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Sie stehen vor einer Veränderung und müssen sich entscheiden. In drei Erzählungen ist es der Mut der Protagonisten, etwas Ungewöhnliches zu tun, etwas, von dem sie nicht wissen, wie es aus geht und mit dem sie etwas riskieren. Die Geschichten, die sich zu Beginn, in der Mitte und zum Ende der DDR-Zeit ereignen, beruhen auf authentischen Erlebnissen und stammen aus der Familiengeschichte der Autorin. Zur Freude der Kinder bekommt Anna 1949 vom Hilfswerk eine Mutter-Kind-Kur an der Ostsee. Doch nach wenigen Tagen träumt sie von ihrem Mann, der seit sechs Jahren in sibirischer Kriegsgefangenschaft ist. „Der Traum“ scheint ihr eine Entscheidung abzuverlangen, die sich gegen jede Vernunft richtet. Zur „Musterung“ muss Hans im Sommer 1964. Er beschließt, den Wehrdienst total zu verweigern. Doch auch noch jemand anderes geht ein politisches Risiko ein. Ein Lebensthema wird für Hans deutlicher. Es wird ihn nicht mehr verlassen. Robert und Gabriele sind eines der vielen jungen Paare, die sich im Sommer 1989 entschließen, „Über Ungarn weg“ zu gehen. Sie wissen nicht genau, was sie erwartet. Sie wissen nur, was sie verlieren: Heimat, Familie und, wer weiß, vielleicht sogar das Leben. Trotzdem packen sie ihre Sachen, getrieben von Resignation in Bezug auf das eine und von Hoffnung in Bezug auf das andere Deutschland.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Die Autorin
Beate Thieswald-Schechter, geboren 1969 in Eisenach, wuchs in einem Pfarrhaus in Sachsen-Anhalt auf. Im Sommer 1989 flüchtete sie in die Bundesrepublik. Nach einer pädagogischen Ausbildung studierte sie Sozialarbeit in Jena und Familientherapie in Berlin. Seither arbeitete sie als Sozialpädagogin und Familientherapeutin in verschiedenen Arbeitsfeldern. Ihre Geschichten erzählen von gewöhnlichen Lebensdramen, jedoch auch von ihren Lebenserfahrungen in der DDR, in der manche Entscheidungen mit politischen Risiken verbunden waren. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie in Frankfurt am Main.
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Für meine Eltern
Beate Thieswald-Schechter
Ostdeutsche Geschichten
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© 2014 Beate Thieswald-Schechter Lektorat: Iris Junker
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7323-1219-1
Hardcover:
978-3-7323-1220-7
e-Book:
978-3-7323-1221-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Der Traum
Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit und spielt an den originalen Orten. Alle Namen, einige Nebenpersonen sowie der Verlauf der Geschichte sind jedoch erfunden.
Heiligendamm im August 1949
„Mensch, das Meer! Guckt mal, das hört gar nicht auf! Unendlich!“ Johannes stellte den nicht zu großen Koffer ab, der ihm mit seinen elf Jahren schon zugemutet werden konnte, schirmte mit der Hand die bereits tief stehende Sonne ab und schaute. Dann drehte er sich lachend zu Mutter und Schwestern um und fuhr sich durch die schon wieder feucht geschwitzten Haare. Dabei waren sie gerade erst in Heiligendamm angekommen. Mit der „Molli“ waren sie zuletzt gefahren, einer wunderbaren kleinen Dampflock, welche die Seebäder hier verband. Aber es war heute auch am Abend noch sehr warm und der Koffer schwer. Was hatte die Mutter da nur alles hineingepackt? So viele Kleidungsstücke besaßen sie doch gar nicht.
„Sieht das schön aus!“ Martha hatte den anderen, kleineren Koffer ebenfalls abgestellt und hakte die Mutter unter. Anna lächelte. In der Tat, was für ein Anblick! Eben, von der Bahn aus, hatten sie schon einmal einen Blick auf das Meer erhaschen können, doch nun, nach einem kleinen Weg durch den Wald, lag es direkt vor ihnen, tiefblau, glitzernd, ewig neu und verheißungsvoll.
„Wir gehen doch jetzt gleich baden, Mutti, oder?“ Die kleine Elisabeth, genannt Lotte, hüpfte vor Aufregung auf dem Weg herum. Anna wechselte belustigte Blicke mit ihrer Ältesten.
„Nun ich glaube, erst einmal sollten wir unser Kurhotel finden und unsere schweren Koffer und Taschen loswerden. Aber dann, natürlich, dann gehen wir sofort baden! Es sei denn, ihr habt Hunger.“
„Oh ja“, stöhnten alle drei Kinder. Und nun wurde um die Wette spekuliert, was es in einem Kurhotel wohl zum Abendessen geben könnte. Anna studierte noch einmal die Wegbeschreibung, die ihr zugeschickt worden war.
„Kommt, es ist nicht weit, das dort geradezu müsste es schon sein.“ Entschlossen nahm sie ihre zwei Taschen und folgte dem gepflasterten Weg weiter, auf einen Gebäudekomplex zu, der einmal sehr schön gewesen sein musste, vor dem Krieg. Der lag jetzt vier Jahre zurück.
Sie waren unter den ersten Kurgästen, erst im letzten Jahr wurden die berühmten Hotelruinen zum Volkseigentum erklärt und zum Kur- und Ferienbetrieb umgestaltet. Vor wenigen Wochen hatten die ersten Gebäude ihren Betrieb aufgenommen. Annas Vater hatte ihr vor der Reise erzählt, wie die Fürsten hier einst residierten. Sehr luxuriös musste es zugegangen sein. Die weiß schimmernden prächtigen Gebäude nebeneinander waren bekannt als die „Perlenkette von Heiligendamm“. Vielleicht von der Seeseite aus, dachte Anna nach den ersten neugierigen Blicken etwas enttäuscht. Von hier aus wirkten die einstigen Perlen doch erst einmal hart auf dem kaputten und geflickten Boden des neuen Arbeiterund Bauernstaates von Nachkriegsdeutschland aufgeschlagen. Manche Villen sahen etwas verstümmelt aus unter ihrem neuen weißen Anstrich, andere hatten noch gar keinen. Etliche Fenster waren ersetzt durch unpassende neue, auch die eine oder andere merkwürdige Tür hatte sie schon gesehen.
„Na, wat kiekt ji? Gefält juch dat nich?“ Ein alter Mann, der ihnen etwas hinkend entgegengekommen war, sprach sie in noch unvertrautem Platt an und lachte. Anna stellte ihre Taschen wieder ab und grüßte den Mann.
„Sind Sie auch hier zur Kur?“ Gleich fühlte sie sich ungeschickt. Angesichts seines Akzentes war er natürlich ein Einheimischer.
„Nee, nee, dat bün ik nich. Ik bün hier in de Kök, ik kok dat Äten.“ Er tätschelte seinen nicht eben schlanken Bauch und zwinkerte Lotte zu.
„Ji möt noch väl, väl äten. Ik kok juch väl Gaudes. Ji heert jo nix up de Rippen, so ne spakken Lüüd.“
„Tja, da haben wir Ihre Zuwendung wohl nötig“, antwortete sie, als sie glaubte, den Sinn seiner Worte erfasst zu haben. So anders sprachen die Leute hier! Anna wollte wieder nach ihren Taschen greifen, doch der Mann redete weiter:
„Ik freu mi jo, dat ik hier koken kann. Dor heb ik nie nen leeren Buk nich, un min Fru ward ok noch satt.“ Grinsend offenbarte er ein kleines Töpfchen unter seiner Jacke, die er trotz der Wärme und vermutlich nur zu diesem Zweck trug.
Anna lächelte und zeigte auf die Gebäude.
„Aber tatsächlich habe ich es mir hier etwas … großartiger vorgestellt. Ich dachte, hier ist keine einzige Bombe gefallen?“
„Nee, dor is allens gaud bläwen, dor harren wi väl Glück, denn de Hitler har jo dor sin Kadetten Schaul. Wo tau bruken wi so wat in uns Dörp? Dei Hüser hebbens dann nommen vör de Lüüd, dei ut Pommern flücht sünd. As dei dann in anner Hüs kommen sünd, hebben sei sick väl mitnommen. Kiek mol, dor de Finster sünn von dissem Hus und dann de Steen, ganze Muern, väle Balken, allens wat hier wech is.“
„Tatsächlich? Wie schade.“
„Tja, sei harren jo nix. Wat daun? Dei Hüser wiern lier. De Kinner häwen dor spält. De Russen hebben noch väl mier afbut. Sei können allens bruken. Dor kreit kein Hahn na.“ Der Mann hatte einen vertraulicheren, etwas gedämpfteren Ton angenommen und sich ihr zugeneigt.
„Die Russen? Ja, bei uns waren sie auch.“ Anna war ebenfalls leise geworden und spürte, wie sie plötzlich fröstelte und die Augen niederschlug.
„Tja, dei sowjetschen Frünn möten ehr Heimat ok werrer upbugen“, prasselte der Koch rasch mit klangvoller, warmer Stimme während er sich langsam von ihr abwandte. „Wär jo allens entzwei dor, orer nich?“ Anna nickte. „Dat wiern jo uns Lüüd, jo, jo, so wier dat Marjel.“ Er machte Anstalten, weiter zu hinken. „Öwer kiek mol in de Runn! So väl Schönes un Gaudes is uns bläwen. Sei künnen do nich alles bruken.“ Er kicherte. „Un väl witt Farw hebbens upschmerrt tuletzt. Na, denn erhool di man gaud!“
„Danke.“ Annas gute Stimmung rutschte gerade bergab. Sie fühlte sich fragil plötzlich, und dieses Gefühl konnte sie gar nicht leiden. Musste er auch von den Russen reden, die Wilhelm hatten? Energisch schob sie düstere Bilder zur Seite.
Es waren nun nur noch wenige Schritte und Anna drückte die Tür des Gebäudes auf, an dem ein großes Schild mit der Aufschrift „Haus Berlin“ prangte. Es war wohl eins der besseren, wirkte durchaus noch imposant, und es leuchtete strahlend weiß.
„Das ehemalige Grandhotel“, erklärte sie ihren Kindern, dann traten sie in die Eingangshalle. Riesengroß und vornehm war es hier. An einer der Seiten war der mit Marmor verkleidete Empfang platziert. Also doch, dachte Anna und fühlte sich gleich selbst ein wenig glamourös.
„Guten Abend“ begrüßte eine junge Frau in kariertem Kleid die Familie und nach einem kurzen Blick in ihre Unterlagen stellte sie fest: „Sie müssen die Spangenbergs sein.“
„Ja, die sind wir“, lächelte Anna müde.
„Nun, Sie sind auch die letzten unserer erwarteten Kurgäste für heute. Sie hatten wohl eine weite Reise?“
„Oh ja, wir sind schon um sechs Uhr heute Morgen aus dem Haus gegangen und viermal umgestiegen“ erklärte Johannes.
„Und mit der „Molli“ sind wir auch gefahren“, ergänzte Lotte mit wichtigem Gesichtsausdruck. Beide Frauen lachten sich an.
„Weißt du auch schon, warum sie so heißt, unsere kleine Dampflock?“ fragte die Frau an der Rezeption Lotte und zog die Augenbrauen hoch. Lotte schüttelte den Kopf. „Es gab einmal eine kleine Hündin, die immer hinter der Bahn herlief. Sie hieß Molli. Irgendwann dann nannten die Leute auch die Bahn so.“ Lotte freute sich.
„Na, dann will ich Ihnen mal ihr Zimmer zeigen.“ Mit Schwung warf die junge Frau ihren geflochtenen braunen Zopf auf den Rücken. „Sie teilen es mit einer weiteren Mutter und ihren drei Kindern, das geht leider nicht anders. Die Familie heißt Dross. Bestimmt werden Sie sich gut verstehen, es ist eine nette Frau. Sie können dann auch direkt in den Speisesaal gehen und dort ihr Abendessen einnehmen. Kommen Sie.“
Es war ein großes Zimmer mit vier Doppelstockbetten, einem Tisch mit vier Stühlen, zwei kleineren Schränken und einer Waschschüssel mit Krug auf einer Kommode, das nun für drei Wochen das ihre sein sollte. Neben der Kommode stand ein Paravent und zwei der Betten hatten ein Nachtschränkchen. Aus einem der beiden Zimmerfenster sah man aufs Meer hinaus. Unglaublich.
„Die Toilette ist draußen links und ein Bad mit Badewanne befindet sich in der Etage unter Ihnen. Der Badeofen wird abends angeheizt. Es hängt eine Liste an der Badezimmertür, in die man sich eintragen kann.“ Die junge Frau wünschte gute Erholung und verschwand.
Anna setzte sich auf ihr Bett, das unter dem von Lotte lag und strich auf der noch nicht bezogenen Decke entlang. Dann holte sie die Bettwäsche aus Johannes Koffer und legte sie auf ihr Bett.
„Nachher machen wir das“, sagte sie und blickte träumerisch auf das Meer hinaus. „Jetzt gehen wir erst einmal etwas essen.“
-
Die nächsten Tage in Heiligendamm waren so schön, dass nichts sie je aus der Erinnerung der Spangenbergs vertreiben würde. Zwar gab es im Zimmer der beiden Familien ebenso wie im voll besetzten Speisesaal selten eine ruhige Minute, dafür am Strand und auf den Streifzügen durch die duftenden Buchenwälder, zwischen denen das Seebad eingefasst war, umso mehr. Das Essen schmeckte hervorragend, nicht weil es wirklich so erstklassig gewesen wäre, auch besonders reichlich war es nicht bemessen, aber ausgehungert von der Seeluft und den kleinen Urlaubsabenteuern setzten sie sich einfach an den Tisch und aßen mit Appetit. Es gab keine Jagd auf Lebensmittel in den Geschäften, keine Gartenarbeit, damit Gemüse und Obst geerntet werden konnte, kein Kochen und Tischdecken und kein Geschirrwaschen - wie herrlich konnte das Leben sein! Am Abend saßen sie auf der Veranda zusammen und plauderten.
Katharina Dross und ihre Kinder kamen aus Leipzig zur Kur. Auch diese Kinder hatten keinen Vater mehr, er war in den letzten Kriegstagen gefallen. Die beiden Frauen mochten sich, und auch Lotte und Johannes schlossen Freundschaft mit den Dross-Kindern. Hedwig war sieben und damit ein Jahr jünger als Lotte. Franz und Herbert waren neun und zehn Jahre alt und damit gerade noch akzeptable Spielpartner für Johannes.
Am dritten Tag ihres Aufenthaltes hatte Anna mit ihren Kindern wieder einen neuen Abschnitt des Küstenstreifens erkundet. Gerade ließ sie sich genüsslich in das sandige Gras auf einer Düne fallen und schaute aufs Meer hinaus. Johannes und Lotte sausten vorbei, doch Martha tat es ihr nach. Hinter ihnen rauschte der lichte Küstenwald, und seine geheimnisvollen Flüsterstimmen vermischten sich mit dem Kreischen der Möwen und der regelmäßigen Brandung der Wellen vor ihnen. Frisch und salzig schmeckte die Luft, die vom Meer herüber wehte.
Anna betrachtete das in sich versunkene Gesicht ihrer zwölfjährigen Tochter, die sich an den Stamm des jungen einzelnen Baumes lehnte, der hinter ihr stand.
„Na, was hast du, du wirkst so nachdenklich heute?“ Sie strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ach, wie lange hatte sie für solche Zärtlich- und Aufmerksamkeiten keine Zeit und keinen Sinn mehr gehabt. Wie glücklich waren hier ihre Kinder. Wie leicht und lebendig fühlte sie sich selbst. Umso stärker fiel ihr gerade die Melancholie ihrer ältesten Tochter auf.
„Ach Mama, denkst du nicht auch manchmal an Vati? Wenn er jetzt bei uns sein könnte, wie schön wäre das.“
Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Dieselbe Szenerie, die eben noch in hellstem, unbekümmerten Sonnenschein gelegen hatte, bekam plötzlich etwas Wildes, Wehmütiges.
„Meine große kleine Martha.“ Sie strich ihr nochmals über die Wange. Dann schaute sie wieder in die Ferne, angestrengt nun, als müsse sie ganz dort hinten etwas entdecken.
„Ja, auch mir fehlt er.“ Ihre Stimme klang jetzt anders als zuvor, eingerostet, wie lange nicht benutzt. „Gerade hier, nicht wahr?“ Nach einer ganzen Weile fügte sie hinzu: „Aber wie oft wünsche ich es mir auch zu Hause anders: Nicht mehr allein zu sein, allein mit euch, mit all der Arbeit und ohne ein festes Einkommen.“
„Glaubst du, er lebt noch?“ In Marthas Blick lag etwas Bittendes.
Nun setzte Anna sich gerade und strich sich etwas Sand aus ihrem Kleiderschoß.
„Ja Martha, er lebt noch.“ Die Ruhe und Bestimmtheit, mit der Anna gesprochen hatte, schien Martha zuerst zu trösten, doch dann schürzte sie die Lippen und schaute fast beleidigt drein.
„Sein letzter Brief ist ein halbes Jahr alt, und gesehen haben wir ihn vor sechs Jahren zum letzten Mal.
Manchmal muss ich mich richtig anstrengen, mich an sein Gesicht zu erinnern.“ Martha schaute auf ihren Schoß, dann wieder zu Anna. „Ich glaube nicht, dass es ihm dort in Sibirien wirklich so gut geht, wie er immer schreibt. Was schreibt er denn schon überhaupt? Vielleicht ist er todkrank oder überhaupt schon …“ Tränen füllten nun die Augen des Mädchens.
„Martha, mein Kind.“ Anna nahm ihre Tochter in die Arme. Nun lehnten sie gemeinsam am Stamm des Bäumchens. „Wir müssen einfach hoffen und beten. Was sollen wir sonst tun?“
Johannes sauste heran und kippte zwei Hände voll Hühnergötter vor Mutter und Schwester. Lottes helles Lachen drang vom Wasser her zu ihnen heran. Sie sprang in der Brandung über die Wellen. Jetzt winkte sie kurz zu Mutter und Schwester herüber und sprang schon wieder weiter.
„Was sitzt ihr so trübselig herum?“ Johannes Gesicht glühte vor Abenteuerlust und Tatendrang. Er hatte schon erste Urlaubsbräune erworben. „Kommt, wir wollten doch Bernstein und Muscheln suchen.“
Anna erhob sich und ließ ihr blaues leichtes Sommerkleid im Wind flattern. Ihr Haar fiel ihr in blonden Wellen über die Schultern. Sie hatte es heute nur zu einem lockeren Knoten hochgesteckt und der war aufgegangen. Nun wehten auch die Haare im Wind und mussten neu gebändigt werden.
„Nein, lass sie, lass sie so Mutti, du siehst schön aus“, protestierte Johannes.
„Na, wenn mein Sohn das sagt…“, lachte Anna und steckte die Haarklammer einfach an ihren Gürtel. „Komm Martha, vielleicht finden wir Bernsteine und können uns Schmuck daraus machen.“
-
Sie hatten wirklich einige kleine Bernsteine an diesem Tag gefunden. Nach dem Abendessen saßen sie zusammen mit den Drosses auf der Terrasse vor dem Speiseraum und beobachteten fasziniert und beglückt, wie die Sonne den Himmel um sich herum in Brand gesetzt hatte. Glutrot tauchte sie langsam ins Meer und ließ eine lange Bahn seiner Wellen ebenfalls feurig glitzern. Nur langsam erlosch sie, und auch der Himmelsbrand beruhigte sich nach und nach. Dafür sangen die Vögel um sie her ein Abendkonzert, und Anna war es, als hätte sie die Vögel seit ihrer Kindheit nicht mehr so jubelnd singen gehört.
„Wie kriegen wir die Löcher in die Bernsteine Mutti?“ Martha hatte ihren kostbaren Fund vor sich ausgebreitet. Doch Anna reagierte nicht auf ihre Tochter, denn Katharina, die neben ihr saß, schluchzte plötzlich. Anna legte ihr eine Hand auf den Arm. Katharina suchte nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich.
„Wenn man bedenkt, was wir alle durchgemacht haben die letzten Jahre, Tag für Tag, oft auch Nacht für Nacht…“ Sie schluchzte schon wieder. „Und dann das hier. Das passt doch irgendwie nicht zusammen, das ist nicht die gleiche Welt.“ Sie schüttelte den Kopf und versuchte ihre Fassung wiederzugewinnen, denn ihre Kinder sahen sie mit großen Augen an. Hedwig legte ihren Kopf auf den Schoß der Mutter und auch Franz drängte sich an sie heran.
„Ja Katharina, das habe ich auch nicht nur einmal gedacht in den letzten drei Tagen. Das alles hier kommt mir vor wie im Traum, als könnte es nicht die Wirklichkeit sein.“ Beide Frauen schwiegen. Franz und Herbert fingen an, sich zu streiten. Katharina tupfte noch einmal über ihre Augen, nickte den Kopf in Richtung ihrer Söhne und lächelte Anna zu:
„Das schon eher, was?“
„Ach Katharina, überleg nur mal, was uns so unwirklich erscheint:“ Anna hatte die Knie hochgezogen und sah aus wie ein junges Mädchen dabei.
„Ein schöner Sonnenuntergang und das Abendlied der Vögel! Dabei geht jeden Tag die Sonne unter und die Vögel singen. Einmal sattessen und nicht den ganzen Tag lang grübeln, woraus wohl die nächste Mahlzeit bestehen könnte, das bringt uns aus der Fassung. Einmal spazieren gehen und den Kindern beim Lachen zuhören, die Augen schließen dazu, soviel Glück können wir gar nicht fassen.“
„Wir bekommen fast ein schlechtes Gewissen dabei.“ Katharina flüsterte und zog die Strickjacke enger um sich herum.
An diesem Abend lag Anna noch lange wach. Sie lauschte dem Rauschen der Brandung und den regelmäßigen Atemzügen ihrer Kinder. Als sie endlich eingeschlafen war, wurde sie gleich darauf vom Brummen eines Bombenflugzeuges wieder geweckt. Ihre aufgerissenen Augen und Ohren registrierten die stille Realität. Langsam beruhigten sich ihre Atemzüge wieder, während sie die Schatten der wenigen Möbelstücke im silbernen Mondlicht beobachtete. Immer wieder einmal träumte sie noch von den Schreckensnächten.
„Alles ist gut“, flüsterte sie und überließ sich wieder dem Schattenreich der Träume. Fast gleich darauf flog sie. Sie flog über Wälder und über Seen, endlos über Wiesen und Dörfer, schließlich sogar übers Meer. Dann war sie plötzlich zu Hause. Da stand das Haus auf dem Hügel. Schnee war gefallen. Sie öffnete die Gartentür und lief den gewundenen Weg den Hügel hinauf bis zum Haus. Sie trat zur Haustür hinein und lief die Treppen hoch. Dann schloss sie die Wohnungstür auf und hatte noch stärker das Gefühl, dass irgendetwas passiert war. Sie lief den langen Flur entlang und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Und da saß er: Wilhelm, ihr Mann.