Opfer ohne Blut - Lasse Blom - E-Book + Hörbuch

Opfer ohne Blut E-Book und Hörbuch

Lasse Blom

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Beschreibung

Kommissar Casper Munk ermittelt Der Schauspieler Greger Lind hat gerade den Vertrag seines Lebens unterschrieben: Er soll den charismatischen Ex-Regierungschef Olof Palme spielen, der vor mehr als 30 Jahren erschossen wurde. Zeitgleich wird in einem Stockholmer Grand Hotel eine Edelprostutierte tot aufgefunden. Die Todesumstände sowie das Motiv sind rätselhaft. Hat Greger Lind sie etwa mit seinem eigenen Körpergewicht erdrückt? Oder hat jemand falsche Spuren gelegt, um ihm den Mord in die Schuhe zu schieben und damit seine Karriere zu zerstören? Und was hat ein fast 100 Jahren zurückliegendes Verbrechen, bei dem ebenfalls eine Prostituierte erdrückt wurde und ein Stummfilmstar der 1920er-Jahre unter Verdacht geriet, damit zu tun? Kommissar Casper Munk und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Bald gibt es einen zweiten Toten. Und dann werden Teile einer dritten Leiche entdeckt - mit einer überraschenden DNA. Caspar Munk sucht den Mörder unter Staranwälten, Schauspielern – auch ein Pantomime gerät unter Verdacht - und Zuhältern. Er stößt dabei auf das geheime Doppelleben des ersten Opfers und findet ganz nebenbei, während er in diesem immer mysteriöser werdenden Fall ermittelt, sein privates Glück – in einer Hypochonder-Klinik in Norwegen … "Opfer ohne Blut" ist der erste Krimi um Kommissar Caspar Munk, seine beste Freundin Luna, Oma Andersson und ihre Enkelin, die Polizistin Leila, Hauptkommissar Halldor Selander und den Kriminaltechniker Jari Huskonen. Ebenfalls erschienen:  "Opfer ohne Gewissen" "Opfer ohne Wahl"

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Seitenzahl: 364

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Zeit:8 Std. 46 min

Sprecher:Helmfried von Lüttichau

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Ähnliche


Lasse Blom

OPFER OHNE BLUT

Ein Schweden-Krimi

Zum Inhalt

Die Edelprostituierte Jackie wird im Stockholmer Grand Hôtel tot aufgefunden. Die Todesumstände sind rätselhaft. Greger Lind, ein 130 Kilo schwerer ­Schauspieler, könnte sie erdrückt haben. Aber hat vielleicht jemand ­falsche Spuren gelegt, um ihm den Mord in die Schuhe zu schieben und auf diese Weise seine Karriere zu ­zerstören? Und was hat Fatty Arbuckle, ein Stummfilm-Star der 1920er-Jahre, mit Jackies Tod zu tun?

Kommissar Casper Munk nimmt die Ermittlungen auf. Bald gibt es einen zweiten Toten. Und einen dritten, beide grässlich zugerichtet. Munk sucht den Mörder unter Staranwälten, Pantomimen und Zuhältern. Und während er in diesem immer mysteriöser werdenden Fall ermittelt, findet er sein privates Glück – in einer Hypochonder-Klinik in Norwegen …

Der Autor

Lasse Blom ist das Pseudonym von Gerhard Fischer, ­Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Fischer lebte einige Jahre in Stockholm.

Er schrieb über schwedische Elchjäger, besuchte die Elfen-Beauftragte Islands und schaute zu, wie die ­Fußballer Grönlands den Ball ins eiskalte Meer schossen. Als er ­wieder nach München zurückkehrte, blieb ein Teil von ihm in Skandinavien; ein Teil seiner Fantasie. Mit dieser Fantasie schreibt er nun Schweden-Krimis.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen ­Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2019 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2019

 

Lektorat: Bernadette Lindebacher

Korrektorat: Angelika Wiedmaier/DRSVS

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-03-4

Widmung

Für Anissa

Inhaltsverzeichnis

Der Autor

Impressum

Widmung

1

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5

6

7

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Seit September im Handel

1

Sie beobachtete den Zwerghasen schon seit Tagen. Der Hase trieb sich im Flur herum, seit die Mutter den Spiegel dort angebracht hatte. Der Spiegel reichte nicht ganz bis zum Boden, und wenn der Hase sich davorhockte, konnte er nur seine Ohren sehen. Sie wusste das genau. Sie hatte sich einmal neben den Hasen auf den Boden gelegt, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war.

Er war schwarz, aber er hatte einen weißen Bauch. Auch seine schwarzen Löffel hatten weiße Flecken. Sie mochte ihn. Er war sehr anschmiegsam. Aber zurzeit inte­ressierte sich der Hase nicht für sie.

Es war Samstagvormittag. Der Vater war überraschend ins Büro gefahren; er hatte einen Zettel hingelegt. Die Mutter war auch nicht zu Hause. Sie wusste nicht, wo die Mutter war. Vielleicht war sie einkaufen. Sie selbst hatte bis elf Uhr geschlafen, aber jetzt war sie in den Flur hinaus­gegangen und wollte in der Küche Milch holen, als der Zwerghase vor ihren Füßen in Richtung Haustür hoppelte. Dort angekommen, stellte er sich auf die Hinterpfoten, als müsse er einen Angreifer einschüchtern. Schließlich senkte er seine Vorderpfoten und seinen Kopf, sodass die Ohren den Boden berührten.

Dann lief er los.

Er raste den Flur entlang, als wären tausend Höllenhunde hinter ihm her. An der Ecke, an der sie stand, bog er nach links ab und lief schnurstracks auf den Spiegel zu, der am Ende des rechtwinklig angelegten Flurs angebracht war. 20 oder 30 Zentimeter vor dem Glas sprang der Hase ab, er flog mit flatternden Ohren – und knallte gegen den Spiegel. Er rutschte zu Boden, schüttelte sich und hoppelte davon, als wäre es ihm peinlich, was er gerade getan hatte. Sein Hals wirkte verrenkt. Er schüttelte sich noch einmal, als könnte er seinen Hals dadurch wieder einrenken. ­Der Hase hatte also zu dem anderen Hasen hinüberspringen wollen, dachte sie. Oder zur Häsin.

Am Nachmittag fand sie Sperma an ihren Kuschel­hasen, die sie auf dem Sofa in ihrem Schlafzimmer drapiert hatte.

Molly hatte verstanden. Man musste die Rammler stoppen. Alle.

Kommissar Casper Munk fuhr in einer der besseren der ihm zur Verfügung stehenden Stimmungen die Stadtautobahn Essingeleden entlang. Er hatte die ganze Nacht und den halben Tag bei Lovisa verbracht, und er hätte traurig sein können. Sie hatte nämlich am Morgen gesagt, dass sie keine Beziehung mit ihm haben wolle; sie fühle sich ­derzeit mehr zu Frauen hingezogen. Munk hatte gefragt, wie das möglich sei: Fünf Wochen mit ihm, einem Mann, zu ­schlafen und sich dann »mehr zu Frauen hingezogen zu fühlen«? Lovisa hatte geantwortet, es sei schwer für einen Heterosexuellen, eine Bisexuelle zu verstehen. Sie hatten dann fünf oder sechs Stunden geredet, Munk konnte ihr folgen, aber richtig verstehen konnte er sie nicht. Er war eben ­heterosexuell. Nur eins hatte er kapiert: Er hatte im Moment keine Chance bei Lovisa Karlsson. Munk fand das schade. Aber er war nicht unglücklich. Er war in einer Phase, in der ihn die Ablehnung einer Frau nicht ­unglücklich machen konnte.

Munk schaltete das Radio an, es lief »Every rose has its thorn« von Poison. Die Musik beflügelte ihn, er ­drückte aufs Gaspedal und fuhr mit hoher ­Geschwindigkeit den ­Essingeleden entlang. Er dachte an die beiden Streifen­polizisten Kvant und Kristiansson aus den ­Krimis von Maj Sjöwall und Per Wahlöö. Kvant und Kristiansson wurden als ­Trottel dargestellt, als schlichte, faule ­Erfüllungsgehilfen ­eines maroden Staates. Munk musste immer herzlich über die Buchpassagen lachen, in denen sie ­auftauchten. Er ­würde jetzt gerne in eine Radarfalle fahren und von Kvant und Kristiansson von der Straße gewunken ­werden. Und dann würde er den beiden sagen, er sei gar nicht 100 Stunden­kilometer gefahren, sondern zweimal 50, also ­korrekt. Kvant und Kristiansson konnte man damit ­verwirren. ­Vermutlich würden sie bei ihrer Einsatzstelle anrufen und den ­komplizierten Fall schildern. Munk ­lachte laut. Er hatte Lovisa fast vergessen. Und er wunderte sich darüber. Früher war er anders gewesen. Aber seit der schmerzhaften Trennung von seiner Frau Nila hatte sich eine Schicht über seine Seele gelegt. Es war eine Schutzschicht, aber sie schonte nicht nur seine Seele, indem sie Schmerz ­abwehrte; sie hielt auch die guten Gefühle fern. Munk war kälter ­geworden. Das sei normal, hatte seine beste Freundin Luna gesagt, und das gehe vorbei.

Manchmal hatte er Zweifel daran.

Munk nahm den Fuß vom Gaspedal, weil er in eine lang gezogene Rechtskurve fuhr. Auf dem Fahrstreifen, der auf den Essingeleden führte, stand ein Auto, das genügend Platz und Zeit gehabt hätte, auf die Stadtautobahn einzufahren. Aber das Auto stand nur da, der Fahrer zögerte. Nein, es war eine Fahrerin. Munk erkannte eine Frau mit langen Haaren. Warum fuhr sie nicht auf den Essingeleden, dachte er noch einmal, sie hat immer noch Zeit, bevor ich komme? Aber der Wagen rührte sich nicht von der Stelle.

Verdammt, dachte Munk. Ich hab’s eilig. Ich muss ins Präsidium. Er hatte zwar Urlaub, aber sein Chef, Haupt­kommissar Halldor Selander, wollte mit ihm über die ­Nachfolge von Greta Gustafsson reden. Greta war vier ­Jahre lang seine Kollegin gewesen, aber dann war eine ­Katastrophe passiert: Bei einem Einsatz war sie getötet worden – ein Sondereinsatzkommando der Polizei ­hatte sie versehentlich mit zwei Kriminellen in die Luft gejagt. ­Selander wollte Munk an diesem Nachmittag darüber ­informieren, wer Gretas Nachfolger werden sollte. Um 14 Uhr erwartete er Munk in seinem Büro. Casper Munk blickte aufs Armaturenbrett – es war 13.46 Uhr, er war spät dran.

Die Frau und ihr Auto standen immer noch auf dem Beschleunigungsstreifen. Munk passierte sie, er sah, dass sie starr nach vorne blickte und keine Anstalten machte, ­ihren Wagen in Bewegung zu setzen. Er blickte in den Rück­spiegel und stellte fest, dass ihm kein Auto folgte. Er bremste abrupt ab und scherte vor dem Wagen der Frau auf den Beschleunigungsstreifen ein. Munk sprang aus ­seinem Auto, rannte die wenigen Meter zurück und ­klopfte ans Seiten­fenster der Fahrerseite. Die Frau rührte sich nicht, sie blickte mit ausdruckslosen Augen in die Ferne. Sie war jung und stark geschminkt, aber die Schminke war verschmiert und die Farbe die Wangen hinabgelaufen. Die Frau hatte geweint. Im Augenblick saß sie jedoch nur still da und rührte sich nicht. Munk öffnete die Fahrertür und sprach sie an.

»Hallo«, sagte er. »Hallo, was ist mit Ihnen? Hören Sie mich?«

Die Frau reagierte nicht. Stand sie unter Drogen? Munk berührte ihre linke Schulter, sehr vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Die Frau schloss kurz die Augen, öffnete sie aber ruckartig wieder – als wollte sie das nicht sehen, was sich vor ihrem geistigen Auge abspielte.

»Hallo«, sagte Munk noch einmal. Wieder reagierte sie nicht. Er betrachtete sie von der Seite. Die Frau hatte lange blonde Haare, volle, stark geschminkte Lippen, eine helle Haut – und sie war sehr leicht bekleidet, obwohl es ein kalter Septembertag war. Sie trug ein braunes, dünnes Trägerkleid. Munks Blick wanderte nach unten: Er konnte aufgrund des tiefen Ausschnitts viel von ihren Brüsten und durch das kurze Kleid auch viel von ihren Beinen sehen. Ihre Füße steckten in leichten Sandaletten, die Nägel waren grell angemalt. Irgendein Hellgrün.

Munk holte sein Handy aus der Jackentasche.

»Schickt einen Streifenwagen!«, sprach er in sein Mobil­telefon. Er hoffte, die Polizisten, die kommen ­würden, ­wären nicht Kvant und Kristiansson.

Als er auf den Streifenwagen wartete, versuchte er noch ein paar Mal Kontakt zu der jungen Frau aufzunehmen. Er sprach sie an, stellte ihr behutsam Fragen und strich ihr sogar sanft über den Hinterkopf. Sie reagierte nicht. Als die beiden Streifenpolizisten kamen, bat er sie, die Frau ins Polizeipräsidium zu bringen. Er würde dann nachkommen. Die beiden Beamten hoben die Frau aus dem Wagen und schafften sie in ihr Polizeiauto. Die Frau ließ es geschehen. Munk rief den Abschleppdienst an, der ihren Wagen holen sollte. Dann fuhr er ins Präsidium.

Am Empfang standen die Sekretärin Emma Svensson und Munks Kollege Per Henrik Grip, den alle nur Grip nannten.

»Hej Casper«, sagte Grip, »Lust auf einen Witz?«

Grip hatte zwei Leidenschaften: Witze-Erzählen und unglückliche Frauengeschichten. Die Frauengeschichten kosteten ihn Nerven und Geld (er machte den Damen oft teure Geschenke), die Witze hatten ihn bei den Kollegen beliebt gemacht. Aber einmal hätte es ihn fast den Job ­gekostet. Grip liebte sexistische Witze, und als er einmal mit dem Polizei-Hubschrauber zu den Schäreninseln flog und seinem Kollegen kurz vor der Landung einen ­ebensolchen Witz erzählte, hörten ihn die Bewohner auf der Insel – und Halldor Selander, der bereits vor Ort war; der Funk war nämlich auf laut gestellt und übertönte sogar die Propellergeräusche. Grip kam mit einer Ermahnung davon.

»Jetzt nicht, Grip«, antwortete Munk und guckte auf die Uhr an der Wand. »Ich muss zu Halldor und ich bin ohnehin zu spät dran.«

»Entspann dich, Casper, der Alte kann noch eine ­Minute länger warten. Mein Witz ist kurz. Sehr kurz.«

Munk blickte Grip an. Er mochte ihn und seine ­Gelassenheit. Grip konnte sich in einen Fall verbeißen, er konnte Tag und Nacht bis zur Erschöpfung arbeiten, wenn sie einen Mörder suchten. Aber er wusste auch, wann man den Fuß vom Gas nehmen konnte.

»Also los, erzähl«, sagte Munk und lächelte, »aber wirklich nur kurz.«

»Es ist nur ein Satz«, sagte Grip. »Ein 97-Jähriger sagt beim wilden Sex zu seiner Frau: Ich weiß nicht, ob ich jetzt komme oder gehe.«

Emma Svensson, die gerne Herrenwitze hörte, lachte. Munk schüttelte lächelnd den Kopf. Dann verschwand er in dem Flur, der zu Halldor Selanders Büro führte.

»Hej Halldor«, sagte er, als er es betrat.

»Hej Casper, setz dich«, antwortete der Haupt­kommissar. Selander sah auf seine Armbanduhr – es war 25 Minuten nach 14 Uhr –, aber er sagte nichts zu Munks Verspätung. Er deutete auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch, der so sauber und geordnet war, dass Munk jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er ihn sah. Munks Schreibtisch war nicht geordnet. Den pubertären Spruch »Ein Genie überblickt das Chaos« hatte er sich aber mittlerweile abgewöhnt.

»Wie du weißt, geht es um Gretas Nachfolge«, ­begann Selander.

Ich weiß, dachte Munk, der sich auch ­abgewöhnen ­wollte, sich über Selanders einfallslose Gesprächser­öffnungen zu ärgern. Selander war halt so.

»Ich habe einen Kandidaten ausgewählt«, fuhr der Hauptkommissar fort. »Es kann sein, dass er dir nicht ­gefallen wird, aber ich glaube, er wird unserem Team ­guttun.«

Munk setzte sich aufrecht hin. Er war neugierig ­geworden.

»Er wird mir nicht gefallen?«, fragte er. »Ist er 1,40 Meter klein, dünn wie ein Streichholz und hat rosa Segel­ohren? Ich könnte mich damit anfreunden.«

Selander verdrehte die Augen.

»Machen wir es kurz«, sagte er. »Es ist – Achatz ­Larsson.«

Munk sprang auf.

»Achatz Larsson!«

Es gab keinen Polizisten in Stockholm, der mehr ­polarisierte als Achatz Larsson. Munk mochte ihn nicht, er hielt ihn für einen rücksichtslosen Misanthropen – für ­einen Typen, der Täter »zur Strecke bringen wollte«. ­Larsson war vor drei Jahren vom Dienst suspendiert worden, weil er zu viel trank. Munk fand das gut. Nicht, dass Larsson trank; sondern dass er suspendiert worden war. Munk war kein Moralist. Ihn störte Larssons Charakter, nicht dessen ­Alkoholsucht.

»Er hat eine Entziehungskur gemacht, sein Leben in Ordnung gebracht und ist bei der Polizei wieder in Gnade aufgenommen worden«, sagte Selander.

»Aber warum ausgerechnet bei uns? Der passt doch gar nicht rein. Guck doch mal hin: Leila, Grip, Jari, du und ich – wir sind alle zivilisierte Menschen.

Larsson ist ein ­Prolet.«

»Er ist ein guter Ermittler.«

Achatz Larsson hatte weit vor Munks Zeit auch in der Mordkommission gearbeitet. Er hatte tatsächlich viele Fälle gelöst, mit seinen Mitteln.

»Er hat Verdächtige brutal zusammengeschlagen und mit Kriminellen paktiert«, antwortete Munk.

»Du warst nicht dabei, du weißt das nur vom Hörensagen.«

Selander hatte recht. Munk hatte das nur gehört. Er ­hatte Larsson ein paar Mal gesehen und einige Worte mit ihm gewechselt. Larsson war ihm unsympathisch ­gewesen, weil er maulfaul war und arrogant. Und weil er keine ­Manieren hatte. Larssons Arbeitsmethoden aber kannte er wirklich nur vom Hörensagen.

»Casper«, sagte Selander nun bittend, »gib ihm eine Chance. Er hat sich verändert …«

»… ach, trägt er nun Rollkragenpullover und philosophiert über Kierkegaard? Ich glaube, da ist es wahrscheinlicher, dass ich als Olive wiedergeboren werde.«

»Ernsthaft«, sagte Selander. »Er hat sich verändert, er hat eine Chance verdient und es tut unserem Team vielleicht ganz gut, wenn Reizpunkte gesetzt werden.«

»Aber …«

Als Munk antworten wollte, klopfte es energisch an der Tür.

»Bitte«, sagte Selander.

Rea Tjark stand in der Tür, die Psychologin des Polizeipräsidiums. Sie wirkte aufgeregt.

»Die Frau hat einen Mord beobachtet«, sagte sie und blickte erst zu Munk und dann zu Selander.

»Welche Frau?«, fragte Selander.

»Die Frau, die Casper auf dem Essingeleden ­aufge­gabelt hat.«

Selander sah Munk an. Der sprang auf und rief ­Selander zu: »Komm mit, ich erklär’s dir auf dem Flur.«

Tjark, Selander und Munk liefen den Flur entlang. Die beiden Streifenpolizisten hatten die Frau bei der ­Psychologin abgeliefert. Munk erzählte Selander, wie er sie gefunden hatte, und Tjark, die etwas außer Atem war, keuchte etwas von »die Frau hat einen Schock« und »Mord im Prostituierten-Milieu«.

Die Frau saß auf einem Stuhl mitten im Raum. Sie sah immer noch so aus wie auf dem Essingeleden: blass, stark geschminkt, schmal mit großen Brüsten und leicht ­bekleidet. Aber diesmal starrte sie nicht in die Ferne – sie blickte Munk direkt in die Augen, als er mit Halldor ­Selander und Rea Tjark das Zimmer betrat. Munk sah, dass ihre Augen rot waren – vermutlich hatte sie wieder geweint.

»Er hat sie erdrückt«, sagte sie zu den Polizisten.

»Erdrückt?«, erwiderte Munk.

»Ja, er wiegt doch 130 Kilo.«

»Wer wiegt 130 Kilo und wen hat er erdrückt?«, fragte Selander, der das Gespräch nun an sich riss.

»Greger Lind! Er hat Jackie erdrückt!«

»Greger Lind? Der Schauspieler?«

»Ja.«

»Und wer ist Jackie?«, fragte Selander.

»Eine Freundin von mir … eine Kollegin. Sie war die Edelste von uns.«

Selander betrachtete die Frau. Dann sagte er: »Darf ich fragen, was Sie arbeiten?«

Die Frau richtete sich auf und sagte: »Ich bin eine ­Animierdame.«

»Und Jackie?«

»Sie ist tot!«, rief die Frau.

»Können Sie uns bitte sagen, wo sich diese Jackie jetzt befindet, Frau …«

»Rose.«

Munk musste grinsen. Jackie und Rose. Das klang nach: Jacke wie Hose.

»Und Ihr Nachname, Fräulein Rose?«, fragte Selander.

»Blad«, erwiderte Rose.

»Und wo ist sie nun?«

»Wer?«

»Jackie.«

»Sie liegt im Grand Hôtel.«

Tjark, Munk und Selander sahen sich an. Das Grand Hôtel war die beste Adresse in Stockholm, die Nacht ­kostete nicht unter 5000 Kronen. Die Animierdame, die vor ihnen saß, sah dafür etwas zu billig aus.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Rose Blad. »Greger Lind hat alles bezahlt.«

Selander blickte Munk an, dann sagte er: »Wir fahren sofort dorthin. Sag Leila, Jari und Grip Bescheid.«

Dann blickte er auf Rose Blad und fragte: »Können Sie mitkommen?«

Rose nickte.

Die vier Ermittler Halldor Selander, Leila Andersson, Per Henrik Grip und Casper Munk, der Kriminaltechniker Jari Huskonen und die Animierdame Rose Blad fuhren mit Blaulicht von Kungsholmen, wo sich das Polizeipräsidium befand, hinunter zum Grand Hôtel, das gewöhnlich Staatsoberhäupter, Fürsten, bekannte Schauspieler oder Popstars beherbergte – und immer im Dezember die Nobelpreis­träger. Schwedische Politiker waren hier auch ­anzutreffen, aber meistens übernachteten sie nicht, sondern luden nur Journalisten zum Hintergrundgespräch oder zum ­Interview in die Lobby des Hotels. Edel und ein bisschen protzig sollte es sein, da waren schwedische Politiker nicht ­besser als andere. Das noble Hotel aus dem Jahr 1874 lag am Södra Blasieholmshamnen direkt am Wasser. Wer in einem der 334 Zimmer und 42 Suiten residierte, hatte eine ­fulminante Aussicht über die Altstadt Gamla Stan und über das Königsschloss mitten in der Stadt. Besonders ­spektakulär war die Prinzessin-Lilian-Suite, die ein eigenes Kino hatte, einen Wasserfall und einen Dachgarten.

Und in dieser Suite lag die tote Jackie.

Die Frau, sie mochte Ende 30 sein, sah ­fürchterlich aus. Jackie hatte überall blaue Flecken, ihr Gesicht war ­aufgequollen, die Schminke war noch schlimmer ­verschmiert als bei Rose Blad, und die Haare waren teils auf dem Kopf, teils auf dem Boden. Hatte ihr jemand ­Haare ausgerissen? Jackie trug ein langes Abendkleid, sie war ­tatsächlich viel besser angezogen als Rose, aber das Kleid war auf der ­linken Seite komplett aufgerissen. Die ­Polizisten sahen ­einen gut trainierten Körper, der viel Sonnen­licht oder die ­Strahlen eines Solariums ­abbekommen hatte. ­Jackie war sexy, ­zweifellos, aber jetzt befand sie sich in einem ­erbärmlichen Zustand. Jari Huskonen ­stellte ­seine Tasche ab und begann, die Tote zu ­untersuchen. Der ­Finnland-­Schwede ­Huskonen war seit bald 40 Jahren Kriminal­techniker, er hatte viel ­gesehen und die Kollegen kannten ihn als ­besonnenen Mann, der ruhig und klar ­analysierte, niemals übertrieb oder gar hysterisch wurde.

Diesmal war es anders.

Er hatte sich gerade über den Körper gebeugt und die Reste des Abendkleides zur Seite geschoben, da sprang er auf und brüllte wie eine arme Seele, die von hundert ­Teufeln gequält wird. Munk würde diesen Schrei nie mehr vergessen. Auch weil er so unvermittelt kam.

»Um Gottes willen, was ist denn, Jari?«, fragte ­Selander den Kriminaltechniker, der schwer schnaufend auf dem teuren Teppich saß, mit weit aufgerissenen Augen. Sie ­mussten die Antwort nicht abwarten – der wegspringende Huskonen hatte die Sicht freigemacht auf den Unterleib der Frau. In diesem Unterleib steckte: ein Spazierstock. Er war offenbar weit in den Körper der Frau eingedrungen – sichtbar war nur noch ein halber Meter. Und so ein Spazier­stock war gut und gerne einen Meter lang. Die Polizisten sahen sich an. Alle waren merklich blasser geworden. Leila blickte aus dem Fenster in die Ferne, sie hatte Tränen in den Augen. Munk zwang sich, die Tote wieder anzusehen. Steckte wirklich ein halber Meter von diesem Stock im Körper dieser Frau?

»Wo ist Greger Lind?«, fragte Munk in die ­Stille ­hinein und blickte auf Rose Blad, die neben der Tür ­stehen ­geblieben war – in sicherem Abstand zur Toten. Sie ­konnte den Anblick nicht noch einmal ertragen. Als ­Huskonen brüllend aufgesprungen war, hatte Rose laut aufgeschluchzt. Jetzt weinte sie wieder leise vor sich hin.

»Rose«, sagte Munk, der sich nun direkt an die Frau wandte. »Wissen Sie, wo Greger Lind ist?«

Rose deutete auf eine Tür, die vom Schlafzimmer in einen anderen Raum führte.

»Heute Morgen lag er da noch drin. Stockbesoffen.«

»Er ist hier?«, rief Grip und stürmte durch die Tür in den Nebenraum. Selander, Munk und Leila Andersson folgten ihm.

Auf einem Perserteppich in der Mitte des großen ­Raumes lag ein sehr dicker Mann auf dem Rücken und schlief. Seine Wangen schimmerten rosig, das blonde Haar war nach hinten gekämmt. Der Mann trug ein ­weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, und eine schwarze Anzughose, die von breiten, braunen Hosen­trägern am Körper gehalten wurde. Greger Lind hatte ­Beine und Arme von sich gestreckt und lag da, als hätte ihn jemand erlegt. Natürlich dachte Munk an Gregor Samsa, Franz Kafkas ­Figur, die als Mann ins Bett geht und als Käfer, der auf dem Rücken liegt, wieder erwacht. Gregor und Greger.

Munk ging zu dem Mann und fühlte den Puls. Lind lebte, kein Zweifel, aber war er verletzt oder nur stock­besoffen, wie Rose Blad gesagt hatte? Mit anderen ­Worten: War er bewusstlos oder schlief er bloß seinen Rausch aus? Aber warum schnarchte er nicht? Die meisten dicken ­Menschen schnarchen doch, wenn sie ihren Rausch ausschlafen? Munk suchte nach einer Verletzung am Körper des Mannes, aber er fand nichts.

Munk rüttelte an ihm, doch der Mann grunzte bloß. Dann ging der Kommissar ins Bad und kam mit zwei Zahnputzbechern voller Wasser zurück. Er kippte sie Lind ­mitten ins Gesicht. Der Mann prustete. Grip musste ­lachen. Ungerührt begann Lind tatsächlich zu schnarchen.

»Schluss jetzt«, sagte Selander und holte sein Handy hervor. »Ich rufe einen Krankenwagen. Die Sanitäter sollen ihn wiederherstellen.«

Leila, Grip und Munk standen neben Lind und betrachteten den massigen Körper des Schauspielers.

»Kann er Jackie erdrückt haben?«, fragte Grip.

»Zweifellos«, antwortete Jari Huskonen, »aber ich ­denke nicht, dass es reichen würde, wenn er sich bloß auf sie gelegt hätte. Er müsste sich auf sie geworfen haben, mehrmals oder aus großer Höhe.«

Grip blickte an die Decke.

»Wie soll er denn in eine große Höhe gekommen sein?«, fragte er. »Er sieht nicht aus wie Spiderman, der an den Wänden und Decken entlangturnt.«

»Vielleicht hat er einen Propeller auf dem Rücken wie Karlsson vom Dach«, warf Leila ein. »Wir haben ihn ja bisher nur von vorne gesehen.«

Munk lachte. Ja, Leila, die oft so spröde wirkte, hatte doch Humor. Und es störte ihn auch nicht, dass sie ­Witze machte, während eine schlimm zugerichtete Leiche im ­Nebenzimmer lag. Der Humor fing vieles von dem auf, was man als Polizist ertragen musste.

»Kann es sein, dass der Spazierstock sie getötet hat?«, fragte Leila ernst.

»Kann sein«, sagte Huskonen, und man merkte, wie schmerzhaft die Vorstellung für ihn war. »Es könnte innere Blutungen gegeben haben.«

Alle schwiegen.

»Ich fahre mit Rose zurück ins Präsidium, um sie ­weiter zu verhören. Und dann nehme ich mir Lind vor«, sagte Munk schließlich zu Halldor Selander. »Kommst du mit oder kümmerst du dich um die Zeugenbefragung im Hotel?«

»Ich komme gleich nach«, sagte Selander. »Ich ­warte hier noch auf die Spurensicherung und auf die ersten ­Ergebnisse von Jari. Und ich rede mit dem Hoteldirektor. Grip bleibt auch hier und spricht mit dem Personal. Sollte Lind vernehmungsfähig sein, sagt mir sofort Bescheid.«

Leila, Rose und Munk verließen das Grand Hôtel und fuhren zurück ins Polizeipräsidium nach ­Kungsholmen. Munk versuchte, bereits im Auto noch einige ­Informationen von Rose zu bekommen, aber die Frau ­sagte, sie müsse sich erst sammeln, nachdem sie die Leiche noch einmal ­gesehen habe. Alles, was sie wisse, würde sie den Ermittlern auf dem Präsidium sagen. Dann schwieg sie. In Munks ­Jackentasche piepte das Handy. Eine SMS. Sie war von Luna, ­seiner ­besten Freundin.

»Lust auf ein Schachspiel und ein Bier heute Abend?«, schrieb sie. »Von meinem Kühlschrank aus gesendet. Luna.«

Munk grinste und antwortete: »Wir haben einen neuen Fall. Versuche, es trotzdem zu schaffen. Bis später. Casper.«

Als sie im Präsidium waren, bat Rose um einen Kaffee und um eine weitere Stunde Ruhe. Anschließend würde sie ­ausführlich Auskunft geben. So war es dann auch. Als Selander und Grip eingetroffen waren, versammelten sich alle im Konferenzzimmer der Mordkommission.

»Greger Lind hatte vor zwei Tagen im Grand Hôtel eingecheckt«, begann Rose Blad. »Er hatte etwas zu feiern. Fragen Sie mich nicht, was es genau war, aber er muss wohl einen tollen Vertrag für einen tollen Film unterschrieben haben. Er sei jetzt endgültig ein Star, sagte er immer wieder. Sie waren anfangs zu dritt im Grand Hôtel: Lind, Jackie und Espen Järv.«

»Wer ist Espen Järv?«, fragte Munk.

»Greger Linds Agent«, erwiderte Rose. »Jackie sagte mir, Greger wollte es so richtig krachen lassen, nachdem er diesen Super-Vertrag unterschrieben hatte. Sie bestellten sofort Champagner …«

»Einen Moment, Rose«, unterbrach Munk. »Warum ist Jackie mit dabei gewesen? Wer ist sie? Was macht sie? In welchem Verhältnis steht sie zu Greger Lind?«

»Jackie arbeitet als Animierdame, aber eigentlich würde sie gerne Schauspielerin sein, glaube ich. Jedenfalls nimmt sie immer wieder gerne Einladungen von Schauspielern an.«

Dann lachte Rose auf.

»Aber sie war nie vor der Kamera, man hat sie immer mehr in Umkleidezimmern, auf Partys und in Büros von Agenten gesehen. Zuletzt ist sie Espen Järvs persönliches Callgirl gewesen.«

»Und Lind hat Sie dazugeholt?«, fragte Munk.

»Ja«, sagte sie, »aber eigentlich stand er mehr auf­ ­­Jackie.«

»Und dann?«

»Wir haben gefeiert, getrunken, gelacht, Musik gehört, gevögelt.«

»Sie mit Greger, Jackie mit Espen?«

»Ja, am ersten Abend schon. Was später mit Jackie und Greger war, weiß ich nicht genau.«

»Und was wissen Sie?«, bohrte Munk weiter. Er leitete die Befragung. Selander saß daneben.

»Greger hat am zweiten Tag immer mehr Alkohol bestellt: Bier, Wein, Schnaps, Gin, Whiskey, verschiedene Cocktails – ich weiß nicht, was da alles angekarrt wurde. Die Party wurde immer ausgelassener. Und dann kamen die anderen.«

»Welche anderen?«

»Es hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass Greger Lind im Grand Hôtel groß feiert. Immer mehr Schauspieler kamen, die Greger kannten, und immer mehr Frauen.«

»Prostituierte?«

»Auch. Aber auch die Freundinnen oder Frauen der Schauspieler. Und Revue-Girls. Tänzerinnen. Ich habe ­irgendwann den Überblick verloren – außerdem war ich ziemlich voll.«

Rose machte eine Pause. Sie blickte starr gegen die Wand, als hätte sie den Faden verloren. Vielleicht half es ihr, sich zu konzentrieren.

»Und dann?«, fragte Munk.

»Manche blieben nur für kurze Zeit«, fuhr Rose fort, »für einen Tanz oder zwei oder für einen Drink oder zwei. Andere blieben den ganzen Tag und verloren bald alle Hemmungen. Greger selbst trug am Abend nur noch eine Pyjamahose.«

Munk dachte daran, dass Lind 130 Kilo wog. Wie sieht ein Mann, der 130 Kilo wiegt, in einer Pyjamahose aus? Überhaupt: 130 Kilo? Wer wiegt so viel? Ein Esel? Ein Mastschwein? Und noch etwas: Lind trug ein weißes Hemd und eine Anzughose, als sie ihn fanden. Rose sagte ­gerade, er hätte am Abend nur eine Pyjamahose angehabt. Ich muss das im Hinterkopf behalten, dachte Munk.

»Greger hat mit niemandem getanzt«, sagte Rose. »Er saß die meiste Zeit mit einem Drink in der Hand in der Nähe des CD-Spielers. Jackie und Espen hatten die Party am Nachmittag verlassen – ich weiß nicht, warum – und waren abends gegen halb elf zurückgekehrt. Ich habe um diese Zeit nicht mehr viel mitgekriegt, aber eines habe ich doch gesehen: Greger hatte nur noch Augen für Jackie.«

»Was hat Espen Järv dazu gesagt?«

»Ach, Espen, der hat doch viele Frauen. Dem war das egal. Außerdem hatte Jackie bis zu diesem Abend alle Annäherungsversuche von Greger abgewehrt. Ich glaube nicht, dass sich Espen Sorgen gemacht hat. Jackie hatte wohl schon getrunken, als sie zur Party zurückkehrte, sie wankte nämlich ein wenig, und sie machte sofort weiter ­damit. Sie trank Whiskey. Und irgendwann verschwand sie im Badezimmer.«

Rose schwieg wieder. Ihre Augen starrten ins Leere. Was sah sie vor ihrem geistigen Auge?

»Was geschah dann?«, fragte Munk.

»Wie gesagt, ich war ziemlich besoffen«, fuhr Rose fort. »Ich habe nur mitgekriegt, dass Greger irgendwann aufgestanden und zu seinem Schlafzimmer gegangen ist. Als er am Badezimmer vorbeikam, hat er durch die Tür ­gerufen, dass er sie, Jackie, schon seit fünf Jahren ­flachlegen wolle. Dann riss er die Badezimmertür auf …«

»War sie nicht verschlossen?«, fragte Selander.

»Wenn man so besoffen ist, wie Jackie es war, denkt man nicht daran, eine Tür abzuschließen«, entgegnete Rose Blad.

»Greger Lind riss also die Badezimmertür auf«, sagte Munk.

»Ja, sagte ich doch«, erwiderte Rose patzig. »Er schlug die Tür von innen zu. Greger und Jackie waren also alleine im Badezimmer.«

»Haben Sie gehört, was dort drinnen gesprochen ­wurde«, fragte Munk, »gab es eine Auseinandersetzung?«

»Es war still«, antwortete Rose.

»Still?«

»Ja, es war überall still – im Badezimmer und in dem Raum, in dem ich war. Die Leute waren erschöpft vom Trinken, vom Vögeln, von was weiß ich. Es schien, als stünde auch die Zeit still. Und alle, die noch ein wenig ­mitbekamen, das waren nicht viele, warteten darauf, dass die Badezimmertür wieder aufgehen würde.«

»Und?«

»Die Tür öffnete sich nach einiger Zeit …«

»Nach fünf Minuten? Nach zehn? Fünfzehn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ungefähr?«, fragte Munk.

»Eher fünfzehn als fünf.«

»Und dann?«

»Greger kam heraus, er trug Jackie auf seinen Armen. Sie schien zu schlafen. Greger sagte, Jackie habe zu viel getrunken und müsse sich ausruhen. Er trug sie in sein Schlafzimmer. Dann ging er zurück ins Badezimmer, zog eine andere Pyjamahose an und kam zu uns zurück.«

»Er zog eine andere Pyjamahose an?«

»Hören Sie, Herr …«

»Munk.«

»Herr Munk, ich weiß nicht, warum er eine andere ­Pyjamahose angezogen hat, das müssen Sie herausfinden. Ich hab es nur gesehen, und es ist mir aufgefallen, weil die erste blau gewesen ist und die zweite gelb. So etwas fällt auf.«

Grip lachte.

»Greger Lind scheint ein Patriot zu sein«, sagte er, »er besitzt Schlafanzughosen in den Landesfarben.«

»Wir kommen vom Thema ab«, sagte Selander streng. »Fahren Sie bitte fort, Frau Blad.«

»Einige Minuten später hörten wir Jackie stöhnen. ­Greger ging zurück ins Schlafzimmer. Das Stöhnen ­hörte nicht auf. Deshalb wollte ich selbst nachsehen. Aber die Tür war verschlossen. Greger muss sie abge­schlossen ­haben. Ich hörte Jackie hinter der Tür stöhnen. Erst ­klopfte ich, dann rief ich Gregers Namen. Aber es rührte sich nichts. Da schlug ich mit meinen High Heels gegen die Tür. ­Mehrmals. Schließlich öffnete Greger. Er hatte seine gelbe Pyjamahose an …«

»Das sagten Sie bereits«, sagte Grip und grinste.

Grip fing sich einen scharfen Blick von Selander ein, aber Rose Blad ließ sich ohnehin nicht beirren.

»Ich sah an Greger vorbei auf Jackie, die am Boden lag«, fuhr sie fort. »Ich glaube, sie war nur noch halb bei ­Bewusstsein, aber sie stammelte unentwegt: Er will mich umbringen! Greger ging an mir vorbei und setzte sich ­wieder zu den anderen Gästen. Er wirkte völlig geistes­abwesend. Ich ging zu Jackie, um nachzusehen, was ihr fehlte. Ich ­berührte ihre Stirn, denn es schien mir, als ­hätte sie Fieber. Die Stirn war ganz heiß. Ich holte aus dem ­Badezimmer ein nasses, kaltes Handtuch und wickelte es um ihren Kopf. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer. Ich brauchte ­Hilfe, um Jackie auf das Bett zu heben. Aber es war niemand mehr da. Greger hatte sie offenbar alle heimgeschickt. Als ich ins Wohnzimmer kam, sah er mich scharf an. Ich ­solle verschwinden, sagte er, auf der Stelle. Ich ­protestierte, ­flehte ihn an, einen Arzt zu rufen, aber er ging langsam auf mich zu und schlug mir dann blitzschnell mit der Faust ins ­Gesicht. Ich muss wohl ­bewusstlos ­gewesen sein, denn als ich wieder erwachte, saß ich hinter dem Steuer meines Autos.«

»Und dann sind Sie zum Essingeleden gefahren, wo ich Sie gefunden habe«, sagte Munk. »Wo wollten Sie hin?«

»Ich bin nicht zum Essingeleden gefahren«, erwiderte Rose und sah Munk mit ängstlichen Augen an. »Als ich wieder aufwachte, stand ich mit meinem Wagen auf ­dieser Beschleunigungsspur am Essingeleden. Ich war keinen ­Meter gefahren. Jemand hat mich dorthin gebracht. Und dann kamen Sie, Herr Munk.«

»Aber wer soll Sie dort abgestellt haben?«, ­entgegnete Munk. »Greger Lind? Den haben wir stockbesoffen im Grand Hôtel gefunden.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rose Blad.

»Was, glauben Sie, hat er mit Jackie gemacht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wissen Sie sonst noch was?«

»Nein, das ist alles.«

Rose Blad blickte wieder so starr in die Ferne wie auf dem Essingeleden. Es schien, als hätte sie nicht begriffen, was in den letzten Stunden passiert war. Ihr Empfinden war ihrem Erleben noch nicht gefolgt.

»Es ist ein Albtraum«, stöhnte sie.

»Wir bringen Sie nach Hause«, sagte Munk. »Ruhen Sie sich erst mal aus. Wir werden Sie sicher noch brauchen.«

»Okay«, fuhr Munk fort, als Rose Blad in ­Begleitung einer Polizistin das Büro verlassen hatte. »Wir haben eine schlimm zugerichtete Leiche im Grand Hôtel, einen stockbesoffenen Verdächtigen und eine Zeugin, die in ­ihrem Auto wieder aufwacht, nachdem sie offenbar einen ­Albtraum erlebt hat. Was haltet ihr von Rose Blad?«

»Glaubwürdig«, sagte Selander, und alle anderen ­wiederholten das Wort.

»Glaubwürdig«, sagte Leila Andersson.

»Glaubwürdig«, sagte Grip.

»Glaubwürdig«, sagte Jari Huskonen.

Es glich der Abstimmung im Gerichtssaal, wenn die Geschworenen nacheinander für »schuldig« oder ­»unschuldig« plädierten.

»Aber wer hat sie zum Essingeleden gefahren?«, fragte Munk. »War es ein Komplize? Oder war Lind noch halbwegs nüchtern und hat erst richtig getrunken, nachdem er Rose zum Essingeleden gebracht hatte? Und zuvor hat er nur so getan, als würde er saufen, um später sozusagen ein Alibi zu haben?«

Alle schwiegen. Was war am wahrscheinlichsten?

»Wie dem auch sei«, sagte Selander schließlich, »wir müssen jetzt warten, bis Greger Lind ­vernehmungsfähig ist.« Er fuhr fort: »Und wir müssen uns um die anderen Gäste kümmern, die bei dieser Orgie dabei waren. Achatz Larsson wird uns dabei helfen. Ich hole ihn jetzt. ­Casper, Jari und Grip kennen ihn bereits, Leila wird ihn jetzt ­kennenlernen.«

Selander verließ den Raum. Munk schaute ihm hinterher, sagte aber nichts.

»Schöner Mist, dass Larsson bei uns anfangen wird«, sagte Grip. »Ich bin kein Kind von Traurigkeit, aber gegen Larsson bin ich ein Waisenknabe. Was meinst du, Casper?«

Munk grinste.

»Du solltest Romane schreiben, Grip«, sagte er dann. »Du hast so originelle Vergleiche: Kind von Traurigkeit und Waisenknabe.«

»Idiot«, entgegnete Grip. »Wir sind hier bei der Mordkommission, nicht bei der Sprachpolizei.«

Grip war ernsthaft verstimmt. Per Henrik Grip und Casper Munk waren befreundet, sie lachten viel ­miteinander. Aber diesmal verstand Grip keinen Spaß.

Munk war überrascht von der heftigen Reaktion seines Kollegen. Ja, er machte sich oft lustig über die einfallslosen Formulierungen von Halldor Selander. Aber Grip hatte er wegen irgendwelchen Worthülsen noch nicht veralbert. Bis jetzt. Es war ihm herausgerutscht. Aber warum reagierte Grip gerade da so heftig? Fühlte er sich Munk unterlegen? Sollte er, Munk, tatsächlich etwas weniger arrogant sein? Er beschloss, sich zu entschuldigen.

»Sorry, Grip«, sagte er. »Ich wollte dich nicht ­verletzen.«

»Okay, Casper, vergessen wir es.«

Grip war manchmal aufbrausend, aber selten nach­tragend.

»Aber wie es ist nun mit Larsson?«, fragte er.

»Wir sollten ihm eine Chance geben«, sagte Jari ­Huskonen, bevor Munk antworten konnte. Der Kriminal­techniker war ein besonnener Mann. Munk ­kannte ­niemanden in seinem Umfeld, der ausgeglichener war als Huskonen. Und versöhnlicher. Und Huskonen ­vertraute wohl auf das Urteilsvermögen von Selander, der ­Larsson ins Team geholt hatte. Jari Huskonen und ­Halldor ­Selander kannten sich seit fast 40 Jahren. Sie ­waren in den 1970er-Jahren zusammen in der schwedischen ­Leichtathletik-­Nationalmannschaft gewesen – Huskonen als Dreispringer, Selander als 100-Meter-Sprinter – und ­waren dann beide fast zeitgleich zur Polizei gegangen.

»Ich kenne Larsson von früher«, fuhr der Kriminaltechniker fort. »Er war ein Kotzbrocken. Aber er hatte ­seine Tiefen und vielleicht hat er daraus gelernt.«

»Ich bin nicht begeistert, dass Achatz Larsson bei uns anfängt«, sagte Munk, »aber die Entscheidung ist nun mal so gefallen.«

Casper Munk hatte gerade seinen Satz vollendet, da betraten Halldor Selander und Achatz Larsson den Raum. Larsson überragte den mittelgroßen Hauptkommissar um einen Kopf. Er war breitschultrig, schlank und wirkte trotz seiner fast 60 Jahre und seiner Sucht, die ihn lange im Griff gehabt hatte, sehr sportlich. Nur im Gesicht hatten sich die Spuren eingegraben. Es hatte tiefe Furchen und die Haut war fahl. Larsson lächelte, als er den Raum betrat, und ­dieses Lächeln stand im Kontrast zu seiner imposanten Erscheinung: Es war zurückhaltend. Fast scheu.

»Hej«, sagte er.

»Hej«, antworteten Leila, Grip, Munk und Huskonen.

»Setz dich, Achatz«, sagte Selander. »Casper, Grip und Jari kennst du ja bereits, zumindest vom Sehen. Und das ist Leila, unsere Jüngste – und die Frau, die Casper beim letzten Einsatz das Leben gerettet hat.«

Leila Andersson hatte einen Mörder in dem Moment angeschossen, in dem dieser Munk töten wollte. Der Mann erlag später seinen Verletzungen.

Leila war Selanders Aussage unangenehm.

»Danke, Halldor«, sagte sie zunächst höflich, ­setzte dann jedoch bestimmt hinterher: »Ich kriege aber nicht ­gerne ein Lob dafür, dass ich auf einen Menschen ­geschossen habe.«

Selander überging die Bemerkung, er sagte ­stattdessen: »Ich bin sehr froh darüber, dass wir Achatz für uns ­gewinnen konnten. Er ist ein ausgezeichneter Ermittler – und was seine, sagen wir mal, umstrittene Vergangenheit angeht: Jeder hat eine zweite Chance verdient. Irgendwie sind wir bei der Polizei schließlich eine große Familie.«

Munk bemerkte, dass Larsson unruhig wurde. Er hatte bei den Worten von Selander an die Decke geblickt – nicht genervt, das wäre unpassend gewesen bei seiner ­Einführung, aber doch distanziert. Und als Selander das mit der großen Familie sagte, hatte Munk bei Larsson sogar einen leicht spöttischen Zug um die Mundwinkel gesehen. Ich verstehe ihn, dachte Munk. Die große Familie gab es nur im Kopf von Halldor Selander. Viele Polizisten hatten sich von Larsson abgewandt, als er Probleme bekam. Sie hatten ihn gemobbt – viele aus Rache, weil Larsson zuvor auch Kollegen gegenüber nicht zimperlich gewesen war. Aber die feine Art war es trotzdem nicht gewesen. Munk ertappte sich dabei, Partei für Larsson zu ergreifen. Und er war gespannt, wie sich dieser in seiner Einführungsrede geben würde.

»Bevor ich weiter über die große Familie Polizei rede, die es nach Ansicht von Casper ohnehin nicht gibt, soll Achatz jetzt selbst etwas sagen«, sagte Selander.

Munk grinste. Heute halten mir alle den Spiegel vor, dachte er: Erst Grip mit seiner Reaktion auf meine Sprachkritik, und jetzt Halldor. Ich sollte die Abteilung wechseln, hier werde ich langsam durchschaut.

Achatz Larsson stand auf, entweder aus Höflichkeit oder um seine Größe bewusst einzusetzen. Er fackelte nicht lange.

»Viele im Haus hassen mich«, sagte er, »und sie haben allen Grund dazu.« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ich freue mich, dass ich mit euch zusammenarbeiten darf. Ich werde alles dafür tun, dass ihr mich nicht hasst.«

Dann setzte er sich wieder.

»Okay, Leute«, sagte Selander. »Wir haben noch ­einen Fall zu bearbeiten. Im Grand Hôtel liegt eine Frauen­leiche und in ihrem Unterleib steckt ein Spazierstock. Der Hauptverdächtige, der Schauspieler Greger Lind, ist nicht vernehmungsfähig, weil er offenbar heillos betrunken ist. Die ­einzige Zeugin, die wir bisher haben, die Animier­dame Rose Blad, ist nach Hause gegangen. Sie hat uns den Namen eines Mannes hinterlassen, der bei den Orgien im Grand Hôtel mit dabei gewesen ist: Espen Järv. Alle ­anderen ­kannte sie nicht. Wir müssen Järv finden und wir müssen das Hotelpersonal noch einmal vernehmen, Grip hat nicht alle erwischt. Vielleicht kannte dort einer die ­Leute, die in Linds Suite ein- und ausgegangen sind. Macht euch an die Arbeit!«

»Du hast doch mit dem Hoteldirektor gesprochen, hat es etwas gebracht?«, wollte Munk noch wissen.

»Nicht viel«, erwiderte Selander. »Er sagte, dass sich ein paar Gäste über den Lärm in Greger Linds Suite ­beschwert hätten. Es fiel auch das Wort Prolet. Er habe die Gäste aber beruhigen können, sagte der Direktor, und er hätte eingegriffen, wenn es noch längere Zeit so laut gewesen wäre. Aber es sei ja plötzlich ganz ruhig geworden.«

»Totenstill, könnte man sagen«, sagte Grip.

»Witzig«, warf Munk ein.

Als Grip das Gesicht verzog, hob Munk entschul­digend die Hände.

»Sorry, Grip, sorry, sorry«, sagte er rasch. »Es ist mir rausgerutscht. Wirklich. Ich spendier dir ein Bier.«

»Zwei«, grinste Grip, »schließlich hast du mich heute zweimal verarscht.«

»Aber jetzt an die Arbeit, Leute«, sagte Selander, »sucht Espen Järv und fragt die Hotelangestellten.«

Karel Straka lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Zum dritten Mal in seinem Leben fühlte er sich ­hilflos. Beim ersten Mal war er 20, als dieser Otto Simanek … Straka schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander. Die Erinnerung schmerzte. Beim zweiten Mal war es noch schlimmer gewesen, viel schlimmer. Da ging es um ­Menschenleben und da ging es um sein Land, um die ČSSR. Wieder biss er die Zähne aufeinander. Diesmal noch heftiger.

Seine Gedanken wanderten ins Jahr 1968. ­Genosse Alexander Dubček stand unter Druck. Er hatte es gewagt, die Sowjetunion zu reizen, denn er hatte sein Land liberalisiert. Dubček wollte Reisefreiheit für die Tschechen und Slowaken; er wollte kleine Unternehmen privatisieren; er wollte mehr Parteien als nur eine; er wollte Meinungs­freiheit und die Abschaffung der Zensur – und er ­wollte die Stalinisten aus seiner Partei hinauswerfen. Dubček war kein Kapitalist, er war ein Kommunist, aber er war ein ­moderner Kommunist. Er wollte einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie es so schön hieß, genauso wie er, Karel Straka. Außerdem wollte Straka reisen, er wollte die Welt sehen, und er, der Eishockey-Nationalspieler, hatte auch ein Angebot aus der amerikanischen Profiliga. Aber dann kamen die Sowjets mit ihren Panzern.

Straka schloss die Augen und dachte an ­Grenoble. Olympia in Grenoble. Es war im Februar 1968. Es war noch vor dem Prager Frühling, es war noch vor dem ­Einmarsch der Sowjets. Aber es knisterte bereits zwischen Dubček und Breschnew, dem Präsidenten der ­Sowjetunion. Straka und seine Mitspieler hatten deshalb nur ein Ziel: Breschnews Eishockeyspieler bei Olympia zu besiegen. Die Sowjets hatten Millionen Eishockeyspieler, die ­Tschechen und ­Slowaken nur ein paar Tausend. Aber sie wollten sie schlagen. Für das Land. Für Dubček. Damit sie Breschnew zeigen konnten, dass sie stolz und stark waren. Und ­tatsächlich schlugen sie die Sowjets.

Straka sah die Bilder von Grenoble vor sich: das Spiel gegen die Sowjetunion, der Pfostenschuss von ­Golonka ­gegen die Schweden. Wäre der Puck drin gewesen, die ČSSR hätte sogar Olympiasieger werden können. So ­wurden es die Sowjets. Aber das war egal.

Das Schönste war die Heimreise. Straka lächelte. Sie waren mit dem Bus gefahren. Für eine Flugreise ­hatten sie kein Geld. Als sie auf dem Heimweg die Grenze ­passierten, warteten die Leute schon am Straßenrand. Sie standen dort bis nach Prag. Es war wie bei der Tour de France. Die ­Leute standen auf beiden Seiten der Straße, sie jubelten den ­Spielern zu, sie sangen, sie tanzten, sie gaben ihnen ­Sliwowitz zu trinken. Die Spieler waren die Könige, denn sie hatten die Sowjets geschlagen. Jawohl: geschlagen. Nicht bloß besiegt. Geschlagen! Es war ein 160 ­Kilometer langer Triumphzug von der Grenze bis nach Prag. So ­etwas hatten sie noch nie erlebt. Und das Beste war für ihn, ­Straka, dass die Leute politische Parolen riefen, dass sie den Freigeist Dubček hochleben ließen, dass sie die Sowjets ­kritisierten. Hatte er gerade kritisieren gedacht? Das war viel zu schwach: Zum Teufel wünschten sie Breschnew! Aber es blieb alles friedlich.

Straka ballte die Faust. Die Gewalt ging von den ­Sowjets aus. Immer. Da war er sich sicher. Selbst als die ­Fenster bei Aeroflot, der sowjetischen Fluglinie, einge­schlagen ­wurden, waren es nicht Tschechen oder ­Slowaken. Es ­waren Sowjets, und es sollte den Tschechen und ­Slowaken in die Schuhe ­geschoben werden. Es gab Verhaftungen und Verhöre. Auch er, Straka, wurde vernommen, weil die ­Sowjets ­wussten, dass die Eishockeyspieler auf Dubčeks Seite ­standen.

Dann dachte Karel Straka an den 21. August 1968. Er würde diesen Tag nie vergessen, solange er lebte. An ­diesem Tag besetzten die Truppen des Warschauer Pakts das ­ganze Land. Sie ahnten so etwas seit Monaten, auch schon in Grenoble. Aber sollten sie deshalb devot sein? Nein, sie waren stolz, sie liebten Dubček und sie liebten seine Politik. Alles andere war ihnen egal.