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In einem einzigen schmerzhaften Augenblick erkennt Julia, dass das Glück ihres Lebens nicht das ist, wofür sie es gehalten hat. Nichts wird jemals wieder so sein, wie es vorher war. „Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit, Märchen und Mystery – all das vermischt sich bei Monika Endres. Die Autorin nimmt den Leser ihres neuen Buches „Ophelia“ mit in eine detailreiche und äußerst bunte Welt, in der die Grenzen zwischen Genres, Realität und Vorstellung verschwinden.“ Hersbrucker Zeitung „Dieses Buch zieht den Leser in seinen Bann und lässt ihn in eine facettenreiche Phantasiewelt eintauchen.“ Nicole S.
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Lassen Sie sich beglücken.
sternenhimmel
dubringst mirden himmel in mein herzmit dirspringe ichvon stern zu sternunsere liebe ist unzählbarund unbegrenztwie die sterne am himmelszeltsterne können sterbenaber unsere liebewird niemals vergehn
Mit einer zarten Bewegung schob Julia ihren Handschuh zurück und sah auf die Uhr. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.
Ihre Absätze klapperten über das Pflaster wie das dumpfe Grollen eines Gewitters.
Sie verlangsamte ihr Tempo und öffnete das alte, verrostete Tor. Das Quietschen der Scharniere durchdrang die Stille wie ein verzweifelter Schrei.
Im Licht der aufgehenden Sonne funkelten die Tautropfen wie ein Teppich voller Edelsteine und erinnerten sie daran, wie gern ihre Mutter sich mit schönen Dingen umgeben hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Sie putzte sich die Nase, zupfte mit zittrigen Fingern das Laub vom Grab und stellte einen Strauß roter Nelken in die Vase.
Ihre Gedanken bebten wie die Äste im Wind.
Mama, warum hast Du mich verlassen?
Sie begann zu weinen.
Madame Ophelia drückte die Schranktür ins Schloss. Weshalb musste die Geschichte immer an den spannenden Stellen enden? Wie es wohl morgen weitergehen würde?
Sie rüttelte am Türknauf. Dann presste sie ihr Ohr an das alte Holz. Aber alles war ruhig. Madame Ophelia wickelte die Bettdecke fest um ihren Körper und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Ab und zu blieb sie stehen und sah sich um. Eine eigenartige Stimmung lag heute über der Landschaft!
Es war völlig ruhig.
War sie wirklich hier?
Julia trat auf Äste und wirbelte Laub auf, aber es war kein Geräusch zu hören. Nicht das geringste!
Da riss ein Windstoß ihre Arme auseinander, ihre Jacke blähte sich auf und sie erhob sich in die Luft. Sie gab sich diesem schwerelosen Zustand hin, spürte den Wind auf ihrem Gesicht und fühlte sich frei.
Wie auf Adlerschwingen wurde sie empor getragen. Mit ihren geschärften Augen erkannte Julia jede Einzelheit unter sich am Boden, das Mäuschen, das in sein Versteck huschte, die Rehe auf der Lichtung und die Bewegungen der Äste im Wind.
Nach wie vor war es still um sie herum und Julia wurde es leicht um ihr Herz. Sie hatte alles Bedrückende zurückgelassen. Die Gegenden ihrer Kindheit tauchten vor ihr auf und sie wusste, dass sie den Rest ihres Lebens dazu brauchen würde, die unendliche Weite der Vergangenheit zu durchqueren.
Während Julia auf die dunklen Reihen hoher Kiefern blickte, fühlte sie sich über alles erhaben, denn sie trug etwas in sich, das heller war als jede Dunkelheit.
Als die Sonne unterging und sich die Dämmerung über die Landschaft legte, war die Luft rein und kühl, bis schließlich alle Farbe vom Himmel gewichen war und die Nacht anbrach.
Gott Jahweh, ich bestaune den Himmel, das Werk deiner Hände, den Mond und die Sterne, die du geschaffen hast.
Die Bibel: Psalm 8, 4 (getreu hebräischer Originalschriften)
Julia flog immer höher und höher; niemals vorher fühlte sie sich so glücklich wie in diesen Stunden. Immer höher und höher, wenn das doch niemals wieder aufhören würde. Höher und höher, wie schön das war. Sie schwebte durch die Nacht und eine vollkommene Ruhe umgab sie.
Dann erkannte sie unter sich die Häuser ihrer Nachbarn. Die Dachrinnen schimmerten kupfern im Mondlicht.
In der nächsten Sekunde schmiegte sie sich an Charles Brust, der im Schlaf seinen Arm um sie gelegt hatte. Wie zärtlich seine Berührung war!
Lächelnd schlief sie wieder ein.
Julia ahnte nichts von den schrecklichen Ereignissen, die sich schon auf den Weg gemacht hatten.
Wie trist dieser Abend war! Julia stand am Fenster und starrte hinaus in den Garten. Gedankenverloren strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn und versuchte vergeblich das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Sie verschränkte die Finger ineinander und berührte das glatte Holz des Fensterrahmens.
Sie konnte nicht die Welt retten!
Und verantwortlich für das Leben anderer war sie erst recht nicht.
Was bildete sie sich nur ein!
Sie empfand Charles Blicke wie Stiche im Rücken und drehte sich um. Julia erschrak vor seinem eiskalten Blick.
Der ganze Raum war wieder mit dieser stummen Verachtung erfüllt. Julia schluckte schwer. Langsam aber sicher löschte dieses Gefühl jede andere Empfindung in ihr aus. Dabei müsste sie ihren Mann doch lieben! In guten wie in schlechten Tagen.
Sie setzte sich an den Kamin. Außer dem Knacken der Holzscheite und dem Knistern der Flammen war es still.
Charles schaute sie unverwandt an.
Er konnte warten!
Niemand wusste etwas von den furchtbaren Dingen, die geschehen würden.
Auch Charles nicht.
Die aufgeheizte Luft ballte sich unter der Zimmerdecke zusammen.
„Sieh sie nur an.“
„Als ob sie schon tot wären.“
Julia saß still da. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Wie behaglich diese Wärme war. Sie konnte sich ein wenig entspannen und seufzte leise. Wenn sich doch auch ihr Herz erwärmen ließe! Sie fühlte den kalten Hauch, der ihr daraus entgegen schlug. Dicke Eisschichten schienen die Vorhöfe ihres Herzens zu bedecken. Eine dunkle Vorahnung befiel Julia. Sie fröstelte.
Auch Charles blickte zum Kamin. Die Flammen züngelten wie grausige Fratzen auf ihn zu und fauchten ihn an.
Irritiert ließ er die Zeitung sinken und sah wieder seine Frau an.
Sein Blick schien eine Ewigkeit lang auf ihr zu liegen.
„Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, Lisa ins Bett zu bringen?“
Sein Tadel war für sie wie ein Schlag ins Gesicht. Mit einem fast unmerklichen Blick auf die Uhr stand sie auf.
„Ich wollte gerade nach ihr sehen.“
Julia wunderte sich über das sanfte Timbre ihrer Stimme und lächelte beim Hinausgehen ihrem Mann zu. Wie Julia es hasste, in seiner Gegenwart diese Maske zu tragen.
Sie waren jetzt neun Jahre miteinander verheiratet. Von Anfang an stand für sie fest, dass sie Kinder haben wollten, aber Julia wurde nicht schwanger. Sie hatte deswegen verschiedene Ärzte aufgesucht und viele belastende Untersuchungen über sich ergehen lassen. Später ließ sich auch Charles testen. Viel später! Erst als feststand, dass es nur noch an ihm liegen konnte.
Monat für Monat hieß es abwarten. Aber Julia nahm alle Mühen klaglos auf sich. Versprachen sie ihr doch die Erfüllung ihres Kinderwunsches. Es muss, es muss, es muss!
Doch alles schien vergeblich zu sein!
Weshalb geschah ihr das? Stimmungsschwankungen quälten sie.
Charles hingegen machte die Erniedrigung zu schaffen und der Gedanke, dass er vielleicht niemals Großvater werden würde.
Wenn sie an Spielplätzen vorbeigingen oder durch die Kinderabteilung im Kaufhaus, wurden sie von den gegenseitigen, unausgesprochenen Vorwürfen begleitet.
Charles wollte jedes Mal schnell weitergehen, während Julia stehen blieb und sich umsah.
Er fuhr sie dann immer an:
„Jetzt geh schon weiter! Du kannst eh keins kriegen.“
Weshalb nur war er so rücksichtslos?
Julia reagierte genervt:
„Du weißt genau, dass es nicht meine Schuld ist!“
Dabei dachte sie: Ich wünschte, ich hätte dich nie kennen gelernt.
Eines Tages saß sein Nachbar mit ihm beim Urologen. Schnell bekam der mit, weshalb Charles da war. Dies belastete ihn noch zusätzlich. Noch dazu war die Frau des Mannes als äußerst redselig bekannt, vor allem, wenn es um die Geheimnisse anderer ging, und sobald Charles irgendwohin kam und die Leute ihre Köpfe zusammensteckten, stand für ihn fest, dass über ihn geredet wurde.
Jeder Einkauf in dem kleinen Lebensmittelgeschäft in seiner Straße wurde für Charles von da an zu einem Spießrutenlauf.
Er konnte sich nicht mehr als Mann fühlen. Seine Ängste machten sich selbständig.
Julia hielt ihn bestimmt für einen Versager. Manchmal sah sie ihn mit einem Ausdruck auf dem Gesicht an, den er nicht deuten konnte.
Charles wurde wütend.
Vielleicht wünschte sie sich jemand anderes an ihrer Seite.
Vielleicht betrog sie ihn!
Obwohl Charles mehr und mehr von einem vernichtenden Zorn erfüllt wurde, lächelte auch er Julia an.
Hoffentlich hörte das bald auf! Er würde noch verrückt werden.
Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Jeden Tag und jede Nacht!
Seine Frau aber war der Meinung, keine vollwertige Partnerin für ihren Mann zu sein. Warum war es ihr versagt, Mutter zu werden? Die Verzweiflung darüber bescherte ihr in mancher Nacht schlaflose Stunden und die Hoffnungslosigkeit lag wie ein dunkler Schatten auf ihrem Gesicht.
Sogar über eine Adoption hatten sie nachgedacht. Aber würden sie ein fremdes Kind wie ihr eigenes lieben können? Julia hatte sich ihrem Mann gegenüber alles vom Herzen geredet. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Darunter war alles leer.
Nur Charles sagte nichts! Er verhielt sich merkwürdig. Dabei wünschte er sich doch auch sehnlichst ein Kind!
Julia verstand nichts mehr. Nicht das Schicksal. Nicht das Leben. Nicht ihren Mann. Was war denn nur mit ihm los? Er schien völlig unbeteiligt zu sein.
Großartig! Jetzt musste sie sich auch noch um ihn Gedanken machen.
Während dessen rannen ihnen die Tage und Wochen durch die Finger. Schließlich resignierten sie. Und vielleicht würde auch irgendwann dieses schmerzhafte Verlangen nachlassen.
Julia dachte oft an die Zeit zurück, als eine vielversprechende Zukunft vor ihr lag. Hatte sie sich in allem so getäuscht?
Kurz nach der Hochzeit waren sie in das Haus eingezogen, in dem sie gemeinsam mit ihren Schwiegereltern das Kinderzimmer eingerichtet hatte. Sie kauften Möbel aus unbehandeltem Holz und suchten gezielt nach zeitlosem Mobiliar. Den Schreibtisch und die Regale nutzte Lisa sogar heute noch.
Julia besorgte eine gelbe Tapete mit kleinen Bären, weil es auch dann sonnig sein sollte, wenn der Regen ans Fenster trommelte. Es gab sogar den passenden Stoff zu den Bordüren der Tapete und Julia nähte daraus die Wickelauflage und die Vorhänge.
Zu dieser Zeit waren sie und ihr Mann sehr glücklich gewesen. Oder etwa nicht?
Nachts stand Julia oft auf und setzte sich auf den Stuhl neben der Wickelkommode. Die Auflage schien sie anzustarren.
Die Decke war mit Sternen beklebt, die in der Dunkelheit ein sanftes grünes Leuchten abgaben. Still blickte sie nach oben und dachte an das Gedicht sternenhimmel. Ihr war zum Weinen zumute.
Vor den Fenstern tanzten graue Gestalten.
Sie sah sich um. An der Wand stand das Kinderbett und ein Schrank aus Buchenholz. Sie konnte dessen Weichheit spüren, wenn sie mit der Hand den Konturen des Möbels folgte. Julia nahm die Spieluhr und zog an der Schnur. Leise sang sie mit.
Guten Abend, gut Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck.
Ihre Stimme begann zu zittern.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern:
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.
Bei dem Gedanken, wie das Baby ihr die Ärmchen entgegen streckte, konnte sie die Tränen nicht länger zurück halten.
Was hatten sie und ihr Mann nicht alles unternommen! Julias Blick wanderte zu dem Regal mit den Spielsachen, auf dem auch einige Teddybären aus ihrer eigenen Kindheit saßen.
Zuerst versuchten sie auf natürlichem Weg schwanger zu werden. Ernsthafte Zweifel kamen ihnen nach ungefähr zwei Jahren. Dann begannen die Untersuchungen und Behandlungen. Jeder einzelne Monat schrie sie immer aufs Neue an: Und wieder hat es nicht geklappt!
Als sie endgültig die Hoffnung aufgeben wollten, wies ein Bekannter auf eine neue Behandlungsmethode hin. Und wirklich! Nach kurzer Zeit wurde Julia schwanger!
Aber Charles schien sich nicht so recht darüber zu freuen. Etwas schien schon damals nicht mit ihm zu stimmen. Doch Julia schenkte dem keine Beachtung. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Auch das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes wollten sie nicht wissen. Julia war bereits im siebten Monat, als sie neutrale Babysachen kaufte. Manchmal nahm sie zu Hause die Kinderschuhe und kleinen Westen in die Hand, die sie gestrickt und gehäkelt hatte.
Als ihr Kind schließlich auf der Welt war, war es für Julia selbstverständlich, die Wiege in das Schlafzimmer zu stellen. So konnte sie ihre Tochter herausnehmen und stillen, sobald sie unruhig wurde.
Als Lisa später die Windpocken hatte, überraschte Julia sie mit einem besonderen Kuscheltier. Julia nannte den Teddy mit den dunklen Knopfaugen Herr Otto, und Lisa nahm ihn über viele Jahre zum Einschlafen. Später dann saß Herr Otto im Regal und wachte über ihr, wenn sie schlief, oder auf dem Schreibtisch und sah ihr bei den Hausaufgaben zu.
Wenn Julia ihre Tochter ins Bett gebracht hatte, las sie ihr Geschichten vor, die sich am nächsten Tag fortsetzten, und Lisa war immer schon gespannt, wie es dann weitergehen würde.
Gemeinsam brachten Julia und Charles Fotos der ersten Minuten im Leben ihrer Tochter im Kinderzimmer an. Die Bilder waren in edlen Holzrahmen mit wertvollen Passepartouts eingefasst.
Einmal kauften sie eine Rutsche aus dem selben Holz wie der Schrank. Charles baute darunter mit vielen Decken und Kissen eine Höhle für Lisa.
Sie konnte stundenlang selbstvergessen spielen; mit einem Zoo, den vielen Tieren, Häusern und Blumen. Auch einen Reiterhof hatte sie geschenkt bekommen. Begeistert kämmte und frisierte sie die langen Pferdemähnen.
Ebenso hatte Lisa von Anfang an eine Vorliebe für Bücher. Bereits im Kinderwagen schaute sie solche mit festen Seiten an, später dann gemeinsam mit ihrer Mutter Zeichnungen über das Leben in der Stadt. Lisa staunte. Was es da alles zu entdecken gab!
Sie machten daraus ein Spiel. Zuerst musste Lisa den Fischverkäufer auf dem Marktplatz finden, was ihr nach einigem Suchen auch gelang, dann war Julia an der Reihe und hielt nach der Gemüsefrau Ausschau.
Einmal nähte Julia ein Kasperletheater und schenkte es Lisa zu Ostern. Jeder, der zu Besuch kam, brachte eine andere Figur dafür mit. Dieser Brauch wurde auch noch zu anderen Gelegenheiten fortgesetzt.
An manchen Abenden, wenn sie alleine war, rührte Julia gedankenverloren in ihrer Kaffeetasse und dachte an die unzähligen, vergeblichen Bemühungen zurück, schwanger zu werden. Eine lange Zeit voll hoffnungsloser Tage lag hinter ihr. Jede einzelne Stunde hatte sie spöttisch lächelnd angesehen, bevor sie sich vor ihr ausbreitete. Die Minuten ergaben keinen aus seidigen Fasern gewobenen Teppich, sondern ein Kettenhemd mit ineinander vernieteten Metallringen.
Machten diese Erfahrungen die Spannungen zwischen ihnen spürbar?
Waren die gegenseitigen stillen Vorwürfe und heimlichen Schuldzuweisungen am Ende doch bemerkt worden?
Aber natürlich hast du recht, Charles. So wie immer! dachte Julia bitter. Hatte sie sich wirklich in längst vergangenen Tagen für diesen hartherzigen Egoisten entschieden?
Sie wusste es nicht mehr.
Nachdem seine Frau das Wohnzimmer verlassen hatte, blätterte Charles die Zeitung auf. Ein heimlicher Beobachter sah einen Mann vor sich, der in das Geschriebene vertieft war, aber Charles blieb mit seinen Gedanken nicht bei den gedruckten Worten. Er dachte an seine Frau.
Warte nur, Du Flittchen. Ich werde Dir schon noch zeigen, wer ich bin!
Er bewegte sich wie ein eingesperrtes Tier von Fenster zu Fenster, schaute durch alle Scheiben und nahm doch nichts von dem wahr, was er sah.
Denn er dachte an sein Versprechen: Bis dass der Tod uns scheidet.
Es bekam eine neue Bedeutung für ihn.
Julia holte aus der Küche Gläser, Teller und Schüsseln, Besteck, Servietten, Salz- und Pfefferstreuer und deckte den Tisch.
Ihre glockenhelle Stimme erfüllte den Raum. Lisa, Schätzchen, Essen ist fertig.
Charles ließ sie keine Sekunde aus den Augen!
Julia unterdrückte einen Seufzer. Als ob sie es nicht bemerken würde! Aber sie verhielt sich so, als sei alles in schönster Ordnung. Sie war es leid. Doch es würde immer so weitergehen. Von allein würde sich nichts ändern.
Julia drehte den Blumenstrauß noch ein wenig nach links. Etwas ließ sie aufblicken. Sie ahnte plötzlich, was der Blütenduft in Charles Kopf anrichtete. Gleich würde es wieder losgehen! Ihr Mann konnte grundlos einen Streit anfangen.
Schnell nahm sie den Strauß vom Wohnzimmertisch. Während sie damit in die Küche ging, sah sie das Gebinde mit den gesprenkelten Stiefmütterchenblüten, den ringsherum eingedrehten, zarten Wicken und blauen Vergißmeinnicht bedauernd an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ihr Blick auf das rosafarbene Organzaband fiel, mit dem die Blumen liebevoll zusammengehalten wurden.
Als sie den Strauß in eine Aussparung des Küchenschrankes schieben wollte, fielen Blüten des Vergißmeinnicht zu Boden.
Julia hob ihn noch einmal hoch und tauchte ihr Gesicht tief in dieses Meer aus Schönheit ein, um seinen Wohlgeruch fest in sich einzuschließen, denn so duftete das Leben.
Als sie ihn wieder zurückstellte, brachen einige der Wickenstengel ab. Julia sammelte sie vom Boden auf und warf sie in den Abfalleimer.
Sie starrte kurz auf den Unrat, dann drehte sie sich um.
Die Blumen hätten es verdient, an einer Stelle präsentiert zu werden, die ihre Pracht hervorhob. Stattdessen standen sie nun hinein gepresst in einer Öffnung dieses Möbels und damit an einem Platz, der dafür weder vorgesehen war, noch ihnen genügend Raum zur Entfaltung bot.
Julia ging wieder zurück. In die Enge. Die starren Strukturen. Das Unveränderliche. Und obwohl sie neben Charles am Tisch saß, war Julia innerlich meilenweit von ihm entfernt.
Schweigend aßen sie weiter.
„Mama, kann ich noch ein Brot haben?“
Julia reichte Lisa den Brotkorb: „Aber natürlich, mein Schatz.“
Ob ihr Mann wohl auch noch etwas möchte?
Sie ärgerte sich darüber, dass er sich niemals äußerte. Als ob sie Gedanken lesen könnte! Julia warf ihm heimliche Blicke zu und konnte sehen, wie sehr er unter seiner Schwermut litt, diesem Gefühl der Erschöpfung und der Angst vor Entscheidungen.
Seinetwegen plagten sie Schuldgefühle, obwohl ihr deren Sinnlosigkeit bewusst war. Erstens wusste Charles nichts von der Last, die sie für ihn trug, und zweitens half sie ihm damit in keiner Weise.
Resigniert strich Julia eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Ebenfalls eine sinnlose Bewegung.
Selbst in der Gesellschaft anderer Menschen fühlte Charles sich allein. Am meisten litt er unter seiner ständigen Antriebslosigkeit, die seine großen und kleinen Pläne in einen gewaltigen Schrank einsperrte, dessen stabiles Schloss er aus eigener Kraft nicht öffnen konnte. Wenn Charles vor der verschlossenen Tür kauerte, dann hörte er sie nach ihm rufen.
An diesem Zustand würde sich niemals mehr etwas ändern. Wie sollte es auch! Eine bittere Hoffnungslosigkeit umgab ihn. Dunkel war es und dunkel blieb es! Nichts konnte ihn aus seinen Depressionen befreien, die ihn einhüllten und sein Herz unberührbar machten.
Vielleicht sollte er noch einmal einen Arzt aufsuchen. Ja, das wäre sicherlich am besten für ihn. Aber auch dieses Vorhaben kam zuerst in den massiven Schrank, wo es auf dem großen Stapel verrotten würde.
Und so verging Charles immer mehr.
Ein Faden nach dem anderen wurde aus dem Webteppich seines Lebens heraus gezogen. War dieser einst prächtig, einmalig und wunderschön anzuschauen, so wurde er nun immer löchriger und gab ihm keinen Halt mehr.
Wieder durchflutete ihn ein braun gefärbter Strom. Er war gefangen von den Wassermassen, die immer höher stiegen und bereits seine Brust umspielten. Charles keuchte vor Angst. Die Beklemmungen wurden unerträglich. Zu seiner Rettung würde er jeden Strohhalm ergreifen. Das redete er sich jedenfalls ein. Doch auch er käme in den Schrank zu seinen großartigen Plänen.
Charles regte sich nicht.
Er saß mit seiner Familie beim Abendessen und wusste, dass es ihm gutgehen müsste; aber er hatte vergessen, wie es sich anfühlte.
Die Stille nahm immer mehr Raum ein. Ihre Tochter schien als einzige nicht davon bedrückt zu sein. Sie plapperte ohne Unterbrechung unbeschwert vor sich hin und hatte viel über ihr kleines Leben zu berichten. Sie erzählte von ihrem Teddybären. Lisa liebte Herrn Otto mit der ganzen Kraft ihres jungen Herzens.
Dann trank sie einen Schluck Wasser und stellte das Glas auf den Tisch zurück.
Dabei achtete sie genau darauf, es auf dem richtigen Platz abzusetzen. Sonst würde es ihrem Papa schlecht gehen, und daran wollte sie nicht schuld sein.
„Mama?“
Lisa erhielt keine Antwort und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
„Mama, kann ich dich was fragen?“
Julia saß schweigend mit gesenktem Kopf da.
„Mama!“
Endlich schaute Julia auf. Wie traurig sie war! Lisa musste dafür sorgen, dass es ihrer Mutter besser ging! Also lief sie zu ihr hinüber und drückte sich an sie. Aber nur ein bisschen. Nicht so sehr, dass Papa eifersüchtig werden könnte.
Lisa bedachte alles.
„Mama, kannst du für Herrn Otto einen Schal stricken? Du bist bestimmt ganz schnell damit fertig und Herr Otto würde sich sehr darüber freuen.“
Julia strich ihrer Tochter über das Haar und versuchte, sie anzulächeln. Aber es gelang ihr nicht.
„Ja, mein Schatz, ich mache einen Schal für Herrn Otto. Ich habe noch eine große Tüte mit Wolle in allen Farben. Du kannst dir später eine davon aussuchen.“
Als sie Lisa einen Kuss auf das Haar drückte, legte Charles sein Besteck so ruckartig auf dem Tisch ab, dass es auf der polierten Platte klapperte. Lisa zuckte zusammen und blickte zu Boden. Sie hätte besser aufpassen müssen! Lisa ging zu ihrem Platz zurück.
Julia sah ihr nach. Vielleicht wäre es für ihre Tochter am besten, wenn sie eine Zeit lang bei Yvonne wohnen würde. Nur so lange, bis Charles und sie ihre Probleme gelöst hätten.
Sie nahm sich vor, ihre Schwester darauf anzusprechen.
Lisa stocherte auf ihrem Teller herum. Dabei gab es ihr Lieblingsessen, Kartoffeln mit Frikadellen und Erbsen.
Zaghaft sprach sie weiter:
„Ich habe ja schon meinen eigenen Schal um Herrn Ottos Hals gelegt, aber er ist zu groß und Herr Otto wäre fast erstickt.“
Übergangslos gelangte Lisa mit ihrer Erzählung im Kindergarten an. Sie fand zu ihrer kindlichen Fröhlichkeit zurück und erzählte munter ohne Strich und Komma weiter.
Unvermittelt musste Julia lächeln. Ihre Tochter hatte für eine kurze Zeit die schwarzen Wolken über ihrem Herzen weggeschoben.
Auch Charles schien aus der ihn umgebenden, brüllenden Dunkelheit herausgezogen zu werden. Etwas aus einer früheren Zeit regte sich in seinem Herzen und er erinnerte sich an seine Liebe zu Julia. Doch als er seine Frau ansah, stand ihm wieder ihr Erfolg vor Augen und er fiel in den Sumpf der Depression zurück. Wie von einem Sog wurde er nach unten gezogen. Es blieb nichts von ihm zurück.
Sein Bestreben, die Freiheit zurück zu erlangen, hatte er inzwischen aufgegeben. Statt dessen umschlang ihn ein schwarzes Ungetüm.
Als er seine Liebe zu Julia entdeckt hatte, ging er jeden Tag über blühende Wiesen. Rosenbüsche säumten seinen Weg, deren Äste die prächtigsten Blüten hervor brachten und mit ihrem Duft jeden umspielten, der daran vorbei ging.
Damals umschmeichelte ihn das Sonnenlicht und zeigte ihm den Weg, der sich lohnte. Es schien ihm Ewigkeiten her zu sein. Inzwischen umkleidete ihn die Dunkelheit wie eine zweite Haut und er musste in Verzweiflung und Einsamkeit umhergehen.
Eine immerwährende Monotonie umgab ihn. Ein Tag war wie der andere. Sein Leben war für ihn zu einem Gefängnis geworden. Er war in einem Kerker eingesperrt und es gab für ihn keine Aussicht darauf, jemals wieder das Tageslicht zu sehen.
Julia tupfte sich mit der Serviette über den Mund und stand auf. Oh Gott, wie er es hasste. Alleine die Eleganz ihrer Bewegungen bedrängte ihn und stachelte seine Wut weiter an.
„Charles, ich bringe Lisa ins Bett.“
Er starrte vor sich hin.
Resigniert wandte sich Julia an ihre Tochter.
„Lisa, mein Schatz, gib Papi einen Kuss und lass uns dann schleunigst zu Herrn Otto gehen. Bestimmt wartet er schon sehnsüchtig auf dich.“
„Gut, Mami.“
Charles drückte seine Tochter an sich.
„Schlaf gut, mein Schätzchen, und träum süß.“
Er fühlte nichts dabei.
Verdammt noch mal, er müsste doch etwas spüren, irgendetwas!
Julia seufzte.
Wieder so ein Abend!
Ein Tag nach dem anderen verging in tödlicher Langeweile. Nicht nur sie selbst schien erstarrt zu sein, sondern auch die Zeit.
Julia fühlte sich erschöpft. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Ich möchte weg von ihm. Aber ich kann einfach nicht!
Denn wer sollte sich denn dann um ihn kümmern?
Auch für die Sprachlosigkeit bei jeder gemeinsamen Mahlzeit fühlte sie sich verantwortlich.
So sehr Julia sich gegen dieses Gefühl der Verantwortung für das Leben ihres Mannes wehrte, blieb sie ihm doch hilflos ausgeliefert.
Wenn sie abends durch den Park lief, brannten manchmal Tränen in ihren Augen. Dann sah sie weder die Heckenrosen am Wegesrand noch hörte sie den Gesang der Vögel der sie an besseren Tagen fröhlich machte.
Die kleinen Rosen gaben sich die größte Mühe, Julia aufzumuntern. Die Farbe der Blüten sprudelte durch das einfallende Abendlicht wie in einer Fontäne klaren Wassers in den Himmel und ergoss sich als glänzende Gischt über sie.
Normalerweise würde Julia stehenbleiben, die Blüten betrachten und sich über diese Schönheit freuen, die Jahr für Jahr neu erblühte.
Doch an diesem Tag bewegte sie nur ein Gedanke. Er ließ sie nicht mehr los und breitete sich wie ein alles verschlingendes Ungetüm aus.
Sie konnte nicht mehr! Vor Jahren hatte sie die Verantwortung für Charles ohne größere Schwierigkeiten auf ihre schmalen Schultern genommen. Aber inzwischen war sie ihr zu schwer geworden.
Zur gleichen Zeit nahm Charles zu Hause im Wohnzimmer erneut die Zeitung zur Hand. Er versuchte, dahinter den Zorn in seinen Augen zu verbergen, der jeden Abend neu aufflammte.
Denn im Gegensatz zu Julia war für ihn nichts einfach. Nicht das Atmen seiner Frau, wenn sie nachts neben ihm schlief, und nicht die Misserfolge mit seinen Bildern.
Charles war zornig auf sein Leben, das sich darüber zu freuen schien, dass er seinem Ziel nicht näherkam. Er würde alles dafür geben. Wirklich alles! Aber es blieb unerreichbar für ihn.
Er würde noch verrückt werden! Das gäbe einen guten Titel für die Tageszeitung. Künstler verfiel dem Wahnsinn. So etwas wollten die Leute doch lesen.
Die Kunst machte es ihm aber auch wirklich nicht einfach!
Bei jedem neuen Pinselstrich, den er auf die Leinwand aufbrachte, lachte sie ihn hämisch an.
Sie flüsterte ihm zu: „Du mühst dich umsonst! Es ist einfach nichts wert, was Du tust. So sehr Du dich auch anstrengst, es wird niemals gut genug sein, denn ein Nichts bist Du und ein Nichts bleibst Du.“
Je länger er dieser Stimme ausgesetzt war, umso größer wurde der Zorn auf seine Frau.
Als er vorhin beim Abendessen seiner Tochter zuhörte, wurde plötzlich der schwarze Schleier seiner Depression durchlässig und sein Kunststudium kam ihm in den Sinn.
Das Leben erschien ihm damals glanzvoll und bunt. Das war zu einer Zeit, als ihm alles leicht fiel, ob es nun die Vorlesungen an der Uni waren oder die Bewältigung des Lehrstoffes. Zudem hatte Charles von seinem Großvater ein kleines Vermögen geerbt, das ihm manche Freiheit schenkte. So konnte er in seiner freien Zeit Galerien und Ausstellungen besuchen und in den Ferien die großen Museen bereisen, um von den alten Meistern zu lernen. Er wollte so viel wie möglich über diese große, wunderbare Kunst erfahren.
Charles stand auf der Sonnenseite des Lebens. Aber obwohl er ein vom Glück verwöhnter junger Mann war, blieb trotz allem eine unerfüllte Sehnsucht in ihm zurück.
Inzwischen war sein Herz finster geworden. Eine große Dunkelheit war ungefragt in ihm eingezogen und hatte sich von Raum zu Raum ausgebreitet.
Wehmütig dachte Charles noch einmal an die unbeschwerte Zeit seiner Jugend zurück. Wie einfach sein Leben früher war! Es hatte noch nichts von der Schwere und den Belastungen an sich, die er jetzt mit sich herumtragen musste. Ganz im Gegenteil! Die Welt war nicht groß genug für ihn. Er konnte alles erreichen, was er sich vornahm! Oder doch nicht? Vielleicht war das schon immer die große Lüge seines Lebens? Hatte er sich damals gut gefühlt? Er wusste es nicht mehr!
Weshalb war er der Welt gleichgültig geworden?
Was hatte er falsch gemacht?
Kunstgalerien in New York oder Florenz könnten seine Werke ausstellen, aber was tat er stattdessen? Er vergeudete sein Leben. Verschleuderte Tag um Tag, opferte Stunde um Stunde. Zu dem Zorn in seinen Augen gesellte sich eine große Bitterkeit. Obwohl er seine ganze Enttäuschung an Julia ausließ, fühlte er sich deswegen nicht einmal schlecht, denn sie ertrug still jede seiner Gemeinheiten.
Er wusste nichts davon, dass die Schuldgefühle, die Julia ihm gegenüber empfand, sie verstummen ließen. Ihre Gegenwehr würde diese Empfindungen noch verstärken, und das könnte sie nicht ertragen. So blieb sie eine wehrlose Frau, die niemandem von dem erzählen konnte, was sie durchmachte und zu aller Hoffnungslosigkeit kam auch noch ein Gefühl der Einsamkeit dazu; die Empfindung, verlassen zu sein. Sie sah sich von allerlei Kreaturen umzingelt, gegen die sie sich permanent zur Wehr setzen musste. Sie sprangen in einem Moment auf sie zu, in dem sie es am wenigsten erwartete.
Julia drückte ihre Tochter an sich. Lisa hob den Kopf und sah sie an. Ihr Blick ging Julia mitten ins Herz. Als könnte Lisa mit ihren fünf Jahren sehen, was in ihr vorging.
Sie selbst konnte nicht mehr auf die Gefühle anderer achten. Ihr Inneres war zu Stein geworden und ließ keine Empfindung mehr zu. Es schützte sie damit vor dem Schmerz der unzähligen Demütigungen, mit denen Charles sie überhäufte.
Julia schüttelte die Kissen auf. „Mein Schätzchen, ich lese Dir noch etwas vor.“ Julia nahm das Märchenbuch vom Regal, setzte sich auf das Bett und ihre Tochter rutschte mit dem Teddy dicht neben sie.
Julia kannte Lisas Lieblingsmärchen, öffnete das Buch bei Dornröschen und begann zu lesen. Sie hatte die Geschichte noch nicht zu Ende gebracht, als sie beide so müde wurden, dass ihnen die Augen zufielen. Julia hielt das geöffnete Buch noch in der Hand und schlief tief und fest. Ihre gleichmäßigen Atemzüge vermischten sich mit denen von Lisa, die an ihre Seite gesunken war.
Herr Otto besah sich die Angelegenheit in aller Ruhe. Er hatte ja Zeit.
Es war nicht verwunderlich, dass der Teddy mit dem gütig wirkenden Stoffgesicht das Lieblingsspielzeug ihrer Tochter war. Auch Julia selbst hatte ihn schon einmal an sich gedrückt und gehofft, sich dadurch besser zu fühlen, bis sie ihn ernüchtert wieder zur Seite gelegt hatte.
Mein Gott Jahweh, was tue ich da eigentlich? Ist es wirklich schon so weit, dass ich bei dem Stofftier meiner Tochter Trost suche?
Die Antwort auf diese Frage müsste lauten: Ja, denn ich habe keinen Menschen.
Ihre Welt wurde durch Charles Willkür klein und begrenzt. Jeden Tag verlor sie einen weiteren Teil von dem freien Land in ihrer Seele. Bald schon würde sie eine Marionette sein, die keine eigenen Bedürfnisse mehr kannte. Ob Charles das erreichen wollte? Sollte sie werden wie er?
Doch Julia hatte sich ein kleines Stück Geborgenheit bewahrt. Sie hielt es gut versteckt, so dass kein anderer Mensch es jemals finden würde.
Bei jeder erneuten Verletzung floh sie in diese inneren Gegenden. Unendliche Weiten breiteten sich da vor ihr aus, in denen ihr Herz sich ungehindert bewegen konnte.
Julia verschloss sich immer mehr. Ihr äußeres Leben reduzierte sich auf das Notwendigste, bis sie schließlich funktionierte wie eine Maschine. Sie wäre bereits tausendfach an Charles Kränkungen zerbrochen, wenn sie nicht dieses innere Land hätte, wo ihr nur Schönes widerfuhr, es kein Leid, kein Geschrei und keine Tränen gab.
Julia empfand dort die Realität einer schützenden Kraft und eines Friedens, der höher war als alle Vernunft.
Nachts, wenn alles schlief außer ihr, und sie mit Charles, diesem Ungeheuer, das Bett teilen musste, lag sie mit ausdruckslosen Augen da und starrte in die Dunkelheit. Wenn jemand die Finsternis mit seinem Blick durchdringen würde, dann könnte er sie lächeln sehen; obwohl ihre Persönlichkeit auf ein Minimum reduziert war.
Ja, Julia lächelte. Sie war geborgen in ihrer inneren Welt und der Sternenhimmel, der sich dort über ihr ausspannte, war mit nichts zu vergleichen, was sie jemals zuvor gesehen hatte. Zauberhafte Töne verstärkten seine Schönheit. Kompositionen von Rachmaninow weckten die Sehnsucht, Schwermut war bei Chopin zu finden, sie fühlte sich getragen bei Musik von Bach und fröhlich bei Mozart, dessen Musik wie frisch geöffneter Champagner perlte.
Plötzlich drehte Charles sich um und legte seinen Arm auf sie. Julia erstarrte bei dieser Berührung und ihre innere Welt geriet ins Wanken. Oh nein! Der Gedanke war für sie entsetzlich, dass ihre Zuflucht verschüttet wäre. Das durfte nicht geschehen!
Julia zwang sich dazu, ruhig zu atmen. Sie betrachtete Charles markantes Gesicht und erinnerte sich daran, dass er damals für sie ein charmanter Herzensbrecher war.
Ihr wurde übel, als sie ihren Irrtum erkannte.
Er hatte immer einen Drei-Tage-Bart getragen. Zum Spaß, wie er sagte. Dabei wusste er sehr genau, wie sexy er damit wirkte. Auch auf sie. Selbst jetzt noch! Sie sagte damals oft aus Spaß zu ihm: „Dein Messer ist wohl schon wieder stumpf geworden?“
Am Anfang war das Dunkle in ihm für sie nicht zu sehen. Erst als der Schrecken begann, war es in allen furchtbaren Nuancen erkennbar. Charles verbreitete ein undefinierbares Gefühl der Angst, das nicht zu greifen war. Im Lauf der Zeit wurde seine Nähe für Julia zur Bedrohung.
Und sie tat so, als wäre alles in schönster Ordnung.
Schließlich wand sie sich wie eine Katze aus Charles Umarmung, der Bettdecke und den Kissen heraus.
Der Dachboden war neben ihrer inneren Welt der einzige Ort, wo sie in der Aussichtslosigkeit ihres Lebens Trost fand.
Es war dunkel da oben. Die einzige Lampe gab bereits seit langer Zeit kein Licht mehr. Ein vergessener Ort, der niemals genutzt wurde. Als ob es toter Raum wäre und verschwendeter Platz.
Sie tastete sich langsam in der Dunkelheit voran und hatte auch bald die alte Holzkiste erreicht, bei der sie die gestohlenen Minuten ihres Lebens verbrachte. Diese kurze, überaus kostbare Zeit.
Julia verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Die verdrängten Wahrheiten standen vor ihrer zerbrechlichen Persönlichkeit. Mit dem weichen Stoff ihres Nachthemdes wischte sie die Tränen weg. Sie wusste selbst am besten, wie absurd das alles für einen Außenstehenden klingen musste. Denn er sah nur die glückliche kleine Familie, das schöne Haus mit dem großen Garten, den Künstler und die erfolgreiche Frau. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch, ein Märchen eben.
Doch der Schmerz in ihrem Herzen und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit konnten durch nichts mehr gesteigert werden. Und das Schlimmste daran war, dass sie niemandem davon erzählen konnte.
Ihr Leben war wie eine verlassene Welt, in der eine fahle Sonne am Himmel stand.
Erst als Julia an ihre Tochter dachte; konnte sie zu weinen aufhören und wischte mit dem weichen Stoff über ihr Gesicht. Die Schreckgestalten wichen zurück und Julia konnte durchatmen.
Sie liebte Lisa, doch sich selbst schien sie nichts wert zu sein. Weshalb sonst ließ sie es zu, dass ihr das Leben genommen wurde? Nur wenig davon gehörte ihr noch selbst, so wie diese heimlichen Minuten hier oben.
Nun setzte sie sich auf den Boden. Es spielte keine Rolle, dass ihr Nachthemd schmutzig wurde. Nichts schien mehr wichtig zu sein. Das Leben tötete in ihr nach und nach alle Empfindungen ab. Sie war in einem Panzer eingeschlossen, der alles von ihr fernhielt.
Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie vermischten sich mit dem Staub, der dick die Bodenbretter überzog. Ihr wurde erneut ihre Einsamkeit bewusst und ein großer Schmerz darüber befiel sie, der sie wieder ein Stück weiter nach unten drückte. Und doch gab es in ihrem Herzen einen Rest der Liebe zum Leben, der verhinderte, dass sie endgültig am Boden liegen blieb.
Mondlicht fiel durch das kleine Dachfenster herein. Julia senkte den Blick. Die Muster im Staub hatten sich verändert. Sie blinzelte.
Die Tränen glitzerten wie Raureif, den man sah, wenn man im Spätherbst frühmorgens das Haus verließ.
Julia stand langsam auf. Sie konnte die Kraft einer Majestät fühlen, die hier gegenwärtig war. Noch niemals hatte sie etwas Schöneres gesehen. Es drang in ihr Innerstes ein, wie das Flirren der Geigen zu Beginn von La Traviata.
Sie löste ihren Blick vom Boden. Der Dachstuhl, die Mauern, alle vernagelten Fenster und die verschlossene Tür waren verschwunden und mit ihnen alles, was ihr Leben begrenzte. Mit jedem Stern, der am Himmel neu erstrahlte, erhöhte sich die Geborgenheit, die sie empfand.
Da berührte Charles Hand ihre Hüfte.
Sie hatte alles nur geträumt.
Leuchtende Schwingen umschlangen Julia. Sie schimmerten in allen Farben und fühlten sich wie Seide auf ihrer Haut an. Die Flügel entrollten sich und schwebten nach oben.
Sie sah ihnen nach.
Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen und sie verspürte einen Ruck, der sie auf einen Bahnsteig versetzte.
Überall standen Disteln, die von Efeu umschlungen waren und sich den Reisenden entgegen streckten. Ob sie wohl auch ferne Städte besuchen wollten? Oder das Meer? Sie könnten im Garten eines Hauses am Strand stehen und die Geschichten hören, die von den Wellen in den Sand geworfen wurden. Aber ihre Sehnsucht würde unerfüllt bleiben.
Eine Frau stand neben ihr. Julia spürte die große Ungeduld, mit der sie auf die Einfahrt der nächsten Bahn wartete.
Der ankommende Zug drosselte seine Geschwindigkeit. Die Frau presste die Hände gegen das Herz und aus ihrem Mund drang ein leises Stöhnen. Sie konnte keine einzige Sekunde mehr warten.
Schon öffneten sich die Türen und eine namenlose Menge strömte an ihr vorbei. Hastende Menschen, die nichts bedeuteten. Denn sie wartete auf ihren Geliebten, der versprochen hatte, zu ihr zu kommen.
Ihre vollen Lippen öffneten sich flehentlich. Wie jemand aus einer lange vergangenen Zeit stand ihre schlanke Gestalt da und suchte mit Blicken den Bahnsteig ab. Schließlich blieb nur sie allein zurück. Die leichte Weste war ihr von der Schulter gerutscht. Die Frau schob sie wieder nach oben und zog sie etwas mehr vor der Brust zusammen, denn es wehte ein kalter Wind.
Sie trug einen neuen, aus den Garnen der Verlorenheit gewebten Mantel, doch obwohl er schwer war, wärmte er sie nicht.
Der Abend kündigte sich an und immer noch stand sie verlassen da. Ihre Sehnsucht schlug um in Angst und Verzweiflung.
Wenn ihm nun etwas zugestoßen war?
Die Frau fühlte sich hilflos, was sollte sie nur tun? Ein leichter Zweifel fiel auf ihr Herz, doch sie verscheuchte ihn sofort wieder. Sie wusste genau, dass ihr Geliebter sein Wort halten würde.
Die Frau setzte sich auf eine Bank.
So saß sie still da und wartete auf die nächste Bahn, die übernächste und die danach. Mit jedem abfahrenden Zug wurde sie mehr und mehr zu einer stummen Figur. Es fand ein Anhalten des Lebens statt, das keine Erfüllung mit sich brachte, sondern sie einsam zurück ließ. Keiner würde kommen und sie in die Arme schließen, niemand sie erlösen. Sie war der Kälte und der Dunkelheit schutzlos ausgeliefert und ihr inneres Leben verging Stück um Stück.
Nichts blieb davon übrig.
Julia empfand wie sie.
Es war dunkel.
Außen wie innen.
Jede Nacht musste Charles seine inneren Landschaften durchwandern. Es war ein Zustand, der kein Ende zu nehmen schien. Alles war verhangen wie mit schwerem, blutgetränktem Samt. Genau so wie seine Frau war auch Charles unberührbar geworden.
Regungslos lebten sie nebeneinander her.
Jeder blieb für sich allein.