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Auf dem Planeten Magnus leben Menschen zusammen mit anderen vernunftbegabten Wesen. Magische Kräfte sind allgegenwärtig. Zwischen den Mitgliedern des Weißen Ordens und den abtrünnigen Gorgulzauberern entspinnt sich ein Machtkampf, der das einst blühende Reich von Kamal zu zerreißen droht. Im Konflikt auf Leben und Tod versuchen der Weißmagier Ormog und seine Gefährten zu verhindern, dass der Dunkle Meister der Gorgul sein Ziel erreicht: die unumschränkte Herrschaft des Bösen. Das Blatt wendet sich, als Ormog sich mit seiner gefährlichsten Gegnerin verbündet. Vatya, die Elitekämpferin der Gorgul, wechselt die Seiten. Können sie und Ormog ihre Zivilisation vor dem Untergang bewahren?
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Seitenzahl: 334
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THOMAS ENGEL
ORMOG –DER LETZTE WEISSE MAGIER
Fantasyroman
Fabulus Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, Fellbach
Umschlaggestaltung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, leonberg
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-944788-07-4
Besuchen Sie uns im Internet: www.fabulus-verlag.de
Die Publikation dieses Werks erfolgt auf Vermittlung von Marion Voigt · Lektorat | Text | Agentur · Zirndorf.
Prolog
Erwachen
Vergangene Schatten
Ruinen
Durch das Auge des Adlers
Inoffizielle Wege
Hohe Herren
Sandige Wege
Verschmelzung
Nachtragende Herren
Misstrauen
Die Unerkannten
Schwarz und Weiß
Die Pläne der Listigen
Vorbereitungen
Der Namenlose
Aufbruch
Epilog
Diese Geschichte spielt nicht auf der Erde. Sie spielt auf dem wunderbaren, im wahrsten Sinne des Wortes magischen Planeten Magnus. Er ist der Erde in Größe, Masse, Atmosphäre und Oberflächenbedingungen ähnlich, bevölkert von Menschen, aber auch von zahlreichen anderen vernunftbegabten Wesen.
Der Name des Planeten entspricht einem alten einheimischen Wort. Es steht für großartig, schön oder wichtig. Den Teilnehmern der ersten Expedition von der Erde erschien das lateinische »magnus« dafür als geeignete Übersetzung.
Zugleich weist »magnus« auf die wohl herausragendste Eigenschaft dieser Welt hin: Das Leben ist nicht nur geprägt von der vielfältigen Fauna und Flora sowie von den verschiedensten Lebensweisen und Ideologien der Bewohner. Es zeichnet sich vor allem aus durch die Allgegenwart der Magie.
Die meisten Bewohner sind in der Lage, diese Kräfte zu nutzen – einige haben nur geringe Begabung, andere wiederum verfügen über außerordentliche Fähigkeiten. So ist die Zauberei ein selbstverständlicher Teil des bunten und facettenreichen Lebens auf Magnus.
Die Geschichte, um die es geht, handelt von einer Zeit, lange bevor die Menschen der Erde diesen Planeten entdeckten. Sie hat sich ereignet in einem Land namens Kamal.
In jener Epoche beherrscht das Reich von Kamal den gesamten Kontinent Esatt. Zu seinen Provinzen zählen auch Küstengebiete auf dem riesigen Nachbarkontinent Ahemusa, der größten zusammenhängenden Landmasse auf dem Planeten. Außerdem besitzt Kamal mehrere Kolonien. Doch das Reich ist stark geschwächt und zeigt Anzeichen des fortschreitenden Zerfalls.
Während der Wirren von Putschversuchen, Korruption und unter außenpolitischem Druck erschüttert ein grausamer Bürgerkrieg das Land. Zwei Fraktionen des staatlichen Magierordens ringen miteinander um die Vorherrschaft. Die Gorgul, Mitglieder einer zu allem entschlossenen Sekte, spalten sich von dem Weißen Orden ab, der jahrhundertelang an der Führung des Landes beteiligt war. Sie verfolgen mit einer Mischung aus politischem Geschick, Bestechung und Gewalt ihr Ziel, den Weißen Orden zu vernichten und die Macht in Kamal an sich zu reißen.
Doch hinter all dem steht eine noch viel größere Bedrohung, die aus dem Verborgenen heraus die Fäden zieht und finstere Pläne für die Zukunft schmiedet!
Der Überlieferung nach bewahrte ein Mann die Erinnerung an die tatsächlichen Ereignisse, bis die Zeit reif dafür war, sie weiterzugeben. Tapferkeit und Vertrauen, Mitleid und Liebe sind die Schlüssel zu seiner Geschichte. Er hat nun das Wort.
»Noch etwas Wein, Herr?«, fragte Ichtyon beflissen.
»Sei bedankt«, erwiderte Ormog, während sein Leibdiener ihm von dem köstlichen Lhemar-Wein einschenkte. Schon länger spielte er mit dem Gedanken, Ichtyon die Freiheit zu schenken, wenn er selbst wieder vollständig genesen war. Aber würde es je so weit kommen? Während er den Ausblick von der Terrasse seines hochgelegenen Anwesens über die weiten Felder, die satten Wiesen und die bunten Siedlungen des Plemarintals genoss, nagten Zweifel an ihm.
Noch immer konnte er sich nicht an die vergangenen Ereignisse erinnern. Sein früheres Leben lag unter einem grauen Nebelschleier des Vergessens. Wenn er doch nur wüsste, was für ein Mensch er gewesen war. Ein Krieger, ein Adeliger, ein General? Ein Berater des Herrschers? Hatte er eine schlimme Tat begangen und war deshalb hierher verbannt worden? Nur zu gerne hätte Ormog Antworten auf all seine Fragen gefunden. Aber seine Erinnerungen setzten erst bei dem Moment ein, als er die Augen aufschlug und sich vom Krankenlager aus im Ruhegemach der Villa umschaute, in der er nun lebte. Das war über acht Sonnwenden her.
Oft ließ Ormog sich zur Meditation nieder, um in tiefsten Regionen seines Unterbewusstseins nach Hinweisen zu suchen. Manchmal schien es, als könnte er seine Vergangenheit greifen und an das lichte Ufer des Bewusstseins ziehen, doch dann entglitt sie ihm wieder und hinterließ eine gähnende Leere in seiner Seele.
Mehr als einmal hatte er seine Diener gefragt, weshalb er sich in solch beklagenswertem Zustand befand. Doch niemand konnte oder wollte ihm darüber Auskunft geben.
Mit der Dämmerung wurde es Ormog zu kühl und so erhob er sich seufzend aus dem Sessel, um sein Schlafgemach aufzusuchen. Als er aus dem Augenwinkel einer verstohlenen Bewegung gewahr wurde, wandte er sich beunruhigt um, doch alles schien in bester Ordnung. Wahrscheinlich war es nur sein getreuer Ichtyon oder ein anderer der dienstbaren Geister gewesen, die sich tagtäglich um ihn und die Villa kümmerten. Trotzdem legte er, einem unerklärlichen Instinkt folgend, eine Hand auf den vertrauten lederumwickelten Griff seines Schwertes. Der kühle Stahl hatte etwas Tröstliches und gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Ormog schritt auf die Verandatür zu. Da glitten plötzlich aus den Schatten der süß duftenden Büsche an der Terrasse drei schwarz verhüllte Gestalten und warfen sich mit silbern aufblitzenden Klingen auf ihn. Ormog reagierte mit den Reflexen eines Kämpfers, der er vielleicht einmal gewesen war. Er wich aus und schlug den ersten auf sein Herz zielenden Dolch zur Seite. Dann tauchte er unter dem Hieb des zweiten Meuchelmörders hinweg, brachte ihn zu Fall und bohrte mit dem Schwung derselben Bewegung sein Kurzschwert in die dritte vermummte Gestalt. Er rollte sich genau im richtigen Augenblick zur Seite ab, als ein weiterer Dolch die Luft an der Stelle zerteilte, wo sich sein Kopf gerade noch befunden hatte.
Ormog griff hinter sich und packte das Nächstbeste, was er zu fassen bekam. Ein bunt bemalter Blumentopf fand keine Sekunde später sein Ziel. Eigentlich viel zu schade, um auf dem Kopf eines Meuchelmörders zu enden, dachte Ormog.
Mit einem heftigen Schlagabtausch geleitete er schließlich auch den verbliebenen Attentäter an die schwarzen Ufer der Unterwelt. Bevor er zum letzten Stoß ansetzte, konnte er dem Mann in die Augen sehen. Das unmenschliche Verlangen nach Blut funkelte Ormog aus dem Schatten der schwarzen Kapuze entgegen, bevor der stechende Blick dieser mordlüsternen Augen verlosch.
Ein durchdringendes Gefühl der Bekanntheit überwältigte Ormog. Die vermummten Gestalten, der Blick der Augen und nicht zuletzt die unerwartete Sicherheit, mit der er selbst die Klinge geführt hatte, drängten in seinen Geist und weckten Erinnerungen an längst vergangene Tage. Dieses Mal entglitt ihm die Vergangenheit nicht wieder, sondern offenbarte sich ihm glasklar. Eine Flut von Bildern stürzte auf ihn ein und die Größe der Erkenntnis ließ ihn wanken. Dann breiteten sich die samtschwarzen Flügel der Ohnmacht über seinen Geist und er sank in die helfend ausgestreckten Arme herangeeilter Diener.
Ormog erwachte und richtete sich auf dem Bett auf, das ihn so sanft in seiner Ohnmacht behütet hatte. Die grauenvollen Kopfschmerzen ließen seinen Blick verschwimmen, als er sich, auf Ichtyons Arm gestützt, erhob. Nachdem sein Diener ihn hinaus auf die Terrasse geführt hatte, konnte Ormog endlich wieder frei atmen. Er sank in den Sessel.
Der Mordversuch der schwarzen Gestalten hatte in seinem Inneren etwas in Gang gesetzt, sodass die Nebel des Vergessens einzelne Puzzlestücke seiner Vergangenheit preisgaben. Diese Fragmente brachten andere Fragmente mit sich. Bald ergab sich daraus ein Bild, das immer detaillierter wurde und weitere Erinnerungen vor seinem geistigen Auge erblühen ließ.
Ormog rang nach Luft, er drohte in der Flut der Erkenntnisse unterzugehen. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Eindrücke zu ordnen. Und so dauerte es einige Zeit, bis er seinem Diener bedeutete, sich neben ihn zu setzen.
»Ichtyon, mein Getreuer, tritt näher. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, von der ich glaube, dass es meine ist.«
»Die verfluchten Gorgulzauberer ziehen sich in die Stadt zurück und verschanzen sich dort«, knurrte Limiodh.
Ormog überblickte von der Anhöhe aus das öde Schlachtfeld, in dessen Mitte sich die Mauern der einstmals blühenden Großstadt Vimu erhoben. Tatsächlich wichen die schwarzen Hexer langsam hinter die Mauern der Stadt zurück und überließen ihren Söldnern das Feld. »Haben sie also endlich eingesehen, dass der Kampf für sie verloren ist«, erwiderte Ormog und wandte sich an Yoth mit dem Signalhorn: »Gib dem Kommandanten der zweiten Kaptrom das Zeichen, die Deckung zu verlassen und die Stadt von Norden her einzukreisen. Sie sollen den Gorgul den Weg abschneiden.«
Yoth salutierte mit einem zackigen »Kreschat!«, er habe verstanden, und gab die Anweisungen an das Signalkatapult weiter. Einen kurzen Moment sah Ormog den himmelwärts aufsteigenden Glutballen nach, bevor er die Aufmerksamkeit wieder seiner Kaptrom widmete.
Die Entschlossenheit der gegnerischen Ravalsöldner war bereits im Schwinden begriffen. Da bemerkten sie, dass ihre feigen Geldgeber sie auf dem Schlachtfeld im Stich ließen, während sie selbst sich den Reihen der fünften eisernen Kaptrom des Herrschers gegenübersahen.
Als auch noch die dicken Tore der Stadt hinter ihnen verriegelt wurden, entschieden die Söldner offenbar, dass ihnen das Gold, mit dem die Gorgul sie bezahlten, nun nicht mehr so wichtig war wie ihr Leben. Ormog befahl den Katapulten, den Beschuss einzustellen, und beobachtete geduldig, wie die Söldner gut erkennbar ihre Waffen zu Boden warfen. Flink bestieg Ormog sein Reitsamtar, um die Kapitulation des Anführers entgegenzunehmen. Er war froh, dass die Söldner vernünftig waren und nicht bis zum letzten Mann kämpfen wollten. Denn Ormog hasste es, unnötig Leben zu opfern. Während er noch die letzten Befehle für die Aufnahme der Ravals und die Erstürmung der Stadttore gab, sehnte er sich nach seinem Zuhause.
Er wollte zurück in die Hauptstadt, in den Hallen der Weisheit meditieren und sich weiter dem Studium der Zauberkünste widmen. Auch auf das bunte Treiben der abendlichen Souks freute er sich, aber tief im Inneren ahnte er, dass alle die Beschäftigungen, denen er in seiner unbeschwerten Jugend nachgegangen war, längst der Vergangenheit angehörten.
Seit Beginn des Bürgerkriegs in Kamal war alles anders geworden. Die Allgegenwart von Gewalt und Verrat hatte ihre Spuren hinterlassen, sowohl im Land als auch in den Menschen. Ormog machte sich keine Illusionen, er würde nach der Erstürmung Vimus nicht in einem vom Volk bejubelten Triumphzug in die Hauptstadt einziehen, gefeiert als siegreicher Held über die verdorbenen Gorgul – bei Sagash, nein! Der einzige Grund dafür, dass Ormog und seinesgleichen nicht mit Steinen und Stahl vertrieben wurden, wo immer sie auftauchten, war der, dass die einfachen Leute ihre magischen Kräfte zu sehr fürchteten. Zudem hatte der Herrscher alle Angehörigen des Weißen Magierordens mit der Befehlsgewalt über die eisernen Kaptroms ausgestattet und die traurige, aber vielfach bestätigte Regel »Wer die Waffen hat, hat die Macht« galt auch hier. Unglücklicherweise besaßen die Gorgul ebenfalls Waffen.
Der Bürgerkrieg wütete nun schon das zweite Jahr. Genau genommen war es kein
Bürgerkrieg. Es war ein Magierkrieg. Lange Zeit hatte der Weiße Orden neben dem Heer eine anerkannte Macht innerhalb des kamalischen Staatswesens dargestellt. Der Weiße Orden besaß das Recht, jeden magiebegabten Menschen zu sich zu holen und nach den eigenen Regeln auszubilden. Über Generationen hatte dies gewährleistet, dass die Zauberer in Kamal den strengen Verhaltenskodex des Ordens einhielten und ihre Kräfte zum Nutzen des Volkes gebrauchten.
Dann aber hatte sich eine Zauberersekte mit ungeklärtem Hintergrund gebildet, die den Gebrauch der magischen Fähigkeiten ohne Rücksichtnahme auf das gemeine Volk predigte. Im Gegenteil, die Gorgul versprachen das Erlangen fast unbegrenzter Macht über alle anderen. Und genau dadurch wurden sie so gefährlich, denn sie appellierten an die verborgene Gier, die mehr oder minder ausgeprägt in jedem Menschen und besonders in jedem Zauberer steckte. Bald spaltete sich der Orden und viele Weißmagier legten die Ketten der Verantwortung und Rücksichtnahme ab.
Da einige von ihnen auch wichtige politische Ämter ausübten, wuchs sich der Einfluss der Gorgul zu einer realen Bedrohung aus. Als es schließlich zu Anschlägen auf Mitglieder des Weißen Ordens und auf Politiker kam, wurden die Weißen Magier durch den Herrscher ermächtigt, alle Mittel einzusetzen, um die Gorgulsekte zu vernichten.
Viele Menschen hatten schon sterben müssen und im Volk war ein unbändiger Hass auf alle Magier entflammt, ob machthungrige Gorgul oder rechtschaffene Weißmagier. Für das Volk war das einerlei; wo Zauberer auftauchten, herrschten bald Tod und Verwüstung. Die einfachen Leute schworen, sie wären wesentlich besser dran ohne Magier, die nichts als Verderben brachten. So wurden im Kronrat bereits Stimmen laut, die die Vertreibung ausnahmslos aller Magier aus dem Land forderten.
Ormog war sich dessen bewusst. Es bedrückte ihn, dass das Ansehen seiner Kunst durch die brutalen Machenschaften der Gorgul und die dadurch erzwungenen Reaktionen der Weißmagier zerstört wurde. Missmutig ließ er den Blick über das mit Toten übersäte Schlachtfeld und die brennenden Wehranlagen Vimus schweifen. Der Krieg war ihm zuwider, aber es gab nicht mehr viele, die den Gorgul Einhalt gebieten konnten.
Auch wenn das Volk den Kampf nicht zu schätzen wusste und sein Bemühen womöglich auf eine Verbannung aus dem Lande hinauslief, so musste er doch alles versuchen, um die undankbaren Menschen von der grausamen Plage der Gorgul zu befreien.
Mit bitterer Miene sah er zu, wie seine Truppen mithilfe der übergelaufenen Ravalsöldner das Stadttor niederrissen und den feigen Gorgul entgegenstürmten. Auch hier würden eine Menge unbeteiligter Menschen ihr Leben lassen, dachte Ormog düster.
Er war nicht zum Feldherrn geboren. Aber vielleicht gefiel es dem Schicksal, eine bittere Ironie der Götter, dass man genau ihn auserwählt hatte, um die Hauptoffensive gegen eine der größten Gorgulzellen anzuführen.
Lautlos huschte Vatya Ganta von einem Schatten zum nächsten, während sie dem Mann, der in einen unauffällig grauen Mantel gekleidet war, durch die stinkenden, finsteren Gassen des Handwerkerviertels folgte. Unglaublich, in welchen Gegenden sich ein für den Weißen Orden so wichtiger Mann herumtrieb. Er war selbst kein Zauberer, allerdings Mitglied im Kronrat des Herrschers und immer ein leidenschaftlicher Unterstützer des Ordens gewesen. Über einen Agenten in seiner Dienerschaft hatten die Gorgul erfahren, dass der Weiße Orden sich versammeln wollte, um große Pläne zu erörtern, und dass dieser Mann hier dabei sein würde. Also hatte man ihr den Auftrag erteilt, ihn zu beschatten, was wesentlich einfacher war, als einem Weißmagier zu folgen, der sofort die Anwesenheit der Gorgul bemerkt hätte.
Sie drückte sich tief in die Dunkelheit eines Eingangsportals, als der grau gekleidete Mann unruhig den Kopf umwandte und mit dem scharfen Blick seiner wachsamen Augen die Gasse nach möglichen Verfolgern absuchte. Dann verschwand er schnell in einem unscheinbar wirkenden Hauseingang, dessen Tür sich wie von selbst lautlos hinter ihm schloss.
In einer fließenden Bewegung huschte sie zu der Tür. Sie zückte einen schmalen Dolch, der unheilvoll im trüben Licht der Monde schimmerte, und steckte ihn mit geübten Bewegungen in den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen. Einige Sekunden später sprang die Tür mit trockenem Klicken auf.
Ein Wächter stand im Hausflur und sah sie erschrocken an. Noch ehe er in der Lage war, sein Schwert zu ziehen, stieß Vatya einer Schlange gleich vor und versenkte ihren Dolch tief im Lederharnisch des Wachmannes. Sie nahm sich nicht die Zeit, die Klinge zu säubern. Wohin war der Ordensmann unterwegs? Sie musste ihm folgen und herausfinden, was die Weißmagier im Schilde führten.
Eilig, aber dennoch völlig lautlos bewegte sie sich den dunklen Hausflur entlang bis zu einer schweren Holztür. Die Tür war nur angelehnt, ein Streifen fahlen Lichtes fiel durch den Spalt und zeichnete eine mahnende Linie auf den Boden. Vorsichtig spähte sie hinein.
Hinter der Tür befand sich ein kreisrunder Raum ohne Fenster. Dafür wies seine kuppelförmige Decke eine große runde Öffnung auf, durch die blasses Mondlicht schien und sich auf einer kunstvollen Einlegearbeit im Boden spiegelte. Vatya sah genauer hin und stellte fest, dass es sich bei dem mit Silber eingelegten Mosaik um ein Temesch-Oktagramm handeln musste. Dieser magische achtzackige Stern war eines der bestgehüteten Geheimnisse des Weißen Ordens. Aber die Gorgul kannten dieses Geheimnis, denn in ihren Reihen gab es viele abtrünnige Weißmagier. So wusste Vatya, dass es sich bei dem Stern um eine Art Teleportationsvorrichtung handelte, mit der man binnen Sekunden von einem Ort zu einem anderen wechseln konnte, der ebenfalls ein solches Temesch-Oktagramm besaß.
Vatyas Blick erfasste vier Männer in grauen Kutten, die im Schneidersitz um das Oktagramm herum saßen. Im Zentrum dieses magischen Zirkels stand der Mann, den sie beschattet hatte. Ungeduldig herrschte er die Sitzenden an: »Schickt mich zum Ort der Versammlung! Sofort!«
Ohne Umschweife begannen die vier, sich im Kreis an den Händen zu fassen. Dumpfes Gemurmel erfüllte den Raum und steigerte sich schnell zu einem an den Nerven zehrenden Ton, der irgendwie zu entgleiten schien. Der Graue in der Mitte leuchtete bernsteinfarben auf und schien sich in zerfließende Wolken aufzulösen, dann war er verschwunden.
Der Mann, der der Tür gegenübersaß, blickte auf. »Gorgul«, flüsterte er. Vatya stieß die Tür auf und warf sich auf den ihr am nächsten Sitzenden, bevor er sein Schwert ziehen konnte. Geschwind rappelte sie sich hoch und fing gerade noch einen gleißenden Blitz aus der ausgestreckten Hand des Mannes ab, der sie zuerst erblickt hatte. Sie ließ seinen Blitz eine Weile um ihre Finger spielen, dann schenkte sie ihm die Freiheit und streckte damit zwei seiner Gefährten nieder.
Der letzte der Magier tastete hastig nach seinem Schwert, doch er kam nicht dazu, es zum Einsatz zu bringen. Einer Handbewegung Vatyas folgend begann die Klinge plötzlich, ein Eigenleben zu entwickeln, und wand sich schlangengleich um seine beiden Handgelenke.
»Und jetzt wirst du mir verraten, wo der Mann vorhin so dringend hinwollte!« Der Zauberer verneinte energisch und versuchte, seine stählernen Fesseln abzuschütteln. »Dass ihr aber auch immer so störrisch sein müsst!«, knurrte sie und drang in den Geist des Zauberers ein. Nachdem sie gefunden hatte, was sie suchte, verlor sie keine Zeit. Sie stellte sich in die Mitte des Achtzacksternes und murmelte einige Zauberformeln. Im Gegensatz zu dem Mann, den sie hatte beschatten sollen, brauchte sie keine Hilfe. Als Zauberin konnte sie das Oktagramm aus eigener Kraft nutzen. Sie vollendete die Beschwörung und ein kurzes Vibrieren erfasste ihren Körper, die Umgebung verschwamm zu bunten Farbschlieren, die immer schneller um sie herumwirbelten, um sich dann nach wenigen Augenblicken zu einer neuen Umgebung zu verfestigen.
Sie sah sich um. Das erste Licht der Morgendämmerung fiel in den Raum, in den sie teleportiert worden war. Vatya blieb einen Moment geduckt stehen, in jeder Hand einen silbernen Dolch und zwischen den Zähnen einen bösartig gezackten, nicht vergifteten Wurfstern, bereit, sich gegen heranstürmende Wachen zur Wehr zu setzen. Doch in dem Raum befand sich niemand. Trotzdem schloss sie kurz die Augen und spürte der Lebensenergie möglicherweise versteckter Wächter nach, die sie mit Armbrustbolzen spicken oder mit Fangnetzen festsetzen könnten, sobald sie aus dem Raum trat. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat hinaus auf einen gepflegten Rasen. Offensichtlich war dieser Teleportraum, von denen es nur eine Handvoll in Kamal gab, ein eigenes Gebäude in einer ummauerten Gartenanlage. Zwischen den Reihen der ordentlich geschnittenen Bäume erspähte sie ein gewaltiges frei stehendes Bauwerk, dessen Eingänge von schlanken Marmorsäulen umrahmt wurden und dessen marmorne Fassade von riesigen hohen Fenstern durchbrochen war. Ja, die Fenster waren das Markenzeichen dieses Ortes. An ihrem magischen Blau hätte Vatya sie überall erkannt. Nun wusste sie, wo sie war und wo sich bald alle großen Zauberer des Landes versammeln würden. Sie stand vor der berühmten Marmornen Ratshalle von Akkadu, der wohlhabenden Stadt am Fluss Akkda.
Während sie sich durch die Gartenanlagen langsam näher an das Bauwerk heranpirschte, begegnete sie einigen Wachen, mit denen sie kurzen Prozess machte und die sie im Gebüsch vor den Augen anderer verbarg.
Das Beschatten des Kronratsmitglieds hatte sich gelohnt. Nun kannte sie den geheimen Versammlungsort, wo sich in Kürze der erste Kreis vollständig einfinden würde, um Vernichtungspläne gegen die Gorgul zu schmieden. Sie musste ungesehen in die Halle eindringen, um ihren Verdacht zu bestätigen, aber sie war sich so gut wie sicher.
Ihr Meister würde hocherfreut sein.
Ständig trafen Boten mit Meldungen aus allen Teilen der Stadt für Ormog ein. Er musste zwischen diesem und jenem abwägen und Anweisungen an seine Truppen weitergeben, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Mühsam lieferten sich seine Truppen erbitterte Straßenkämpfe mit den immer noch verzweifelt Widerstand leistenden Gorgul.
Es sah nicht gerade überwältigend gut aus. Eben hatte man ihm berichtet, dass die Gorgul rings um den Stadtkern Katapulte mit Brandgeschossen in Stellung brachten. Und im Stadtkern hatte Ormog den Großteil seiner Truppen zusammengezogen. Sie konnten aber nicht gegen die Katapultstellungen vorrücken, da die Gorgul Geiseln genommen hatten und nun damit drohten, sie zu töten, falls ein Angriff auf ihre Katapulte erfolgte. Mit bleiernem Gewissen stand Ormog vor der Wahl: entweder riskieren, dass die Gorgul das Feuer eröffneten und die Innenstadt samt seiner noch aus fünftausend Mann bestehenden Kaptrom in Brand setzten, oder seine Männer schützen, die Katapulte angreifen und damit vielleicht Tausende Geiseln zum Tode verurteilen.
Schweren Herzens gab er die Befehle zum Angriff weiter. Er wusste, dass er sich damit für den Tod vieler Unschuldiger verantwortlich machte, aber das Wohl seiner eigenen Männer wog für ihn schwerer. Denn was konnten einfache Menschen gegen die Gorgul ausrichten? Seine getreuen Soldaten hingegen waren in der Lage, noch viele Gorgul zu töten und vielleicht sogar deren dunklen Machenschaften ein Ende zu bereiten.
Dergleichen Entscheidungen waren leider inzwischen alltäglich geworden und genau ihre unvermeidlichen Folgen waren es, für die das Volk seine Verteidiger hasste. Die Menschen hassten diejenigen, die scheinbar so leichtfertig mit ihrem Leben spielten.
Ormog schlug den Vorhang des Kommandozeltes zur Seite und ging hinaus. Hier auf dem Hauptmarktplatz der Stadt herrschte angespannte Stimmung. In geschlossenen Reihen, Schild an Schild standen seine Soldaten, die Speere kampfbereit nach vorne gerichtet. Löschtrupps warteten darauf, einschlagende Brandgeschosse unschädlich zu machen, Verwundete wurden versorgt und die Wurfarme der eigenen Katapulte mit lodernden Ölamphoren bestückt, um den Gorgul einen verheerenden Feuerregen zu schicken.
Da kam durch die Rauchschwaden auf der Hauptstraße ein berittener Bote auf die Stellung zu. Zunächst dachte Ormog, es wäre eine weitere Meldung seiner Fünfhundertschaftsführer, dass sie nun seinem Befehl nachkamen und gegen die Katapultstellungen vorrückten, doch dann sah er die Farben, in die der Bote gekleidet war: Weiß-Grau, die Farben des Weißen Ordens. Zusätzlich trug er ein blaues Band am Handgelenk, was bedeutete, dass ihn der erste Kreis des Magierrates persönlich gesandt hatte.
Zielstrebig ritt der Bote auf ihn zu, stoppte und überreichte ihm einen offenbar eilig zusammengerollten Papyrus.
Ormog rollte das Schriftstück auf und las es zweimal durch. Dann warf er es in die lodernden Flammen eines provisorischen Kochfeuers und vergewisserte sich, dass es restlos verkohlt war.
Er konnte kaum glauben, was er gelesen hatte. Eine fast verdorrte Hoffnung keimte wieder in ihm auf, nämlich die Aussicht, die Gorgul ein für alle Mal zu vernichten oder zumindest entscheidend zu schwächen, sodass die Weißen Magier mit ihnen leichtes Spiel hätten. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass die hier angedeuteten Pläne von Erfolg gekrönt sein würden, musste Ormog alles daransetzen, seinen Teil beizutragen. Er dachte bedrückt an die wehrlosen Geiseln, die genau in diesem Augenblick starben, während seine Truppen gegen die Gorgul vorrückten. Nichts wollte er mehr, als dem Ganzen ein schnelles Ende zu setzen, sodass bald keine Unschuldigen mehr ihr Leben lassen mussten.
Entschlossen winkte Ormog einen bereitstehenden Boten heran und sagte ihm: »Finde meinen Gefährten und Stellvertreter Limiodh, der die Sturmangriffe auf die Gorgul im Norden der Stadt koordiniert. Richte ihm aus, dass ich in einer Angelegenheit von großer Bedeutung vom Orden zurückgerufen worden bin und ohne Umschweife abreisen muss. Ich übertrage ihm den Oberbefehl über meine Truppen. Er soll zu Ende führen, was wir begonnen haben. Wenn Lottong der Glücksgeist gnädig auf uns herablächelt, werde ich bald zurück sein.«
Wie in jeder wichtigen Stadt Kamals gab es auch in Vimu ein unauffälliges Gebäude, in dem der Weiße Orden ein geheimes Temesch-Oktagramm besaß. Ormog sattelte sein Reittier. Er wusste, dass sich der Transportraum in einem schlichten Lagerhaus befand, es lag in den Souks, die parallel zur Hauptstraße zum Hauptplatz verliefen. Die stählerne Mauer seiner Krieger teilte sich sofort vor ihm und die Männer senkten ehrerbietig die Köpfe, als er vorbeiritt. Ormog wusste, dass keinem von ihnen je der Gedanke kommen würde, er könnte sie hier im Stich lassen. Nein. Ormog hatte sie schon siegreich aus einer Unzahl von Schlachten und Scharmützeln gegen die Gorgul geführt. Jeder dieser Männer respektierte ihn und schätzte seine Art, die Truppen zu leiten und die Soldaten zu behandeln, als seien sie Mitglieder seiner eigenen Familie. Wohin auch immer ihr Anführer so schnell musste, alle wünschten ihm Erfolg und dass er möglichst bald zurückkehren möge. Das las er in ihren Augen, als sie ihm den Salut entboten.
Noch einige letzte Anweisungen wurden gegeben, dann drückte er seinem Reitsamtar die Fersen in die Seiten und es trabte los, die breite Straße zu den Souks hinab. Mit et-was Glück konnte er sehr bald in Akkadu sein, wohin man ihn beordert hatte.
Als er das Lagerhaus mit dem Temesch-Oktagramm er-reichte, kostete es ihn einige Kraft, die Teleportation selbst einzuleiten, da die sonst vom Weißen Orden abgestellten Helfer längst auf den Straßen waren, um zu kämpfen.
Schließlich begann seine Umgebung aber doch zu zerfließen und sich bald darauf neu zu formen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Der Raum, in dem er sich materialisiert hatte, war nicht der Temesch-Raum der Ratshalle von Akkadu. Dieser Raum hier war viereckig, seine Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und nicht aus Stein, wie sie es eigentlich hätten sein sollen.
Ormog riss sofort sein Schwert heraus, duckte sich und entzündete einen Brandzauber, den er über seiner Handfläche schweben ließ. War er in eine Falle der Gorgul getappt?
»Beruhige dich, mein Freund!«, erklang eine milde Stimme hinter ihm. Ormog wirbelte herum und packte den Griff seiner Klinge fester, als aus der Tür ein gebeugter grauer Mann langsam auf ihn zuschritt, gefolgt von einem hochgewachsenen Diener, der auf dem Arm ein Silbertablett mit Getränken balancierte.
Erleichtert schob Ormog das Schwert zurück in die Scheide und deutete eine Verbeugung an. »Felrind, mein geschätzter Freund! Kannst du mir erklären, wo und wie ich hier gelandet bin?«
Felrind, der am Magiersitz in der Hauptstadt als zuverlässiger Türhüter gedient und den jungen Novizen oft Süßigkeiten geschenkt hatte, deutete seinerseits eine Verbeugung an und begann zu erklären: »Wir haben dich umgeleitet. Dies ist nicht die Ratshalle von Akkadu, wie du natürlich bemerkt hast. Wir befinden uns in einem Herrenhaus am westlichen Ufer des Akkda, genau gegenüber der Ratshalle. Die Gorgul wissen, dass wir uns in Kürze in der Ratshalle treffen werden, darum versammeln wir uns hier, in einer geheimen Zuflucht, von der sie nichts ahnen, um unsere Pläne zu besprechen, bevor wir zur Ratshalle hinüberwechseln. Aber komm erst einmal zur Ruhe. Du hast sicher einen anstrengenden Tag hinter dir und brauchst eine Erfrischung.«
Wie aufs Stichwort reichte der Diener Ormog ein duftendes feuchtes Tuch und ein Glas Olvim. Dankend nahm Ormog an und genoss einen Schluck des kühlen Weines. Seit Stunden hatte er nichts mehr getrunken und die köstliche Flüssigkeit half ihm, den Geschmack von Rauch und Asche auf der Zunge loszuwerden. Felrind wartete geduldig, bis sich sein Gast erfrischt hatte, und führte ihn dann durch kurvenreiche Gänge in eine Empfangshalle, die bereits voll war mit wartenden Menschen. Alle trugen Weiß oder Grau. Als Ormog die Halle betrat, wurde er sogleich freudig in Empfang genommen. Etliche alte Freunde waren hier und auch sonst bestand die Menge aus bekannten Gesichtern. Hier waren alle Zauberer des ersten Zirkels versammelt, die einflussreichsten, mächtigsten und begabtesten des Weißen Ordens.
Nachdem er vielen die Hände geschüttelt, Begrüßungen und Umarmungen ausgetauscht hatte, kam Kora Gint auf ihn zu. Ormog verneigte sich vor diesem allseits geachteten Weisen des Weißen Ordens und tauschte mit ihm einige Höflichkeiten aus.
Kora Gint wirkte nicht wie sonst ruhig und gelassen, er verströmte eine nervöse Unruhe. Auch machte er keine kleinen Späße, wie er es gern zu tun pflegte, sondern verhielt sich irgendwie distanziert. So hatte Ormog diesen Mann noch nie erlebt. Kora Gint zeichnete sich normalerweise dadurch aus, dass er für jede Situation einen klugen Rat parat hatte. Sogar der Erzmagier des Ordens beriet sich oft mit Kora Gint, wenn er nicht mehr weiterwusste. Viele sagten, Kora sei der eigentlich führende Kopf des Ordens, denn was ihm in seinem hohen Alter an magischen Kräften verloren gegangen war, das wog sein scharfer Verstand mehr als auf.
Mit der Zeit trafen aus der Richtung, aus der auch Ormog gekommen war, einige weitere Zauberer ein. Schließlich wurde die schwere Holztür geschlossen und mit einem Bannzauber versiegelt. Kora Gint ging zur Stirnseite der Halle und betrat ein schlichtes Rednerpodest. Es war gar nicht notwendig, um Ruhe zu bitten, denn im Raum wurde es schlagartig still.
Kora zupfte an seiner weißen Robe, dann begann er mit seiner weit tragenden Stimme zu sprechen:
»Meine sehr geschätzten Weißen Brüder! Ich bin erfreut, dass ihr alle so schnell den Weg hierher gefunden habt! Wir haben nun keine Zeit mehr zu verlieren, jeder Augenblick ist kostbar, also komme ich gleich zur Sache.« Er schnippte mit dem Finger und bereitstehende Magier legten einen schützenden Bannkreis über die Runde, um den Raum abzuschirmen, sodass kein Laut nach außen drang.
»Der Krieg gegen die Gorgul dauert schon lange und hat viele Opfer gefordert. Auch unsere politische Lage wird immer kritischer, da wir den Rückhalt des Volkes im Kronrat verlieren. Es ist also an der Zeit, der Gorgulplage mit anderen Mitteln Einhalt zu gebieten, als wir es bisher versucht haben. Im engsten Kreise unseres Erzmagiers, der leider erst später zu uns stoßen kann, wurde ein Plan ersonnen, der uns möglicherweise zu einem schnellen Sieg führt. Dieser Sieg wird teuer erkauft sein und es werden vielleicht viele unserer Brüder dabei ihr Leben verlieren, aber wir haben keine andere Wahl, wenn wir verhindern wollen, dass uns die Gorgul in jahrelangem Widerstand weiter aufreiben und unsere Moral zermürben. Ich werde euch nun den Plan erläutern, den wir geschmiedet haben: Schon länger gibt es stichhaltige Hinweise darauf, dass die Gorgul nicht einfach nur eine lose fanatische Organisation sind, sondern dass sie von einem Anführer koordiniert werden. Aus Verhören wissen wir, dass es sich bei ihm offenbar um einen sehr mächtigen Zauberer handelt, der die Gorgul mit dem Versprechen lockt, sie könnten unglaubliche Macht erringen, wie er selbst sie besitzt, wenn sie ihm folgen.
Diesen Mann auszuschalten ist unser Ziel. Leider haben nur wenige Gorgul den mächtigen Anführer, dem sie die Treue schworen, je gesehen, weshalb bisher jeder Versuch, Attentäter auf ihn anzusetzen, fehlgeschlagen ist. Wir denken jedoch, dass wir seinen Ehrgeiz und seinen Willen, nun doch in Erscheinung zu treten, mit einer kühnen Idee wecken können. Über unseren geschätzten Unterstützer im Kronrat haben wir zu den Agenten der Gorgul durchsickern lassen, dass sich der Weiße Orden heute trifft, um entscheidende Pläne gegen sie zu besprechen. Mit Sicherheit haben die Gorgul auch eine der Nachrichten an euch abgefangen. Deshalb haben wir darin einen anderen Ort angegeben als diesen. In gewisser Weise war das noch nicht einmal gelogen und die Gorgul werden die Information bestätigt sehen, da alle Magier des ersten Kreises schlagartig ihre Stellungen verlassen haben und verschwunden sind.
Das Kronratsmitglied hat sich vor einigen Stunden auf den Weg gemacht, um an der Versammlung teilzunehmen. Dachten zumindest die Gorgul. Er wurde beschattet. Wir ließen die Gorgul in dem Glauben, das Kronratsmitglied wolle sich zur Versammlung aufmachen, und ihre Agentin ist ihm dorthin gefolgt. Genau in diesem Moment treffen sich in der Ratshalle von Akkadu viele Zauberer des zweiten Kreises. Wir haben sie magisch maskiert, sodass sie kurzzeitig die gleiche mächtige Ausstrahlung wie wir besitzen. Es wird für die Gorgul nur allzu verlockend sein, vermeintlich alle ihre Feinde auf einem Fleck zu wissen. Wir setzen darauf, dass sie mit einem Großangriff auf die Ratshalle reagieren. Da sie aber glauben, die mächtigsten Magier vor sich zu haben, inklusive des Erzmagiers, hoffen wir, dass auch ihr mächtigster Mann kommen wird, um seine Kämpfer gegen die geballte Kraft des ersten Kreises zu unterstützen und ihnen zum Sieg gegen uns zu verhelfen. Alle Männer, die sich bereits in der Ratshalle von Akkadu befinden, werden Widerstand leisten, bis der Anführer der Gorgul persönlich erscheint.
Dieser Moment wird entscheidend sein. Die tapferen Männer in der Ratshalle werden die Gorgul ablenken und zu schwächen versuchen. Hoffentlich gelingt es. Die Angreifer sollen denken, dass ihre Vorurteile berechtigt waren und die Zauberer des Weißen Ordens tatsächlich schwach geworden sind. Dann aber kommen wir ins Spiel. Wir tauchen über das Temesch-Oktagramm plötzlich auf und führen einen Blitzangriff auf unsere Gegner, der sie mit Sagashs Segen zerschmettern wird. Wir konzentrieren unsere Kräfte auf den Anführer der Gorgul und bringen ihn zur Strecke.
Ich weiß, dies ist ein gewagter Plan mit einigem Potenzial zu einem völligen Desaster – aber sollten wir Erfolg haben, werden uns diese Tat noch unsere Kindeskinder danken! Über alle weiteren Details wird euch nun mein geschätzter Kollege Halmin aufklären«, schloss Kora seine Rede. Mit einem: »Mögen die sieben Geister schützend ihre Flügel über uns halten!«, verließ er das Rednerpult und machte Platz für Halmin.
Vatya Ganta strich sich zufrieden eine Strähne ihres langen Haares zurück. Sie hatte sich heimlich Zugang zur Ratshalle verschafft und beobachtete von den unbesetzten Zuschauerrängen aus das Geschehen unter ihr. Die Halle war mehrere Stockwerke hoch und die Ränge schlossen sich in jeder Etage zu einer umlaufenden Galerie. Nach und nach versammelten sich die Magier.
Die Marmorne Ratshalle von Akkadu trug ihren Namen zu Recht, denn ihre Wände bestanden aus nichts anderem als strahlend weißem Marmor. Durch die kristallenen, beinahe bis zur vierzig Meter hohen Decke hinaufreichenden Fenster, deren wunderbar blaues Glas aus dem Fernen Zaynab stammte, fiel erlesener Lichtschein in die Halle. Ein wenig bedauerte Vatya es, dass dieser Ort bald nicht mehr existieren würde.
Verborgen im Schatten einiger Säulen der Galerie behielt sie alles im Blick. Vatya spürte die Ankömmlinge dank ihrer Gorguldisziplinen, noch bevor sie in die Halle traten. Aber sie wurde das nagende Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Sie schloss die Augen und spürte ihrer Umgebung nach. Waren es die Präsenzen der Magier, die sie störten? Ihre Ausstrahlung erschien teilweise hohl, wie von einer leeren Hülle. War der Weiße Orden wirklich schon so schwach? Sie hatte des Öfteren mit Leuten des Ordens zu tun gehabt, aber das waren Schüler oder weniger mächtige Zauberer gewesen. Es erstaunte sie, dass sie die Anwesenheit des ersten Kreises nicht als weitaus mächtiger empfand.
Jedenfalls hatte sie nun genug gesehen, um sich sicher zu sein, dass hier die Generalversammlung der Weißen Magier stattfand. Bald konnten die Gorgul zuschlagen und diese Narren vernichten.
Sie setzte sich im Schneidersitz hinter eine der mächtigen Stützsäulen und begann zu meditieren. Über die Ferne tastete sie nach der vertrauten Präsenz ihres Meisters und sandte einen mentalen Ruf nach ihm durch den Äther. Als eine eisige Kälte sie erfüllte, wusste sie, er hatte sie gehört. Er kannte nun den Ort, an dem sich der erste Kreis versammelte.
Die großen Flügeltüren der Halle wurden geschlossen und Ruhe kehrte ein. Vatya konnte es sich nicht leisten, noch länger zu verweilen. Zum einen wollte sie nicht entdeckt werden, zum anderen spürte sie bereits die zehrende, lähmende Kälte ihres nahenden Meisters. Bis zum Abend würde er eintreffen. Dann würde ihm kein Lebewesen hier mehr entrinnen, gleichgültig ob Freund oder Feind. Auch nicht seine getreue Dienerin, sollte sie die Torheit besitzen zu bleiben.
Während sich unten Stimmen zur Begrüßung der Anwesenden erhoben, schlich Vatya zu dem Fenster, das ihr am nächsten war. Eine Zauberformel auf den Lippen, mehr gedacht als gesagt, berührte sie mit der Fingerspitze das blaue Glas und zeichnete einen großen Kreis genau über dem Boden. Dann legte sie ihre Hand in seine Mitte und der Glaskreis löste sich lautlos aus dem Fenster. Eilig, aber darauf konzentriert, sich durch kein Geräusch zu verraten, legte sie das Glas beiseite, hakte ein Seil an eine fest verankerte Zuschauerbank und verschwand geschmeidig durch die kreisrunde Öffnung nach draußen, weg von den dem Untergang geweihten Zauberern.
Garius Galtar fühlte sich unwohl in seiner Haut. Er lockerte den engen Brustpanzer etwas über dem Hals, um unbeschwerter atmen zu können. Seine Männer hatten Stellung bezogen und die Halle abgesichert. Die Truppen, die in dem Dienstbotentrakt, den Gärten und der Umgebung der Halle verborgen waren, standen ebenfalls bereit und warteten nur auf sein Signal, um aus dem Hinterhalt loszupreschen. Insgesamt hatte der Weiße Orden drei Fünfhundertschaften loyaler Kämpfer auf dem Gelände der Ratshalle verteilt. Zusätzlich hatten die Soldaten unauffällig die umliegenden Häuser evakuiert. Es lief also alles wie geplant.
Trotzdem herrschte eine erdrückende, entmutigende Kälte und ein Schauer kroch über Garius’ Rücken, obwohl die Sonne des Südlichen Ledahl durch die Fenster brannte. Aber auch der Sonne schien die Energie zu fehlen und ihr greller Schein brachte keine Wärme in die Herzen der angespannten Soldaten.
Garius meinte eine verstohlene Bewegung in einer der Zuschaueretagen wahrzunehmen, doch als er den Kopf hob, konnte er nichts erkennen. Wahrscheinlich hatten ihm seine angespannten Sinne einen Streich gespielt. Zittrig ausatmend massierte er sich die schmerzenden Schläfen. Was war nur los mit ihm?
Als er sich umsah, erkannte er, dass es anderen ähnlich erging, alle Anwesenden in der Halle wirkten mürrisch und gereizt, als könnten sie den Schatten des drohenden Unheils spüren.
Einzig die Ankunft der letzten Zauberer mitsamt Hilfstruppen hellte die Stimmung ein wenig auf. Die Magier, maskiert als die Zauberer des höchsten Kreises, sollten den Anführer der Gorgul glauben machen, er habe es mit den besten Zauberern des Landes zu tun.
Auf diese Weise wollten sie seinen Übermut wecken, seine Kräfte ergründen und ihn schwächen, damit die echten Magier des ersten Kreises mit ihm leichtes Spiel hätten.
Für eine Weile hellte die Verstärkung die Mienen auf, doch nach einiger Zeit schien sich die lähmende Kälte auch der Neuankömmlinge zu bemächtigen. Zumal sie als zweitklassige Zauberer wussten, dass sie den Gorgul kaum gewachsen sein würden. Sicher war es auch für sie kein angenehmes Gefühl, den Köder zu spielen, mit der Aussicht darauf, sich abschlachten zu lassen, nur um den arroganten Oberzauberern ein Überraschungsmoment zu ermöglichen. Aber nein, was dachte er da eigentlich? Ihm stand es nicht zu, die Pläne der Weisen zu kritisieren, die dem Wohl aller dienen sollten! Garius zwang sich zur Ruhe.
Plötzlich verstärkte sich die dunkle, ahnungsvolle Stimmung und alle zogen die Schwerter, bereit, sich im nächsten Augenblick ihrer Haut zu erwehren, als sie von draußen ohrenbetäubenden Lärm hörten. Die hölzerne Tür zerbarst in einem gleißenden Feuerball und die Schockwelle riss die Krieger nieder, die der Tür am nächsten standen. Dann, nachdem sich der Rauch verzogen hatte, ergoss sich in den Raum eine wahre Flutwelle schwarz gekleideter Gestalten, die sich mit blitzendem Stahl auf die Verteidiger warfen.
Von der ungestümen Grausamkeit überrascht, wurden die Soldaten des Ordens schnell zurückgetrieben, bevor sie sich zu einer neuen Verteidigungslinie formieren konnten.
Mit raubtierhafter Wildheit stürmten die Gorgul gegen die inzwischen aufgestellte Phalanx der Ordenssoldaten an, sodass diese nur mühsam die Stellung hielten. Solch einen entschlossenen Angriff hatte Garius nur einmal in seinem Leben gesehen, nämlich als er einen Feldzug gegen die Barbaren in den Küstengebieten des Nachbarkontinents Ahemusa führte. Doch im Unterschied zu damals ließen sich die Gorgul nicht so einfach niederkämpfen, zum einen weil sie wesentlich besser ausgerüstet waren als die ahemusischen Barbaren, zum anderen weil sie ausnahmslos in den Künsten der Magie bewandert und wesentlich disziplinierter waren.
Bald war die stickige Luft nicht nur vom Gebrüll der Gorgul, dem Klirren der Waffen und den Schreien der Sterbenden erfüllt, sondern knisterte auch förmlich vor elektrischen Entladungen und dem Brandgeruch von Feuerbällen und Schockwellen. Vor allem Garius’ Bogenschützen, die in der untersten Galerie postiert waren, wurden von den magischen Angriffen der Gorgul schnell dezimiert, da die Gorgul im Gegensatz zu dem dichten Kampfgewühl am Boden nicht fürchten mussten, ihre eigenen Männer zu treffen.
Obwohl die Verteidiger tatkräftige Unterstützung durch die falschen ersten Zauberer erhielten, musste Garius bald erkennen, dass der Kampf auf diese Weise nicht mehr lange dauern würde. Sie brauchten Verstärkung. Garius winkte einem Soldaten zu und sogleich erscholl das durchdringende Signal des Hornes. Es bedeutete den versteckt im Dienstbotentrakt wartenden Soldaten, die Deckung zu verlassen und aus dem Hinterhalt anzugreifen.