Ostwestfalen morden anders - Bianca Schilsong - E-Book

Ostwestfalen morden anders E-Book

Bianca Schilsong

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Beschreibung

Ostwestfalen, ein sagenumwobenes Land, Heimat der ungewöhnlichen Morde. Der rabenschwarze ostwestfälische Humor, gepaart mit der Lust ungeliebte Menschen ungewöhnlich "um die Ecke" zu bringen, lassen keine Wünsche für den Krimi-Liebhaber offen. Mit Beiträgen von Bianca Schilsong, Anja Puhane, Rosemary White, Angelika Godau, Britt Glaser, Brigitte Stammschröer, Katja Angenent, Greta Welslau, Monika Deutsch, Charlie Meyer, Sarah Drews, Gabriele Nakhosteen, Franziska Franz und Dinah Marcus kommt jeder auf seine Kosten.

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Seitenzahl: 226

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ostwestfalen morden anders

Dirk-Laker-Verlag

Dirk-Laker-Verlag

www.dilav.de

Auflage 2019

Originalausgabe

Veröffentlicht im Dirk-Laker-Verlag

Dirk Laker, Bielefeld 2019

© by Dirk-Laker-Verlag Bielefeld 2019

© der Originalbeiträge bei den jeweiligen Autoren

EBook-Ausgabe

Inhalt

Bianca Schilsong

Verschollen auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld

Anja Puhane

16 Stunden, 51 Minuten und 39 Sekunden

Rosemary White

Die Paderborner Morde

Angelika Godau

Traditionen

Britt Glaser

Wer zuletzt lacht…

Brigitte Stammschröer

Bockjagd

Katja Angenent

Wohngemeinschaft mit Fischstäbchen

Greta Welslau

Die Wahrheit macht dich frei

Monika Deutsch

Wie gewonnen, so zerronnen

Charlie Meyer

Ringelreigen

Sarah Drews

Rache

Gabriele Nakhosteen

Eiskalt erwischt

Franziska Franz

´Lippisch´ Roulette

Dinah Marcus

Hoit di voor de Katten, de voorn licken un achtern kratten

Bianca Schilsong

Verschollen auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld

Frau Meier, die Klassenlehrerin der 25köpfigen 8a, einer Realschule in Bielefeld, war verzweifelt. Ihre Schülerin war verschwunden. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Panisch schaute sich Frau Meier nach allen Seiten um, sie klapperte alle Fahrgeschäfte ab, Imbissstände, Verkaufsstände. Niemand hat Sabine gesehen. Unbegreiflich.

„Wo kann sie nur sein?“, rief Frau Meier, als sie wieder vor ihren Schülern stand.

Die Kinder schauten sich schweigend an, tauschten Blicke aus.

„Nadja, ihr beide ward doch die ganze Zeit über zusammen.“

„Nein, wir haben uns gestritten und sind getrennt weiter gegangen“, erwiderte Nadja kleinlaut.

„Ich habe euch doch ausdrücklich gesagt, dass ihr mindestens in Zweiergruppen zusammen bleiben sollt. Egal was ist. Würdet ihr euch nur einmal an das halten, was man euch sagt!

Es war euch generell verboten, alleine los zu ziehen! Genau um das zu verhindern, was jetzt passiert ist! Wir müssen sie finden!“, rief Frau Meier in verzweifelter Panik, gepaart mit genzenloser Wut. Sie malte sich die schlimmsten Sachen aus. Entführung, Vergewaltigung, Mord. Ihr rechtes Auge begann zu zittern. Immer wenn sie nervös wurde, setzte dieses Zittern am Auge ein. Es machte sie noch nervöser. Sie konnte die Bilder, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten, nicht ausblenden.

„Ihr Kinder habt ja alle Handys. Hat jemand von euch heute Bilder gemacht auf denen Sabine zu sehen ist?“

Kollektives Kopfschütteln, außer bei Sebastian, der langsamen Schrittes, mit dem Handy in der Hand, auf seine Lehrerin zuging und es ihr gab.

„Prima. Kann ich mir dein Handy ausleihen?“

Ein Nicken.

„Bevor noch weitere Kinder verloren gehen“, begann Frau Meier, „bleibt ihr nun alle zusammen hier am Riesenrad stehen. Jule, passe bitte auf, dass alle zusammenbleiben! Ich ziehe noch einmal von Stand zu Stand, zeige das Bild von Sabine, in der Hoffnung, dass doch jemand sie gesehen hat. Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr hier zusammenbleibt? Und wenn ich sage, dass ihr zusammenbleiben sollt, dann tut dies auch!“

Als ein einstimmiges „Ja“ erfolgte, zog Frau Meier guten Gewissens los.

Sie war nervös, hatte panische Angst um Sabine. Ihre Musterschülerin, nur 1er auf dem Zeugnis, nie verhaltensauffällig gewesen, auf sie war immer Verlass. Ihr muss etwas zugestoßen sein. Sie hätte sich niemals alleine, ohne Bescheid zu geben, weggeschlichen. Erneutes Kopfkino.

Sabine nackt im Wald, blutend, zusammengekrümmt voller Schmerzen, ein Mann auf ihr, der ihr Schmerzen zufügte, ihr die Kindheit raubte. Sabine, die lauthals schrie, ohne gehört zu werden. Der Mann würde die Kontrolle verlieren, ihr den Mund zu halten, sie für immer zum Schweigen bringen, Erstickt, im Wald, unter der Erde verscharrt.

„Reiß dich zusammen“, befahl sie sich selbst.

„Entschuldigen Sie, haben Sie dieses Mädchen heute gesehen?“, fragte sie die junge Frau am Luftballonstand, einen Mann an einem Imbissstand und eine Person am Musikexpress.

Sie warfen Blicke auf das Handy. 3 x Kopfschüttelndes „Nein.“

Sie lief zum Hangover, auf den sich Sabine nie getraut hätte, da sie Höhenangst hat. Auch hier erwartungsgemäß betretenes, nicht gerade hilfreiches Kopfschütteln.

Frau Meier lief weiter. Sie schluchzte. Herzklopfen. Schneller Atem. Ihre Hände zitterten, Angstschweiß machte sich auf ihrer Stirn breit. Das Zittern in ihrem Auge wurde stärker.

Sie befürchtete ihre Schülerin nicht mehr lebend zu finden. Was werden die Eltern sagen? Sie würden ihr die Schuld geben. Man würde sie suspendieren, sicherlich dürfte sie nie wieder als Lehrerin arbeiten. Sie musste das Mädchen finden, koste es was es wolle, und zwar lebend und unversehrt. Sie hatte doch ihr ganzes Leben noch vor sich. Wie konnte das gerade unter ihrer Aufsicht passieren? Gerade ihr.

Sie kam zur Sparkassenbühne, auf der heute Abend LEA auftreten würde,die diesjährige Attraktion auf dem Leinewebermarkt in Bielefeld. Aber auch hier konnte man ihr nicht weiterhelfen. Erneut trauriges Kopfschütteln als Antwort.

Sie lief weiter.

„Entschuldigen Sie, haben Sie dieses Mädchen gesehen?“, fragte Frau Meier hoffnungsvoll.

Die Verkäuferin des Süßwarenstandes schaute sich das Bild eine Weile an. Man sah, dass sie überlegte.

„Ja, doch, ich erinnere mich an sie, sie war hier und hat sich Zuckerwatte gekauft.“

Erleichterung, endlich jemand der sie gesehen hatte, eine kleine Spur. Hoffnung keimte in Frau Meier auf.

„Wissen Sie noch wann in etwa sie hier war? War sie alleine?“

„Ja, sie war alleine, aber wann, schwer zu sagen, man verliert hier auf dem Leinewebermarkt schnell jegliches Zeitgefühl. Vor einer Stunde vielleicht?“, meinte die Verkäuferin. In ihrer Stimme lag jedoch keine Spur von Sicherheit.

„Danke, Sie haben mir sehr geholfen!“, bedankte sich Frau Meier und setzte ein Lächeln auf; es wirkte sichtlich gezwungen.

„Eine Frage an Sie, sind Sie die Mutter?“

„Nein, die Lehrerin.“

„Und da lassen Sie das Kind alleine hier über den Leinewebermarkt laufen? Und das in der heutigen Zeit?“, meinte die Verkäuferin einerseits verwundert, andererseits anklagend.

„Sie war ursprünglich nicht alleine. Ich muss weitersuchen. Tschüss!“

Frau Meier hatte keine Nerven, um sich jetzt irgendwelche Anmaßungen von einer Zuckerwatteverkäuferin am Süßwarenstand anzuhören. Sie lief weiter, kam an dem Autoscooter vorbei und später an einem Würstchenstand.

Kopfschütteln. Weiter ging es.

Die kurze Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, verebbte. Sie war kurz vorm Verzweifeln.

„Vielleicht ist sie bei der Radio Bielefeld Bühne?“, überlegte Frau Meier. Nichts wie hin.

„Ja“, nickte eine Frau mit Blick auf das Bild auf dem Handy, als sie dort fragte.

„Das Mädchen war alleine hier, sogar eine ganze Weile. Sie hatte, wie es aussah, Streit mit einem anderen Mädchen. Müsste vor 2 Stunden gewesen sein!“, überlegte die Frau unsicher.

„Ich danke Ihnen. Haben Sie gesehen, wohin sie gegangen ist?“

Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nochmals vielen Dank!“

Erneut stieg Hoffnung in Frau Meier auf.

Sie lief zurück. Kam an weiteren Essens- und Trinkständen vorbei.

Sie rief kurz die Klassensprecherin ihrer Klasse an: „Jule, ist bei euch alles in Ordnung? Alle noch da? Hat Sabine sich bei einem von euch gemeldet?“

„Nein, Frau Meier, hat sich nicht gemeldet, ja, alles in Ordnung und ja, wir sind alle noch da, keine weiteren Vermisstenmeldungen“, antwortete sie.

„Okay, ich suche weiter. Bis später.“

Frau Meier hatte kein gutes Gefühl dabei, ihre Klasse die ganze Zeit unbeaufsichtigt auf dem Leinewebermarkt am Riesenrad stehen zu lassen. Aber sie musste Sabine finden, das hatte jetzt absolute Priorität.

Sie kam an einem Losestand vorbei. Der Mann am Verlosungsbetrieb konnte ihr jedoch auch nicht weiterhelfen.

30 Minuten später gab es keine neuen Erkenntnisse. Voller Panik rief sie erneut Jule an.

„Nein. Nix neues. Sollten Sie nicht die Polizei informieren, Frau Meier?“

„Wir finden sie ohne Polizei“, sagte Frau Meier optimistisch klingend, auch wenn sie davon weit entfernt war. Sie konnte die Polizei nicht informieren, dann würde die Schule dies erfahren, die Eltern, nein, das geht nicht. Es geht schließlich auch um ihren bisher guten Ruf, den sie seit Jahren in der Schule genoss. Sie bekam ohnehin viel Gegenwind, als sie dem Schulleiter den Vorschlag unterbreitete nachmittags mit den Kindern am Tage vor dem Feiertag ein paar Stunden auf den Leinewebermarkt zu gehen.„Und was ist wenn … Sie wissen schon…“

„Jule, an so was darfst du nicht denken“, fuhr Frau Meier ihre Schülerin barsch an.

„Vielleicht ist sie schon tot“, sagte Jule weinend ins Telefon.

„Ich finde sie. So, ich lege auf. Bis später!“

Frau Meier steckte ihr Handy zurück in die Handtasche.

Sie kam am Zelt des Deutschen Roten Kreuz vorbei, zeigte das Bild, unterhielt sich kurz, aber auch hier war sie nicht.

Es fiel ihr schwer, aber sie musste die Eltern informieren. Die Angst vor genau diesem Anruf stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es würde Vorwürfe hageln, man würde ihr Aufsichtspflichtverletzung vorwerfen, sie würde ihre Arbeit verlieren, man würde sie anzeigen, sie war schuld am Verschwinden von Sabine. Tränen liefen.

Sie suchte mit eiskalten, zittrigen Fingern im Handy nach der Telefonnummer von Sabines Eltern, wählte und wartete. Das Tuten war unerträglich. Es kam ihr vor, als wären Minuten vergangen, bevor jemand abhob.

„Grube?“

„Frau Grube, Meier hier.“

Schweigen am anderen Ende, was Frau Meier noch mehr bedrückte.

„Ich muss mit Ihnen sprechen, es ist wichtig.“

„Worum geht es?“, fragte Sabines Mutter. Sie wirkte kurz angebunden.

„Ich muss Ihnen was Schreckliches mitteilen“, begann Frau Meier langsam.

Schweigen am anderen Ende des Telefons.

Frau Meier atmete dreimal tief durch, bevor sie fortfuhr.

„Sabine ist verschwunden. Seit fast zwei Stunden bin ich schon am Suchen. Es tut mir unendlich leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich schalte die Polizei ein.“

Frau Meier sprach sehr schnell und verhaspelte sich mehrfach, ihre Stimme machte ihre Panik, die sie hatte, deutlich.

Weiterhin Schweigen am anderen Ende der Leitung. Frau Meier hörte leises Atmen.

„Beruhigen Sie sich. Sabine ist hier, bei mir, sie ist mit dem Bus nach Hause gefahren. Ich dachte das wüssten Sie? Sonst hätte ich Ihnen Bescheid gegeben.“

Frau Meier fiel die Kinnlade herunter. Einerseits Erleichterung andererseits Wut. Die ganze Angst, die Anspannung, die Panik, alles nur, weil Sabine, ohne was zu sagen, gegangen ist? Das darf doch nicht wahr sein. Ihre Musterschülerin. Das hat Sabine doch mit Absicht gemacht, aber warum? Was hatte sie ihr denn getan, dass sie ihr so einen üblen Streich spielte? Und sicherlich wussten die Klassenkameraden alle Bescheid.

Fassungslosigkeit machte sich breit. Sie atmete dreimal tief ein und aus, bevor sie sprach.

„Mir fällt ein Stein vom Herzen.“ Dann verabschiedete sie sich, beendete das Gespräch und ging zurück zu ihrer Klasse. Ihre Mitschüler waren erleichtert, oder gaben zumindest vor, es zu sein. Frau Meier war sich dessen nicht so sicher.

Nächste Woche wird sie mit ihrer Klasse darüber sprechen. Jetzt hatte sie dazu keine Lust mehr.

Sie fuhren gemeinsam mit dem Bus zurück zur Schule. Aber eins war für Frau Meier sicher. Sie würde mit dieser Klasse in Zukunft kein weiteres Mal auf den Leinewebermarkt fahren.

Anja Puhane

16 Stunden, 51 Minuten und 39 Sekunden

Fünf Uhr eins und 55 Sekunden.

Die Sonne geht auf, er schläft noch tief, der Wecker wird erst in knapp anderthalb Stunden klingeln, bis dahin wälzt er sich in seinem Bett herum. Die Temperaturen sind sommerlich, aber die Nächte noch kühl. Daran liegt es nicht, dass er im Schlaf den Kopf immer wieder hin und her dreht, den Körper im Laufe der kurzen Nacht in der Decke verknotet hat.

Das Morgenlicht dringt zaghaft durch die Schlitze der Rollladen, im Laufe der nächsten 88 Minuten wird es immer fordernder, zaubert Muster auf die weiße Wand hinter ihm und würde ihn an der Nase kitzeln, wenn sie nicht tief im Kissen vergraben wäre.

Sechs Uhr dreißig. Der Wecker klingelt, fast zeitgleich stößt seine Mutter die Türe auf.

„Ingo, aufstehen!“

Ihr Brüllen übertönt den Wecker, der eigentlich schon laut genug ist. Es liegt weder am Wecker, noch an der Mutter, dass er schlagartig hellwach ist. Trotzdem unternimmt er einen halbherzigen Versuch, sich wieder in das Kissen zu kuscheln.

„Ingo, steh auf. Du kommst zu spät!“

Er ist noch nie auch nur eine Minute zu spät gekommen. Das lag natürlich nur an seiner Mutter, würde sie sagen.

Irgendetwas vor sich hin brummelnd, wirft sie die Tür wieder zu.

Ingo strampelt die Decke weg und schlurft Richtung Bad. Aus der Küche im Erdgeschoss dringt Geklapper und Geklirre.

Sieben Uhr drei Minuten und 25 Sekunden.

„Ingo!“

Er verdreht die Augen, während er in eine Jeans und ein Transformers-T-Shirt schlüpft. Das Shirt spannt über dem Bauch und die Hose reicht nur noch bis zu den Knöcheln. Er ist schon wieder gewachsen. Du wächst mir noch über den Kopf, sagt seine Mutter immer. Er verkneift sich dann zu sagen, dass er das hofft. Sie könnte das falsch verstehen. Aber sie ist nur 1,65 Meter groß. Da möchte er drüber.

Als er in die Küche kommt, sagt die Mutter nichts, sieht ihn nur mahnend an. Ihre blonden Haare kleben an der Stirn und den geröteten Wangen. Seit der Vater nicht mehr da ist, hat ihre Fürsorge beängstigende Ausmaße angenommen. Zwei Nutella-Brote liegen auf einem Teller, daneben steht die Brotbox für die Pause. Er hat sie zur Einschulung bekommen, zu seinem Leidwesen hat sie mittlerweile sechs Schuljahre relativ schadlos überstanden.

Ingo beißt in eins der Brote und nippt am viel zu heißen Kakao. Seine Mutter sitzt ihm gegenüber, die Hände um einen Kaffeebecher geschlungen. Sie ist noch im Nacht-hemd. Wenn er mittags aus der Schule kommt, wird sie es gegen einen Kittel eingetauscht haben. Sie wird der Großmutter, die in der anderen Doppelhaushälfte wohnt, immer ähnlicher. Aber immerhin hat sie keine blauen Flecken und geröteten Augen mehr.

Sieben Uhr, 35 Minuten, 14 Sekunden.

„Beeil dich, der Bus kommt gleich!“

„Ich fahr mit dem Rad, Ali holt mich ab.“

„Der kommt doch immer zu spät, nimm lieber den Bus.“

Ingo ignoriert ihre Ansage, kaut weiter auf seinem Brot herum.

Um viertel vor acht biegt Ali um die Ecke, Ingo steht schon mit seinem Rad vor dem Haus.

„Ihr werdet zu spät kommen“, orakelt die Mutter.

Werden sie nicht. Sie brauchen nur zehn Minuten, sitzen zwei Minuten bevor die Schulglocke läutet im Klassenraum.

Acht Uhr, Null Minuten, zehn Sekunden. Doktor Schepsmeier betritt den Raum und wirft seine Ledertasche auf den Lehrertisch. In der hinteren Reihe zucken ein paar Schüler zusammen.

Acht Uhr, fünf Minuten, 33 Sekunden.

Die Tür öffnet sich erneut und ein atemloses Mädchen mit einem braunen Zopf kommt herein.

„Entschuldigung, Herr Doktor Schepsmeier. Meine Mutter hat mich gefahren und wir mussten wegen einer Schafherde warten.“

Wie zur Bestätigung heult auf der Straße der Porsche der Lübkings auf.

Doktor Schepsmeier zieht die Augenbrauen hoch. „Leonie Lübking“, er kostet die Silben aus, jeder hält den Atem an. Jeder weiß, dass Leonie immer zu spät kommt. Nur ihre Begründungen variieren.

Es folgt nichts, Leonie geht mit wippendem Zopf zu ihrem Platz, wirft ihren Einhornrucksack unter den Tisch.

Ich hab Scheppi neulich mit Mama Lübking gesehen, steht auf dem Zettel, den Ali Ingo zuschiebt.

„Nein“, zischt der ungläubig. Hastig lässt er das Papier unter seinem Heft verschwinden, als Leonie sich zu ihnen umdreht und lächelt.

Es ist das Lächeln, das ihn bis in seine Träume verfolgt. Er lächelt zurück, kann aber keine Reaktion auf dem Gesicht des Mädchens erkennen. Sie scheint ihn gar nicht zu sehen. Dann dreht sie sich wieder um, und er versucht sich einzureden, dass sie ihn angelächelt hat und ein bisschen rosa geworden ist, als er es erwidert hat.

Zehn Uhr, fünf Minuten, 27 Sekunden.

Ingo öffnet seine Brotdose mit den bunten Autos auf dem Deckel.

„Das sieht aber lecker aus!“

Er spürt, wie die Röte in seinem Gesicht aufflackert und hält ihr die Dose hin.

„Möchtest du?“

Leonie schüttelt den Kopf und streicht sich über die Hüften, als ob das eine Erklärung wäre. Vermutlich macht ihre Mutter das auch.

„Wo ist denn eigentlich Ali?“

Die Frage klingt belanglos.

“Hier!“, unterbricht der Gesuchte Ingos Gedanken, die noch im Zustand einzelner Gewitterwolken waren.

Leonies Lächeln verdichtet die Wolken. Ingo reißt seinen Blick von dem Mädchen und blickt den Freund an. Seinen besten Freund.

Ali ist etwas kleiner als er. Klein und drahtig, mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, die ein bisschen zu lang sind.

Leonie und Ali lächeln sich an. Sie dreht den Zopf um ihren Finger. Kichert. Die Wolken werden schwarz und schwer.

„Geht Ihr auch heute Nachmittag zum Kinderschützenfest?“, fragt Leonie, dreht weiter an ihren Haaren und sieht Ali an.

„Klar!“, antwortet der und wirft sich in die schmale Brust.

Ich muss zu Hause sein, bevor es dunkel wird, will Ingo sagen, beißt sich aber auf die Lippen. Es tut weh.

„Meine Mama fährt mich. Sollen wir Euch abholen?“

Ali schüttelt den Kopf. „Wir fahren mit dem Rad.“

Die Pausenglocke klingelt. Sie gehen wieder ins Gebäude. Keiner bemerkt das aufziehende Gewitter. Ingos Gedanken kreisen wie ein Tornado. Er wird mehrmals von seinen Lehrern ermahnt. Kann sich einfach nicht konzentrieren. Die Brote liegen schwer im Magen.

Ein Uhr, 45 Minuten, drei Sekunden.

Die Mutter stellt einen Teller mit Fischstäbchen und Kartoffeln vor ihn auf den Tisch. Er will sagen, dass er keinen Hunger hat, dass der Klumpen aus Frühstückbroten noch in seinem Magen liegt. Aber er schluckt es hinunter und schlingt alles in sich hinein.

„Dann scheint die Sonne auch morgen wieder“, lobt ihn die Mutter in ihrem bunten Kittelkleid.

Welche Sonne, da ist keine Sonne, sagt eine kleine Stimme in seinem Kopf. Er lässt sie nicht heraus, sondern nimmt das Eis, das seine Mutter ihm gibt. Trotz allem gibt es ein bisschen Trost.

„Wir wollen heute Nachmittag zum Kinderschützenfest.“

„Wer wir? Doch nicht wieder dieser Ali?“

Seine Mutter mag Ali nicht. Ingo schüttelt den Kopf.

„Ein paar aus meiner Klasse.“

Sie nickt. „Aber nur, wenn du vorher deine Hausaufgaben machst. Und der Rasen muss gemäht werden.“

Es interessiert sie nicht, dass am nächsten Tag Samstag ist. Sie hat ihre Prinzipien, den Kitt ihrer Welt.

15 Uhr, zwei Minuten, 40 Sekunden.

Er wartet an der Ecke auf Ali. Seine Mutter muss ihn nicht unbedingt sehen, sonst ruft sie ihn doch noch unter einem Vorwand zurück.

„Und sei zu Hause, bevor es dunkel ist!“, hat sie ihm hinterher gerufen. Er weiß nicht, ob ihr klar ist, dass es der längste Tag des Jahres ist. Und dass er hier, am Nordpunkt, besonders lang ist. Der längste Tag. Er seufzt. Die letzten Stunden waren schon lang genug.

Ali ist erstaunlich pünktlich. Er trägt eine neue Jeans und ein frisches Shirt. Auf seiner Brust prangt Thor, lässig auf seinen Hammer gestützt. Ingo streicht verlegen über Bumblebee, den ein Fettfleck ziert.

Sie reden nicht, als sie am Rand des Festplatzes auf Leonie warten. Sie kommt mit einer Viertelstunde Verspätung. Ihre Erklärung rauscht an beiden vorbei. Ingo bemerkt, dass Ali mit Thor um die Wette grinst.

Er kauft Cola für alle drei, das Geld hat er seiner Großmutter aus der Schublade geklaut. Mit den Getränken stehen sie vor der Reithalle, in der es Kakao und Kuchen für die Kinder gibt. Leonie nuckelt an ihrem Strohhalm und schaut auf ihre Füße, die in pinkfarbenen Sandalen stecken. Die Zehennägel sind Türkis. Ingo kann seinen Blick nur schwer davon lösen.

Die Alternative ist nicht besser. Er schaut zum Bierstand. Ein anderes Bild schiebt sich vor seine Augen. Seine Mutter im Sommerkleid, die blonden Haare zu Locken gedreht. Wie sie dem Fremden zuprostet. Der Mann in Jeans und Shirt. Auf dem Shirt steht der Name irgendeiner amerikanischen Universität. Seine Mutter schwankt leicht, Spritzer von ihrem Bier landen auf dem Hemd des Fremden.

Ingo blinzelt, er will das nicht sehen, und schon gar nicht das, was danach kam.

Als sie in der Halle sitzen und Donauwellen in sich hineinschaufeln, lächelt Leonie ihn an. Endlich. Sein Herz wird warm. Jetzt wird alles gut, denkt er.

Der Moment endet, als Leonie sich an Ali lehnt. Ingo befördert ein großes Stück Kuchen in seinen Mund. Das hat noch immer geholfen. Er denkt an den tröstlichen Pudding, den seine Mutter ihm kocht. Vanille und Schokolade für die Seele. Die Masse in seinem Mund schmeckt bitter, nimmt an Volumen zu. Er versucht sie mit Kakao hinunterzuspülen, während Leonie über einen Spruch von Ali lacht. Der Freund lächelt ihm zu, wie er immer lächelt. Fröhlich und offen.

Ingo will nicht hinsehen, geht zum Toilettenwagen. Als er zurückkommt, sind die beiden verschwunden. Nur ihre leeren Becher und Pappteller stehen noch auf dem Tisch.

Ingo wirft sie in den Mülleimer, um den Fliegen und Wespen kreisen, dann läuft er kreuz und quer über den Platz.

Das Rad von Ali steht immer noch neben seinem. Er geht zu der Frau am Eingang der Reithalle, fragt nach seinen Freunden. Die schüttelt den Kopf. Viel zu viele Kinder, wie soll sie sich da an zwei erinnern können. Sie ahnt nicht, dass sie diesen Satz noch häufiger sagen wird.

Ingo schlendert Richtung Aue, läuft an der Straße entlang, als ob ihn etwas zöge. Versucht an nichts zu denken. Das Nichts hat das fröhliche, rotwangige Gesicht der Mutter, das hochrote Gesicht des Vaters und das verschwommene Gesicht des Fremden. Immer wieder schieben sich die Gesichter von Leonie und Ali davor.

Dann hört er die Stimmen. Leise, fast übertönt vom Glucksen der großen und der kleinen Aue, die sich vereinigen.

Ingo geht die Böschung hinunter zum Wasser. Dort sitzen die beiden, die Köpfe nah beieinander und flüstern. Das Wispern kommt ihm verdächtig vor, spöttisch. Als ob sie sich über ihn lustig machen. Über den dicken kleinen Ingo mit dem alten T-Shirt und den zu kurzen Hosen. Und den Eltern, von denen jeder weiß, was sie getan haben. Plötzlich versteht er, was seine Mutter meinte, als sie sagte, sie hätten weg gehen sollen. Aber wohin? Und jetzt ist es zu spät.

„Da seid ihr ja!“, ruft er fröhlich.

Die Freunde zucken zusammen, rücken ein Stück voneinander weg. Leonie wird ein bisschen rot.

„Störe ich?“

Beide schütteln den Kopf. Ingo setzt sich neben sie, schaut auf das Wasser. Alle drei schweigen, bis Leonie anfängt, eine Geschichte über den Hund der Nachbarin zu erzählen. Sie verheddert sich in Details, schweigt dann einfach, ohne dass die Geschichte ein Ende hat.

„Ich muss nach Hause, bevor es dunkel ist“, sagt Ingo in die Stille hinein und erhebt sich.

„Dann bis Montag!“, ruft Ali.

Ingo klettert die Böschung wieder hoch. Geht Richtung Reithalle. Er blickt auf seine Kinderuhr. 18 Uhr 42. Noch drei Stunden, zehn Minuten bis zum Sonnenuntergang. Seine Mutter wird ihn nicht fragen, warum er so früh wieder da ist. Sie wird ihn auch nicht fragen, warum er das Wochenende auf seinem Zimmer verbringt. Sei fragt nur, ob er seine Aufgaben erledigt hat.

Er geht zur Aue hinunter, setzt sich ans Ufer und starrt auf das Wasser. Es gluckst eine Geschichte, die keiner versteht, während die Bäume Antworten auf Fragen wispern, die keiner gestellt hat.

Vielleicht sind es aber auch die Antworten auf seine Fragen. Wie geht es weiter? Die nächsten drei Stunden und die nächsten fünfzig Jahre oder so. Eine unermesslich lange Zeit, die ihm unfassbar düster erscheint. Fünfundzwanzig Jahre sind nichts dagegen.

Ali, sein allerbester Freund. Dachte er.

Leonie, ein wunderbares Wesen. Oder auch nicht.

Freundschaft, was zählt das noch? Die große Aue lacht ihn aus. Wie konnte er nur an so etwas glauben?

Er stellt sich vor, wie er zu den anderen zurückgeht und alle drei zusammen darüber lachen, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Betrogen. Dass er dachte, sie würden ihn das ganze Wochenende nicht sehen wollen. Die Schützenfesttage ohne ihn verbringen.

Nein, sie würden zusammen lachen. Wie beste Freunde; für immer.

Niemals würden sie ihn ansehen, als ob sie hoffen, er würde möglichst schnell wieder verschwinden. Kein verärgerter Blick von Leonie. Keine zusammen gezogenen Augenbrauen von Ali.

Kein Stein in seiner Hand. Kein Schrei, kein Blut. Keine Mädchenfäuste, die auf seine Brust schlagen. Keine blonden Haare, durch die Blut sickert. Keine Körper, die ins Wasser fallen. Kein Stein, von dem die Aue das Blut abwaschen muss.

Nichts von dem. Die Aue fließt weiter, als ob nichts passiert wäre. Er starrt immer noch auf das Wasser.

21 Uhr 30.

Er hat noch 22 Minuten, um nach Hause zu fahren. Um zur Reithalle zurück zu gehen. Noch einmal die Leute nach seinen Freunden zu fragen. Sein Fahrrad aufzuschließen. Einen Blick auf das verlassene Rad von Ali zu werfen. Aufs Rad zu steigen und nach vorne zu blicken. 22 Minuten, Zeit genug.

Ihm fehlen drei Stunden davor. Drei Stunden, die er am Ufer der Aue sitzend verbracht hat. Zeit, die sein Hirn einfach ausgeblendet hat. Kann man so lange am Wasser sitzen? Kann man so sehr die Zeit vergessen?

Er steht vor der Haustür, während hinter ihm der Tag versickert. Kann einen Moment lang weder vor noch zurück. Fühlt sich alt und doch ganz klein. Vermisst den Vater. Würde ihn gerne etwas fragen und kennt die Frage nicht.

Seine Mutter nimmt nur wahr, dass er zu Hause ist, bevor es dunkel wird. Wie dunkel es vorher schon geworden ist, sieht sie nicht.

Rosemary White

Die Paderborner Morde

Enttäuscht schaltete Emily das Radio aus. Den ganzen Tag über hatte der Nachrichtensprecher gleich zu Beginn der Sendung das Ergebnis der Abstimmung Soll der Bücherbus weiterfahren? Ja oder Nein? vorgelesen.

Sie goss den heißen Kaffee in die Thermoskanne und stellte sie auf das vollgeladene Tablett.

Beim Anblick des schwarzen Kaffees musste sie unwillkürlich an das dicke schwarze Kreuz denken, dass sie auf ihrem Stimmzettel bei Ja gemacht hatte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass der Bücherbus nicht mehr fährt. Aber irgendwelche Banausen hatten offensichtlich doch die andere Möglichkeit, nämlich Nein, angekreuzt.

Sie balancierte das Tablett quer durch das Gemeindezentrum, bis ans andere Ende des Flurs. Dabei kündigte das leise Klirren der Porzellantassen allen in der Bastelgruppe die heißersehnte Kaffeepause an.

Emily erhaschte noch einen kurzen Blick aus dem Flurfenster, vor dem im Licht der Straßenlaternen dicke Schneeflocken wie ein weißer Vorhang sanft zu Boden glitten. Die ersten in diesem Winter, dachte sie und lächelte. Von Ferne schlug die Domuhr Vier, und Emily betrat den hellerleuchteten Raum.

Die anwesenden Herrschaften befanden sich mitten in einer lebhaften Diskussion über das hochaktuelle Thema – den Bücherbus.

„Ah, unsere gute Fee!“, rief Herr Schneider, ein ehemaliger Orgelbauer und einziger Mann unter den fünf rüstigen Rentnerinnen. Dabei breitete er seine Arme aus, als hätte er gerade einen Rockstar angekündigt.

Emily, die sich stets gerne im Gemeindezentrum nützlich machte, war allerdings weit entfernt von dem, was man landläufig als glamouröse Erscheinung bezeichnen würde. Mehr als ein verlegenes Lächeln brachte sie nicht über sich. Sie wirkte eher wie ein verschüchtertes kleines Mädchen, als eine lebenslustige Vierunddreißigjährige.

Niemand hatte sie jemals in einem anderen Outfit erlebt, als dem wallenden Faltenrock, der ihr fast bis zu den fellgefütterten Winterschuhen reichte. Zudem war sie stets in eine beigefarbene Strickjacke gehüllt, deren Rautenmuster die einzigen Erhebungen auf ihrem sonst flachen Körper formten. Eine große Brille und kinnlange, braune Haare schirmten das Gesicht hermetisch nach außen ab. Dabei hatte sie sehr schöne, haselnussbraune Augen.

Emily schenkte den Kaffee aus, und Frau Freese, die den Apfelstrudel erst vor zwei Stunden frisch aus dem Ofen gezogen hatte, reichte ihn voller Stolz von einem zum anderen. Bald war der ganze Raum erfüllt vom wohlig warmen Duft des frischgebrühten Röstgetränks und frischem Gebäck. Eine wunderbare vorweihnachtliche Stille breitete sich aus, während alle Anwesenden die Köstlichkeiten genossen.

Fräulein Pöppelmann, die ehemalige Lehrerin an der Grundschule, griff nach einem weiteren Kuchenstück und ließ, um von diesem Umstand etwas abzulenken, die Diskussion erneut aufflammen.

„Trotzdem dürfen wir die Jungen und Alten in den Dörfern nicht vergessen“, dozierte sie, als hätte sie Erstklässler vor sich sitzen. Und nachdem niemand im Raum reagierte, fügte sie etwas verärgert hinzu: „Die, die keinen fahrbaren Untersatz haben, meine ich. Außerdem, was soll denn der arme Fahrer jetzt machen? Er hat doch bestimmt keine Arbeit mehr.“ Sie blickte fragend in die Runde.