Operation Zagreb - Philip Kerr - E-Book
SONDERANGEBOT

Operation Zagreb E-Book

Philip Kerr

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer 1942: Bernie Gunther arbeitet wieder im Polizeipräsidium am Alex in Berlin. Im Windschatten des Krieges scheinen sich die Verbrecher sicher zu fühlen, und Bernie hat besonders viel zu tun. Ein Befehl von Nazi-Propagandaminister Goebbels zwingt ihn dazu, alles stehen und liegen zu lassen, um in geheimer Mission nach Zagreb zu reisen. Er soll den Vater von Goebbels' Lieblingsschauspielerin Dalia Dresner finden – einen Priester, der sich den rechtsextremen Ustascha angeschlossen hat. Doch dann verschwindet Dalia selbst aus Goebbels' Dunstkreis, und Bernie muss sie unbedingt wiederfinden. Denn der Propagandaminister erträgt es nicht, wenn etwas nicht nach seinem Willen läuft …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 679

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philip Kerr

Operation Zagreb

Roman

Aus dem Englischen von Axel Merz

Über dieses Buch

Sommer 1942: Bernie Gunther arbeitet wieder im Polizeipräsidium am Alex in Berlin. Im Windschatten des Krieges scheinen sich die Verbrecher sicher zu fühlen, und Bernie hat besonders viel zu tun. Ein Befehl von Nazi-Propagandaminister Goebbels zwingt ihn dazu, alles stehen und liegen zu lassen, um in geheimer Mission nach Zagreb zu reisen. Er soll den Vater von Goebbels’ Lieblingsschauspielerin Dalia Dresner finden – einen Priester, der sich den rechtsextremen Ustascha angeschlossen hat. Doch dann verschwindet Dalia selbst aus Goebbels’ Dunstkreis, und Bernie muss sie unbedingt wiederfinden. Denn der Propagandaminister erträgt es nicht, wenn etwas nicht nach seinem Willen läuft …

Vita

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh geboren. 1989 erschien sein erster Roman «Feuer in Berlin». Aus dem Debüt entwickelte sich die Serie um den Privatdetektiv Bernhard Gunther. Für Band 6, «Die Adlon-Verschwörung», gewann Philip Kerr den weltweit höchstdotierten Krimipreis der spanischen Mediengruppe RBA und den renommierten Ellis-Peters-Award. Kerr lebte in London, wo er 2018 verstarb.

Dieses Buch ist für Ivan Held,

ohne dessen Ermutigung

es niemals entstanden wäre.

Und wenn Sie noch so oft fragen, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt, müssen Sie sich mit dieser Antwort zufriedengeben: Nicht zu dieser Zeit, und ganz bestimmt nicht bis zu diesem Freitag.

Alfred Döblin

Ich musste erst nach Jugoslawien kommen, um zu verstehen, was Geschichte in Fleisch und Blut bedeutet.

Rebecca West

… es stand geschrieben, ich solle loyal sein gegenüber dem Albtraum meiner Wahl.

Joseph Conrad

Prolog

Französische Riviera, 1956

Wölfe werden üblicherweise mit tiefblauen Augen geboren. Diese werden nach und nach heller und verblassen schließlich zu ihrer erwachsenen Farbe, die meist Gelb ist. Huskies hingegen haben blaue Augen, und weil das so ist, denken Menschen, es müsse sich um blauäugige Wölfe handeln, doch die gibt es nicht. Wer einen Wolf mit blauen Augen sieht, hat es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mit einem reinblütigen Tier zu tun, sondern mit einem Hybriden. Dalia Dresner hatte die atemberaubendsten blauen Augen, die ich jemals bei einer Frau gesehen habe, aber ich gehe jede Wette ein, dass ein kleiner Teil von ihr von einem Wolf abstammte.

Dresner war in den 1930ern und 1940ern ein Star im deutschen Kino gewesen, zu der Zeit, als ich mit ihr eine Beziehung hatte, wenngleich nur eine kurze. Sie ist inzwischen fast vierzig, doch selbst im unbarmherzigen Technicolor noch atemberaubend schön – insbesondere ihre langsam blinzelnden, ionenstrahlkanonenblauen Augen, die aussehen, als könnte sie mit einem beiläufigen Blick eine ganze Reihe von Gebäuden in Schutt und Asche legen. Sie hatte es jedenfalls mühelos geschafft, mir ein Loch ins Herz zu brennen.

Wie den Schmerz der Trennung, so vergisst man auch niemals wirklich das Gesicht der Frau, die man geliebt hat, insbesondere wenn es das Gesicht einer Frau ist, die von der Presse die deutsche Garbo genannt wurde. Ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie der Sex mit ihnen war – irgendwie bleibt auch das im Gedächtnis haften. Vielleicht ist es ganz gut so, wenn die Erinnerung an Sex das Einzige ist, was man noch hat.

«Hör nicht auf», pflegte sie zu stöhnen bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ich sie im Bett zu erfreuen versuchte. Als hätte ich irgendeine Absicht gehabt, jemals aufzuhören. Ich hätte sie mit Vergnügen weitergeliebt bis zum Ende der Zeit.

Ich sah sie wieder im Eden Cinema in La Ciotat in der Nähe von Marseille – angeblich das älteste und möglicherweise das kleinste Kino der Welt. In diesem Kino haben die Gebrüder Lumière 1895 ihren ersten Film gezeigt; es befindet sich direkt am Meer, einer Marina zugewandt, in der das ganze Jahr über Unmengen kostspieliger Jachten vertäut liegen, und gleich um die Ecke der schäbigen Wohnung, in der ich wohne, seit ich Berlin verlassen habe. La Ciotat ist ein altes Fischerdorf, belebt durch eine bedeutende französische Schiffsbauwerft – wenn man Worte wie «bedeutend» im gleichen Satz wie die französische Marine nennen kann. Es gibt einen hübschen Strand und mehrere Hotels, und in einem davon arbeite ich.

Ich steckte mir eine Zigarette an, und während ich den Film ansah, versuchte ich mich an die Umstände zu erinnern, die zu unserem ersten Treffen geführt hatten. Wann genau war das gewesen? 1942? 1943? Offen gestanden, ich hatte nie eine besondere Ähnlichkeit zwischen Dalia und der Garbo erkennen können. Für mich war Lauren Bacall die Schauspielerin, der sie am meisten ähnelte. Deutschlands Garbo war eine Idee von Joseph Goebbels gewesen. Er hatte mir erzählt, dass die einzelgängerische Schwedin eine von Hitlers Lieblingsschauspielerinnen war und Camille einer der Lieblingsfilme des Führers. Es ist seltsam, sich vorzustellen, Hitler habe einen Lieblingsfilm gehabt, insbesondere einen so romantischen wie Camille, doch Goebbels hatte gemeint, wann immer Hitler diesen Film angesehen habe, hätten Tränen in seinen Augen gestanden, und er sei noch Stunden später bewegt gewesen. Was Goebbels betrifft, ich zweifle nicht daran, dass die Einführung von Dalia als deutscher Antwort auf Greta Garbo ein weiterer seiner Schachzüge gewesen war, um sich bei Hitler einzuschmeicheln … und natürlich bei Dalia selbst. Goebbels hatte ständig versucht, sich mit der einen oder anderen Schauspielerin zu schmücken. Nicht dass ich ihm hätte verübeln können, dass er sich an Dalia Dresner heranmachte. Eine Menge Männer hatten das versucht.

Dalia hatte einen großen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbracht, doch sie war in Pula in Istrien geboren, das nach 1918 und der Auflösung von Österreich-Ungarn Italien zugesprochen worden war, auch wenn diese Halbinsel zum natürlichen Staatsgebiet Jugoslawiens gehört. Tatsächlich waren sämtliche Vorfahren von Dalia Kroaten gewesen. Um der erzwungenen Italianisierung und der kulturellen Unterdrückung durch Mussolinis Faschisten zu entgehen, war sie bereits in frühen Jahren nach Zagreb gezogen und dort aufgewachsen. Ihr richtiger Name lautete Sofija Branković.

Nach dem Krieg hatte sie beschlossen, ihr Zuhause in der Nähe von Zürich zu verlassen und nach Zagreb zurückzukehren, um herauszufinden, was von ihrer Familie übriggeblieben war. 1947 war sie von der jugoslawischen Regierung verhaftet worden wegen des Verdachts, während des Krieges mit den Nazis kollaboriert zu haben, doch Tito, von dem man allgemein annahm, dass er von ihr betört war, hatte persönlich interveniert und Dalias Freilassung aus dem Gewahrsam veranlasst. Zurück in Deutschland hatte sie einen Comebackversuch gestartet, der jedoch aufgrund der widrigen Umstände scheiterte. Glücklicherweise wurde ihr in Italien Arbeit angeboten, und sie hatte in mehreren positiv aufgenommenen Filmen mitgespielt. Als Cecil B. DeMille 1949 nach Darstellern für Samson und Delilah gesucht hatte, war Dalia Dresner zunächst seine erste Wahl gewesen, ehe er sich für die politisch akzeptablere Hedy Lamarr entschied. Hedy war gut – sie war zweifellos sehr schön –, doch ich bin fest überzeugt, dass Dalia überzeugender gewesen wäre. Hedy spielte die Rolle wie ein fünfunddreißig Jahre altes Schulmädchen. Dalia hätte sie besser ausgefüllt, als verführerische Frau mit mehr Köpfchen, als Samson Muskeln hatte. Im Jahr 1955 arbeitete sie wieder beim deutschen Film, da gewann sie beim Filmfestival in Venedig den Coppa Volpi als beste Schauspielerin an der Seite von Curd Jürgens für ihre Rolle in Des Teufels General. Aber es waren die Engländer, die ihr die erfolgreichsten Rollen gaben, insbesondere British Lion Films, die sie in zwei Filmen neben Dirk Bogarde besetzten.

All diese Informationen entnahm ich dem Programm, das ich vor dem Film in dem winzigen Foyer des Eden gekauft hatte, um mich mit den Details von Dalias Leben vertraut zu machen. Es mochte weniger interessant gewesen sein als meines, doch es sah auch so aus, als hätte es ein ganzes Stück mehr Spaß gemacht.

Der Film, in dem ich sie nun sah, war eine Komödie mit Rex Harrison und trug den französischen Titel Le Mari Constant. Es war eigenartig – eine Synchronstimme zu hören, die nicht die ihre war und auch noch französisch sprach. Dalias Deutsch war immer rau und verführerisch gewesen, Honig und Zigaretten. Vielleicht funktionierte der Film auf Englisch, auf Französisch jedenfalls nicht. Ich glaube nicht, dass es etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass er synchronisiert war oder dass das Wiedersehen mit ihr einen Kloß in meinem Hals entstehen ließ. Es war einfach nur ein schlechter Film. Nach und nach fielen mir in der warmen Dunkelheit der Riviera die Augen zu, und bald wähnte ich mich zurück im Sommer des Jahres 1942 …

Kapitel 1

Ich erwachte aus einem langen, unruhigen Schlaf in einer Welt, die schwarzweiß war, hauptsächlich jedoch schwarz mit silbernen Paspeln. Ich hatte Luminal aus General Heydrichs Landhaus außerhalb von Prag gestohlen, um Schlaf zu finden. Er benötigte es nicht mehr – aus dem einfachen Grund, dass er tot war. Ansonsten hätte ich es ihm bestimmt nicht geklaut. Aber Pillen waren noch schwieriger zu kriegen als Alkohol, der wie alles andere knapp war. Und ich brauchte sie, weil ich als Beamter des Sicherheitsdienstes jetzt Teil des allgemeinen Horrors war, noch mehr als Heydrich. Er war tot, im Vormonat begraben mit vollen militärischen Ehren, einer Knoblauchzehe im Mund und einem Pflock durchs Herz. Er war aus dem Spiel, und seine letzten Gedanken an Rache gegenüber seinen tschechischen Meuchelmördern hingen immer noch in seinem länglichen El-Greco-Kopf wie erstarrter grauer Schlamm. Heydrich konnte keinen Schaden mehr anrichten. Ich hingegen in meinen elenden Bemühungen, am Leben zu bleiben, koste es, was es wolle, ich konnte durchaus noch Schmerz zufügen und im Gegenzug erleiden. Solange die schwarze Fassorgel des Todes spielte, schien es, als müsste ich zu der freudlosen, von Untergang erfüllten Melodie tanzen, die unablässig auf der Trommel geschlagen wurde, wie ein kleiner livrierter Affe mit Blechtasse in der Hand und dem Grinsen voll Todesangst im Gesicht. Es machte mich nicht zu etwas Ungewöhnlichem – nur zu einem Deutschen.

Berlin machte einen gehetzten Eindruck in jenem Sommer, als lauerte hinter jedem Baum und jeder Straßenecke ein schreiender Schädel oder ein großäugiger gestaltwandelnder Alb. Manchmal, wenn ich in meinem Bett in der Fasanenstraße schweißdurchnässt aus dem Schlaf hochschrak, fühlte ich mich, als hätte ich einen Dämonen auf der Brust sitzen, der mir die Luft abdrückte. In meiner Hast, Atem zu schöpfen und mich zu überzeugen, dass ich noch am Leben war, hörte ich mich oft aufschreien und um die säuerliche Luft ringen, die ich im Verlauf des Tages ausgeatmet hatte – der Zeit, während der ich für gewöhnlich schlief. Dann steckte ich mir üblicherweise eine Zigarette an mit der Gier von jemandem, der den Tabaksqualm brauchte, um ein wenig bequemer atmen zu können und den omnipräsenten Geschmack von Massenmord und menschlichem Niedergang zu verdrängen, der in meinem Mund saß wie ein alter verrotteter Zahn.

Der Sommersonnenschein brachte keine Freude. Er schien im Gegenteil einen nachteiligen Effekt zu haben und die Berliner gereizt zu machen – wegen der kochenden Hitze, weil es nichts außer Wasser zu trinken gab und weil sie sich ständig daran erinnert fühlten, wie viel heißer es wohl war in den trockenen Steppen von Russland und der Ukraine, wo unsere Jungs eine Schlacht kämpften, die allmählich aussah, als hätten wir den Mund zu voll genommen. Die späte Nachmittagssonne warf lange Schatten in den Straßen zwischen den Mietskasernen um den Alexanderplatz herum und spielte den Augen Streiche, und die Phosphene auf den Retinae – die Nachwirkungen des gnadenlos hellen Lichts – schienen sich in grünliche Auren zahlloser Toter zu verwandeln. Ich gehörte in die Schatten, da fühlte ich mich wohl wie eine alte Spinne, die einfach nur in Ruhe gelassen werden möchte. Nur, dass es keine wirkliche Hoffnung auf Ruhe gab. Es zahlte sich stets aus, vorsichtig zu sein – worin alle Übung hatten in Deutschland. Früher war ich ein guter Detektiv bei der Kripo gewesen, das war allerdings eine Weile her – bevor die Kriminellen angefangen hatten, schicke graue Uniformen zu tragen, und bevor nahezu jeder, der eingesperrt wurde, unschuldig war. Im Berlin des Jahres 1942 Polizist zu sein war ungefähr so, als würde man in einem Käfig voller Tiger Mausefallen aufstellen.

Auf Heydrichs Anweisung arbeitete ich nachts im Polizeipräsidium am Alex, was mir durchaus gelegen kam. Es gab keine nennenswerte Polizeiarbeit zu leisten, und ich hatte wenig bis keine Lust auf die Gesellschaft meiner Nazi-Kollegen oder ihre kaltherzigen Unterhaltungen. Die Mordkommission – oder das, was von ihr übriggeblieben war – überließ mich ganz mir selbst, wie einen vergessenen Gefangenen, dessen Gesicht für jeden den Tod bedeutete, der unvorsichtig genug war, einen Blick darauf zu erhaschen. Ich war nicht allzu unglücklich darüber. Anders als in Hamburg und Bremen gab es keine nennenswerten nächtlichen Bombenangriffe, weswegen die Stadt nach Anbruch der Dunkelheit in düsterer Ruhe versank, so ganz anders als das Berlin der Weimarer Jahre, das die lauteste und aufregendste Stadt der Welt gewesen war. All die Neonlichter, all der Jazz und insbesondere all die Freiheit, als nichts geheim gehalten werden musste und niemand verbergen musste, was oder wer er war – es war schwer zu glauben, dass die Dinge einmal so liberal gewesen waren. Das Weimarer Berlin hatte mir definitiv mehr gelegen. Die Weimarer Republik war die demokratischste aller Demokratien gewesen und zugleich – wie alle großartigen Demokratien – ein wenig außer Kontrolle. Vor 1933 war alles erlaubt gewesen, denn die wahre Natur der Demokratie besteht, wie Sokrates am eigenen Leib erfahren musste, darin, Korruption und Exzesse in all ihren Formen zu unterstützen. Die Korruption und die Exzesse von Weimar waren immer noch den biblischen Ungeheuerlichkeiten vorzuziehen, die heutzutage unter dem Namen «Nürnberger Gesetze» das Land knechteten. Ich glaube, mir war nie bewusst, was der Ausdruck Todsünde tatsächlich bedeutet, bis ich in Nazideutschland lebte.

Manchmal, wenn ich nachts aus dem Fenster meines Büros starrte, erblickte ich mein eigenes Spiegelbild, das zu mir zurückstarrte – ich selbst, nur irgendwie anders, wie eine schlechte Kopie meiner selbst, ein dunkleres Alter Ego, ein böser Zwilling oder vielleicht ein Todesbote. Hin und wieder konnte ich dieses geisterhaft bleiche Double spöttisch zu mir reden hören: «Sag mir, Gunther, was musst du heute tun und in wessen Arsch musst du heute kriechen, um deine elende Haut zu retten?»

Es war eine berechtigte Frage.

Von meinem Büro-Adlerhorst im östlichen Eckturm des Polizeipräsidiums hörte ich oft das Geräusch der Dampfzüge, die in den Bahnhof am Alex einliefen oder ihn verließen. Man konnte gerade so eben das Dach – zumindest das, was davon übrig war – der alten orthodoxen Synagoge in der Kaiserstraße sehen, die, soweit ich weiß, schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 dort gestanden hatte und eine der größten Synagogen in Deutschland gewesen war, mit Raum für mehr als eintausendachthundert Gläubige. Juden, genauer gesagt. Die Synagoge in der Kaiserstraße lag in einem Revier, in dem ich als junger Schupo in den Zwanzigern Streife gelaufen war. Manchmal unterhielt ich mich mit einigen der Jungen, die in die jüdische Knabenschule gingen und die regelmäßig zum Bahnhof kamen, um die Züge anzusehen. Einmal sah mich ein uniformierter Kollege dabei. «Was finden Sie bloß daran, sich mit diesen Juden zu unterhalten?», wollte er von mir wissen. Ich hatte ihm geantwortet, sie seien nur Kinder, und wir hätten über die gleichen Dinge geredet, über die man mit allen Kindern so redet. Das war, bevor ich herausfand, dass ich selbst eine Spur jüdischen Blutes in den Adern hatte. Vielleicht erklärt das, warum ich nett zu ihnen war. Ich ziehe allerdings vor zu glauben, dass es überhaupt nichts erklärte.

Es war eine Weile her, seit ich jüdische Jungen auf der Kaiserstraße gesehen hatte. Seit Juni hatten die Nazis damit begonnen, die Berliner Juden aus einem Transitlager in der Großen Hamburger Straße an unbekannte Orte im Osten zu deportieren. Bald darauf wurde öffentlich, dass diese Orte finaler waren als irgendein nebulöser Punkt auf der Landkarte. Die meisten Deportationen fanden nachts statt, wenn niemand zugegen war, der dabei zusehen konnte, doch eines Morgens gegen fünf Uhr, als ich einem Bagatelldiebstahl am Anhalter Bahnhof nachging, sah ich, wie ungefähr fünfzig ältere Juden in den geschlossenen Waggon eines wartenden Zuges verladen wurden. Sie sahen aus wie etwas, das Pieter Brueghel in einer Zeit hätte gemalt haben können, als Europa ein noch barbarischerer Ort gewesen war als heute – als Könige und Kaiser ihre schwarzen Verbrechen ungeniert im hellen Tageslicht begangen hatten und nicht zu nachtschlafender Zeit, wenn niemand da war, um sie zu beobachten. Die Waggons sahen halbwegs unschuldig aus, doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine ziemlich gute Vorstellung davon, was mit diesen Juden passieren würde. Ich nehme an, ich wusste mehr als sie selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sonst jemals freiwillig an Bord dieser Züge gegangen wären.

Ein alter Berliner Schupo wollte mich zum Weitergehen auffordern, als ich ihm meine Marke zeigte und ihn darüber informierte, was er mich konnte.

«Verzeihung, Herr Kommissar», sagte er und salutierte schneidig. «Ich wusste nicht, dass Sie zum RSHA gehören.»

«Wohin wird diese Charge gebracht?», hörte ich mich fragen.

«Irgendwo nach Böhmen. Theresienstadt, glaube ich. Sie haben Mitleid für die da, stimmt’s, Herr Kommissar? Aber ich schätze, es ist besser für die und für uns, ehrlich. Ich meine uns Deutsche. Die haben dort ein besseres Leben, unter ihresgleichen, in einer eigenen neuen Stadt, oder nicht?»

«Nein, nicht in Theresienstadt, bestimmt nicht», informierte ich ihn. «Ich bin gerade aus Böhmen zurück.» Und dann erzählte ich ihm alles, was ich darüber wusste, und noch ein wenig mehr, über das, was in Russland und der Ukraine geschah. Der Ausdruck von Entsetzen auf dem rötlichen Gesicht des Mannes war das Risiko beinahe wert, das ich einging, indem ich ihm die ungeschminkte und widerwärtige Wahrheit erzählte.

«Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Kommissar», sagte er erschrocken.

«O doch. Mein voller Ernst. Es ist eine Tatsache, dass wir da draußen in dem Sumpf östlich von Polen systematisch Tausende Menschen ermorden. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Und mit ‹wir› meine ich uns, die Polizei. Das RSHA. Wir sind es, die das Morden übernehmen.»

Der Schupo blinzelte heftig und sah aus, als hätte er mich nicht verstanden. «Das kann einfach nicht sein! Das ist sicherlich ein Scherz, was Sie da erzählen, Herr Kommissar.»

«Nein, das ist kein Scherz. Was ich Ihnen erzählt habe, ist die einzige Wahrheit, die Sie heute den ganzen Tag hören werden. Fragen Sie herum, aber versuchen Sie diskret zu sein. Die Leute reden aus offensichtlichen Gründen nicht gern darüber. Sie könnten in Schwierigkeiten geraten. Wir beide könnten in Schwierigkeiten geraten. Ich sage Ihnen, diese Juden dort sind auf dem Weg in die Hölle. Genau wie wir.»

Ich wandte mich ab und ging sadistisch in mich hinein grinsend davon. In Nazi-Deutschland war die Wahrheit eine machtvolle Waffe.

Ausgerechnet einer dieser Mörder vom RSHA war es, der mich aus der Kälte zurück ins Warme holte. Gerüchten zufolge sollte ein Österreicher mit Namen Ernst Kaltenbrunner der nächste Chef des Reichssicherheitshauptamts werden, doch die gleichen Gerüchte wussten auch zu berichten, dass Hitler die Ernennung nicht vornehmen wollte, bevor der Mann nicht seinen Entzug in einem Sanatorium im schweizerischen Chur abgeschlossen hatte. Damit war die Kripo für den Moment in den zwar forensisch fähigen, doch zugleich mörderischen Händen von General Arthur Nebe, der bis zum vorigen November die SS-Einsatzgruppe B in Weißrussland kommandiert hatte. Die Einsatzgruppe B wurde inzwischen von jemand anderem befehligt, doch wenn das, was im Alex verbreitet wurde, den Tatsachen entsprach – und ich hatte guten Grund zu der Annahme, dass dem so war –, dann hatten Nebes Leute mehr als fünfundvierzigtausend Menschen ermordet, bevor er sich endlich seine Fahrkarte zurück nach Berlin verdient hatte.

Fünfundvierzigtausend.

Eine so große Zahl im Zusammenhang mit Mord war schwer vorstellbar. Der Berliner Sportpalast, wo die Nazis manche ihrer Aufzüge veranstalteten, fasste vierzehntausend Personen. Drei ganze Sportpaläste voller Menschen, die erschienen waren, um Goebbels bei einer seiner Reden zuzujubeln. So sahen fünfundvierzigtausend Leute aus. Nur, dass keiner der Ermordeten gejubelt hatte.

Ich fragte mich, was Nebe seiner Frau Elise und seiner Tochter Gisela erzählt hatte über das, was er draußen im Sumpf vom Iwan getrieben hatte. Gisela war eine schöne junge Frau von sechzehn Jahren, und ich wusste, dass Arthur einen Narren an ihr gefressen hatte. Intelligent war sie obendrein. Hatte sie ihm je Fragen gestellt über seine Arbeit bei der SS? Oder etwas Ausweichendes in den fuchsartigen Augen ihres Vaters gesehen und dann schnell das Thema gewechselt, wie die Leute es früher gemacht hatten, wenn das Thema des Großen Krieges in einer Unterhaltung zur Sprache gekommen war? Ich habe nie jemanden kennengelernt, der gerne darüber geredet hätte, am allerwenigsten ich selbst. Es war sinnlos zu erwarten, ein Außenstehender könne sich vorstellen, wie es in den Schützengräben gewesen war, solange er nicht selbst diese Erfahrung gemacht hatte. Nicht, dass Arthur Nebe sich wegen seiner Taten in dieser Zeit hätte schämen müssen – er war als junger Leutnant bei seinem Pionierbataillon in der 17. Armee an der Ostfront zweimal Opfer von Gasangriffen geworden und mit einem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden. Als Resultat mochte Nebe die Russen nicht allzu sehr, dennoch war es undenkbar, dass er seiner Familie je erzählt haben könnte, er habe den Sommer 1941 mit der Ermordung von fünfundvierzigtausend Juden verbracht. Doch Nebe wusste, dass ich es wusste, und irgendwie konnte er mir trotzdem in die Augen sehen – und obwohl wir nicht darüber redeten, fand ich es für mich persönlich noch viel überraschender, dass ich imstande war, seine Gesellschaft zu ertragen, wenn auch nur mit Mühe. Wahrscheinlich dachte ich mir, wenn ich für Heydrich hatte arbeiten können, dann konnte ich für jeden arbeiten. Ich würde nicht sagen, dass Nebe und ich Freunde waren. Wir kamen ganz gut miteinander aus, auch wenn ich niemals verstehen werde, wie jemand, der sich bereits 1938 gegen Hitler verschworen hatte, mit derart offenkundiger Gleichmut zum Massenmörder hatte werden können. Nebe hatte einmal versucht, es zu erklären, als wir in Minsk gewesen waren. Er hatte erzählt, dass er so lange gute Miene zum bösen Spiel machen müsse, bis er und seine Freunde eine neue Gelegenheit fänden, Hitler zu beseitigen – ich konnte nur nicht begreifen, was daran die Ermordung von fünfundvierzigtausend Juden rechtfertigen sollte. Ich verstand es damals nicht, und ich verstehe es heute genauso wenig.

Auf Nebes Vorschlag hin trafen wir uns sonntags zum Mittagessen in einem privaten Zimmer im Wirtshaus Moorsee, ein Stück weit südwestlich der Pfaueninsel auf dem Wannsee. Das Gasthaus besaß einen hübschen Biergarten, eine Kapelle spielte auf. Insgesamt wirkte es eher bayrisch als preußisch und war im Sommer sehr beliebt bei den Berlinern. Dieser Sommer bildete keine Ausnahme. Es war ein wunderschöner Tag. Weder Nebe noch ich trugen Uniform. Nebe hatte einen dreiteiligen Knickerbockeranzug an aus hellgrauem Tweed im Hahnentrittmuster mit geknöpften Taschen und spitzem Revers. Mit den hellgrauen Strümpfen und den polierten braunen Halbschuhen sah er aus wie jemand, der plante, auf irgendwas mit Federn zu schießen – was sicherlich eine willkommene Abwechslung gewesen wäre. Ich für meinen Teil trug meinen Sommeranzug, der im Grunde genommen der gleiche Nadelstreifen-Dreiteiler war, den ich auch im Winter trug, mit Ausnahme der Tatsache, dass ich als Konzession an das warme Wetter die Weste weggelassen hatte. Ich sah ungefähr so pfiffig aus wie die Feder einer Seemöwe, und es interessierte mich einen Kehricht, ob das jemandem auffiel.

Wir aßen Seeforelle mit Kartoffeln und Erdbeeren mit Schlagsahne und genossen dazu zwei Flaschen guten Mosel. Nach dem Essen nahmen wir ein längliches Boot oder Kanu und fuhren auf den See hinaus. Wegen meiner umfassenden maritimen Erfahrung überließ Nebe mir das Rudern – oder vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich Hauptmann war und er General. Während ich mich also mit den langen Riemen beschäftigte, steckte er sich eine dicke Havanna an und starrte hinauf in den makellos blauen preußischen Himmel, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt, die ihn trüben könnten. Vielleicht gab es auch keine. Gewissen war ein Luxus, den sich nur wenige Offiziere bei der SS und beim SD leisten konnten. Der Wannsee erinnerte an ein impressionistisches Gemälde von einer idyllischen Szene auf der Seine. Die Art von Szenerie, die aussieht, als litte das Bild an einem schweren Fall von Punktitis. Überall waren Kanus und Kähne und Segelboote mit und ohne Ausleger und Jollen und Jollenkreuzer, aber nichts, was Treibstoff benötigte – Treibstoff war dieser Tage noch schwerer zu organisieren als Pillen und Alkohol. Es gab reichlich junge Frauen – einer der Gründe, warum es Nebe hier so gefiel –, jedoch keine jungen Männer. Die steckten allesamt in Uniformen und kämpften in irgendeinem russischen Granattrichter um das nackte Leben. Die Frauen in den Ruderbooten trugen weiße Unterhemden und kürzeste Höschen, eine starke Verbesserung im Vergleich zu den Korsetts und französischen Bustiers, weil sie ihre Brüste und ihre Hintern jedem zeigten, der wie ich an derartigen Dingen interessiert war. Sie waren gebräunt und lebendig und manchmal kokett – sie waren nur menschlich und sehnten sich genauso sehr nach männlicher Aufmerksamkeit wie nach einer Gelegenheit, die ihre Männern zu schenken. Manche von ihnen ruderten für eine Weile neben uns her und betrieben Konversation, bis sie merkten, wie alt wir waren – ich Mitte vierzig und Nebe sicher fast fünfzig. Eine Frau weckte besonders mein Interesse. Ich erkannte sie, weil sie nicht weit von mir entfernt wohnte. Ihr Name war Kirsten, und sie war Lehrerin am Fichte-Gymnasium in der Emser Straße. Als ich sie rudern sah, beschloss ich, mich zukünftig ein wenig häufiger in der Emser Straße blicken zu lassen und ihr vielleicht – durch einen glücklichen Zufall – zu begegnen. Nachdem sie und ihre schlanken Begleiterinnen weitergerudert waren, behielt ich ihr Boot im Auge, nur für den Fall: Man konnte nie wissen, wann eine schöne Frau ins Wasser fiel und gerettet werden musste.

Ein weiterer Grund, warum es Nebe auf dem Wannsee so gut gefiel, war, dass man absolut sicher sein konnte, nicht belauscht zu werden. Seit September 1938 und dem fehlgeschlagenen Oster-Attentat, bei dem er eine wichtige Rolle gespielt hatte, hegte Nebe den Verdacht, dass er beschattet und beobachtet wurde, weil man irgendetwas vermutete. Nichtsdestotrotz hatte er mir gegenüber kaum ein Blatt vor den Mund genommen – und wenn auch nur deswegen, weil er wusste, dass ich den Nazis noch viel verdächtiger erschien als er selbst. Ich war die beste Sorte von Freund, die jemand wie Nebe haben konnte: die Sorte von Freund, die man bereitwillig und ohne jedes Zögern an die Gestapo ausliefern konnte, wenn es der Rettung der eigenen Haut dienlich war.

«Danke für das Essen», sagte ich. «Ist eine Weile her, seit ich mir so einen feinen Tropfen wie diesen Moselwein genehmigt habe.»

«Welchen Sinn hätte es, Chef der Kripo zu sein, wenn man nicht eine Extraration Essen und ein paar Getränkemarken organisieren könnte?», entgegnete er.

Marken waren notwendig für das deutsche Rationierungssystem, das zunehmend drakonisch erschien – insbesondere, wenn man Jude war.

«Ob Sie es glauben oder nicht, was wir gegessen haben, stammt alles aus der Gegend», sagte er. «Seeforelle, Kartoffeln, Erdbeeren. Wenn man das im Sommer in Berlin nicht mehr kriegt, können wir gleich aufgeben. Das Leben wäre nicht mehr lebenswert.» Er stieß einen Seufzer aus und blies eine Tabakswolke über seinem silbergrauen Kopf in den Himmel. «Wissen Sie, manchmal komme ich hierher und nehme einen Kahn für mich allein, löse die Leine und lasse mich einfach über den See treiben, ohne einen Gedanken daran, wohin die Fahrt geht.»

«Man kommt nirgendwohin. Nicht auf diesem See.»

«Das klingt, als wäre daran etwas falsch, Bernie. Aber das ist die Natur von Seen. Sie sind dazu da, dass man sie anschaut und sie genießt, nicht für irgendetwas Praktisches wie das, was Sie da andeuten.»

Ich zuckte die Schultern, zog die Riemen ein und starrte über die Seite des Kahns ins warme Wasser. «Wann immer ich auf einem See bin wie diesem hier, dauert es nicht lange, bis ich mich frage, was wohl unter der Oberfläche lauert. Welche unentdeckten Verbrechen warten verborgen in seinen Tiefen? Wer verrottet dort unten mit einer Eisenkugel am Bein? Versteckt sich da vielleicht ein jüdisches U-Boot vor den Nazis? Oder ein Linker, der in den Zwanzigern von den Freikorps erwischt wurde?»

Nebe lachte auf. «Einmal Detektiv, immer Detektiv, wie? Und Sie fragen sich, wieso Sie weiterhin nützlich sind für unsere Herren?»

«Ist das der Grund für unser Treffen? Damit Sie mir schmeicheln können mit Ihrer Versicherung, ich wäre nützlich?»

«Wäre möglich.»

«Ich fürchte, die Tage, in denen ich für irgendjemanden nützlich war, sind lange vorbei, Arthur.»

«Sie unterschätzen sich, Bernie, wie üblich. Wissen Sie, in meinen Gedanken vergleiche ich Sie immer ein wenig mit diesen Volksautomobilen von Dr. Porsche. Ein wenig langweilig vielleicht, aber billig im Unterhalt und äußerst effizient. Stabil gebaut, für die Ewigkeit. Beinahe unzerstörbar.»

«Im Moment könnte meine Maschine ein wenig Luftkühlung gebrauchen», sagte ich und stützte mich auf die Riemen. «Mir ist ziemlich heiß.»

Nebe paffte an seiner Zigarre und ließ eine Hand durchs Wasser schleifen. «Was machen Sie, Bernie? Wenn Sie von allem abschalten wollen? Einfach vergessen?»

«Es dauert eine Weile, bis man alles vergisst, Arthur. Insbesondere hier in Berlin. Glauben Sie mir, ich hab’s versucht. Ich habe das ungute Gefühl, es könnte den Rest meines Lebens dauern, das alles zu vergessen.»

Nebe nickte. «Sie irren sich, wissen Sie? Es ist wirklich leicht zu vergessen, wenn man dazu entschlossen ist.»

«Wie machen Sie es?»

«Indem ich eine bestimmte Sicht auf die Welt habe. Das ist ein Konzept, mit dem sicher alle Deutschen vertraut sind. Mein Vater war Lehrer, und er pflegte zu sagen: ‹Finde heraus, woran du glaubst, Arthur, und wo dein Platz ist, und dann halte dich daran. Nutze diese Sicht auf die Dinge, um Ordnung in dein Leben zu bringen, ganz gleich, was geschieht.› Was ich daraus gezogen habe, ist Folgendes: Das Leben ist Zufallssache. So sehe ich die Dinge. Wäre ich nicht als Chef von Gruppe B in Minsk gewesen, dann wäre jemand anderes da gewesen. Dieser Bastard Erich Naumann beispielsweise. Das ist das Schwein, das meinen Posten übernommen hat. Manchmal denke ich, dass ich nie wirklich dort war, zumindest nicht mein wirkliches Ich. Ich habe nur wenige Erinnerungen an diese Zeit. Sehr wenige.

Wissen Sie, damals, nach dem Großen Krieg, habe ich versucht, bei Siemens eine Anstellung zu finden, als Verkäufer von Osram-Glühbirnen. Ich habe sogar versucht, als Feuerwehrmann zu arbeiten. Sie wissen ja selbst, wie es damals war. Jede Art von Arbeit sah verlockend aus. Aber es hat nicht sollen sein. Der einzige Laden, der mich haben wollte, nachdem ich die Armee verlassen musste, war die Kripo. Das ist es, wovon ich rede. Warum verschlägt es in diesem Leben einen Mann in die eine Richtung, als Glühbirnenverkäufer oder in die andere als Feuerwehrmann und treibt genau den gleichen Mann in eine ganz andere Richtung, wo er zum Scharfrichter des Staates wird?»

«So nennen Sie das?»

«Warum nicht? Ich habe keinen Zylinderhut getragen, zugegeben, aber die Arbeit war die gleiche. Tatsache ist nun einmal, dass diese Dinge häufig nur wenig mit dem Menschen selbst zu tun haben. Ich bin nicht in Minsk gelandet, weil ich ein schlechter Mensch bin, Bernie. Ich glaube das wirklich. Es war ein Zufall, der mich dorthin verschlagen hat, sonst nichts. So sehe ich das. Ich bin der gleiche Mensch, der ich immer war. Es war das Schicksal, das mich zur Berliner Polizei geführt hat anstatt zur Feuerwehr. Das gleiche Schicksal, das diese Juden getötet hat. Das Leben selbst ist nichts weiter als eine Serie zufälliger Ereignisse. Es gibt keine Logik hinter irgendetwas von dem, was passiert, Bernie. Manchmal denke ich, das ist Ihr eigentliches Problem: dass Sie nach einer Bedeutung in den Dingen suchen. Aber es gibt keine. Gab nie eine. Das alles ist nichts weiter als ein Kategorienfehler. Der Versuch, Dinge zu lösen, löst in Wirklichkeit überhaupt nichts. Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben, müssten Sie das inzwischen wissen.»

«Danke für die Nachhilfestunde in Philosophie. Ich denke, ich fange an, es zu begreifen.»

«Sie sollten mir wirklich danken. Ich bin hier, um Ihnen einen Gefallen zu tun.»

«Sie sehen nicht aus, als hätten Sie eine Pistole dabei, Arthur.»

«Nein, ehrlich. Kein Witz. Ich habe einen Posten für Sie in der Abteilung für Kriegsverbrechen im Bendlerblock, ab September.»

Ich lachte auf. «Soll das ein Witz sein?»

«Wenn man es bedenkt – es klingt ganz danach, nicht wahr?», räumte Nebe ein. «Ich finde eine Arbeit für Sie im Bendlerblock – ausgerechnet. Aber ich meine es vollkommen ernst, Bernie. Das ist ein gutes Angebot für Sie. Sie kommen vom Alex weg und an einen Ort, wo man Ihre Fähigkeiten zu schätzen wissen wird. Sie sind weiterhin beim SD, daran kann ich nicht viel ändern. Aber nach den Worten von Richter Goldsche, dem Sie unterstellt sein werden, öffnen Ihre Uniform und Ihre Erfahrungen als Ermittler eine Reihe von Türen, die den Leuten verschlossen bleiben, die gegenwärtig dort arbeiten. Die meisten von ihnen sind Anwälte und Von-und-zus von der Sorte, die ihre Narben bei schlagenden Verbindungen erworben hat und nicht auf dem Schlachtfeld. Herrgott, Sie verdienen sogar mehr Geld.» Er lachte. «Sehen Sie das denn nicht? Ich versuche, aus Ihnen wieder eine respektable Person zu machen, mein Freund. Zumindest halbwegs. Wer weiß, vielleicht verdienen Sie sogar genug, um sich einen neuen Anzug zu leisten.»

«Sie meinen das wirklich ernst, oder?»

«Selbstverständlich. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich meine Zeit damit verschwende, mit Ihnen essen zu gehen, ohne einen verdammt guten Grund zu haben? Ich hätte ein hübsches Mädchen mitbringen können oder vielleicht auch ein Mädchen, das nicht ganz so hübsch ist, anstatt einen Zyniker wie Sie. Sie dürfen jetzt ruhig Danke sagen.»

«Danke.»

«So, und nachdem ich Ihnen jetzt einen Gefallen getan habe, möchte ich, dass Sie als Gegenleistung auch etwas für mich tun.»

«Als Gegenleistung? Vielleicht haben Sie unser dreckiges Wochenende in Prag vergessen, Arthur. Sie waren es, der mich gebeten hat, Heydrichs Tod zu untersuchen, oder nicht? Vor weniger als einem Monat. Und meine Schlussfolgerungen haben Ihnen nicht gefallen. Als wir uns im Hotel Esplanade getroffen und miteinander geredet haben, haben Sie mich informiert, dass unsere Unterhaltung nie stattgefunden hat. Ich habe diesen Gefallen nie zurückgefordert.»

«Das war zu unser beider Bestem, Bernie. Ihrem und meinem.» Nebe fing an, sich das Ekzem auf der Rückseite seiner Hand zu kratzen, ein untrügliches Zeichen, dass er allmählich gereizt wurde. «Das hier ist etwas anders. Es ist etwas, das selbst Sie erledigen können, ohne Scherereien zu verursachen.»

«Was mich zu der Frage bringt, ob ich für diesen Auftrag die richtige Person bin.»

Er steckte sich die Zigarre in den Mund und kratzte noch mehr, als gäbe es unter seiner Haut eine bessere Lösung für sein Problem. Das Boot drehte sich langsam im Kreis und zeigte nun in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich war an dieses Gefühl gewöhnt. Mein ganzes Leben drehte sich seit 1939 im Kreis.

«Ist es etwas Persönliches, Arthur?», fragte ich. «Oder ist es etwas, das wir Detektive ‹Arbeit› nennen?»

«Ich erzähle es Ihnen, wenn Sie für eine Minute den Rand halten, ja? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es jemand mit so einem großen Mundwerk geschafft hat, so lange am Leben zu bleiben!»

«Ich habe mir die gleiche Frage auch schon gestellt.»

«Es ist Arbeit. Etwas, wofür Sie rein zufällig in einzigartigem Maß qualifiziert sind.»

«Sie kennen mich, Arthur. Ich bin für alle möglichen Arbeiten in höchstem Maße qualifiziert, die andere Männer nicht mit der Kneifzange anrühren würden.»

«Sie erinnern sich an die Internationale Kriminalpolizei-Kommission?», fragte er.

«Die existiert noch?»

«Ich bin der amtierende Vorsitzende», sagte Nebe bitter. «Und wenn Sie jetzt meinen, Sie müssten mir was vom Bock erzählen, der zum Gärtner gemacht wurde, erschieße ich Sie.»

«Ich bin nur ein wenig überrascht, das ist alles.»

«Wie Sie vielleicht wissen, war ich bis 1940 in Wien stationiert. Bis Heydrich beschloss, das Hauptquartier der Kommission hierher nach Berlin zu verlegen.»

Nebe deutete nach Westen, über den See und eine Brücke über die Havel, ein wenig südlich des Schwedischen Pavillons.

«Dort drüben, um genau zu sein. Mit ihm als Chef natürlich. Ein weiterer hellerleuchteter Schaukasten für die Reinhard-Heydrich-Schau. Ich hatte gehofft, dass wir nun, nachdem der Bastard tot ist, eine Ausrede hätten, die IKPK aufzulösen. Sie hat jeden Nutzen längst überlebt, den sie vielleicht einmal hatte. Aber nein, Himmler ist anderer Ansicht. Er will, dass die Kommission weitermacht. Ja, Sie haben richtig gehört. Es wird eine Konferenz geben, in ein oder zwei Wochen. Die Einladungen an die verschiedenen europäischen Polizeichefs wurden schon vor Heydrichs Ermordung verschickt. Jetzt kommen wir da nicht mehr raus.»

«Aber wir haben Krieg!», warf ich ein. «Wer zum Teufel soll denn kommen, Arthur?»

«Sie wären überrascht. Die französische Sureté beispielsweise. Sie mögen gute Feste und werden die Gelegenheit nutzen, ihre Meinung kundzutun. Dann die Schweden. Die Dänen. Die Spanier. Die Italiener. Die Rumänen. Selbst die Schweizer kommen. Und natürlich die Gestapo, die dürfen wir nicht vergessen. Im Grunde genommen kommen alle mit Ausnahme der Briten. Es gibt also keinen Mangel an Delegierten, das dürfen Sie mir glauben. Das Dumme daran ist, man hat mich mit der Aufgabe betraut, ein Programm von Rednern zu organisieren. Und ich suche verzweifelt nach Namen.»

«O nein. Sie wollen nicht im Ernst …»

«O doch. Genau das. Es heißt alle Mann an Deck für diese Konferenz. Ich hatte überlegt, dass Sie einen Vortrag darüber halten könnten, wie Sie Gormann den Würger geschnappt und überführt haben. Das ist selbst außerhalb Deutschlands ein berühmter Fall. Vierzig Minuten, wenn Sie das schaffen.»

«Das ist nicht verzweifelt suchen, das ist verzweifelt zusammenkratzen. Der Fall Gormann liegt fast fünfzehn Jahre zurück. Hören Sie, es gibt doch bestimmt jemand anderen in Ihrem hübschen neuen Polizeigebäude am Werderschen Markt.»

«Selbstverständlich gibt es andere. Direktor Lüdtke ist bereits eingeplant. Und bevor Sie die beiden vorschlagen, Kurt Daluege und Bernhard Wehner sind ebenfalls dabei. Trotzdem fehlen uns noch einige Redner für eine Konferenz, die zwei Tage dauern soll.»

«Was ist mit Otto Steinhäusl? Er war doch mal der Präsident der IKPK, oder irre ich mich?»

«Er ist verstorben, vorletztes Jahr in Wien an Tuberkulose.»

«Und dieser andere Bursche aus Prag, Heinz Pannwitz?»

«Pannwitz ist ein Kleinkrimineller, Bernie. Ich bezweifle, dass er länger als fünf Minuten reden kann, ohne zu fluchen oder mit einem Schlagstock auf das Pult einzuprügeln.»

«Schellenberg?»

«Zu verschlossen. Und zu unnahbar.»

«In Ordnung. Was ist mit dem Kollegen, der den U-Bahn-Mörder geschnappt hat, diesen Ogorzow? Das war erst letztes Jahr. Georg Heuser, jetzt fällt mir der Name ein. Den sollten Sie fragen.»

«Heuser ist Chef der Gestapo in Minsk», sagte Nebe. «Abgesehen davon ist Lüdtke furchtbar eifersüchtig auf ihn, seit Heuser Ogorzow geschnappt hat. Deswegen wird er für die nächste Zeit in Minsk bleiben. Nein, Bernie, Sie müssen ran, fürchte ich.»

«Lüdtke mag mich auch nicht besonders, Arthur. Das müssten Sie eigentlich wissen.»

«Er wird verdammt noch mal tun, was ich ihm sage! Abgesehen davon, niemand ist eifersüchtig auf Sie, Bernie. Am wenigsten von allen Lüdtke. Sie sind für niemanden eine Bedrohung, nicht mehr. Ihre Karriere ist am Ende. Sie hätten längst General sein können, wie ich, wenn Sie Ihre Karten richtig ausgespielt hätten.»

Ich zuckte die Schultern. «Glauben Sie mir, ich bin selbst am meisten von mir enttäuscht. Aber ich bin kein Redner, Arthur. Zugegeben, ich habe in meiner Zeit eine Reihe von Pressekonferenzen abgehalten, aber das war nicht mit dem vergleichbar, was Sie jetzt von mir wollen. Es wird furchtbar sein. Meine öffentlichen Reden beschränken sich auf den Ruf nach einem Bier aus dem Hintergrund einer Bar.»

Nebe grinste und paffte an seiner Havanna, bis sie wieder glühte. Es erforderte einige Geduld und Mühe, und ich konnte sehen, dass er die Zeit nutzte, um über mich nachzudenken.

«Ich zähle darauf, dass Sie schlecht sind», fuhr er dann fort. «Tatsächlich hoffe ich, dass jeder einzelne unserer Redner schlecht ist. Ich hoffe, die ganze verdammte Konferenz ist so sterbenslangweilig, dass wir nie wieder zu einer weiteren einladen müssen. Es ist einfach lächerlich, über das internationale Verbrechen zu reden, während die Nazis damit beschäftigt sind, das internationale Verbrechen des Jahrhunderts zu begehen.»

«Das ist das allererste Mal, Arthur, dass ich das aus Ihrem Mund höre.»

«Ich habe es unter vier Augen gesagt, deswegen zählt es nicht.»

«Angenommen, ich sage etwas Unangebrachtes? Etwas, das Sie in Verlegenheit bringt? Überlegen Sie nur, wer alles dort sein wird. Als ich Himmler das letzte Mal begegnet bin, hat er mir gegen das Schienbein getreten.»

«Ich erinnere mich.» Nebe grinste. «Unbezahlbar!» Er schüttelte den Kopf. «Nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen, in ein deutsches Fettnäpfchen zu treten. Nachdem Sie Ihre Rede aufgeschrieben haben, werden Sie den gesamten Text an das Propagandaministerium weiterleiten, wo man ihn in politisch korrektes Deutsch umschreiben wird. Staatssekretär Gutterer hat sich einverstanden erklärt, sämtliche Reden zu lesen und zu überprüfen. Er gehört zur SS, es sollte also kein Problem zwischen unseren Behörden geben. Es liegt in seinem eigenen Interesse, wenn alle anderen Reden noch stumpfsinniger klingen als seine eigene.»

«Das beruhigt mich, Arthur. Himmel, was für eine Farce! Spricht Charlie Chaplin vielleicht auch?»

Nebe schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, ich glaube, eines Tages wird Sie wirklich jemand erschießen. Und das war es dann für Sie, Bernie Gunther.»

«Nichts ist so effektiv wie eine Neun-Millimeter-Kugel aus einer Walther», entgegnete ich.

In der Ferne, am Rand des Sees, konnte ich die Lehrerin Kirsten erkennen. Sie und ihre hübschen Freundinnen legten gerade vom Bootssteg vor dem Schwedischen Pavillon ab. Ich setzte die Riemen ein und ruderte los, diesmal mit durchgedrücktem Rücken. Nebe hatte nicht gefragt, und ich hatte es nicht erwähnt, aber ich mag hübsche Frauen. Das ist meine Sicht der Dinge.

Kapitel 2

Seit der Zeit des Zweiten Reichs haben die Architekten von Berlin alles unternommen, damit sich die Bürger der Stadt klein und unbedeutend fühlen. Der neue Flügel des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda bildete keine Ausnahme. Er befand sich am Wilhelmplatz, nur einen Steinwurf entfernt von der Reichskanzlei, und er sah mehr oder weniger genauso aus wie das Reichsministerium für Luftfahrt an der Ecke Leipziger Straße. Nebeneinandergestellt konnte man den Eindruck gewinnen, der Architekt, Albert Speer, hätte seine Zeichnungen der beiden grauen Granitsteingebäude durcheinandergebracht, so ähnlich waren sie sich. Seit Februar war Speer zusätzlich Reichsminister für Rüstung und Bewaffnung, und ich konnte nur hoffen, dass er in diesem Amt mehr Kompetenz an den Tag legte als in seiner Funktion als Hitlers Haus-und-Hof-Architekt. Es heißt, Giotto konnte aus der Hand einen perfekten Kreis zeichnen. Speer konnte eine gerade Linie ziehen – zumindest mit einem Lineal, heißt es – und nicht viel mehr. Im Zeichnen von geraden Linien war er jedenfalls gut. Ich für meinen Teil konnte einen guten Elefanten zeichnen, aber dafür gibt es keinen großen Bedarf, wenn man Architekt ist. Es sei denn natürlich, der Elefant ist weiß.

Ich hatte im Völkischen Beobachter gelesen, dass die Nazis nicht viel übrighatten für den Deutschen Modernismus – Gebäude wie die Technische Universität in Weimar oder das Gewerkschaftsgebäude in Bernau. Sie hielten den Modernismus für undeutsch und kosmopolitisch, was immer das bedeuten mochte. Offen gestanden denke ich, es bedeutete, dass sich die Nazis nicht wohl fühlten damit, in Stadtbüros und -häusern zu arbeiten und zu leben, die von Juden entworfen worden waren und hauptsächlich aus Glas bestanden, wenn sie plötzlich einen Aufstand niederschlagen mussten. Es war viel leichter, ein massives Steingebäude wie das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda zu verteidigen als beispielsweise das Bauhaus in Dessau. Ein deutscher Kunsthistoriker – wohl ebenfalls ein Jude – hat einmal gesagt, dass Gott im Detail steckt. Ich mag Details, aber für die Nazis war ein Soldat hoch oben in einem Fenster mit einem schussbereiten Maschinengewehr mehr Trost als irgendetwas so Kapriziöses und Unzuverlässiges wie ein Gott. Aus den schmalen, schießschartenartigen Fenstern des neuen Ministeriums hatte man mit einem MG40 ein freies Schussfeld über den gesamten Wilhelmplatz und konnte einen betrunkenen Mob von Berlinern ganz bequem in Schach halten, solange unser neues Reichsministerium für Bewaffnung und Munition zur Lieferung von Nachschub imstande war. Wie dem auch sei, einen solchen Wettstreit hätte ich gerne gesehen. Es gibt nichts, das mit einem Berliner Mob in Aktion vergleichbar wäre.

Im Innern des Ministeriums war die Anmutung etwas weniger rustikal und dafür mehr wie auf einem schicken modernen Ozeanriesen. Überall gemaserte Walnuss, cremefarbene Wände und dicke beigefarbene Teppiche. In der ballsaalgroßen Eingangshalle mit dem gigantischen Porträt von Adolf Hitler – ohne das kein deutsches Ministerium seine Arbeit verrichten konnte – stand eine überdimensionierte ausgekehlte Vase mit weißen Gardenien, die das gesamte Gebäude mit ihrem Duft parfümierten und zweifellos halfen, den vorherrschenden Gestank von Ziegenmist zu übertünchen – eine unausweichliche Begleiterscheinung der völkischen Aufklärung in Nazideutschland, die ansonsten möglicherweise die Nase unseres glorreichen Führers beleidigt hätte.

«Guten Morgen, die Herren», sagte ich, als ich die großen Türen durchquerte und mich nach rechts wandte, wo ich den alten Leopoldpalast vermutete.

Hinter einem massiven Empfangsschalter, den man als Reduit hätte benutzen können, als zweite Verteidigungsreihe gegen den angreifenden Mob, beobachteten einige schweigende Angestellte mit weichen Kragen und noch weicheren Händen in geübter Gleichgültigkeit mein langsames Voranschreiten durch ihre Halle. Ich hingegen war erfreut darüber: Das einzige Vergnügen, das ich beim Tragen der Uniform eines Offiziers des SD empfand, war das Wissen, dass ich ohne dieselbe wesentlich mehr Demütigung durch die versteinerten Bürokraten erfahren hätte, die dieses Land beherrschten. Manchmal erhielt ich sogar Gelegenheit, im Gegenzug selbst Demütigung auszuteilen. Es war ein sadistisches, äußerst berlinerisches Spiel von der Sorte, die ich anscheinend niemals müde wurde zu spielen.

Die beiden Bediensteten waren niedere Schläger und sahen nicht aus, als hätten sie sonderlich viel zu tun, trotzdem gingen sie eine perfektionierte, komödiantische Routine durch, die einzig den Zweck hatte, mir vorzugaukeln, es wäre anders. Es dauerte mehrere Minuten, bis einer der beiden aufblickte und tat, als würde er mir eine Art von Aufmerksamkeit schenken.

Und dann noch eine Minute.

«Sind Sie so weit?», fragte ich.

«Heil Hitler», sagte er.

Ich legte einen Finger an die Kappe und nickte wortlos. Paradoxerweise war es an einem Ort wie dem Reichsministerium einigermaßen sicher, den Hitlergruß nicht zu erwidern – solange keine SS-Schergen zugegen waren, die einem in den Hintern traten.

«Heil Hitler», antwortete ich, weil es nur ein gewisses Maß an Widerstand gibt, das man ungestraft in einem beliebigen Moment zeigen darf. Ich blickte hinauf zu der bemalten Decke und nickte anerkennend. «Wunderschön. Das ist der alte Zeremonienpalast, nicht wahr? Es muss großartig sein, hier zu arbeiten. Verraten Sie mir doch, gibt es den Thronsaal noch? Wo der Kaiser früher die Orden und Medaillen verteilt hat? Nicht, dass mein eigenes Eisernes Kreuz damit vergleichbar wäre. Ich habe es im Schützengraben erhalten, und mein kommandierender Offizier musste einen Platz an meiner Uniform finden, der nicht mit Dreck und Schlamm und Scheiße besudelt war, um es mir anzuheften.»

«Faszinierend, keine Frage», sagte der größere der beiden Kerle. «Aber das hier ist seit 1919 das Gebäude des Reichspresseamtes.»

Er trug einen Kneifer und wippte beim Sprechen auf den Zehenspitzen wie ein Polizeibeamter, der eine Auskunft erteilt. Ich war versucht, ihm meinerseits ein paar Auskünfte zu erteilen. Die weiße Nelke, die er im Knopfloch seiner sommerleichten doppelreihigen schwarzen Jacke trug, mochte ein freundliches Accessoire darstellen, doch der gewachste Schnurrbart und das Tuch in der Brusttasche waren Wilhelmstraße pur. Sein Mund sah aus, als hätte jemand am Morgen Essig in seinen Kaffee geschüttet. Seine Frau, vorausgesetzt er hatte eine, hätte sicherlich etwas Tödlicheres gewählt.

«Wenn Sie bitte zur Sache kommen könnten. Wir sind sehr beschäftigt.»

Ich spürte, wie das Lächeln auf meinem Gesicht austrocknete wie ein Haufen vom Vortag. «Daran zweifle ich nicht. Gehören Sie beide schon immer zum Gebäude oder hat man Sie zusammen mit den Telefonen installiert?»

«Wie können wir Ihnen helfen, Hauptmann?», fragte der kleinere der beiden, der ebenso steif war wie sein Kollege und aussah, als wäre er bereits mit Nadelstreifenhose und Gamaschen aus dem Mutterleib gekommen.

«Ich bin Polizeikommissar Bernhard Gunther», stellte ich mich vor. «Vom Präsidium am Alexanderplatz. Ich habe eine Verabredung mit Staatssekretär Gutterer.»

Der erste der beiden überprüfte bereits meinen Namen auf einem Klemmbrett und nahm einen cremefarbenen Telefonhörer auf, um ihn an sein rosiges Blumenkohlohr zu klemmen. Er wiederholte meinen Namen für die Person am anderen Ende der Leitung und nickte sodann.

«Sie können gleich nach oben ins Büro des Herrn Staatssekretärs», sagte er, während er den Hörer zurück auf die Gabel legte.

«Danke sehr für Ihre Hilfe.»

Er deutete auf eine Treppe von enormen Ausmaßen.

«Oben wird Sie jemand in Empfang nehmen. Erste Etage.»

«Hoffen wir’s», erwiderte ich. «Ich hasse die Vorstellung, wieder herunterkommen zu müssen, um ignoriert zu werden.»

Ich nahm zwei Stufen auf einmal, was wahrscheinlich eine Menge mehr Energie war, als man in diesem Laden gesehen hatten, seit Kaiser Wilhelm II. den letzten Blauen Max von einem samtenen Kissen genommen hatte, und erreichte einen schier endlosen Korridor. Da war niemand, um mich in Empfang zu nehmen, doch ohne ein ordentliches Fernglas, um bis zum anderen Ende des Gangs zu sehen, konnte ich mir dessen nicht sicher sein. Ich warf einen Blick über die marmorne Balustrade und verwarf die Idee, den beiden Schneiderpuppen unten zuzupfeifen. Stattdessen steckte ich mir die letzte Zigarette an und parkte meinen Hintern auf einem französischen Sofa mit vergoldetem Rahmen, das selbst für einen Franzosen ein klein wenig zu niedrig war. Nach einem oder zwei Augenblicken stand ich wieder auf und näherte mich einer großen offenstehenden Tür, die in die – wie ich annahm – einstige Blaue Galerie führte. Selbige war mit Fresken und Kronleuchtern ausgestattet und sah aus wie der perfekte Ort, wenn man mal ein Trockendock für Reparaturen an einem U-Boot brauchte. Die Fresken an den Wänden zeigten größtenteils nackte Menschen, die mit Leiern und Bögen hantierten oder auf Podesten standen und darauf warteten, dass ihnen jemand ein Badetuch reichte. Sie alle wirkten gelangweilt, als wünschten sie sich, draußen am Nacktbadestrand vom Wannsee die Sonne genießen zu können, anstatt in einem Reichsministerium an der Wand zu posieren. Ich hatte genau das gleiche Gefühl in mir.

Neben mir erschien eine schlanke junge Frau in einem dunklen Bleistiftrock und weißer Bluse.

«Ich habe die Wandschmierereien bewundert», sagte ich.

«Es heißt Fresken», sagte die Sekretärin.

«Tatsächlich?» Ich zuckte die Schultern. «Das klingt italienisch.»

«Ja. Es bedeutet frisch.»

«Das passt. Ich meine, es gibt nur eine endliche Anzahl von nackten Leuten, die man auf eine Wand malen kann, bevor das ganze anfängt, nach einem marokkanischen Badehaus auszusehen. Was denken Sie?»

«Es ist klassische Kunst», sagte sie. «Sie müssen Hauptmann Gunther sein.»

«Ist das so offensichtlich?»

«Es steht hier drin.»

«Guter Punkt. Ich schätze, ich hätte mich nackt ausziehen müssen, um hier drin nicht allzu sehr aufzufallen.»

«Hier entlang», sagte sie ohne jede Andeutung eines Lächelns. «Staatssekretär Gutterer erwartet Sie.»

Sie wandte sich in einem Nebel von Mystikum ab, und ich folgte ihr an einer unsichtbaren Hundeleine. Während wir durch den Korridor wanderten, wandte ich meine Aufmerksamkeit ihrem Hintern zu und studierte ihn gewissenhaft. Er war ein wenig zu dürr für meinen Geschmack, doch er bewegte sich einigermaßen geschmeidig. Vermutlich hatte er allein durch die Rennerei in diesem Gebäude viel Training. Für einen so kleinen Minister wie Joseph den Krüppel war es ein sehr großes Ministerium.

«Glauben Sie es oder nicht, aber es gefällt mir hier», sagte ich.

Sie blieb für einen Moment stehen, errötete leicht und ging dann weiter. Ich fing an sie zu mögen.

«Wirklich, Hauptmann», sagte sie. «Ich weiß nicht, was Sie meinen.»

«Sicher wissen Sie das. Aber ich kläre Sie gerne auf, falls Sie Lust haben, nach der Arbeit mit mir etwas trinken zu gehen. Das machen die Leute hier doch, oder nicht? Einander aufklären, meine ich? Sehen Sie, ich habe Abitur. Ich weiß, was ein Fresko ist. Ich hatte einen Scherz gemacht. Und das furchteinflößende schwarze Abzeichen auf meinem Ärmel ist nur Schau. Ich bin in Wirklichkeit ein richtig freundlicher Kerl. Wir könnten ins Adlon gehen und ein Glas Champagner nehmen. Ich habe dort mal gearbeitet, ich habe Beziehungen zum Barmann.»

Sie antwortete nicht. Ging einfach nur weiter. Das ist es, was Frauen tun, wenn sie nicht Nein sagen wollen – sie ignorieren einen und hoffen, dass man weggeht, bis zu dem Moment, in dem sie feststellen, dass man es nicht tut, und dann erfinden sie eine Ausrede, um Ja sagen zu können. Hegel hat das völlig falsch verstanden, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Es ist überhaupt nichts Kompliziertes daran. Es ist ein Kinderspiel, ehrlich. Deswegen macht es so viel Spaß. Kinder würden es nicht tun, wenn es anders wäre.

Sie errötete leicht, als sie mich nun durch einen Saal führte, der aussah wie die Bibliothek eines Herrenclubs, bis zu einem schweren, sauber rasierten Mann von ungefähr vierzig Jahren hinter einem massigen Schreibtisch. Der Mann hatte einen vollen Schopf langer, ergrauender Haare, wache braune Augen und einen Mund, der so schmallippig wirkte, als vermochte kein Sterblicher, ihn zu einem Lächeln zu bewegen. Ich beschloss, es gar nicht erst zu versuchen. Eine Aura von Aufgeblasenheit und Arroganz umgab ihn von oben bis unten, und das Rasierwasser, mit dem sie vermischt war, Scherks Tarr, musste an den Fensterscheiben kleben, so viel hatte er davon aufgetragen. Er trug einen Ehering und reichlich Lametta an den Taschenklappen seiner SS-Jacke, ganz zu schweigen von einem goldenen Parteiabzeichen auf der linken Brusttasche. An einem so warmen Tag wie heute war das strahlend weiße Hemd um seinen Hals vielleicht ein wenig zu mollig, um behaglich zu sein, doch es war perfekt gebügelt und brachte mich zu der Annahme, das er möglicherweise glücklich verheiratet war. Gut bekocht zu werden und alle Wäsche gewaschen zu kriegen ist etwas, wonach sich die meisten deutschen Männer sehnten. Ich für meinen Teil weiß, dass ich es tat. Er hielt einen dicken goldenen Füllfederhalter in den Fingern, und vor ihm lag ein Blatt mit jeder Menge roter Tinte. Die Handschrift war sauberer als das Getippte, das von mir stammte. Seit meiner Schulzeit hatte ich nicht mehr so viel rote Tinte auf meinen Hausaufgaben gesehen.

Er deutete auf einen freien Platz vor seinem Schreibtisch, während er eine goldene Jägeruhr konsultierte, als hätte er bereits entschieden, wie lange ich seine Zeit verschwenden durfte. Dann hob er den Kopf und lächelte ein Lächeln, das mit nichts vergleichbar war, was ich jemals außerhalb eines Reptilienhauses gesehen hatte. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete, bis ich es mir bequem gemacht hatte. Das tat ich nicht, doch das spielte vermutlich keine sonderliche Rolle für jemanden, der so wichtig war wie er. Er fixierte mich mit einem Ausdruck von beinahe komischem Mitleid und schüttelte den Kopf.

«Sie sind kein großer Schreiber, habe ich recht, Hauptmann Gunther?»

«Zumindest wird mich das Nobelpreiskomitee in nächster Zeit nicht anrufen, falls es das ist, was Sie meinen. Aber Pearl Buck meint, ich könnte mich noch verbessern.»

«Tatsächlich?»

«Wenn sie den Preis gewinnen kann, kann das jeder, richtig?»

«Vielleicht. Nach dem, was General Nebe mir berichtet hat, stehen Sie das erste Mal vor Publikum am Rednerpult.»

«Mein erstes und hoffentlich auch letztes Mal.» Ich nickte der silbernen Box auf dem Schreibtisch vor mir zu. «Abgesehen davon rede ich am besten, wenn ich eine Zigarette zwischen den Lippen habe.»

Er klappte die Box auf. «Bedienen Sie sich.»

Ich nahm eine Zigarette hervor, schob sie mir zwischen die Lippen und steckte sie an.

«Verraten Sie mir, wie viele Teilnehmer an Ihrer IKPK-Konferenz erwartet werden?»

Ich zog an dem Sargnagel in meinem Mund. In letzter Zeit war ich bei meinen Kippen zu Doppelzügen übergegangen, bevor ich inhalierte – auf diese Weise bekam ich einen besseren Kick von dem beschissenen Tabak, wenn der Rauch meine Lungen füllte. Doch das hier war eine gute Zigarette, gut genug zum Genießen, viel zu gut, um sie zu verschwenden, während man sich über etwas so Triviales unterhielt wie das, was Gutterer im Sinn hatte.

«Soweit ich von General Nebe weiß, kommen einige höhere Regierungsbeamte», sagte er.

«Davon weiß ich leider nichts, Herr Staatssekretär», sagte ich.

«Verstehen Sie mich nicht falsch, Hauptmann, was Sie aufgeschrieben haben, ist ein durchaus faszinierender Stoff, keine Frage. Sie sind bestimmt ein interessanter Bursche, aber nach allem, was Sie hier stehen haben, müssen Sie noch eine ganze Menge lernen, was das Vortragen vor Publikum angeht.»

«Ich habe das Vortragen bis zu diesem Moment mit Freude vermieden, Herr Staatssekretär. Wie das Sprichwort so schön sagt, es ist schwierig, Olivenöl aus einem Stein zu pressen. Wäre es an mir gewesen, Brutus und Cassius wären davongekommen, und der Erste Kreuzzug hätte nie stattgefunden. Ganz zu schweigen von Portia im Kaufmann von Venedig.»

«Was ist mit Portia?»

«Mit meinen Redekünsten hätte sie Antonio niemals bei Shylock vom Haken bekommen. Nein, nicht einmal in Deutschland.»

«Dann seien wir beide dankbar, dass Sie nicht für dessen Ministerium arbeiten», sagte Gutterer. «Shylock und sein Stamm sind nämlich eine Art Spezialität unserer Abteilung.»

«Das glaube ich Ihnen gerne.»

«Und der Ihren ebenfalls.»

Ich machte einen weiteren Zug an meiner Kippe – das ist das Großartige an Zigaretten, sie helfen einem manchmal vom Haken. Das Einzige, was aus dem Mund kommen muss, ist Rauch, und dafür können sie einen nicht in Arrest nehmen – das heißt, noch nicht. Es sind kleine Freiheiten, aber sie sind wichtig. Gutterer sammelte die mühsam mit Maschine vollgetippten Blätter ein, klopfte sie hochkant auf die Tischplatte, bis sie einen sauberen Stapel bildeten, und schob mir diesen über den Schreibtisch hinweg zu, als handelte es sich um einen Stamm gefährlicher Bazillen. Sie hätten mich in der Tat beinahe umgebracht – ich bin lausig im Maschineschreiben.

«Ich habe Ihre Rede umgeschrieben und von meiner Sekretärin neu tippen lassen», erklärte er.

«Das ist ungeheuer freundlich von ihr», sagte ich und wandte mich in meinem Stuhl zu ihr um. «Das haben Sie wirklich für mich getan?»

Ich lächelte der Frau freundlich zu, die mich zu Gutterer geleitet hatte. Sie saß hinter einer schwarz glänzenden Continental Silenta, die so groß war wie ein Panzerturm, und tat ihr verärgertes Bestes, um mich zu ignorieren, doch die Spur von Farbe, die zum wiederholten Mal auf ihren Wangen erschien, verriet mir, dass sie im Begriff stand, den Kampf zu verlieren.

«Das hätten Sie doch nicht tun müssen.»

«Es ist ihre Arbeit», sagte Gutterer. «Und ich habe angeordnet, dass sie es tun soll.»

«Trotzdem. Ich danke Ihnen ganz herzlich, Fräulein …?»

«Ballack.»

«Fräulein Ballack. Richtig.»

«Wenn wir jetzt bitte weitermachen könnten?», warf Gutterer irritiert ein. «Hier haben Sie Ihr Original zurück, damit Sie die beiden Versionen vergleichen und sich ansehen können, wo ich das Original verbessert oder Ihren Text zensiert habe, Hauptmann. Es gibt mehrere Passagen, da haben Sie ein wenig zu sentimental über die alte Weimarer Republik geschrieben, um nicht zu sagen respektlos.» Er runzelte die Stirn. «Hat Charlie Chaplin tatsächlich das Polizeipräsidium am Alexanderplatz besucht?»

«Allerdings. Ja, das hat er. Im März 1931. Ich erinnere mich gut an seinen Besuch.»

«Aber warum?»

«Das müssen Sie ihn selbst fragen. Ich glaube, er hat Nachforschungen angestellt. Schließlich war die Mordkommission früher einmal berühmt. So berühmt wie Scotland Yard.»

«Wie dem auch sei, Sie dürfen ihn nicht erwähnen.»

«Darf ich fragen, warum nicht?» Ich wusste natürlich allzu gut, warum nicht: Chaplin hatte soeben einen Film in die Kinos gebracht mit dem Titel Der Große Diktator, in dem er einen Doppelgänger von Hitler spielte. Der Hitler in seinem Film hieß wie unser Reichskultusminister, Hinkel, dessen wildes Leben im Hotel Bogotá Gegenstand von reichlich Gerede war.

«Weil Sie ihn nicht erwähnen können, ohne Ihren alten Chef zu erwähnen, den früheren Vorsitzenden der Kripo. Den Juden Bernard Weis. Sie haben zusammen diniert, stimmt das nicht?»

«Ah, richtig. Ich fürchte, das war mir entfallen. Dass er ein Jude war, meine ich.»

Gutterer blickte für eine Sekunde gequält drein. «Wissen Sie, es verblüfft mich. Dieses Land hatte in vierzehn Jahren zwanzig verschiedene Regierungen. Die Menschen verloren den Respekt für jedes Mindestmaß an öffentlichem Anstand. Es gab eine gigantische Inflation, die unsere Währung vernichtete. Die Machtergreifung durch Kommunisten drohte. Und trotzdem scheinen Sie zu implizieren, dass die Lage damals besser war. Ich sage nicht, dass Sie das geschrieben haben, ich sage lediglich, dass Sie es zu implizieren scheinen.»

«Wie Sie selbst gesagt haben, Herr Staatssekretär, ich war sentimental. In den frühen Jahren der Weimarer Republik lebte meine Frau noch. Ich nehme an, das mag meine Nachlässigkeit erklären, wenngleich auch nicht entschuldigen.»

«Ja, das erklärt einiges. Wie dem auch sei, wir können nicht zulassen, dass Sie dergleichen gegenüber Personen wie Himmler oder Müller auch nur andeuten. Sie würden sich bald in gewaltigen Schwierigkeiten wiederfinden.»

«Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, dass Sie mich vor der Gestapo bewahren. Und ich bin sicher, Ihre Version ist eine wunderbare Verbesserung meiner Rede. Ich danke Ihnen vielmals.»

«Ja, das ist sie. Und für den Fall, dass Sie daran Zweifel hegen, lassen Sie sich gesagt sein, ich habe bereits auf einer großen Anzahl Parteiveranstaltungen gesprochen. Adolf Hitler persönlich hat mir gesagt, dass er mich nach Dr. Goebbels für den rhetorisch begabtesten Redner in Deutschland hält.»