach weiter: »Ich habe mir Ihre Aussage angesehen und ich muss schon sagen, Sie scheinen ja wirklich ein richtiger Idiot zu sein.«

Thabo Zuma ließ seine Worte wirken. Er sah die Angst in Peters Augen und hätte ihm gerne noch ein wenig auf den Zahn gefühlt. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung von diesem Deutschen, der sich so sträflich leichtsinnig verhalten hatte. Eine kleine Lektion täte ihm sicher gut. Aber heute war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Nicht nach dem, was passiert war.

Thabo wendete sich ab und lief im Zimmer hin und her. Er hatte zwei Kollegen, zwei Freunde, verloren. Sie waren in einer südafrikanischen Maschine gesessen. Die Explosion hatte den Airbus gleich nach der Landung auf dem Europaflughafen in Deutschland erfasst. Überlebende in der Maschine waren ausgeschlossen. Die Welt war entsetzt, es gab noch keine Neuigkeiten. Die Geheimdienste rotierten. Viele Nationen boten Deutschland ihre Hilfe an, natürlich nicht ganz uneigennützig. Es galt, schnellstmöglich Informationen zu erhalten. Informationen waren das Schmiermittel, das alles am Laufen hielt. Ein »Black Out« wie im Fall Europaflughafen war eine Katastrophe. In so einer Situation ging man immer vom Schlimmsten aus, und die Frage: »Wen trifft es als Nächsten?«, ließ die DEFCON-Stufe sinken. Deshalb schickten die Geheimdienste ihre Leute nach Deutschland, offiziell in diplomatischer Mission. Umgekehrt versuchte man dort »Herr der Lage zu werden« beziehungsweise zumindest den Eindruck zu erwecken. Dafür schickten die deutschen Behörden dürftige Meldungen an die Zentralen der ausländischen Geheimdienste. Doch allen war klar, dass wenige Stunden nach dem »Ereignis« nicht mehr zu erwarten war. Die Geheimdienste waren jedoch nicht die einzigen, die darauf brannten, Neues zu erfahren – längst standen die Medienvertreter vor den Toren des Europaflughafens.

 

Thabo Zuma riss sich zusammen und blickte erneut auf sein Gegenüber. Seine Meinung stand fest. Er hielt Peter Kromus für einen überheblichen Schönling, der es im Leben zu leicht hatte. Er seufzte, seine persönlichen Gefühle sollten in seinem Job keine Rolle spielen.

Also fuhr er ein wenig freundlicher fort: »Sie behaupten also, Sie haben sich Zugang zum militärischen Sperrgebiet verschafft, um einen »Urban Explorer«-Rekord zu brechen?«

Peter wollte sich zu Wort melden, er musste das besser darstellen. So wie es der südafrikanische Beamte sagte, hörte es sich wirklich an, als wäre Peter ein Idiot.

»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit Unannehmlichkeiten gemacht habe, das war nicht meine Absicht. Sehen Sie, diese ›Urban Explorer‹-Sache ist vollkommen harmlos, ich sehe mir die Dinge nur an. Ich will nichts zerstören oder stehlen. Ganz im Gegenteil: Wenn ich in einem Gebäude bin, und sehe, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, dann verständige ich sogar den Eigentümer, um so Schlimmeres zu verhindern.«

Thabo hätte dem Jungen am liebsten eine Ohrfeige gegeben. Natürlich hatte er zuerst nicht gewusst, was es mit diesem »Urban Explorer«-Zeugs auf sich hatte. Mittlerweile war er schlauer, das Internet konnte seine Unwissenheit beseitigen. Peter Kromus war also ein leidenschaftlicher »Urbexer«. Er gehörte zu den Menschen, die gerne verlassene, oft auch historische Gebäude, aber auch stillgelegte Kliniken und Schulen, Industrieanlagen, Tunnel oder Kanalisationen aufsuchten, um sie zu erkunden und zu dokumentieren. Deshalb hatte er auch eine Kamera dabei gehabt. Offensichtlich gefiel diesem »Urbexer« die wildromantische Stimmung eines dem Zerfall gewidmeten Ortes. Ein bisschen gruselig war das sicher auch. Thabo hatte sogar ein wenig Verständnis dafür, und wenn er ganz ehrlich war, hätte ihn ein kleines Abenteuer dieser Art auch reizen können. Aber dieser Peter war einfach zu weit gegangen.

Thabo räusperte sich: »Sie haben militärisches Sperrgebiet betreten und sind dann unerlaubt auf ein Kriegsschiff gestiegen, das zum Abwracken im Hafen lag. Jetzt wollen Sie mir erzählen, das alles wäre zum Wohle des südafrikanischen Staates passiert?«

Peter wollte unterbrechen, aber Thabo Zuma hob gebieterisch die Hand: »Sie hätten uns also informiert, wenn es irgendwo im Schiff getropft hätte?« Kurz lächelte Zuma, dann polterte er los: »Was glauben Sie, wer Sie sind? Der verdammte Hausmeister?«

Der junge Deutsche zuckte zusammen und Zuma fuhr unerbittlich fort: »Man hätte Sie erschießen können. In anderen Ländern wären Sie sofort hingerichtet worden. Wir sind hier nicht im Kindergarten und reden auch nicht über einfachen Hausfriedensbruch. Ach, und wie schön, dass Sie auch noch eine Kamera dabei hatten, da müssen wir das Wort ›Spionage‹ gar nicht erst erwähnen.« Zuma funkelte Peter böse an, dem darauf keine Antwort einfiel.

Stattdessen versuchte er abzulenken, und sagte: »Sie sprechen sehr gut Deutsch, Herr Zuma!«

Thabo Zuma musste ein Lächeln unterdrücken und dachte: Dieser Typ ist wirklich ein Kindskopf. Mit strengem Blick antwortete er dem Deutschen: »So, tue ich das?«

Peter nickte eifrig und beobachtete, wie der Beamte in seiner Tasche kramte und etwas herausfummelte. Es war ungefähr 15 Zentimeter lang und röhrenförmig. Er bekam feuchte Hände. Vielleicht war das einer dieser modernen Laser, mit dem man den Gefangenen die Netzhaut verbrannte? Schweiß trat ihm auf die Stirn, als der Südafrikaner mit dem Ding auf ihn zulief und direkt vor seiner Nase einen Auslöser drückte.

Sein gesamter Körper war auf Schmerz eingestellt. Er hatte vor Panik die Augen geschlossen, als ihn Zumas Stimme erlöste: »Hier, unterschreiben Sie das, dann können Sie gehen.«

Peter blickte auf, der Beamte hielt ihm einen Kugelschreiber entgegen. Vor Erleichterung gab er ein Stöhnen von sich. Dann schämte er sich für seinen Kontrollverlust – hoffentlich hatte Herr Zuma das nicht bemerkt. Er griff nach dem Stift und unterschrieb.

Als er aufstehen wollte, legte ihm der Südafrikaner eine Hand auf die Schulter: »Einen Moment, ich muss Ihnen noch etwas mitteilen.« Thabo Zuma setzte sich nun auch und Peter spürte, dass das, was jetzt kommen würde, nichts mit seiner Verhaftung zu tun hatte. Die Nervosität kam zurück.

»Wo wohnen Sie in Deutschland?«

Peters Antwort glich mehr einer Frage: »Berlin?«

Der südafrikanische Beamte schien erleichtert. »Gut. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es heute um 12.01 Uhr ein schlimmes Unglück auf dem Europaflughafen gegeben hat …«

Zuma erzählte, was er wusste. Er wollte den jungen Mann nicht sich selbst überlassen. Er hätte auch nicht zufällig solch eine Nachricht erfahren wollen, wenn es ein ähnliches Unglück in seiner Heimat gegeben hätte.

Peter schien geschockt. Er hörte die Worte, aber er wollte sie nicht glauben. Erinnerungen an Reportagen über Attentate, Brände und Explosionen schwirrten durch seinen Kopf. Er konnte es nicht fassen, war er doch selbst unzählige Male auf dem Europaflughafen gewesen. Meist als Passagier, einmal auch nur, um den Ausblick von der großen Glaskuppel zu genießen, unter der die Besucherlounge eingerichtet war. Er hatte sich dort immer sicher gefühlt. Flughäfen waren für ihn das Symbol der Freiheit. Peter war ein Weltenbummler und liebte es, unterwegs zu sein. Flughäfen erfüllten ihm diesen Traum vom Reisen und der Europaflughafen war ihm, seit seiner Fertigstellung 2015, der liebste geworden. Dieser Airport war ein gemeinsames Projekt mehrerer EU-Länder gewesen. Er hatte seine Gegner gehabt, aber trotzdem war der Europaflughafen schließlich zu einem Symbol für die Verbundenheit der Nationen geworden. Ein Projekt, das die Menschen wieder mehr für die europäische Idee, die man in den Jahren davor oftmals aus den Augen verloren hatte, begeistern sollte. »Europa bringt uns überall hin!« war der Werbeslogan des Flughafens. Peter dachte an die vielen Menschen, die ständig, wie große Wassermassen, durch die Terminals strömten. Wie viele waren heute gestorben? Tausende hatte Zuma gesagt.

 

Peter hörte die Worte seines Gegenübers nicht mehr, bis dieser ihn unsanft am Arm schüttelte: »Herr Kromus, haben Sie verstanden? Sie werden nach Deutschland zurückfliegen. Mein Land will, aufgrund der Ereignisse am Europaflughafen, keine diplomatischen Verwicklungen, weil wir einen unreifen Deutschen in unserer Zelle sitzen haben. Allerdings kann meine Regierung Ihr Verhalten auch nicht billigen. Sie werden also umgehend ausreisen.«

Peter nickte. Er wollte zurück nach Deutschland. Eigentlich wusste er nicht, was das nützen sollte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es richtig sei.

Zumas Stimme erklang erneut: »Am Cape Town International Airport werden wir ein Flugticket für Sie hinterlegen. Berlin wird im Moment angeflogen. Alles Gute für Sie – und halten Sie sich von militärischem Sperrgebiet fern!«

Kapitel 2

 

Tagebucheintrag, September 1936

Dank der wieder erstarkten deutschen Nation habe ich endlich die Möglichkeit, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Stolz habe ich den Eid auf unseren Führer abgelegt! Die Menschen haben den Verrat des letzten Krieges nie überwunden, nun habe ich die Chance, unter der neuen Fahne all mein Wissen gegen unsere Feinde einzusetzen. Vor einigen Tagen durfte ich meine Entwürfe dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler vorlegen – er kam nicht umhin, meine Pläne als »genial« und »wegweisend« zu titulieren. Ich arbeite seither mit Hochdruck daran, mein Projekt in die Tat umzusetzen. Und so es das Schicksal will, kann ich unserem Führer alsbald die ersten Ergebnisse präsentieren!

 

Flug 1347, 9. Mai 2017, vormittags – von Cape Town/Südafrika nach Berlin/Deutschland

 

Peter streckte sich auf seinem Sitz. Er hatte einen Fensterplatz und sah auf die Wolkendecke. Für gewöhnlich fühlte er sich eher unbehaglich, wenn er nach Deutschland zurückkehrte. Dieses Mal war er ungeduldig und konnte die Ankunft kaum erwarten. Er blätterte die Ausgabe einer südafrikanischen Tageszeitung durch, das Unglück am Europaflughafen füllte die Seiten. Daneben verblassten Meldungen von Aufständen im Osten des afrikanischen Kontinents und von einem Feuer in einer Fabrik in Namibia. Die Ausgabe vor ihm glich einem Nachruf. Einer der Journalisten hatte sich die Mühe gemacht, die noch junge Geschichte des Europaflughafens zu erzählen: »Das EU-Projekt, die große Hoffnung für Europa …, für noch bessere Verständigung …, 80 Millionen Passagiere jährlich …, 450 Flugziele …«, war da zu lesen.

Peter kannte diese Daten und doch schien ihm, als er sie las, das Geschehene noch unwirklicher. Es gab weiterhin keine Erklärungen. Mit Spekulationen über einen Anschlag von Terroristen hielt sich das Blatt zurück. Ein Zeichen, dass es in diese Richtung keine Anhaltspunkte gab. Die deutschen Behörden verneinten vehement das Vorhandensein irgendwelcher Bekennerschreiben. Es hatten sich nicht einmal die »üblichen« Trittbrettfahrer zu Wort gemeldet.

Kein Wunder!, dachte Peter. Wer dafür verantwortlich war, hatte sich die gesamte Welt zum Feind gemacht.

 

Die Stewardess kam mit einem Getränkewagen, sie lächelte in Peters Richtung. Er zwinkerte zurück und die Frau kicherte leise. Dann hob er den Kopf und blickte neugierig über die Sesselreihen. Die Maschine war nicht ausgebucht. Nur wer unbedingt musste, würde sich die nächsten Tage in ein Flugzeug setzen beziehungsweise einen Flughafen betreten. Peter wollte sich gerade zurücklehnen, als er stutzte. War da nicht ein bekanntes Gesicht? Ohne lange zu überlegen, quetschte er sich an seinen Sitznachbarn vorbei, nicht ohne freundlich »Verskoon my« zu sagen, was so viel wie »Entschuldigung« auf Afrikaans bedeutete. Erneut zwinkerte er der hübschen Stewardess zu und ließ sich zwei kleine Kaffee in die Hand drücken, um damit ein paar Reihen weiter vorne seine Aufwartung zu machen.

»Herr Zuma, ich hoffe, Sie mögen Kaffee?!« Damit setzte sich Peter auf den freien Platz neben dem überraschten Mann. Zuma stöhnte innerlich auf – natürlich, er hatte ja selbst dafür gesorgt, dass diese Nervensäge den nächsten Flieger nach Berlin nahm. Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen, denn schon fing Peter an, interessiert die Fotografien, die Zuma auf seinen Knien balancierte, zu begutachten. Schnell schob dieser die Bilder zusammen und verstaute sie in seiner Aktentasche.

Peter prostete ihm mit dem Kaffee zu und sagte überflüssigerweise: »Sie fliegen also auch nach Berlin?«

Thabo Zuma gab sich geschlagen, er würde wohl um eine Unterhaltung nicht herumkommen. Mit einem Grinsen antwortete er deshalb: »Erstaunliche Kombinationsgabe, ich bin beeindruckt!«

Peter lachte laut auf und konterte: »Ja, ich bin der meist unterschätzte Mann des Planeten. Mein Schicksal …« Zumas Grinsen wurde breiter, er sagte aber nichts. Stattdessen beobachtete er verstohlen seinen neuen Sitznachbar. Man sah Peter an, dass er vor Neugier beinahe platzte. Der Südafrikaner ließ ihn zappeln und tat so, als würde er dem Nachrichtenticker auf den Bordbildschirmen folgen. Peter rutschte ungeduldig in seinem Sitz hin und her.

Zuma stöhnte laut: »Also schön, ja, ich fliege nach Berlin. Ja, es ist beruflich. Und ja, es hat mit dem Europaflughafen zu tun.«

Peter sah den Südafrikaner mit großen Augen an: »Sie sind doch nur ein Polizist …«, dann lief er rot an und versuchte eine Wiedergutmachung: »Ich wollte damit sagen, Sie sind ein super Polizist, der beste, überhaupt, es ist nur …«

Zuma warf ihm einen forschenden Seitenblick zu und wisperte: »Sie sollten vorsichtig sein, mit dem, was Sie sagen, sonst packe ich vielleicht wieder meinen ›Todeskugelschreiber‹ aus.«

Dann sah er erneut auf die Bildschirme und ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.

Peter riss die Augen auf und seine Gesichtsfarbe wurde einen Hauch dunkler: »Sie haben das bemerkt?«

Zuma lachte, es war ein sympathisches Lachen: »Sie haben gezittert wie ein Antilopenschwanz und auf ihrem Gesicht gab es kleine Schweißpfützen.«

»Das lag an der Hitze und dem Schlafentzug.«

»So wird es sein, Herr Kromus.«

Peter verzog ein wenig beleidigt das Gesicht.

Der Südafrikaner hatte erneut Erbarmen und fügte hinzu: »Ich wurde dem Außenministerium unterstellt und bin sozusagen in diplomatischer Mission unterwegs. Und da ich Ihre Sprache spreche …« Er machte eine Handbewegung, die so viel heißen sollte, wie »da war es logisch, dass sie mich schicken.«

Peter war erstaunt: »Dann sind Sie eigentlich gar kein Polizist?«

»Wie man es nimmt. Ich wurde als Polizeibeamter ausgebildet. Bin aber jetzt für andere Abteilungen tätig. Und wenn deutsche ›Urbexer‹ die guten, bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Südafrika bedrohen, dann kann es schon einmal vorkommen, dass ich gerufen werde. Das ist alles.«

»Wow, und jetzt sollen Sie die Katastrophe vom Europaflughafen aufklären!«

Zuma sah den Deutschen ungläubig an: »Was reden Sie denn da? Ich bin als Verbindungsmann unterwegs. Von Berlin aus fahre ich mit dem Auto weiter Richtung Mainz. Fliegen ist momentan nicht möglich. Der Frankfurter Rhein/Main-Flughafen hat, genauso wie alle anderen Flughäfen in der Nähe, aufgrund der jüngsten Ereignisse vorübergehend seinen Betrieb eingestellt.«

Peter nickte, er hatte bereits den Nachrichtenticker gelesen. Momentan wurden, aus Sicherheitsgründen, nur noch wenige Airports in Deutschland angeflogen.

Thabo Zuma sprach leise weiter: »Der Airbus einer südafrikanischen Fluglinie war zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Rollfeld des Europaflughafens. Es gab keine Überlebenden.«

»Das tut mir sehr leid.«

Eine Weile saßen die Männer schweigend nebeneinander, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Peter beobachtete, wie Zuma immer wieder die Augen zufielen. Das gleichförmige Turbinengeräusch und die sanften Schaukelbewegungen erledigten den Rest. Thabo Zuma schlief ein.

 

Peter war zu nervös, er konnte nicht schlafen. Die letzten Tage, seine Verhaftung, die Nachricht von den Explosionen, das alles saß ihm in den Knochen. Er hatte nach seiner Freilassung gestern Abend noch schnell mit Berlin telefoniert. Glücklicherweise war Ella, die gute Seele des Hauses Kromus, an den Apparat gegangen. Die Haushälterin hatte sich seit damals, als er sechs Jahre alt gewesen war und seine Mutter starb, um ihn gekümmert. Peter hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater, Kurt Kromus, einem bekannten Berliner Anwalt für Patent-, Marken- und Urheberrecht. Das hatte sich auch mit dessen zweiter Ehe, mit einer Frau namens Claudia, nicht geändert. Claudia war gerade drei Jahre älter als Peter und eigentlich sehr um Harmonie bemüht. Aber auch ihr war es bisher nicht gelungen, das Verhältnis von Vater und Sohn zu verbessern.

 

Er schob diese Gedanken jedoch beiseite und frönte seinem Entdeckerdrang. Er griff vorsichtig nach Thabo Zumas Aktentasche und zog geschickt die Fotos heraus. Mit offenem Mund betrachtete er die Bilder der Zerstörung. Die Qualität der Aufnahmen war nicht besonders gut – es handelte sich nicht um Fotografien, sondern Faxausdrucke.

Peter war verwirrt. Wieso standen dem afrikanischen Beamten keine hochwertigen Farbaufnahmen zur Verfügung? Er betrachtete die körnigen Ausdrucke. An manchen Stellen gab es kleine handschriftliche Notizen wie: »Aus Terminal 2«, »Krater Rollfeld« oder »Südafrikanische Maschine«. Dann eine Bemerkung: »Hoffe, es hilft!« Was hatte das nun zu bedeuten? Peter drehte und wendete die Aufnahmen in alle Richtungen, doch er konnte nicht allzu viel damit anfangen. Meist sah man nur Bruchstücke, Metallteile und gesplittertes Holz – das hätte alles Mögliche sein können. Er versuchte das, was er sah, in seinem Gedächtnis zu speichern. Konzentriert tastete er die Bilder mit seinen Augen ab. So konzentriert, dass er nicht bemerkte, wie sich Zuma neben ihm bewegte.

Plötzlich wurden ihm die Ausdrucke aus der Hand gerissen und der Südafrikaner blaffte ihn wütend an: »Was fällt Ihnen ein! Wissen Sie noch, was ich Ihnen über militärisches Sperrgebiet gesagt habe? Verschwinden Sie auf Ihren Sitz, bevor ich mich vergesse.«

Peter wollte etwas sagen und stotterte: »Ich will nur helfen, ehrlich, ich …«

Aber Thabo Zuma sah wütend in die andere Richtung und Peter blieb letzten Endes nichts anderes übrig, als zurück zu seinem Sitz zu trotten.

 

Als die Maschine nach knapp 12 Stunden Flugzeit in Berlin landete, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Es war ungewöhnlich kalt. Peter wollte noch einmal mit Thabo Zuma sprechen, konnte ihn aber, nach dem Auschecken, nicht mehr ausfindig machen. Ein Taxi hatte ihn nach Hause gebracht, und er war froh, als er sich, mit dem Hinweis auf den langen Flug, schnell in seine kleine Wohnung im Nebengebäude der stattlichen Villa flüchten konnte. Den Fragen seines Vaters war er ausgewichen und dessen Frau Claudia war es zum Glück gelungen, die kurze Begrüßungszeremonie in friedliche Fahrwasser zu steuern.

Jetzt lag Peter in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Er grübelte über Thabo Zuma nach. Die Bilder waren definitiv nicht aus einer offiziellen Quelle, dafür war die Qualität zu schlecht. Nein, er war sich sicher, dass Zuma die Aufnahmen per Fax erhalten hatte und nicht online. Aber warum? Das konnte nur auf eines hindeuten, nämlich dass der Südafrikaner die Aufnahmen gar nicht hätte haben dürfen. In Peters Kopf spielten sich die wildesten Spionageszenarien ab. Dann grübelte er erneut über die Fotos. Ihm war etwas aufgefallen. Auf einem der Bilder sah man ein tellergroßes Metallstück, an dessen oberen Rand ein Symbol zu erkennen war. Es sah aus wie eine Glocke. Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn. Peter hatte dieses Symbol schon einmal irgendwo gesehen – und das war nicht im Zusammenhang mit Kirchengeläut gewesen. Genervt warf er sich im Bett hin und her, bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Deutschland, 10. Mai 2017 – Berlin

 

Thabo Zuma verließ verwirrt die südafrikanische Botschaft in Berlin. Sein Hotel war nicht weit entfernt und so ging er zu Fuß. Tief in Gedanken versunken, spürte er kaum den immer stärker werdenden Regen. Als er die Hotelhalle betrat, war er ziemlich durchnässt.

»Sie hätten einen Schirm mitnehmen sollen.«

Thabo drehte sich um und sah das Gesicht seiner persönlichen Geduldsprobe vor sich. »Herr Kromus, Sie schon wieder? Was wollen Sie?«, knurrte er unwirsch und lief weiter zur Rezeption.

Peter ließ sich nicht einschüchtern, sondern folgte ihm und sagte triumphierend: »Der Europaflughafen … Ich habe etwas herausgefunden.«

Zuma bat die Hotelangestellte, seine Rechnung vorzubereiten und lief zum Aufzug.

Peter blieb ihm auf den Fersen: »Haben Sie gehört? Ich habe etwas herausgefunden.«

Thabo Zuma blickte ihn an und erwiderte: »Glückwunsch!« Damit stieg der Südafrikaner in den Lift und die Türen schlossen sich.

Peter schaffte es gerade noch, seine Hand dazwischenzuschieben, um dann neben Zuma zu treten.

»Sie geben wohl nie auf?«, der Südafrikaner kratzte sich am Kopf, »gut, dann kommen Sie mit, ich werde Ihnen auch etwas zeigen.«

Peter wollte zum Sprechen ansetzen, aber Zuma unterbrach ihn: »Warten Sie, bis Sie das gesehen haben.«

Der Deutsche konnte sich zwar kaum beherrschen, aber er wollte es sich nicht mit dem Mann verderben. Also trottete er schweigsam hinterher. Im Hotelzimmer griff Zuma nach der Fernbedienung und schaltete den Flachbildfernseher ein. Dann forderte er Peter mit einer Kopfbewegung auf, der Sendung zu folgen, und verschwand im Badezimmer. Der junge Deutsche war überrascht, er war schließlich nicht hier, um sich das Mittagsprogramm anzusehen. Er war schon im Begriff Thabo Zuma ins Badezimmer zu folgen, als das Fernsehgerät doch noch seine Aufmerksamkeit erregte. Die laufende Sendung wurde unterbrochen. Es erschien ein Laufband mit den neudeutschen Vokabeln »Breaking News«. Dann tauchte der Kopf einer blonden Sprecherin auf. Peter hörte wie gebannt auf ihre Worte. Mittlerweile trat Zuma mit einem Handtuch in der Hand ins Zimmer.

»Die glauben, das war ein Unfall?« Peter starrte den Südafrikaner erstaunt an.

»Die glauben das nicht nur, die bestätigen das sogar. Ich komme gerade von meiner Botschaft. Heute Morgen wurden alle involvierten Nationen von der Bundesregierung informiert. Somit steht fest, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände, Fehlkonstruktionen, menschliches Versagen und ein teuflisches System aus Gasleitungen und Kerosintanks den Europaflughafen in die Knie gezwungen haben.«

Peter schluckte: »Eigentlich ist es ja gut so. Wenn wir wüssten, dass es ein Anschlag gewesen wäre … Undenkbar!«

Zuma rieb sich mit dem Handtuch über sein Gesicht: »Ja, undenkbar …«, murmelte er, drehte sich um und fing an, seine Sachen zusammenzupacken. »So, und jetzt sind Sie dran.«

»Was?«

»Na, Ihre Entdeckung? Wie sagt man bei Ihnen? Ich bin ganz Ohren.«

Peter setzte sich auf einen Sessel und lächelte: »Ohr, es heißt, ich bin ganz Ohr.« Dann zögerte er: »Irgendwie macht das jetzt keinen Sinn mehr.«

Zuma rechnete eigentlich nicht damit, das Peter Kromus einen wertvollen Beitrag zu den Geschehnissen liefern würde. Vermutlich hatte er sich irgendeinen Unsinn zusammengereimt. Thabo hielt den jungen Deutschen nach wie vor für einen Chaoten, dem es an Ernsthaftigkeit fehlte. Trotzdem mochte er ihn irgendwie. Er würde in einer Stunde Richtung Mainz aufbrechen und Peter Kromus wahrscheinlich nie wiedersehen. Was würde es schaden, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen?

Er zog sich einen zweiten Sessel heran, setzte sich und fragte freundlich: »Sie haben sich die Mühe gemacht, mich aufzuspüren, und jetzt wollen Sie nicht legen?«

»Bitte was?«

Zuma setzte noch einmal an: »Na, das heißt doch so, wer gackert, der muss auch legen?«

Peters Gesicht zeigte ein spitzbübisches Grinsen: »Wir sollten einen Deal machen. Ich vermeide militärisches Sperrgebiet, wenn Sie sich von deutschen Redewendungen fernhalten.«

Thabo Zuma verstand und musste lachen: »Na los, erzählen Sie schon.«

Und Peter berichtete dem Südafrikaner von der Glocke, die er auf dem Foto entdeckt hatte.

Zuma war überrascht. Zum einen darüber, dass der Deutsche tatsächlich eine Entdeckung gemacht hatte, zum anderen, dass ihm selbst dieses Symbol nicht aufgefallen war. Er lief zu seiner Tasche und fischte die Fotos heraus, Peter half ihm, das richtige zu finden.

»Sehen Sie, da ist sie. Und in der Mitte ist ein Pfeil, der nach unten zeigt.«

Zuma konnte die aufgemalte Glocke auf dem Splitterteil erkennen. Er holte eine Leselupe aus der Schublade und betrachtete konzentriert das Bild.

Peter räusperte sich, er hatte noch mehr zu sagen. Wahrscheinlich würde ihn Zuma jetzt gleich für einen Spinner halten und rauswerfen. Er atmete durch. Zu Hause war er sich sicher gewesen, dass seine Entdeckung wichtig wäre. Aber das, was er jetzt zu sagen hatte, schien ihm hier in diesem Hotelzimmer irgendwie absurd.

Zuma hob den Kopf und sah zu Peter: »Was gibt es noch?«

Dieser zögerte: »Na ja, ich habe das schon mal gesehen. Das Symbol, diese Glocke. Ich habe deshalb die ganze Nacht gegrübelt. Heute Morgen war die Erinnerung plötzlich da.«

Zuma war jetzt sehr ernst: »An was haben Sie sich erinnert?«

Peter kramte in seiner Jackentasche und zog ein gefaltetes Blatt heraus. »Ich zeige es Ihnen.«

Er trat neben den Südafrikaner, die beiden Männer betrachteten die Seite.

»Sehen Sie, hier. Das Abzeichen, das sieht genauso aus wie das Symbol auf dem Splitterteil.«

Zuma nickte bedächtig. Der Computerausdruck zeigte eine schwarze militärische Schirmmütze. Darunter die Notiz: »Verkauft für 9.000,- Euro/Ich bin der beste Urbexer!«

»Wo haben Sie das her?«

»Das ist eine nicht ganz offizielle Quelle …«

Thabo Zuma legte den Kopf schräg und schnaufte ungeduldig.

»Schon gut«, fuhr Peter fort, »Sie wissen doch von dieser Urban-Explorer-Sache. Nun, die meisten von uns machen das nur aus … sagen wir ideellen Gründen. Wir mögen das Abenteuer, die Atmosphäre und nehmen Erinnerungen lediglich in Form von Fotografien mit. Es gibt aber auch einige, die daraus ein Geschäft gemacht haben. Sie verkaufen Dinge, die sie bei ihren Ausflügen finden. Es gibt eben immer schwarze Schafe. Das hier«, und damit deutete er auf das Blatt Papier, »stammt von so einem schwarzen Schaf. Der Typ ist ein Spinner, hat sich auf alte Militäranlagen spezialisiert und versucht, an Militaria zu kommen, um sie dann zu verkaufen. Sehen Sie mich nicht so an! Ich bin nur ein lautloser Besucher, der nichts berührt. Dieser Typ ist eine Schande für uns Urbexer. Außerdem ist er nicht ganz dicht. Das stammt von seiner Website, Zugang nur über das Urbexer-Netzwerk.«

Zuma betrachtete die Mütze auf dem Ausdruck, er musste eine Entscheidung treffen. Seine Botschaft hatte ihm mitgeteilt, er solle keine weiteren Untersuchungen vornehmen. Sie hatten ihn quasi abgezogen. Seine einzige Aufgabe bestand noch darin, die Formalitäten zu erledigen. Die Südafrikaner, die auf dem Europaflughafen und im Airbus der südafrikanischen Fluglinie gestorben waren, mussten, soweit möglich, in ihre Heimat überführt werden. Es sollte Entschädigungen für die Familien geben, die Bundesregierung hatte großzügige Versprechen gemacht. Jetzt galt es, Formulare auszufüllen. Aber er fühlte sich auch der Wahrheit verpflichtet.

»Sie wissen schon, aus welcher Zeit diese Kopfbedeckung stammt und wer sie getragen hat?«

Peter fühlte sich unwohl: »Ich weiß, es ergibt keinen Sinn. Mir ist auch noch nicht klar, wie das mit dem Unglück auf dem Flughafen zusammenhängen könnte, vielleicht ist das alles nur Zufall. So ein Symbol kann ja überall auftauchen. Vielleicht war das am Flughafen irgendein Dekogegenstand, oder …?«, er hob hilflos die Schultern.

Zuma hätte ihm vielleicht recht gegeben – aber unter diesen Umständen? Er lief wieder zu seiner Aktentasche, zog ein weiteres Papier heraus und reichte es Peter mit den Worten: »Das habe ich heute Morgen erhalten. Ein kleines Mädchen hat die Explosion überlebt. Aufgrund der Aufnahmen einer Überwachungskamera kam das Team zu dem Schluss, dass sie irgendetwas gesehen haben könnte. Eine Befragung hat nichts ergeben. Sie spricht seit dem Vorfall nicht mehr. Dafür hat sie die ganze Zeit immer und immer wieder das gleiche Bild gemalt. Sehen Sie …«

Peter pfiff leise, als er die Kinderzeichnung betrachtete: »Eine Glocke mit einem Pfeil!«

Zuma nickte. »Mein Kontakt war der Meinung, dass das vielleicht ein Hinweis auf etwas sein könnte, eine unbewusste Botschaft. Etwas, was das Kind gesehen hat, aber aufgrund des Schocks nicht beschreiben kann. Die Ermittler vor Ort haben der Sache jedoch bisher keine große Beachtung geschenkt.«

»Aber wenn die Explosion ein Unfall war …?«, stammelte Peter.

Zuma zog die Augenbrauen hoch: »Jetzt aber nicht das Gehirn auf halber Strecke schlapp machen lassen. Sie haben so vielversprechend gestartet. Sehen wir uns die Fakten an. Was haben wir: einen Splitter vom Europaflughafen, auf den eine Glocke mit Pfeil gemalt ist. Eine Schirmmütze, auf der neben dem Totenkopf der Waffen-SS ein Emblem angebracht ist, das haargenau so aussieht, wie das auf dem Splitterteil vom Flughafen. Diese Schirmmütze aus dem Dritten Reich hat Ihr Urbexer-Freund gefunden und sehr lukrativ verkauft. Und zu guter Letzt die Zeichnung eines kleinen Mädchens, das die Explosionen auf dem Flughafen überlebt hat, unter Schock steht und offensichtlich die einzige Zeugin ist. Was sagt uns das?«

»Es war kein Unfall, oder?«

Zuma schüttelte den Kopf und Peter fuhr fort: »Aber was war es dann? Und wieso taucht in diesem Zusammenhang ein Symbol aus dem Dritten Reich auf?«

Thabo Zuma schüttelte erneut den Kopf: »Ich habe keine Ahnung, aber ich werde versuchen, es herauszufinden.«

»Und ich werde Ihnen dabei helfen!«

In Zumas Blick sah man den Zweifel, als er antwortete: »Das wird vielleicht nicht ganz unproblematisch, das ist anders als diese Urban-Explorer-Nummer.«

»Das ist mir egal«, erwiderte Peter fast ein wenig trotzig, »ich weiß, dass es richtig ist. Falls es kein Unfall war, dann müssen wir die Verantwortlichen finden. Niemand darf mit so etwas ungestraft davonkommen.«

Peter war selbst von seinen Worten überrascht. Er hatte sich in der Vergangenheit nie besonders für irgendetwas engagiert. Aber dieses Mal war es ihm, als müsste er sich kümmern – er fühlte sich verpflichtet und er wollte helfen.

Zuma machte sich ebenfalls seine Gedanken. Er wollte natürlich nicht, dass der Junge Probleme bekäme, aber etwas Hilfe würde nicht schaden. Auf weitere Verbündete konnte er kaum hoffen.

Kurz zögerte er, dann fragte er Peter: »Sie haben nicht zufällig ein Geschichtsstudium, so wie dieser Professor aus den Filmen, der viele alte Sprachen spricht und sich bestens in historischen Ereignissen auskennt? Kämpfen kann er auch noch und …«

Peter unterbrach ihn: »Schon gut, ich kenne diese alten Filme. Nein, damit kann ich nicht dienen. Ich habe lediglich ein Sportstudium.«

Thabo Zuma hob theatralisch die Hände gen Himmel und rief: »Gott bewahre, dann hoffen wir einfach, dass uns in einer brenzligen Situation auch eine Kür am Stufenbarren retten kann.«

 

Zuma hatte, mit Peter im Schlepptau, sein Hotel in Berlin verlassen. Nun saßen die beiden in einem Mietwagen Richtung Mainz.

»Und Sie sind sicher, dass Sie nicht noch einmal nach Hause müssen?«

Peter schüttelte den Kopf: »Nicht nötig, alles, was ich brauche, habe ich hier.« Damit klopfte er auf seinen kleinen Rucksack. »Ohne den gehe ich so gut wie nie aus dem Haus. Ist sozusagen mein Überlebenspaket.«

Zuma lächelte: »Wie haben Sie mich überhaupt in Berlin gefunden?«

Peter gab sich überheblich: »Nun, ich hatte das Glück, dass mir dafür die unglaublichsten und modernsten Techniken zur Verfügung standen.«

Der Südafrikaner warf einen kurzen Blick auf seinen Beifahrer: »Und die wären?«

Peter brachte sich in eine bequeme Sitzposition und grinste: »Das Telefon. Ich habe einfach alle Hotels durchprobiert.«

Zuma lachte herzhaft.

Nun war es an Peter zu fragen: »Wieso sprechen Sie eigentlich so gut Deutsch, Herr Zuma?«

Sein Begleiter beendete noch sein Überholmanöver, dann antwortete er: »Nennen Sie mich doch bitte Thabo! Nun, ich hatte Glück, mein Vater arbeitete als Fahrer für einen deutschen Unternehmer in Kapstadt, der selbst einen Sohn in meinem Alter hatte. So lernte ich Deutsch und der Junge Afrikaans. Außerdem übernahm der Arbeitgeber meines Vaters für mich das Schulgeld und nutzte seine Kontakte. So konnte ich zusammen mit meinem deutschen Freund eine erstklassige Schule besuchen. Nun, als Kind lernt man Sprachen sehr schnell, vor allem, wenn das die einzige Chance auf eine bessere Zukunft ist. Mein Vater hat sein Leben lang alles dafür getan, mir eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Leider ist er früh gestorben.«

»Und Ihre Mutter?«, fragte Peter.

Thabo sagte traurig: »Sie starb, als ich drei Jahre alt war. Damals waren die Straßen von Kapstadt nicht sehr sicher. Sie wurde erschossen.«

Peter schüttelte traurig den Kopf. Er dachte an seine eigene Kindheit ohne Mutter und fühlte sich dem Südafrikaner verbunden: »Ihre Eltern wären sicher stolz auf Sie.«

Thabo nickte kurz: »Jedenfalls wurde Deutsch so zu einer Art Muttersprache für mich.«

Es entstand eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Wenn ich in Mainz mit den Behörden wegen der Formalitäten gesprochen habe, dann möchte ich mich noch mit jemandem treffen«, er warf erneut einen Seitenblick auf Peter, »Sie sollten uns einen Kontakt zu diesem ›Mützenverkäufer‹ herstellen.«

Peter nickte: »Ich werde mein Bestes versuchen!«

 

Hans Martlow saß vor seinem kleinen Pils. Das Glas hatte eine abgebrochene Stelle. Er drehte es ein wenig und dachte: Wenn man sich in solchen Kaschemmen zu geheimen Treffen verabredet, dann leidet eben die Qualität. Aber er hatte nunmal absichtlich diesen Ort ausgewählt, eine kleine Kneipe in der Nähe des Bahnhofsgebäudes von Mainz. Dunkel und anonym. So viel Laufkundschaft, dass man nicht auffiel.

Er war ein wenig aufgeregt. Nach vierzig Dienstjahren hatte er heute seit Langem wieder einmal das Gefühl an einer großen Sache dranzusein. An einer Sache, die er nicht zu Ende verfolgen konnte. Aber er würde zumindest helfen.

Plötzlich legte sich eine große Hand auf seine Schulter: »Da ist er ja, der wichtigste Mann im schönen Deutschland!« Thabo Zuma strahlte über das ganze Gesicht und auch Hans Martlow zeigte seine Freude über die Begegnung.

Er sprang auf und umarmte seinen alten Freund: »Und da ist der wichtigste Mann aus Südafrika, Thabo, wie schön. Wären es nur andere Umstände.« Dann stutzte Hans Martlow und sah auf Peter: »Ich dachte, du kommst allein …«

Thabo versicherte seinem Freund, dass Peter in Ordnung wäre. Dann setzten sich die drei Männer an den kleinen Tisch in der Ecke. Ein lustloser Kellner brachte Martlow ein weiteres kleines Pils, in einem weiteren kaputten Glas. Thabo und Peter bekamen jeweils einen lauwarmen Kaffee. Vorsichtig, um nicht einem Neugierigen einen Blick darauf zu gestatten, zog der Südafrikaner die Bilder hervor und zeigte sie seinem Freund. Die Glocke mit Pfeil auf dem Splitterteil war auch Hans Martlow bisher entgangen. Über Peters Erklärungen und den Zusammenhang mit den Urbexern runzelte er die Stirn.

»Die Nazis? Das wird ja immer undurchsichtiger. Da stimmt etwas ganz und gar nicht und mittlerweile denke ich, es wäre das beste, die Finger davon zu lassen.«

»Was?«, Thabo war ein wenig empört, »wie kannst du das sagen? Wenn etwas nicht stimmt, dann müssen wir das herausfinden. Das war doch immer dein Motto!«

Hans Martlow rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann antwortete er gequält: »Die Zeiten haben sich geändert. Sie haben mich heute in den Ruhestand verabschiedet.«

Thabo war erstaunt: »Ich dachte, du gehst erst in sechs Monaten in Rente?«

Martlow nahm einen großen Schluck von seinem Pils, verzog das Gesicht und kommentierte die Geschmacksenttäuschung mit: »Zu warm«, dann wandte er sich wieder an Thabo und Peter: »Tja, heute Morgen haben sie die Sonderkommission aufgelöst. Akte ›Europaflughafen‹ offiziell geschlossen, schlimmer Unfall, Gasexplosion, blablabla und so weiter. Im gleichen Atemzug mussten wir alle eine Geheimhaltungserklärung unterschreiben. Zusätzlich zu unserem sowieso schon bestehenden Amtseid. Dann haben Männer von irgendeiner Behörde, von der ich noch nie gehört habe, alle Unterlagen eingesammelt. Die Daten abgezogen und alle Informationen auf unseren Rechnern gelöscht. Selbst handschriftliche Notizen mussten abgegeben werden. Ich und ein paar andere, die ebenfalls kurz vor der Rente standen, wurden kurzerhand früher in den Ruhestand geschickt. Als Dankeschön für die gute Arbeit. Das kam vollkommen überraschend und eine dicke Prämie gab es noch oben drauf. Die jüngeren Mitglieder der SoKo bekamen neue, bessere Stellen. Da werden einige die Karriereleiter regelrecht hinauffallen.«

Thabo wusste nicht, was er dazu sagen sollte, er kannte Hans Martlow nun schon sehr lange. Sie hatten sich bei einem Einsatz kennengelernt und er verdankte ihm unter anderem sein Leben. Das waren damals schlimme Zeiten gewesen und Hans war im Zuge eines EU-Hilfsprogramms nach Südafrika gekommen. Seit dieser Zeit hatten die beiden Männer regelmäßig Kontakt und es war eine echte Freundschaft zwischen ihnen entstanden.

Peter traute seinen Ohren nicht: »Die haben Sie zwangsverrentet? Dürfen die das?«

Nun schien Hans Martlow doch amüsiert: »Oh, das ist keine Frage des Dürfens, sondern des Könnens. Was sollte ich dagegen machen? Meine Frau wird überglücklich sein, wenn sie das hört, und die Prämie wird uns schneller als gedacht den Traum vom eigenen Wohnmobil erfüllen. Wir wollten immer schon gemeinsam durch die Welt reisen. Ehrlich gesagt werde ich das so schnell wie möglich machen.«

Thabo wollte ansetzen, aber Hans unterbrach ihn: »Tut mir leid, aber ich werde dir dabei nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn jemand wüsste, dass wir Kontakt haben und ich dich mit Informationen versorge, dann adieu Rente, adieu Wohnmobil, adieu Freiheit. Und das wegen eines ›Unfalls‹ …«

Peter hatte seine Augen weit aufgerissen: »Aber wie kann das sein? Wieso wird das ausschließlich als Unfall behandelt? Das ist eine Frechheit, das ist … eine Lüge!« Er lehnte sich auf dem unbequemen Kneipenstuhl zurück.

»Ich würde nicht Lüge sagen, sondern eher Notlüge«, antwortete Thabo gelassen. Dann trank er zaghaft einen Schluck seines Kaffees und fuhr fort: »Was sollten die Behörden sonst machen? Sie haben offensichtlich nichts Konkretes. Aber die Menschen wollen Antworten. Die Unfalltheorie sorgt dafür, dass die Situation nicht eskaliert. Niemand gerät in Panik und das Leben geht bald wieder seinen normalen Gang.«

»Und wenn wir denen unsere Entdeckung mitteilen?«, drängte Peter weiter.

Mit einem besorgten Blick auf Hans erklärte Thabo: »Wie stellen Sie sich das vor? Erstens können wir denen nicht sagen, woher wir unsere Informationen haben. Und zweitens sind das alles nur Vermutungen, es gibt keine Beweise. Die Unfallgeschichte ist bereits offiziell. Keine Regierung der Welt würde jetzt einen Rückzieher machen. Nicht aufgrund von unseren vagen Spekulationen.«

Peter stöhnte: »Also sollten wir versuchen, mehr herauszufinden.«

»So sieht es aus«, antwortete ihm Thabo.

»Seid auf jeden Fall vorsichtig. Entweder die haben die Ermittlungen wirklich eingestellt, oder die Untersuchungen laufen inoffiziell weiter. In beiden Fällen wären die von eurer Einmischung nicht begeistert«, sagte Hans Martlow.

Thabo hatte verstanden: »Du hast sicher recht, aber ich kann die Angelegenheit nicht einfach vergessen.«

Martlow nahm nochmals einen kräftigen Schluck Bier, dann antwortete er: »Ich wusste, dass du das sagst. Wenn dem so ist, dann solltest du zumindest alles erfahren, was ich weiß. Mehr kann ich aber nicht für dich tun.«

Thabo nickte mitfühlend und Peter fragte sich gerade, ob er nicht genau diese Szene aus einem der zahllosen Spionage-Thriller kannte. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl und blickte zur Tür. Hoffentlich ging gerade wieder einmal seine Fantasie mit ihm durch – anderenfalls würde jetzt sicher in der nächsten Minute ein »Killerkommando« diesen Hort der Ungastlichkeit stürmen. Aber die Tür der Kneipe blieb geschlossen und Hans Martlow erzählte ihnen von den Ermittlungen. Im Prinzip erfuhren sie nichts Brauchbares, bis Hans auf das Video des kleinen Mädchens zu sprechen kam.

»Sie hat die Explosion überlebt, obwohl sie so dicht dran war?«

»Ja«, antwortete Hans mit leiser Stimme, »obwohl ihre Mutter regelrecht zerfetzt wurde, hatte die Kleine keinen Kratzer. Aber das war noch nicht alles.« Instinktiv rückten die Männer näher zusammen, als Hans flüsterte: »Wir konnten feststellen, was sie nach der Explosion in der Hand hielt.« Er machte eine kleine Pause, die anderen blickten wie gebannt auf ihren Kontakt, der schließlich noch leiser fortfuhr: »Es war Schnee …«

Wie aus einem Mund riefen Peter und Thabo: »Schnee?«

»Herrgott«, entfuhr es Hans, »geht's vielleicht noch lauter?«

Betreten hielten sich die beiden die Hände vor den Mund.

Hans winkte ab und sprach ungeduldig weiter: »Ja, Schnee. Wir haben keine Ahnung, wo sie den herhatte. Immerhin ist jetzt Mai. Irgendwer von diesen ›Oberverantwortlichen‹ faselte etwas von vereisten Tragflächen und ungewöhnlichen Flugbahnen, die dieses Eis von dort genommen haben könnten, quasi direkt in die Hand des Kindes. Aber das hört sich für mich vor allem nach einem verzweifelten Erklärungsversuch an.«

Martlow leerte sein Bierglas und kramte in seinem verknautschten Mantel. Dann legte er einen kleinen Zettel auf den Tisch: »Name und Adresse des Mädchens. Die Kleine hat bisher nicht gesprochen. Auf die Fragen unserer Ermittler hat sie nicht reagiert. Einzig die Zeichnungen, von denen ich dir eine gefaxt habe, waren eine Art Antwort. Falls du mit ihr sprechen willst … Wäre nett, wenn du nicht erwähnst, dass du die Anschrift von mir hast. Und hier …«, er zog einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Mantels und legte ihn vor Thabo auf den Tisch, »das war der erste vorläufige Bericht unserer Bomben- und Sprengstoffexperten zum Verlauf der Explosionen. Wurde später als falsch deklariert. Könnte für dich interessant sein. Betrachte es als Abschiedsgeschenk.«

Damit stand er auf und auch Thabo erhob sich. Die beiden Männer umarmten sich und Hans Martlow sagte ernst: »Pass auf dich auf!« Dann drehte er sich um und verließ das Lokal. Vor der Tür drückte er dem Kellner, der gerade eine Zigarette rauchte, zehn Euro in die Hand und verschwand anschließend in der Menge.

Kapitel 3

 

Tagebucheintrag, November 1936

Ein grandioser Durchbruch! Das Projekt wurde vom Führer im Zuge seines Vierjahresplans als »kriegsentscheidend« eingestuft. Somit steht der weiteren Entwicklung nichts mehr im Wege, der Zugriff auf alle benötigten Ressourcen ist sichergestellt. Heute Treffen mit Reichsführer-SS Himmler und dem Referenten für Bauangelegenheiten Kammler auf der Wewelsburg. Der Umfang meiner Unterlagen füllt mittlerweile zwei Lkws …

 

Deutschland, 10. Mai 2017, nachts

 

Peter war noch immer fassungslos. Thabo und er hatten die Kneipe kurz nach Hans Martlow verlassen. Zügig waren sie durch das Gewirr von Straßen zurück in ihr Hotel geeilt, es war mittlerweile Nacht. Thabo hatte noch vor seinem Gespräch mit Hans Martlow mit den zuständigen Behörden gesprochen und einen ganzen Stapel Papiere zum Ausfüllen überreicht bekommen. Wenn die Formalitäten erledigt wären, sollte er zurück nach Südafrika.

Für die Vertreter der verschiedenen Nationen hatte man Hotelzimmer zur Verfügung gestellt. Aufgrund der Katastrophe am Europaflughafen hätte Peter keine Chance gehabt ein eigenes Zimmer zu bekommen.

---ENDE DER LESEPROBE---