Orchis - Verena Stauffer - E-Book

Orchis E-Book

Verena Stauffer

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Beschreibung

Anselm ist Botaniker und leidenschaftlicher Orchideenforscher. Mitte des 19. Jahrhunderts begibt er sich auf eine Expedition nach Madagaskar. Dort findet er nicht nur die schönste Orchidee der Welt, sondern Erfüllung, die aber nur von kurzer Dauer ist. Auf dem Schiff zurück in die Heimat verrückt sich etwas in Anselm: Aus seiner Schulter wächst eine Orchidee. Zu Hause angekommen, bringen ihn seine Eltern in eine Nervenheilanstalt, wo er sich bald wieder erholt. Seiner wissenschaftlichen Laufbahn scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Doch die Zeit arbeitet gegen ihn: Die politischen Umbrüche verändern sein Umfeld. Die wissenschaftlichen Neuerungen durch Darwin stellen seine Theorien auf den Kopf. Und die überstürzte Reise nach China bringt Ungeahntes zutage. Verena Stauffer beweist in ihrem Debütroman ein besonderes Gespür für die Wahrnehmungen und Empfindungen ihrer Figuren. Sie lässt uns teilhaben an einer höchst sinnlichen Reise in den fernen Osten und führt uns noch weiter – in die Abgründe und das Innerste der menschlichen Psyche. "Eines Tages, so erzählte er später, begannen die Orchideen sich zu bewegen, irgendwann legten sie ihre Blätter auf seinen Kopf, hielten ihn und legten ihre Blütenhäupter daneben."

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Verena Stauffer

ORCHIS

Roman

Alle Figuren und Handlungen in diesem Roman sindfrei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personenund Ereignissen sind nicht beabsichtigt undrein zufällig.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01115-0

Copyright © 2018

by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Unter Verwendung von Grafiken von shutterstock.com/

Mark Carrel/Madlen/Zenobillis

Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, www.typic.at

Inhalt

1. EXHUMIERUNG

2. ISAAC

3. VANILLE

4. KOMETENFALTER

5. STERNE

6. FARBWECHSEL

7. ZUM SCHIFF

8. ABREISE

9. SCHATTENRISS

10. NOT

11. ANSTALT

12. BESUCH

13. SCHLAF

14. EMIGRATION

15. WIDERSTAND

16. FLIESSEN UND DREHEN

17. DARWIN

18. KORRESPONDENZ

19. TANNHÄUSER

20. DONNERISCH

21. ORCHIDEEN IM ERZGEBIRGE

22. SCHROT UND BLUMEN

23. MOOSGLÖCKCHEN

24. LILIA

25. DER GOLDENE BERG

26. HERBST

27. DER KÖNIG DER KÖNIGIN DER BLUMEN

28. VON KEW ZUM JANGTSEKIANG

29. EIN WIEDERSEHEN

30. ZWEIFEL

31. NIEDERTRACHT

32. CHINA?

33. ITALIEN

34. WIRKLICH CHINA?

35. DIE SCHIFFFAHRT, EIN TRAUM

36. PASSAGIERE

37. TAUSCH DER KÖPFE

38. PHÄNOMENE

39. FLUSS, DER DEN HIMMEL DURCHQUERT

40. SASSAFRAS

41. DER CHINESISCHE FRAUENSCHUH

42. SALZ

43. DIE FÄRBER

44. STÜCKE VOM HIMMEL

DIE AUTORIN DANKT

1. EXHUMIERUNG

Das Erwachen auf dem Schiff nach wochenlanger Überfahrt glich dem Auftauchen eines Kugelfischs aus schwarzen Meeresgründen in leuchtende Korallenriffe. In den ersten Stunden des Morgens legte Anselm im Hafen von Madagaskar an. Seine ersten Schritte auf festem Boden waren ein ungewohntes Gefühl, ihm schwindelte. Die Erde unter seinen Füßen wankte und das Meer stand still. Ein trockener, auf der Haut brennender Wind wehte ihm entgegen, er roch nach Zimt und Rhabarber. Die Bäume, die im gleißenden Licht hätten Schatten spenden sollen, sahen aus wie Knochen, vertrocknete Blätter baumelten wie Reste verwesten Fleisches im Luftstrom. Die Straßen waren sandgefüllte Mulden und die Häuser brüchige Lehmwürfel, gedeckt von gelbem Bast.

Als er sich umblickte, sah er, wie Kinder in zerschlissenen Leinen auf ihn zuliefen; sie umringten ihn, berührten ihn, nahmen ihm seine Koffer ab, und so sehr er sie auch halten wollte, sie fegten mit diesen davon. Ihre kleinen Hände krallten sich an seine Taschen. Vielleicht träumten sie von Puppen mit goldenen Haaren, bunten Windrädern, Spieluhren mit Glocken, oder einem aufziehbaren Ringelspiel mit Zinnpferdchen.

Er ließ sich treiben, folgte den Kindern, blickte sich um, Fremdes strömte auf ihn zu. Klumpen weißer Steine, die von Männern in Säcke gepackt wurden, um dann über kleine Baumstämme auf schmale, schaukelnde Pirogen getragen zu werden. Haufen weißer Sterne, jene des Meeres, lagerten vor feuchten Wänden havarierter Einbäume. Und noch einmal da und dort Kuppen von weißen, grob geschliffenen Oktaedern – ob es sich um Früchte handelte, fragte er sich, die hier zur Verschiffung vorbereitet wurden? Mit Tauen zusammengebundene, störrische Rinder, die gemeinsam in die eine und dann in die andere Richtung schwankten, standen kurz vor ihrer Verladung. Dahinter hunderte mit den Wellen pendelnde Masten, auf welchen große und kleine Segel loderten. Da und dort hölzerne Tröge, die bis obenhin mit orange glänzenden Spalten gefüllt waren, einen süßlichen Duft verströmten und von auf der Erde hockenden Frauen verkauft wurden, die dasaßen, als wären sie nie woanders gewesen. Wohin er auch sah, die Umgebung war von einem trockenen, schlammigen Braun, die Oberflächen geprägt von Rissen. Risse in den Straßen, den Häusern, den Bäumen, rissig auch die Lippen der Erwachsenen. Zerbrochene Skelette vertrockneter Wale, durchsichtige, noch glitschige Körper lebloser Quallen und Gerippe toter Fische bildeten einen Teppich auf dem sandigen Untergrund der Insel. Alle redeten, riefen durcheinander und der Wind blies weiter in Anselms Haare, sie flatterten und peitschten die Luft.

Der französische Reiseführer, der ihn hätte abholen sollen, war nicht zu sehen. Die von einem englischen Handelsattaché ausgestellten Einreisepapiere schien er nicht zu brauchen. Die Kinder stoben mit seinem Gepäck davon, er konnte nichts anderes tun als ihnen zu folgen. »Bleibt stehen!«, rief er, sie hörten ihn nicht. Ins Landesinnere vorzudringen, ohne seine Einreise offiziell bestätigt zu haben, hielt er für unklug, doch keiner nahm Notiz von ihm. Auf der anderen Seite des Hafens sah er eine Ansammlung von Männern, die einer Militärbrigade glich, und er hörte Stimmen befehlenden Klangs, neben Geräuschen aufeinanderschlagenden Metalls und dem dumpfen Schaben aneinander reibender Ketten. Vielleicht war es doch besser, ungesehen einzureisen als umgehend wieder ausgewiesen zu werden, dachte er und verzichtete auf die weitere Suche nach seinem Begleiter. Die zarten Kinder mit ihren wirbelnden Haaren, ballrunden Bäuchen und glitzernd schwarzen Augen sausten weiter mit seinen schweren Koffern davon, so schnell, als würden sie rollen, sie trollten sich und Anselm wusste nicht, wohin. Einerseits hatte er große Probleme bei der Einreise erwartet, obwohl er im Besitz eines Empfehlungsschreibens war, welches ein Abgeordneter für ihn verfasst hatte, der von sich behauptete, einer der wenigen Europäer zu sein, den die Königin der Insel, die ansonsten bekannt war für ihre gnadenlose Härte und Ungerechtigkeit, in ihrem Land duldete. Nun aber drang er ohne Registrierung und Kontrolle in das Eiland ein. Andererseits hatte er insgeheim doch auf einen würdigen Empfang seiner Person gehofft und nun war nicht einmal der von ihm bestellte Reiseführer anwesend, welcher ihn die ganze Expedition lang begleiten und über die Insel hätte leiten sollen, bis zu den Stellen, an welchen er zu finden vermutete, wonach er suchte. In Wirklichkeit aber war er empört. Wie lange er sich um dieses Empfehlungsschreiben bemüht, wie viele Briefe er dafür geschrieben hatte, mit detailliertesten Erklärungen seines beinahe existentiell notwendigen Anliegens – und das alles, um jetzt dessen völlige Überflüssigkeit festzustellen. Kopfschüttelnd strich er sich durchs Haar, es fühlte sich feucht an, seine Stirn war nass. Anselm erinnerte sich, während der langen Überfahrt von einem kleinen Empfang geträumt zu haben, den man zu Ehren seiner Ankunft auf der Insel für ihn vorbereitet hatte. In seiner Vorstellung sah er sich lächelnd, ob der Verehrung ein wenig zögerlich, letztlich dann doch mit ernster Miene das für ihn vorbereitete Blumenkränzchen aufsetzen und hörte sich in einer kleinen Ansprache verkünden, wonach er suchte. Dann zeigte er seine Zeichnungen, breitete seine selbstgezeichnete Landkarte vor dem kleinen Komitee aus, nahm mögliche Ratschläge zu Unterkünften und Örtlichkeiten entgegen, notierte – und jetzt? Nichts, niemand war da, keiner schien von ihm zu wissen. Wer war er schon, dachte er, so weit weg von zu Hause, wo sich niemand für seinen Namen interessierte, wo dieser keinerlei Assoziationen hervorrief. Er wunderte sich über die unverständliche Sprache, kannte keine Wege und niemand war da, der ihn führte. Er hätte schreien mögen vor Staunen.

Zumindest blieben ihm die vielen erhebenden Momente der Vorfreude während der Überfahrt, dachte er und schüttelte wieder, über sich selbst lachend, den Kopf. Er würde auch allein finden, was er suchte, er würde suchen, um zu finden und dann bei seiner Rückkehr im Amsterdamer Hafen empfangen werden, so wie er sich das vorgestellt hatte, das würde ihm auch mehr bedeuten als jegliche Heuchelei, die man ihm hier vielleicht entgegengebracht hätte, ohne zu wissen, wer er eigentlich war und worum es ihm ging. Die Kinder zogen ihn mit sich, sie freuten sich, strahlten, als sei er ein alter Freund, den sie totgeglaubt und nach Jahren zum ersten Mal wiedergesehen hatten. Sie sprangen wie Bälle, wirbelten wie Ballons und ihre kleinen Hände waren Zangen, die sich in seine Koffer verbissen hatten und diese wie wertvolle Tongefäße bewegten, als seien sie noch zu heiß, um abgestellt zu werden. Von ihnen fühlte er sich empfangen, als hätten sie ihn erwartet, anstelle des offiziellen Komitees.

Vorbei lief er an Hütten aus Lehm, vorbei an vor Feuerstellen sitzenden Menschengruppen, die entweder vor sich hin redeten, dann verstummten und ihn anstarrten, oder scheinbar abwesend die Flammen beobachteten, die im Wind einmal hochschnellten, sich aufbauschten, um sich dann flach knisternd querzulegen, beinahe zu erlöschen, um sogleich wieder zu erstehen und sich zu mehren. Je mehr die Augen sich im glühenden Tanz verloren, dachte er, desto grenzenloser verschwamm das durchsichtige Flackerspiel mit allem, was es umgab, plötzlich leuchtete die ganze vertrocknete Umgebung im orangen Schimmern der kleinen Lichtfransen. Die Menschen vor ihm bewegten sich gleichmäßig, obwohl jeder in eine andere Richtung lief, denn wenn er sich umdrehte, dann sah er eine Menge hinter sich, rhythmisch und fließend, als schlüge jemand einen sanften Takt, der Wind vielleicht, der sie wie Wasser vor sich hertrieb. Immer wieder versuchte er, die Kinder einzuholen und ihnen seine Koffer zu entreißen, doch sie waren so flink und wendig, kannten jeden Winkel und jede Ecke, dass sie trotz seines schweren Gepäcks viel schneller waren als er selbst. Fast war ihm, als hätten sich seine Koffer auf die Kinder gesetzt, wie Muscheln auf Einsiedlerkrebse, um endlich voranzukommen.

Teile toter Tiere schlackerten an Haken auf Hüttendächern aus Stroh, Affenköpfe, Lemurenschwänze oder Echsenfratzen mit aufgerissenen Mäulern, verfaulte Zähne ragten in alle Richtungen, verdorrte Zungen hingen verdreht aus ihren Höhlen, Eier, groß wie Melonen, lagen auf Verkaufstresen, vielleicht jene der hier heimischen Moorenten, dachte Anselm, während es weiterging, entlang einer sandigen Straße, die kein Ende zu haben schien. Er durfte den Anschluss nicht verlieren. Der Wind drehte, wurde stärker, versetzte die leichten, sonst unbeweglichen Dinge in einen Zustand des angebundenen Fliegens. Fast nichts war mehr unbewegt. Eine blühende Insel hatte er erwartet und jetzt, der Boden rissig, zerfurcht wie die Rinde einer alten Föhre, die Straße ein ausgetrocknetes Flussbett, in welchem Menschen trieben, trunken und träumend. Vor Trockenheit klappernde Palmen, die beim nächsten Windstoß zu brechen drohten. War dies Madagaskar?

Wenn der Wind die Richtung wechselte, wechselte auch der Geruch. Was war das, was er jetzt roch, Vanille? Er blieb stehen, atmete ein und wieder aus, sog die Luft tief in seine Lungen und hielt sie für einige Zeit dort, versuchte sie zu analysieren. Weit und breit sah er keine saftige Pflanze, nur aufgerissene, auf ihn starrende Augenpaare vor der bröckeligen, flachen Landschaft aus Lehm. Irgendwo mussten die Farben undurchsichtig, irgendwo mussten sie satt von dunklem Grün sein, dachte er, irgendwo mussten Orchideen in dickem Anstrich blühen, und zwar Tausende, sodass sie vom Durchsichtigen – der Luft, dem Feuer, dem Wasser – nur mehr ehrfürchtig umspielt würden.

Die wirbelnde Luft roch nach erdigen Schoten. Der Vanillewind war eine Tür. Eine Tür in ein fremdes Land.

Anselm trippelte im Takt der Menschenmenge die kleine sandige Straße entlang. »Langsam, Kinder!«, rief er, doch keines reagierte. »Latein?« Nein, Englisch, Französisch. Ah! Französisch funktionierte, die Kinder blieben stehen und warteten, zumindest für einen Augenblick. »Famadihana, Famadihana!«, riefen sie ihm zu. Nein, er komme nicht zu einem Begräbnis, er wolle in den Osten der Insel, wie er denn dorthin käme. Sie sahen ihn fragend an. »Essen!«, rief er, »Restaurant?« Er war es gewohnt, ausgiebig zu frühstücken. »Reiseführer?«, rief er wieder fragend in die Menge. Die gerade Straße, die sie entlanggingen, führte in die Hauptstadt, das glaubte er verstanden zu haben, doch die nicht aufhörenden Begräbnisrufe beunruhigten ihn, während seine Sehnsucht nach einer Tasse Kaffee anwuchs. »Kaffee!«, rief er, »Kaffee?« Keine Antwort. Trockene, staubige Erde unter seinen Schuhen, der Boden lehmig und sandig zugleich, jeder Schritt war ein leichtes Einsinken, es fühlte sich wie ein Eindringen in den Weltkörper an. Ausgetrocknete Büsche, deren Blätter im Wind surrten. Mit einem Mal bogen die Kinder mitsamt seinen Sachen von der geraden Straße nach rechts ab, in eine kleinere Straße. »Nein!«, rief Anselm: »Hauptstadt! Hauptstadt!« – »Famadihana! Famadihana!«, riefen die Kinder und strahlten ihn an. Er gab es auf, ließ sich treiben, denn ohne die Koffer wäre sein Vorhaben ohnehin verloren, er musste genau dort sein, wo auch sie waren. Wollten die Inselbewohner am Ende ihn selbst begraben? Er lachte auf. Mit Empfehlung, Eisenbahn und Klipper zum eigenen Begräbnis gereist. »Begräbnis, Begräbnis!«, sangen die Menschen um ihn, strahlten. Er fühlte sich auf eine Weise angekommen, wie eine Hand zum letzten Mal eine andere ergreift, sie nicht loslassen möchte. Also sang er mit: »Begräbnis, Begräbnis!«, klatschte im Rhythmus der anderen. Mit einem Mal fühlte er sich leicht. Er klopfte mit der Faust gegen seinen Kopf, was würde diese Insel wohl noch mit ihm anstellen, er wollte in den Osten, und nicht zu einem Begräbnis. Schon war die Leichtigkeit wieder verflogen.

Ruhig atmen, redete er sich gut zu. Sich weiter aufzuregen, wäre sinnlos gewesen, niemand wusste von seinem Aufenthalt, außer einem verlogenen Handelsattaché, dem er Geld für ein offenbar völlig wertloses Einreisepapier gesandt hatte. Dieser würde bestimmt stillschweigen, selbst wenn die ganze botanische Elite nach ihm suchte. »Spricht jemand Französisch? Kennt sich einer mit Orchideen aus?« – »Französisch, Französisch!« Gesichter lachten ihn an oder aus, er war sich nicht sicher. »Orchideen, Orchideen!«, riefen sie und verdrehten die Augen. »Famadihana? Famadihana?«, sahen ihn fragend an. Er erinnerte sich zurück, niemand war mit ihm vom Schiff gegangen, er war der einzige Fremde hier. War er an der richtigen Stelle angekommen? Ist das hier die Insel? Wo ist die Hauptstadt? Das musste Madagaskar sein, genauso hatte er es sich vorgestellt, nur grüner. Er war angekommen, schwamm in einem Menschenfluss, der in eigentümlichem Rhythmus ein oder sogar sein Begräbnis besang. Anselm fühlte sich aber wie neugeboren.

Der Menschenzug verlangsamte, verformte, staute sich. Es bildeten sich Grüppchen, die sich in Kreisen um ein Feuer formierten, dann roch es mit einem Mal nach gebratenem Fisch und Nelken. »Krokodil, Krokodil!«, sangen die Kinder und lachten. Auf der anderen Seite des Feuers standen Männer mit Schaufeln, hinter ihnen Frauen, die in bunte, leuchtende Tücher gekleidet waren, andere, noch buntere, noch heller strahlende hielten sie gefaltet in ihren Händen. Sie standen vor einem Hügel aus Lehm, an dem ein Felsbrocken lehnte. Umgeben von Hütten aus Stroh, Bambus und Palmenblättern stand Anselm inmitten einer Zeremonie, von deren Ablauf oder Ziel er noch nichts wusste. Zumindest sah er keine Vorrichtung, die zu seiner Tötung führen könnte, er sah keine Waffen, kein marterpfahlähnliches Gestell, keine Guillotine – und selbst über dem Feuer hingen nur Behälter für Gebräue, Suppen, Eintöpfe. Nun roch es nach Dingen, die er noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Nach einer Mischung aus verbrannter Erde und süßem Honig. Hoffentlich werde ich nicht in einem dieser Lehmhügel lebendig begraben, dachte er noch, als zwei Männer, begleitet von Gesängen der Anwesenden, den Felsbrocken zur Seite rollten. Der lehmige Boden knirschte. Immer wieder wanderten die Blicke einzelner zu Anselm. Die Männer mit ihren Schaufeln krochen in die Höhle, begannen Erde auszuheben. Sand und Lehm flogen in hohem Bogen aus dem Inneren, während die Gesänge lauter wurden. Die Sonne stand bereits senkrecht über ihnen. Madagaskar liegt in der südlichen Hemisphäre der Erdkugel und es war hier sehr viel heißer als in dem Gebiet, wo Anselm sich zurzeit eigentlich hätte aufhalten sollen, nämlich bei Professor Workshuttle in der Schweiz. Anselm musste dringend auf die Ostseite der Insel. Er hoffte in den Regenwäldern eine Orchidee zu finden, deren Aussehen und Duft von betörender Anmut waren. Die Frage war nur, wie er in den Osten kommen würde, wenn er nicht einmal einen Führer bei sich hatte. Vielleicht fand sich unter den Begräbnisteilnehmern jemand, der Französisch sprach. Anselm setzte sich auf einen Stein neben seine Koffer. Sie waren im Schatten einer Hütte abgestellt worden. Er stöhnte auf. Es konnte doch nicht möglich sein, dass er nun hier, im Nirgendwo der Insel festsaß! Er starrte ins Leere und dachte darüber nach, wie er möglichst bald seine Wege fortsetzen konnte.

Zersetzte, brüchig wirkende, längliche Päckchen aus Stroh wurden aus dem Hügel herausbefördert und vorsichtig auf den Boden gelegt. Anselm atmete auf. Offensichtlich hatte das alles nichts mit ihm zu tun. Viel zu wichtig hatte er sich genommen, denn weder war jemand gekommen ihn zu empfangen, noch ihn zu begraben. Er konnte sich entspannen. Ein paar Kinder eilten herbei und holten ihn zurück in die Menge. Die Toten wurden exhumiert. Einige Frauen traten vor, setzen sich um die am Boden aufgelegten, zerschlissenen Gebinde, öffneten sie und begannen mit ihren Händen darin zu wühlen. Sie taten es wild, lachend und singend. Die Gebeine, die sich in den alten Bündeln befanden, betteten sie in die strahlenden, seidigen Tücher um, die Anselm zuvor schon aufgefallen waren. Sie platzierten die neuen, kunstvoll gebundenen Päckchen auf ihren Schultern, und ein rhythmischer Tanz begann, der zuerst um das Feuer, später um das Grab kreiste, um sich dann durch das ganze Dorf zu bewegen, das aus mehreren kleinen Hütten und einigen winzigen Marktständen bestand. Sie trugen die Toten geschultert, in ihre festlichen Gewebe gehüllt, von Hütte zu Hütte, von Marktstand zu Marktstand, blieben da und dort stehen, um einem Menschen zuzuhören, der jeweils vortrat und etwas sagte. Die Menschen versuchten Kontakt zu den Toten aufzunehmen, um von ihnen Ratschläge zu erhalten. Langsam verstand Anselm, was passierte. Die Toten sprachen ihre Empfehlungen aus und prophezeiten zukünftige Ereignisse. Im Gegenzug erfuhren sie, was sie seit ihrem Ableben versäumt hatten. Anselm beobachtete die Kinder. Sie waren mit einem Mal ganz still. In ihren Augen sah er ihren Glauben an sich selbst. Was sie hörten, schien sie nicht sehr zu beschäftigen. Sobald der Erzähler verstummte, sprangen sie auf und liefen hüpfenden Schrittes herum. Das Hüpfen der Kinder befreite auch die anderen. Es dauerte so lange an, bis der Erzähler wieder seine Stimme erhob.

Die Gesänge intensivierten sich, die Worte wurden klarer, die Tanzschritte gleichmäßiger. Zur gleichen Zeit begannen alle, sich wie im Wiegen zweier Waagschalen aufeinander zu- und voneinander fortzubewegen. Die Männer waren groß, die Muskeln ihrer Körper ausgebildet, sie trugen ihr Haar kurz mit durch Rasur eingezeichneten Ornamenten, während das Haar der Frauen zu mit Blüten, Blättern und Bändern geschmückten Türmen hochgesteckt war.

Mit einem Mal ertönten Glocken und Flöten, helle und sehr dunkle Klänge, deren Vibrationen bis in Anselms Herz zu spüren waren. Dann begannen sie, Trommeln zu schlagen. Große, kleine, dicke, dünne, gewundene, gebundene. Er schloss die Augen. Die Kruste der Zivilisation bedeckte bei Weitem noch nicht die ganze Erde, dachte er, und da er noch keine einzige Kutsche gesehen hatte, stellte er sich erneut die Frage, wie er überhaupt in den Osten der Insel käme. Und wenn er zu Fuß dorthin ginge, dachte er, und wenn er auf einem Pfau ritte, es musste doch möglich sein von hier wegzukommen. Er öffnete die Augen wieder, sah zu seinen Koffern hin. Am liebsten hätte er sie genommen und wäre losgegangen, schnurstracks in Richtung Osten. Er dachte nach, sah auf seine Hände. Wie konnten sie nur die Toten ausgraben, nicht nur das, sie wickelten sie aus ihren Matten und wühlten sich durch ihre sterblichen Überreste. Dieses Bild ertrug er nicht mehr lange, denn wer wusste schon, woran sie gestorben waren? Am Ende steckte er sich noch mit einer Infektionskrankheit an. Nervös schnippte er mit den Fingern. Erst einmal Ruhe bewahren. Er kramte in seinen Hosentaschen nach seinem Kompass und als er sich gerade orientieren wollte, übergab ihm eine Frau ein in Stoff gehülltes Skelett als Tanzpartner, dabei sah sie ihn auffordernd an. Blitzschnell steckte er den Kompass wieder ein, sah in ihre Augen, die durchscheinend und glasig waren. Die Dame rief ihm auf Französisch zu: »Danse!«, nicht ohne ihm die erwarteten Bewegungen in Zeitlupe vorzuzeigen. Sie war hager und hatte sehr große Brüste, um welche sie ein blaues Tuch geschlungen hatte. Ihre Bewegungen waren abgehackt, dann rund, ernst, dann neckisch, dabei strahlte sie und ihr Gesicht warf Falten, die über es hinausragten, wie Strahlen sich ausbreiteten, sodass Anselm ganz warm wurde bei diesem Anblick. Doch mit Sicherheit ließe er sich nicht zu einem Tanz mit einem Skelett hinreißen, soweit würde es mit ihm, einem lupenreinen Wissenschaftler, sicher nicht kommen. Er tanze generell nicht, versuchte er auf Französisch mitzuteilen. Er wolle nicht unhöflich sein, doch es sei nicht seine Angewohnheit zu tanzen, dazu komme, dass er es eben nicht könne. Ihre Brüste bewegten sich vor seinem Gesicht auf und ab, während sie ihm weiter die richtigen Schritte zu zeigen versuchte. Anselm beobachtete, was passierte. Er fragte sich, wie er ihr beibringen konnte, dass er nun tatsächlich nicht tanzen würde. Er tanze nicht, sagte er nochmals. Es klang ein wenig aggressiv. »Je ne danse pas!« Er ziere sich nicht, sondern tanze nicht, das sei alles! Sie verstand wohl nicht, blieb vor ihm stehen, sah ihn an. Wieder schloss er die Augen. Vielleicht würde sie gehen, wenn er vorgab zu schlafen. Wenige Sekunden später öffnete er die Augen einen Spalt, doch sie stand immer noch vor ihm. Schnell schloss er sie wieder und wartete, so lange, bis er tatsächlich einschlief. Nach einiger Zeit rüttelte sie ihn sanft wach und drückte ihm einen Becher in die Hand, aus welchem er dankbar trank.

Er musste verrückt geworden sein. Was, wenn es ein Betäubungsmittel, ein Gift war, das sie ihm nun zugeführt hatte. Ob er gleich entschliefe? Jetzt tat er alles, um seine Augen offenzuhalten. Nicht einschlafen, nur nicht einschlafen, sagte er sich. Ihm wurde sehr warm, er griff sich mit der Hand auf die Stirn. Schweißperlen. Und in seinem Rachen breitete sich eine höllische Schärfe aus.

2. ISAAC

Männer und Frauen tanzten mit ihren Toten ums Feuer. Anselms zartes Gesicht mit kritischer Miene als einziger Weißer unter so vielen Menschen. »Alles Gute zum Geburtstag!«, sangen sie in einem seltsamen Französisch und Anselm tat so, als sänge er mit. Sobald er bemerkte, dass jemand ihn ansah, bewegte er die Lippen zum Text. »Alles Gute! Alles Gute! Den Toten. Den Toten. Alles Gute – den Toten! Alles Gute.« Brodelnd heiße Getränke in Holzbechern wurden serviert, später kühlendes und dann bräunliches Gebräu, warm, süßlich im Geschmack und im Hals eine kochende Schärfe zurücklassend, die ihm beinahe die Speiseröhre zersetzte. Anselm, durstig und hungrig zugleich, trank. Noch versuchte er, sich höflich zu zieren, hielt seinen Körper zurück und tat so, als wolle seine Seele tanzen, aber sein Körper könne eben nicht – und doch wurde er mehr und mehr, sein im Vergleich zu den anderen sehr kleines Knochenpäckchen tragend, in den Kreis der Tanzenden hineingezogen und das, obwohl er noch nie getanzt hatte und es lächerlich fand. Seine Knochen klackerten vor sich hin, als er versuchte, die Bewegungen der Madagassen nachzuahmen: Zwei Schritte nach vor, einen Schritt zurück, dreimal mit dem Hinterteil gewackelt, den Knochensack einmal gedreht, sich nach unten gebeugt, mit der Hand über die Erde gewischt, sich nach oben gestreckt, in den Himmel gesehen, eingeatmet, ausgeatmet und: Alles wieder von vorne. Es war gut, niemand schien ihn zu beobachten. Sich dermaßen der Lächerlichkeit preiszugeben, hatte er nicht für möglich gehalten, er schüttelte den Kopf und nahm noch einen großen Schluck aus seinem Becher. Jetzt unhöflich zu sein wäre keine gute Entscheidung, dachte er, es brächte nichts, sich den Groll der Einwohner zuzuziehen, schließlich brauchte er ihre Hilfe für seine Weiterreise und so beschloss er, sich vorerst anzupassen und wider besseres Wissen mit unter Umständen hochinfektiösen Knochen zu tanzen. Was er nicht noch alles für die Wissenschaft tun würde, dachte er, da war dieses Tänzchen doch eher ein Vergnügen, wenn auch vielleicht ein tödliches. Seine Augen wanderten nach links, dann nach rechts, schließlich beschloss er, das Risiko zu vergessen. Seine Gedanken schweiften wieder zu den Gebeinen in seinem Säckchen. Für sie bemühte er sich mit einem Mal, seine Bewegungen jenen der anderen Tänzer so genau wie möglich anzupassen. Schließlich konnte er es feiern, nicht selbst ins Reich der Toten übergegangen zu sein. Je mehr er sich diesem Fest hingab, desto eher fände er vielleicht jemanden, der ihm helfen würde. Meine Knochen im Tuch sollen zufrieden sein, es soll ihnen nicht auffallen, dass sie mit einem steifen Botaniker und nicht mit einem wendigen Insulaner tanzen. Trommeln, Glocken, Schellen und Flöten erklangen aus allen Richtungen, sie tanzten in einem Rhythmus, diese Schritte, als hätten sie nie andere gekonnt und ihre Füße wirbelten Sand auf, dass es nur so staubte. Anselm schaffte es als Einziger nicht, im Takt zu bleiben. Seine Waden wackelten, von Muskeln konnte bei ihm keine Rede sein und schnell kam er außer Atem. Mit geschlossenen Augen bemühte er sich, einen Rhythmus zu finden und als er sie öffnete, sah er, wie doch alle zu ihm blickten und lachten. Die Frauen hatten die Tücher mit den sterblichen Überresten ihrer Ahnen auf den Schultern, gemeinsam teilten sie sich die Last, sie bewegten ihre Körper steif, traurig, im nächsten Moment wendig, fröhlich, eine Art, der Anselm langsam etwas abgewinnen konnte. Sie lachten, doch ihre Augen blieben ernst. Immer mehr fiel er nun, mit jedem Becher, den er trank, in die Bewegungen der Menge, dachte dann an gar nichts mehr, tanzte wild und traurig, lachte und schien auch zu weinen. Seine Bewegungen wirkten immer noch ungelenk, waren ohne jeden Rhythmus – doch er merkte es nicht mehr. Ein junger Mann bewegte sich in fließender Weise vor ihm. Breite Schultern hoben sich auf und nieder, die Schwingen eines großen Vogels. Sein Gesäß, apfelrund geformt, ließ Anselm an eine griechische Elfenbeinstatue denken. Ein kühler Schauer lief durch seinen Körper. Die Fußballen des Tänzers schmiegten sich in den Sand und hinterließen scharfe Abdrücke. Anselms Blick wandte sich nach innen, dort sah er wieder den Körper dieses Mannes als Äußerstes, es füllte seinen eigenen aus und außerhalb sah er in diesem Moment nichts. Wieder durchrieselte ihn etwas, als entspannten sich seine Muskeln, um dann zu zerfallen. Es war, als klaffe eine zuvor nie gespürte Wunde in ihm. Als der Tänzer sich umdrehte und ihm in die Augen sah, stolperte Anselm, fiel mit seinem Knochenpäckchen zu Boden. Das Tuch ging auf, die sterblichen Überreste seiner Leiche lagen vor ihm im Sand. »Bist du in Ordnung?«, fragte der Tänzer Anselm auf Französisch. »Ça va?«, seine Nasenflügel bebten. »Ça va, merci!«, schnell wickelte Anselm seine Knochen wieder ein und sprang auf, als sei nichts gewesen. »Könntest du mir helfen, ich suche einen Kompagnon!« Doch der Mann tanzte weiter und verschwand so schnell aus Anselms Blickfeld, wie er gekommen war. Er fand ihn nicht wieder. Einen Becher nach dem anderen trinkend und weiter für seine Knochen seinen Körper wiegend, sah er sich suchend um. Zum ersten Mal seit Langem dachte er nicht an seine Orchideen.

Anselms Füße scharrten im sandigen Boden. Seine Hände flirrten in der Luft. Die Knochen im Leinen auf seinen schmalen Schultern glitten hin und her und seine Mimik war verzerrt. Weil er nun wieder ständig seine Umgebung vermaß, nach links, nach rechts, nach vorne und hinten blickte, erinnerte er an ein nach Körnern pickendes Huhn.

Immer wieder wurden ihm Getränke gereicht. Durstig vom Tanz und um die ohnehin glühende Kehle zu löschen, lehnte er nicht ab.

Er fand sich auf dem Boden einer Hütte wieder. Neben ihm lag noch jemand, doch Anselm konnte nicht erkennen, wer es war. Er wollte aufstehen, diesen Menschen aber nicht wecken, deshalb blieb er liegen und starrte in die Luft, bis es dämmerte. Morgenlicht fiel durch die Ritzen der Hütte, gebrochen durch die Blätter des Bastpalmendachs glich es einem bebenden Fächer. Das Licht kroch Zentimeter für Zentimeter weiter über den brüchigen Boden ins Innere, bis es über seine Decke wanderte und dann den ganzen Raum erfüllte. Jetzt sah er, dass der Mann neben ihm der wendige Tänzer vom Vortag war. Wie kam das denn, fragte er sich, und merkte, sich kaum an etwas erinnern zu können. Er sah nochmals den Tänzer an und stöhnte auf. Wie ihm so etwas passieren konnte, an einem unbekannten Ort aufzuwachen, neben einem Menschen, den er nur einmal für einen Augenblick gesehen hatte. Was hatte ihn nur getrieben, sich so zu betrinken?

Langsam erwachte der Mann neben ihm. Anselm entschuldigte sich dafür, ihm vermutlich Unannehmlichkeiten bereitet zu haben. Der Tänzer lachte. Anselm sei mitten im Geschehen eingeschlafen, man habe ihn gemeinsam hierhergetragen, er solle sich nicht sorgen, es sei keine Schwierigkeit gewesen. Anselm war erleichtert. Die beiden stellten sich einander vor und endlich hatte Anselm die Gelegenheit, alle Fragen zu stellen, die ihm wichtig waren.

Er solle nie wieder nach einer Kutsche fragen, sagte Isaac, als sie aus der Hütte traten und die Sonne gelb schillerte. Wie er denn ohne Kutsche reisen solle, fragte Anselm. Auf Madagaskar würden die Menschen getragen, in Stafetten, von sogenannten Stafettenträgern, die Brücken aus Menschen bildeten und er, Anselm, würde von Brücke zu Brücke getragen. »Lieber reite ich auf einem Elefanten!«

Isaac schüttelte nur mitleidig den Kopf.

»Auf einem Pfau?«

Isaac schaute auf ihn herunter. Er und seine Freunde seien Gefangene der Königin, sagte Isaac, sie arbeiteten für sie. Wenn die Königin nichts von Anselms Einreise wisse, rate er ihm dazu, still und ohne aufzubegehren seinen Anweisungen zu folgen, sofern es sein Anliegen war, die Insel lebend wieder zu verlassen. Täglich komme es zu brutalsten Handlungen, zu Folter, Enthäuten, Enthauptung. Wolle Anselm zu seinen Orchideen, müsse er sich ihm anvertrauen und in einer Sänfte reisen, so seien die Bräuche der Insel, die er zu akzeptieren habe. Anselm verstand. »Ich werde deine Vorschläge nicht weiter abdisputieren!«, versprach er. Isaac sah ihn erstaunt an. Jetzt erst fiel Anselm sein Gepäck ein, er fragte, wo es sei und zog zur gleichen Zeit seinen Kompass aus der Hosentasche, merkte, wie seine rechte Hand dabei ein wenig zuckte, beinahe im Rhythmus der Nadel. Die Koffer stünden hinter der Hütte unter einem Dach, sagte Isaac. Sie gingen, um sie zu holen und Anselm fragte nach einer Möglichkeit, sich zu waschen. Sie gingen zu einer Wasserstelle, wo er sich auszog, erfrischte, nicht ohne dabei von Isaac bewacht zu werden. Danach schulterten sie sein Gepäck, Isaac sprach noch mit mehreren Einwohnern des Dorfes, bevor sie sich auf den Weg machten. Wohin, wusste Anselm selbst nicht genau. Er war auf Isaac angewiesen, einzig der Kompass als unmissverständliche Orientierungshilfe war sein Trost und rührte ihn in diesem Moment, er tröstete ihn über das Gefühl seiner Hilflosigkeit hinweg und auch über die bevorstehende Reise in einer Sänfte, die er als kränkend empfand, denn als Mann von Männern getragen zu werden war eine beschämende Vorstellung. Der Kompass, welcher ihm die einzige Möglichkeit bot, sich selbst zu orientieren, gab ihm ein Stück seiner Unabhängigkeit zurück. Isaac bestaunte das Gerät, er hatte noch nie zuvor so etwas gesehen. Lange erklärte ihm Anselm die Funktion. Anselm müsse ein Genie sein, sagte Isaac, denn er glaubte, Anselm habe den Kompass selbst gebaut. Dieser schwieg lächelnd.

Sänften aller Art. Männer, die jeweils zu zweit einen langen Stock geschultert hatten, an dem eine Hängematte hing. Andere zu viert, klassische Sänften tragend, schmucklose, flache Holzkonstruktionen, auf welche man sich setzen konnte oder solche, die einem Sessel glichen, mit einer angebauten Tragekonstruktion. Es gab auch pompösere Modelle, gepolsterte Fauteuils, mit frischen Blumen geschmückt und sogar mit Sonnendach, während an anderen bunte Sonnenschirme angebracht waren.

Auf dem Dorfplatz herrschte Wirrwarr. Frauen, die auf ihren Köpfen Körbe mit lebenden Enten trugen, priesen neben Männern mit frischen Fischen auf Spießen ihre Waren an. In Bambuskäfigen sprangen Lemuren von einer Seite zur anderen und streckten ihre Pfoten durch die Stäbe, sobald sie Essbares in ihrer Nähe sahen. Große Körbe mit Früchten, Säcke mit Reis, zwischen freilaufenden Pfauen, Gänsen, Hühnern und dazu Möwen, die schreiend über dem Geschehen kreisten. Isaac sprach mit den anderen Stafettenträgern, und während er Anselm vorstellte, gestikulierte er, lachte, bis sie ebenfalls zu lachen begannen, Anselm wie einem Freund auf die Schulter klopften, ihn umarmten, ihm seine Koffer abnahmen und seine Kleider bestaunten. Wieder wurde er hin- und hergeschoben, mal in die eine, dann in die andere Richtung – gut, sie hatten sich entschieden, er wurde auf eine bequeme, blumengeschmückte Sänfte gehoben, mit bunt glitzernd besticktem Baldachin. Sein Einspruch blieb ungehört, er nahm Platz. Warum sie nicht einfach ein normales Modell für ihn ausgewählt hatten? Wie lächerlich und hilflos er in diesem Blumengestell aussehen musste! Und wann ging es endlich los? Nun ließ man ihn auch noch warten – was sollte das, schließlich bezahlte er für die Fahrt, die in Wirklichkeit keine Fahrt war. Anselm wurde ungeduldig, er fühlte sich auf seinem Blumenthron ausgestellt, und als er schon fast wieder abspringen wollte, hoben vier Männer ihn samt Sänfte hoch, und es ging los. Schon nach kurzer Zeit wurde die Umgebung grüner. Orchidee hatte er noch keine gesichtet. Anselm war verunsichert. Er spürte Verzweiflung in dem Gefühl nicht zu wissen, an welchen Ort er sich genau begeben sollte, um seine Suche zu beginnen. Er durfte sich keine Fehler in seiner weiteren Planung erlauben, denn er konnte nicht ewig auf der Insel bleiben.

Isaac blickte zu ihm hoch. Wie aus einer mit Wasser gefüllten Schale gösse sich eines Tages vor ihm aus, was zu ihm gehöre, sagte er. Darauf solle er vertrauen.

Anselm lehnte sich zurück. Isaac hatte recht. Er und seine Koffer waren auf dem Weg in die Hauptstadt. Erst wenn er dort angekommen war, konnte er die nächsten Schritte planen. Staunend saß er nun in der schaukelnden Sänfte, in seinen Händen hielt er eine duftende Banane und würzigen Kaffee. Es war die erste Banane seines Lebens. Später erzählte er, ihre Schale sei dick, wie jene einer Zitrone gewesen, nur glatter und weicher. Innen und außen sei sie ebenfalls gelb, zitronengelb gewesen, nur geschmeckt habe sie anders als eine Zitrone. Geschmacklich sei sie sogar ihr Gegenteil gewesen, mit weichem, samtig auf der Zunge schmelzendem Fruchtfleisch. Ihr Aroma könne mit nichts auf der Welt, das er kannte, verglichen werden. Die Banane habe nach gelbem Samt geschmeckt.

»Und dies alles, dies alles ist Madagaskar!«, sagte Anselm leise vor sich hin.

3. VANILLE

Es war ein Wind, der Vanilledüfte um ihn wehte. Es waren Reispflanzen, die sich vor ihm verneigten. Es war ein Schaukeln, als ritte er auf einem Elefanten. Es waren Feuerblumen, deren erste Blüten er sah. Die Frauen trugen Früchte oder Fische in Körben auf ihren Köpfen. Die Teiche waren voller Seerosen. Moorenten schwammen in ihnen, die ihn mit ihrem Schnattern vor dem Einnicken bewahrten und er glaubte, als er die Augen öffnete, wie man einen Sonnenschirm aufspannt, die ersten Ravenala in der Ferne zu sehen. Paddelförmige Blätter auf palmenartigen Stämmen, zu riesigen Fächern angeordnet. Es waren die ersten »Bäume der Reisenden«, die Anselm sah und sie waren größer, als er es sich erträumt hatte. Die Männer, die ihn trugen, liefen die meiste Zeit, was ihn zu der Erkenntnis brachte, dass er mit einer Kutsche nicht schneller hätte sein können. Es war ein warmer Wind, der ihn empfing. Er roch süßlich, nach Rhabarber, Pfeffer oder Vanille. Er sah keine Waffen, sondern Blumen. Anselm schlief immer wieder ein, bis sie nach vielen Pausen und drei Nächten, die sie am Boden in einfachsten Hütten verbrachten, nach viereinhalb Tagen die Stadt erreichten.

Isaac musste sich ausruhen, er war vollkommen erschöpft und Anselm um ihn besorgt. Nicht länger als ein paar Stunden hätte er Ruhe, dann warte bereits neue Arbeit auf ihn, sagte er. Isaac hatte einen gewissen Lendy auskundschaften lassen, von welchem er behauptete, dass dieser auch ein Botaniker sei und nach Orchideen suchen wolle, angeblich befinde er sich bereits auf dem Weg zu ihnen. Dieser wolle ebenfalls in den Osten, meinte Isaac, was Anselm überraschte. Isaac würde versuchen, sich selbst und drei weitere Kollegen vom Stafettendienst freizumachen, um Lendy und Anselm in den Osten zu bringen. Diese Reise kostete viel, es war gut, wenn er sich die Kosten mit diesem englischen Botaniker, den er zwar noch nicht kannte, aber von dem er doch glaubte, schon einmal gehört zu haben, teilen konnte. Ja, sagte er vorerst zu allem, was Isaac vorschlug und war überrascht, immer wieder für kurze Zeit völlig zu vergessen, weswegen er auf die Insel gekommen war. Er merkte, dass er in solchen Augenblicken Isaacs Gesicht, seinen Mund, seine Stimme und Worte im Kopf hatte, nicht die Orchideen. Er fühlte sich zufrieden, in jenen Momenten, wunschlos, ein Zustand, den er zuvor noch nicht erlebt hatte. Wie konnte er wunschlos sein, dachte er dann, in unmittelbarer Nähe zur schönsten Orchidee der Erde, ohne sie noch gefunden zu haben? Es musste die heiße, schwer und süßlich nach feuchten Fruchtkapseln und erdigen Schoten riechende Luft sein, welche seinen Geist lähmte und betörte und diese Veränderung in ihm bewirkte.

Anselm saß vor der Hütte am Ufer eines langsam fließenden Flusses, dessen Wasser behäbig durch seinen Lauf quoll, als wäre es Öl. Er lehnte sich an seine Koffer, atmete, seufzte auf, als der Botaniker Lendy eintraf, ebenfalls auf einer Sänfte getragen – und direkt vor Anselm in gekonntem Sprung abschwang.

»Petit monde!«, rief Anselm. »Fühlt sich an, als hätten wir abgemacht, uns hier zu treffen.«

»Small world? Big world!«, konterte Lendy in feinstem British English. »Ist nicht weniger als eine göttliche Fügung.«

Dann erzählte er schwer atmend, er sei soeben an einer Hinrichtung vorbeigekommen. Hier in der Stadt, sagte er, morde und foltere man, völlig willkürlich, deshalb wolle er sie so schnell als möglich verlassen. Er ließ sich auf dem Boden nieder und Anselm sah noch den Schrecken in seinen Augen.