Ostwind - Der große Orkan - Lea Schmidbauer - E-Book
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Ostwind - Der große Orkan E-Book

Lea Schmidbauer

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Beschreibung

Mikas Rückkehr steht unmittelbar bevor. Da zieht ein Sommersturm über Kaltenbach und bringt einen fahrenden Pferdezirkus mit sich, der auf dem Gestüt Zuflucht vor dem Unwetter sucht. Während Ari von der faszinierenden Welt des Kunstreitens magisch angezogen wird, reagiert Ostwind merkwürdig aufgebracht auf die Besucher. Was hat es mit dem alten Zirkuspferd Orkan auf sich, das in der Box neben ihm untergebracht ist?

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Seitenzahl: 348

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Lea Schmidbauer

 

OSTWIND

Der große Orkan

 

 

 

Basierend auf Figuren und Fabel von

Lea Schmidbauer und Kristina Magdalena Henn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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© und TM 2018 Alias Entertainment GmbH © Ostwind-Filme: SamFilm GmbH Alle Rechte vorbehalten Satz: Uhl + Massopust, Aalen Umschlaggestaltung: Craubner + Hartmann Fotos Umschlag: Marc Reimann, Tom Trambow eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-23480-5 V002
/ostwindfilm

1. Kapitel

Wie flüssiges Blei schoben die Wolken den Himmel zu, erstickten die Spätsommersonne und hinterließen ein fahles Zwielicht. Der warme Wind, der eben noch in den Blättern der Bäume geraschelt hatte, erstarb. Die Vögel verstummten. Die Luft wurde plötzlich kalt. Alles um sie herum schien den Atem anzuhalten. Sie wusste, es würde jetzt nicht mehr lange dauern. In der Stille hörte sie ihr Herz schlagen, immer lauter und kräftiger. Auch das Kribbeln in ihrem Nacken war ein untrügliches Zeichen. Gefahr!GEFAHR!

Sie wusste, was sie tun musste. Sie spürte es. Aber irgendetwas ließ sie trotzdem zögern. Das kniehohe Gras knisterte, als wäre die Luft um sie herum elektrisch. Das dunkle Pferd, das bis jetzt ruhig neben ihr gegrast hatte, hob den Kopf und sah sie an, aber immer noch bewegte sie sich nicht. Und in diesem Moment hörte sie die Stimme. So laut und klar, dass sie zusammenzuckte. Bring ihn in Sicherheit! Sie fuhr herum, aber da war keiner.JETZT! befahl die Stimme und diesmal schüttelte sie trotzig den Kopf. Nein. Noch nicht. Wieder sah sie zum Horizont, wo sich immer mehr Wolken auftürmten und zu einem riesigen,düsteren Ungetüm zusammenschoben. Das Pferd schnaubte unruhig und scharrte mit dem Huf, doch noch konnte sie sich nicht losreißen. Sie spürte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper, jede Nervenbahn, durch die jetzt Energie bis in ihre Fingerspitzen pulsierte. Sie schloss die Augen, um das Gefühl nur noch einen Moment länger zu genießen, bevor …DERSTURMKOMMT!, donnerte die Stimme und sie riss die Augen auf. Und dann raste die Dunkelheit auf sie zu.

»Jawohl, der Sturm kommt, liebe Leute, soviel ist sicher. Also bringt eure Schäfchen und den Rest der Familie schon mal ins Trockene! Ich liefere dazu die passende Musik!« Die aufgekratzte Stimme schepperte gespenstisch über den verlassenen Hof. Sie kam aus einem altmodischen Radio, das so verstaubt und verdreckt war, dass es kaum noch als Radio zu erkennen war. Jemand hatte den fehlenden Drehknopf durch einen grob zurechtgeschnitzten Holzknopf ersetzt, und statt der Antenne ragte ein rostiger Eisendraht in die Luft. So stand es auf dem Fenstersims einer der drei flachen Baracken, die sich um einen quadratischen Innenhof duckten. Vor vielen Jahren einmal hatte jemand den Hof mit Sand befestigt, doch der Wald, der das Gehöft an allen vier Seiten umgab, holte sich den geraubten Boden Stück für Stück zurück. Flechten kletterten die Wände der Gebäude empor, zarte hellgrüne Fichten hatten die Schotterdecke von unten aufgesprengt, Gras zwängte sich aus allen Ritzen und Fugen des gesprungenen Mauerwerks.

»It’s Raining Men – Halleluja!«, sang es inbrünstig aus dem Radio als plötzlich ein Schrei die Luft zerriss.

»ARRRHHHHGGH!«

Das schwarze Pferd, das am Rand des Hofes stand und genüsslich ein paar Brombeerblätter aus einem Mauervorsprung gezogen hatte, riss den Kopf hoch und sah zu einer kleinen Gestalt, die in diesem Moment wie ein Schachtelteufel aus dem hohen Gras fuhr. Sie schüttelte heftig den Kopf, als müsse sie ein Insekt vertreiben, das sich in ihren wilden Locken verirrt hatte. Ostwind schnorchelte vorwurfsvoll und Ari sah ihn schuldbewusst an.

»Oh. Tut mir leid.« Sie hob entschuldigend die Hände und wieder schüttelte der Hengst empört seinen langen Hals. Diesmal musste sie grinsen.

»Ja, Mann. Ich weiß doch. Keine ruckartigen Bewegungen.«

Sie trat zu ihm, streckte behutsam die Hand aus und kraulte ihn hinter einem Ohr. »Und keine Störungen der Mittagsruhe. War so abgemacht. Aber ich hab blöd geträumt. Es war …« Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich ihren Traum noch einmal zurückzuholen. Sich an ihre Träume zu erinnern, gelang ihr erst seit ein paar Monaten. Früher war sie einfach nur schreiend aufgewacht – jetzt wachte sie schreiend auf und wusste immerhin noch warum. Nur ob das so viel besser war? Ari schüttelte seufzend den Kopf. »Egal.«

»Und liebe Hörer, habt ihr denn schon die Wäsche reingeholt? Noch ist der Himmel babyblau, aber ihr wisst ja«, die ölige Stimme des Radiomoderators senkte sich dramatisch, »dieser Sturm wird auch euch nicht verschonen! Also macht die Schotten dicht, klappt die –«, aber weiter kam er nicht, denn Ari war mit drei Sätzen bei dem alten Radio und schaltete es aus. Der Sturm. Sie konnte es nicht mehr hören. Seit Tagen redeten alle auf Kaltenbach über nichts anderes, seit Tagen wurden Pläne geschmiedet, welche Pferde sie wie und wohin umtreiben mussten, um sie rechtzeitig vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen. Okay, ein Tropensturm, der sich nach Mittelhessen verirrte, war vielleicht nicht alltäglich, aber am Ende des Tages war es doch einfach nur ein bisschen mehr Wasser und Wind als sonst. Und die Aufregung war einfach übertrieben. Ari ging zurück zu Ostwind, ließ sich schwer in den orange-braun karierten Campingstuhl fallen, den sie zusammen mit dem Radio in einem der Schuppen gefunden hatte und sah sich zufrieden um. Das hier war ihr Reich. Hier konnte sie tun und sein, was und wer sie wollte. Niemand sah sie schräg an, nur weil sie mit einem Bogen über der Schulter herumlief. Niemand legte ihr nahe, doch bitte nur dann damit zu üben, wenn keine Kunden in der Nähe waren. Und vor allem erinnerte niemand sie daran, dass das Pferd an ihrer Seite gar nicht ihres war.

Sie hatte diesen verlassenen Hof vor ein paar Wochen gefunden, als sie mit Ostwind durch den Wald gestreift war, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie trainieren konnte, ohne jemanden zu stören. Denn das war nicht leicht, wenn trainieren bedeutete, aus großer Entfernung von einem galoppierenden Pferd aus mit Pfeil und Bogen auf ein Ziel zu schießen. Bis vor Kurzem hatte sie manchmal den großen Reitplatz in Kaltenbach dazu nutzen dürfen. Doch nachdem sich immer wieder Pfeile verirrten und zuletzt durch ein offenes Fenster eine kostbare Porzellanfigur vom Kaminsims holten, wurde Ari nahegelegt, ihre »Indianer-Tricks«, so nannte es Frau Kaltenbach, doch bitte an einem anderen Ort zu üben.

Ari wohnte seit vier Monaten auf dem Gestüt. Nach acht Pflegefamilien war Kaltenbach ihr neuntes Zuhause – aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich tatsächlich daheim. Immer noch schlich sie ehrfürchtig durch die holzvertäfelten Flure. Aber jedes Mal wenn sie durch das hohe Fenster mit den weißen Holzsprossen aus ihrem Zimmer in den weitläufigen Hof sah, fühlte sie sich ein bisschen mehr zu Hause.

Vor allem hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu tun, um sich Kaltenbachs würdig zu erweisen. Ihr umjubelter Auftritt mit Ostwind am Tag der offenen Tür war ein guter Anfang gewesen. Seitdem waren viele Wochen vergangen und langsam beschlich Ari das Gefühl, dass es gar nicht so leicht werden würde, ihren Platz hier zu finden. Früher war es ihr egal gewesen, dass ihre Mitmenschen sie einfach nicht verstanden – sie hatte es ohnehin nicht ändern können. Aber jetzt hatte SIE sich verändert. Unwillkürlich sah sie zu Ostwind und bemerkte überrascht, dass der Hengst sie die ganze Zeit über angesehen hatte. Seine wachen bernsteinfarbenen Augen leuchteten in der Nachmittagssonne, und als sie sich ihm zuwandte, hielt er ihren Blick fest. Ich sehe dich, schien er zu sagen. Trotz ihrer düsteren Gedanken musste Ari lächeln. Ostwind hatte sie verändert. Oder sie hatte sich für ihn verändert. Sie hatte das Kribbeln im Griff, hatte keine Wutausbrüche mehr und wenn sie jetzt jemand im Schulbus anrempelte, dann gab es keine blauen Augen oder gebrochenen Nasen mehr, sondern schlimmstenfalls ein: »Ey, pass doch auf, Mann!« Wieso nur fiel das Sam und Frau Kaltenbach nicht auf? Wieso wollten sie nicht, dass Ari ihren Teil beitrug? Im Stall mithalf? Sich nützlich machte? Das war eine Frage, auf die sie einfach keine Antwort fand. Auch Herrn Kaan hatte sie gefragt, der eigentlich immer alles wusste, doch der hatte nur mild gelächelt und mit einem seiner rätselhaften Sätze geantwortet, deren Sinn man – wenn überhaupt – erst nach tagelangem Grübeln verstand.

»Wenn du einen Weg von 1000 Schritten zu gehen hast, bist du auch nach 999 noch nicht angekommen.«

Toll. Vielen Dank!, dachte Ari bitter und kickte mit dem Fuß gegen die verblichene Plastikwanne, in der sie die Fundstücke aufbewahrte, die sie bei ihren Streifzügen durch die Baracken gesammelt hatte und vielleicht noch gebrauchen konnte. Immerhin hatte sie jetzt einen Ort gefunden, an dem sie niemanden störte oder peinlich war. An dem es egal war, wenn ein Pfeil sein Ziel verfehlte – was immer seltener vorkam. Der Innenhof bestand aus einer großen nach drei Seiten begrenzten Fläche. Der weiche Sandboden war, nachdem sie ihn akribisch von Unkraut befreit hatte, der perfekte Untergrund zum Reiten. Ari hatte ihr Glück kaum fassen können, als sie in einer Ecke der alten Scheune ein ganzes Bündel verwitterter Hindernisstangen gefunden hatte. Wer immer hier früher gelebt hatte, hatte offenbar Pferde gehalten! Mit einem Jubelschrei hatte sie die mächtigen rot-weiß gestreiften Pfähle ans Licht gezerrt, sie von Spinnweben befreit, um dann in tagelanger Arbeit eine windschiefe, aber dennoch maßstabsgetreue Kopie des Reitplatzes in Kaltenbach zu errichten. Ihr neuer Übungsparcours war bei Weitem nicht so perfekt, aber Ari war stolz auf ihr Werk. Als sie fertig war, war ihr erster Gedanke gewesen, ihn Herrn Kaan zu zeigen. Zusammen mit ihm hatte sie schon einmal einen improvisierten Übungsplatz gebaut. Den Platz, auf dem sie gelernt hatte, mit Pfeil und Bogen umzugehen. Der Parcours auf der Wiese hinter Herrn Kaans Wohnwagen hatte inzwischen der neuen Fohlenkoppel weichen müssen. Wegen seines Gefälles und des unebenen Bodens war er zum Üben auch nicht perfekt gewesen, aber Ari würde ihn trotzdem nie vergessen. Schließlich hatte sie Herrn Kaan dann doch nichts von ihrem neuen Trainingsgelände erzählt. Er hätte ohnehin keine Zeit gehabt, mit ihr hierherzukommen, denn auch er war ja – wie alle anderen – rund um die Uhr mit der Arbeit im Therapiezentrum beschäftigt.

Wieder legte Ari den Kopf in den Nacken und blinzelte prüfend in den Himmel, an dem immerhin ein paar Schäfchenwolken aufgetaucht waren.

»Pfff«, machte sie verächtlich. »Also wenn das nach Sturm aussieht, dann fress ich …«, sie sah sich zu Ostwind um, der sie immer noch abwartend ansah, und deutete dann auf ein rostiges Gitter, das aus der Plastikwanne ragte, »… diesen alten Wäscheständer!« Ostwind schnaubte und Ari deutete das als klares Zeichen seiner Zustimmung. Der sagenumwobene Supersturm, der seit Tagen die Gemüter erregte, war am Ende wahrscheinlich nicht mehr als ein laues Lüftchen.

Die Metallfedern des Campingstuhls protestierten ächzend, als sie nun aufstand. Mit einer Bewegung, die so selbstverständlich war, als würde sie sich eine Jacke anziehen, griff sie nach dem geschwungenen Reiterbogen, der an dem Mauervorsprung lehnte, und zog ihn über ihre Schulter. Das unternehmungslustige Scharren eines Hufs sagte ihr, dass Ostwind seine Mittagspause nun ebenfalls beendet hatte. Sie drehte sich um und da stand er bereits mit gespitzten Ohren hinter ihr, senkte seinen Kopf und bog seinen Hals zu einer eleganten Kurve wie ein Schwan. Ari schmunzelte. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie schwören können, dass der schwarze Hengst manchmal ein bisschen angab. Dann warf er sich in Pose, hob seinen Schweif, wölbte die mächtige Brust nach vorne und stolzierte ein paar Meter im spanischen Schritt. Ari knuffte den Hengst liebevoll in die Seite. »Entspann dich, Kumpel. Hier ist niemand außer mir und dir. Das kannst du dir für Mika aufheben.«

Mika. Der Name war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen, dabei hatte Ari das rothaarige Mädchen nur ein einziges Mal persönlich getroffen. Am Abend vor Mikas langer Reise waren sie bei Ostwind aufeinandergetroffen. Mika hatte ihr das Versprechen abgenommen, auf ihn aufzupassen. Es war nur eine kurze Begegnung von wenigen Minuten gewesen, aber Ari hütete die Erinnerung daran wie einen Schatz. Sie hatte sich jedes Wort eingeprägt, jede Geste – vor allem aber erinnerte sie sich daran, wie sie sich in Mikas Gegenwart gefühlt hatte. Es war ein Gefühl, das sie bis dahin und seitdem nie wieder gespürt hatte. Das Gefühl, gesehen zu werden. Mika, das wusste Ari mit absoluter Sicherheit, verstand sie auf eine Art, wie es kein anderer Mensch in ihrem Leben je getan hatte. Nicht einmal Herr Kaan – und der verstand schon eine ganze Menge.

Und nun waren es nur noch ein paar Tage, bis Mika zurückkommen würde. Auch das war ein Grund, warum Ari es vorgezogen hatte, den Nachmittag allein hier in ihrem neuen Reich zu verbringen. In den letzten vier Monaten hatte Mika ihre Rückkehr schon drei Mal angekündigt, doch immer war etwas dazwischen gekommen. Einmal hatte Ostwinds Tochter Ora, die Mika und ihr Freund Milan auf ihre Reise mitgenommen hatten, sich am Bein verletzt und war nicht transportfähig gewesen. Ein anderes Mal hatte der Geländewagen, der die drei aus ihrem abgelegenen Camp holen sollte, eine Reifenpanne. Und zuletzt hatte Mika ihre Abreise verschoben, weil sie einen scheuen Mustang einfangen mussten, der seine Herde verloren hatte. Insgeheim hatte Ari das Gefühl, dass Mika es einfach nicht besonders eilig hatte, wieder nach Hause zu kommen. Dass sie es genoss, jeden Tag unter freiem Himmel aufzuwachen, bereit für das nächste Abenteuer. Doch sie hütete sich, diesen Verdacht mit ihren Mitbewohnern auf Kaltenbach zu teilen. Die waren nämlich jedes Mal vor einem der angekündigten Termine völlig aus dem Häuschen gewesen und hatten bereits drei Mal mehr oder weniger opulente Willkommenspartys vorbereitet, die dann ohne Mika, mit mäßiger Stimmung und erschlafften Luftschlangen stattfanden.

Diesmal hatte Frau Kaltenbach zwar wegen des angekündigten Unwetters auf eine größere Willkommensfeier verzichtet, aber die allgemeine Aufregung und die damit verbundene Betriebsamkeit waren für Ari schwer zu ertragen. Nicht weil sie sich nicht auf Mika freute – das tat sie –, sondern weil sie in diesen Momenten besonders deutlich spürte, dass sie auf Kaltenbach einfach noch nicht dazugehörte, nutzlos herumstand, während alle anderen umherliefen und mithalfen. Jedes Mal wenn sie Anstalten machte, etwas beizutragen – sei es die Jungpferde auszumisten, Sättel zu putzen oder sogar in der Küche Kartoffeln zu schälen, nahm ihr jemand höflich, aber bestimmt, die Mistgabel, die Sattelseife oder den Kartoffelschäler aus der Hand und trug ihr auf, doch einfach den schönen Tag zu genießen, Hausaufgaben zu machen oder nach Ostwind zu sehen. Ostwind war überhaupt das Einzige, das in ihrer Verantwortung lag – und auch dafür hatte sie hart kämpfen müssen. Am Ende war es Mika gewesen, die mit ihrer Großmutter telefoniert und dafür gesorgt hatte, dass niemand außer Ari mit dieser Aufgabe betraut wurde.

Wie auf Stichwort riss Ostwinds unruhiges Schnauben sie an dieser Stelle aus ihren Gedanken.

»Was denn?«, sagte sie, eine Spur ungehalten – und merkte im selben Moment, dass das Sonnenlicht um sie herum plötzlich verschwunden war. Sie sah nach oben.

»Ach komm! Das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihr unwillkürlich. Über ihr, da wo vor wenigen Minuten noch blau-weißes Sommeridyll geherrscht hatte, war nun ein bläulich schimmerndes Wolkenmassiv aufgetaucht. Auch die angenehm laue Brise hatte einen Gang hochgeschaltet und rauschte laut durch die Fichten, die das einsame Gehöft umstanden. Plötzlich zerriss ein lautes Klirren die Luft. Ostwind machte einen erschrockenen Satz und instinktiv sprang Ari vor ihn. Kampfbereit fuhr sie herum – und entspannte sich wieder.

»Ups. Sieht so aus, als könnten wir den Sandsack-Slalom heute doch nicht mehr ausprobieren.« Ostwind und Ari sahen zur großen Scheune, an deren weit vorragenden Dachbalken fünf mit Sand gefüllte Plastiksäcke an Seilen in einer langen Reihe baumelten. Ein Windstoß hatte sie so in Schwingung versetzt, dass einer von ihnen die letzte noch verbliebene Fensterscheibe der baufälligen Scheune zerschlagen hatte. Ari seufzte und auch Ostwind schnaubte, als sei er sehr enttäuscht.

»Nicht schlimm. Machen wir die Tage.« Sie zögerte. Die Tage? Bald schon würde Mika kommen. »Oder wann immer, die laufen ja nicht weg«, fügte sie energisch hinzu. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr und Ostwind passieren würde, wenn Mika wieder da war. Sam, Frau Kaltenbach und auch Tinka schienen dagegen eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu haben. Das merkte Ari an ihren besorgten Blicken und taktvollen Bemerkungen. Ostwind gehörte Mika und es war besser für alle, wenn Ari das nicht vergaß. Dabei hatte sie das nie vorgehabt. Ari hielt Mikas Auftrag in Ehren – genauso wie sie wusste, dass nur Mika verstand, was sie mit Ostwind verband.

Entschlossen warf sie die einfach gegurtete Satteldecke auf Ostwinds Rücken und zog das Knotenhalfter über seinen Kopf. Mit einem Kopfnicken und dem leisen Schnalzen ihrer Zunge bedeutete sie dem Hengst, ein paar Meter zurückzugehen. Mit einer Drehung ihrer Hand hielt sie ihn wieder an.

»Und jetzt: Achtung! Aufstieg über Bande!«, rief sie und trat zum Anlauf nehmen ein paar Schritte zurück.

»Eins, zwei, drei … GO!«

Mit einem kräftigen Sprung setzte sich Ostwind in Bewegung. Ari ihrerseits sah so aus, als wolle sie einfach gegen die Wand der Baracke laufen, denn sie rannte ungebremst direkt darauf zu. Doch dann stieß sie sich mit beiden Beinen kraftvoll an der Mauer ab, drehte sich in der Luft – und landete federleicht auf Ostwinds Rücken, der in diesem Moment unter ihr hinweg galoppierte.

Als Ari wenig später mit vom Wind zerzausten Locken durch das Tor des Gutshofs von Kaltenbach ritt, sah sie von Weitem Sam, der von der durchdringenden Stimme seiner Chefin kreuz und quer über den Hof gescheucht wurde.

»Den Schirm auf der Terrasse einklappen und zwar vorsichtig«, kommandierte sie gerade und kaum war das erledigt, ging es weiter mit: »Und jetzt bitte die Satteldecken einsammeln!«

Das eigentlich Bemerkenswerte daran war, dass Frau Kaltenbach zwar deutlich zu hören, nicht aber zu sehen war, und Sam, der brav kehrt machte und in Richtung Stall lief, daher aussah, wie eine ferngesteuerte Marionette.

»Und zwar ALLE Decken, Samuel, nicht nur die Hälfte!«, schallte es hinter ihm her über den Hof. Vor wenigen Monaten noch hatte Ari dieses Schauspiel ziemlich befremdlich gefunden – mittlerweile gehörte es für sie zum Alltag. Wie alle anderen hatte auch sie herausgefunden, welchen Winkel des Innenhofs Frau Kaltenbach vom Fenster ihres Arbeitszimmers aus überblicken konnte und wusste, was demjenigen blühte, der arglos ihr Sichtfeld betrat. Jedem außer Ari, die als Einzige völlig unbehelligt über den Hof spazieren konnte. Alle anderen vermieden es, sich unnötig aus der Deckung zu wagen, denn Frau Kaltenbach hatte einen schier unerschöpflichen Vorrat an dringenden Erledigungen, Besorgungen und Botengängen, die auf jeden Fall Vorrang hatten, vor dem was auch immer ihr Opfer ursprünglich vorgehabt hatte. Sam hatte in dieser Hinsicht das schwerste Schicksal. Er hatte sein Zimmer in einem Anbau des Gutshauses und musste, um dorthin zu gelangen, mehrmals täglich durch ihr Sichtfeld laufen.

Jetzt kam er mit bitterer Miene auf Ari zu, schwankend unter einem riesigen Stapel speckiger Satteldecken, deren Geruch ihr fast den Atem raubte. Sie schwang ihr Bein über Ostwinds Hals, rutschte von seinem Rücken und ging mit dem Hengst an ihrer Seite grinsend auf Sam zu.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Sam spähte an dem Deckenhaufen vorbei zu Frau Kaltenbachs Fenster, als wolle er sichergehen, dass sie nicht gesehen wurden, und seufzte dann erleichtert.

»Ja, das wär super! Ich versuche, seit einer halben Stunde loszukommen und die letzten Pferde reinzuholen, bevor es losgeht, aber …« Vorsichthalber sprach er den Satz nicht zu Ende, sondern warf einen vielsagenden Blick in Richtung Gestütsbüro.

Ari nickte komplizenhaft und stellte dann ihre Nasenatmung ein, als Sam die Hälfte des Deckenstapels in ihre ausgebreiteten Arme kippte.

»Bist du sicher, dass dieser Sturm überhaupt so dramatisch wird?«, flüsterte sie. »Ich meine, okay, da sind ein paar dunkle Wolken, und vielleicht werden wir ein bisschen nass, aber deshalb so zu tun, als käme der Weltuntergang? Was soll schon passieren?«

Doch Sam zog die Brauen über seinen dunklen Augen zusammen.

»Ein Blitz schlägt in einen Baum ein und der herabfallende Ast erschlägt eine Stute, die gerade ein Fohlen bekommen hat, das daraufhin stundenlang allein im Regen liegt und um ein Haar an Unterkühlung stirbt. Das kann passieren.«

Ari sah ihn erschrocken an und vergaß für einen Moment die stinkenden Satteldecken. »O Gott.« Sam nickte finster.

»Ja. Und deshalb wird kein einziges unserer Pferde da draußen sein. Und mit kein einziges, meine ich auch dieses!« Er sah Ari streng an und nickte zu Ostwind, der mit gesenktem Kopf hinter ihnen her trottete.

Sie hatten die Waschküche erreicht, die in dem ehemaligen Apfelkeller des Gutshofs untergebracht war, und luden die Decken vor der großen Industriewaschmaschine ab.

»Du bringst ihn bitte gleich in den Stall. Ich hab eine Box für ihn vorbereitet. Und dann gehst du hoch zu Frau Kaltenbach und erzählst ihr ausführlich die Geschichte vom Pferd. Sonst muss ich womöglich noch ihre Socken bügeln, bevor ich endlich meine Arbeit machen kann.«

»Das wird nicht nötig sein, Samuel«, ertönte eine kühle Stimme hinter ihnen. »Meine Socken sind bereits in einem einwandfreien Zustand und die eine oder andere Geschichte vom Pferd habe ich in den letzten fünfzig Jahren auch schon vernommen.«

Sam atmete hörbar aus und verdrehte die Augen, während Ari ein Kichern unterdrückte. Sie hätte schwören können, dass die alte Dame es darauf anlegte, sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinterrücks an Sam heranzuschleichen. Zwar blieb ihre Miene auch jetzt unbewegt, aber wenn man genau hinsah, bemerkte man doch ein verschmitztes Glitzern in ihren graublauen Augen. Sam drehte sich langsam um.

»Ich entnehme deinen Ausführungen, dass noch Pferde draußen sind?«, fuhr Maria Kaltenbach fort und sah ihn streng an.

»Ja, ein paar. Opa und Pawel holen gerade die Heuallergiker, und ich will seit zwanzig Minuten los, um die Senioren von der Waldkoppel nach oben in den Stall zu treiben.«

»Dann verstehe ich beim besten Willen nicht, warum du hier herumstehst und die Wäsche machst, wenn draußen jede Hand gebraucht wird! Auch wenn noch Zeit ist, bis dieser vermaledeite Sturm losgeht – du musst wirklich lernen, Prioritäten zu setzen!«

Sam kam nicht mehr dazu, seiner Empörung Luft zu machen, denn ein ohrenbetäubender Knall ließ die Fensterscheiben des alten Gewölbekellers klirren. Es klang als hätte jemand in unmittelbarer Nähe eine Kanone abgefeuert. Eine Schrecksekunde lang sahen sich alle mit großen Augen an. Dann schluckte Sam, hob die Hand und zeigte stumm auf die Türöffnung, in der Frau Kaltenbach so überraschend aufgetaucht war. Die drehte sich langsam um und alle drei starrten hinaus auf den Hof, über dem es innerhalb der letzten dreißig Sekunden auf einen Schlag finstere Nacht geworden war. Ari fand als Erste die Sprache wieder.

»Er geht jetzt los«, stellte sie nüchtern fest.

Die anderen erwachten aus ihrer Schockstarre.

»Die Pferde!«

Frau Kaltenbach lief die Treppe hinunter, Sam lief die Treppe hinauf, sie stießen zusammen und schrien um die Wette.

»Ich hol das Auto!«

»Ich hol die Halfter!«

»Und ich? Was mach ich?«, stimmte Ari aufgeregt ein, die spürte, wie Adrenalin ihren Körper bis in die Zehenspitzen flutete.

»Nichts!«, brüllten Sam und Frau Kaltenbach gleichzeitig. Es klang so unerwartet scharf, dass Ari erschrocken einen Schritt zurückwich.

Doch dann räusperte sich Frau Kaltenbach und zwang einen freundlichen Ton in ihre Stimme. »Du musst uns nicht helfen, Ari, so wild ist es …«, wieder ließ ein so gewaltiger Donnerschlag die Erde erzittern, sodass Frau Kaltenbach kurz die Augen schließen musste, um nicht wieder loszuschreien, »… ja nicht. Du versorgst bitte dein Pferd und dann machst du dir einen schönen heißen Tee und wartest, bis wir wiederkommen.«

Ari konnte es nicht fassen. »TEE?! Jetzt?? Sie haben doch gesagt, jede Hand wird gebraucht! Hier!« Sie hob demonstrativ beide Hände in die Luft, und Sam warf seiner Chefin einen bedeutsamen Blick zu, der Ari nicht entging.

»Gut, sicher, natürlich kannst du helfen. Du kannst …«, Maria schien angestrengt nachzudenken, »das Telefon im Büro hüten!«

»DASTELEFON? Aber …«

Doch nun verlor die alte Dame die Geduld.

»Arielle, bitte wiederhole nicht alles, was ich sage, sondern tue es einfach. Ich habe jetzt keine Zeit für Diskussionen, ich muss die Pferde in Sicherheit bringen, bevor es anfängt zu …« Sie brach ab, als hinter ihrer Schulter ein gespenstisches Licht um den Fachwerkgiebel des Gutshauses zuckte.

»Blitzen?«, ergänzte Sam tonlos – und dann rannte er los, hinaus in die brodelnde Dunkelheit und Frau Kaltenbach hinkte so schnell es ihre kaputte Hüfte zuließ, hinterher.

Als Ari eine Viertelstunde später aus dem Stall kam, war der Himmel unverändert tintenschwarz. Es donnerte und blitzte im Sekundentakt und die eben noch warme, duftende Sommerluft stand kalt und gespenstisch still über Kaltenbach.

Doch Ari sah nicht einmal auf. Missmutig trottete sie über den Hof und als der nächste Donnerschlag die Luft zerriss, brüllte sie einfach zurück. »Ja, Mann! Du kannst mich auch mal!«

»Ari? Bisch du des?«, kam es prompt zurück, worauf Ari überrascht den Kopf hob. Die Gestalt, die ihr da entgegenkam, sah aus, als hätte sie sich von Kopf bis Fuß in mehrere Meter signalgelber Zeltplane gewickelt.

»Marianne?«, forschte Ari vorsichtig, als sie vor ihr stehen blieb.

»Ja, ned erschrecke, i bins! I hab so schnell gmacht wie’s nur ging, aber bis i des Regenzeugs anhatte … des isch so verwirrend mit all dene Reißverschlüss.« Sie sah Ari aus den Tiefen ihrer vielen Kapuzen an und hielt dann prüfend ihren Handrücken in die Luft.

»’S regnet gar ned, oder?«

Ari schüttelte grinsend den Kopf. »Nein. Aber sicher ist sicher.«

Marianne nickte ernst. »Jawohl. Gute Ausrüschtung ist des A und O.« Sie sah sich suchend um. »Sind se scho weg? Die Chefin hat doch gsacht i soll mit di Ferd helfen!«

»Du?« Ari sah die dicke Köchin ungläubig an. Marianne arbeitete zwar seit fast vierzig Jahren auf Kaltenbach, aber sie hatte immer noch schreckliche Angst vor Pferden.

»No jo. In der Not …«, murmelte Marianne unglücklich und dann drehte sie ab und stapfte schwankend wie ein Astronaut auf ihren roten Kleinwagen zu. »Dann schau mer mol, wo se sin.«

Voll neuer Hoffnung lief Ari ihr nach. »Warte, ich weiß, wo sie sind. Ich komm mit«, brüllte sie über den nächsten Donner. Und sah im grellen Licht des folgenden Blitzes, wie Mariannes freundliches Gesicht einen hektischen Ausdruck annahm.

»Noi, noi, noi. Des schaff i scho. Du bleibscht hier und trinkst en schönen, heißen Kakao!« Mit diesen Worten kletterte sie umständlich, aber erstaunlich schnell in ihr kleines Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ari sah ihr fassungslos nach und spürte, wie sich ein leises Kribbeln unter ihrer Kopfhaut regte. Es war ein Gefühl, dass sie nur zu gut kannte. Wie das leise Zischen eines aufflammenden Streichholzes am langen Ende einer Zündschnur. Und wenn die Schnur erst einmal Feuer fing, dann fraß sich die Flamme blitzschnell an ihr entlang, bis … bis … Ari schloss die Augen und holte tief Luft. Nein. Wenn niemand ihre Hilfe wollte, dann war das eben so. Es blieb zwar ein schmerzhaftes Brennen in ihrer Brust, aber sie hatte gelernt, die Flamme zu ersticken. Und genau das würde sie nun tun. Und wenn es sein musste, dann eben mit Tee oder heißem Kakao.

Ari war gerade in der Küche und goss heißes Wasser in ein großes Teeglas, als sie das Telefon hörte. Es stand auf dem Schreibtisch im Gestütsbüro im ersten Stock, ein altmodisches, unförmiges Gerät mit einem schrillen Läuten, das nun durch die Gänge des leeren Gutshauses hallte. Frau Kaltenbach hatte ihr zwar aufgetragen, das Telefon zu hüten, aber Ari hatte keine Sekunde damit gerechnet, dass es tatsächlich klingeln würde. Und wenn es doch klingelte, dann gab es einen ebenso uralten Anrufbeantworter, der nach viermaligem Läuten ansprang und auf dem Frau Kaltenbach den Anrufer mit eisiger Stimme aufforderte, »nur in dringenden, lebensbedrohlichen Notfällen« eine Nachricht zu hinterlassen. Was überraschenderweise nach dieser Ansage kaum jemand tat. Es klingelte zum zweiten Mal. Ari war plötzlich entschlossen, wenigstens diesen Auftrag zu erfüllen. Sie knallte den Kessel zurück auf den Herd, schnappte das volle Glas und rannte los. Für jeden anderen hätte ein Spurt durch zwei Türen und über eine steile Treppe mit einem Glas voll heißem Tee in der Hand ziemlich sicher mit schweren Verbrühungen geendet, doch als Ari im Gestütsbüro ankam, hatte sie nicht einen Tropfen verschüttet – und riss noch vor dem vierten Klingeln den Hörer von der Gabel.

»Guten Tag, Sie haben das Therapiezentrum Kaltenbach erreicht, wie können wir Ihnen helfen?« Es hatte möglichst offiziell klingen sollen, aber da es sich eher nach Cornflakes-Werbung angehört hatte, fügte sie nach einem Räuspern rasch hinzu: »Kaltenbach. Hier ist Ari.«

Sie lauschte in den Hörer, doch vom anderen Ende kam nur ein unverständliches Nuscheln, das vom lauten Heulen eines Staubsaugers erstickt wurde.

»Könnten Sie den Staubsauer bitte ausmachen? Ich hör Sie schlecht«, sagte Ari höflich. Das Heulen ebbte kurz ab und schwoll dann wieder an.

»Ist … kein … Staubsauger«, kam es abgehackt, aber doch deutlich empört zurück. »Stumm!«

»Stumm?«, fragte Ari ratlos zurück. »Nein, ich höre Sie schon! Ich …« In diesem Moment schlug draußen etwas so laut gegen den Fensterladen, dass sie erschrocken herumfuhr. Das war keiner der Donnerschläge gewesen, die hinter den dicken Mauern des Gutshauses nur ein finsteres Grollen waren. Sie dehnte die Schnur des Telefonhörers so weit es ging Richtung Fenster und sah für einen kurzen Augenblick einen mächtigen Ast der alten Linde am Fenster vorbeipeitschen. Die aufgeregte Stimme aus dem Hörer wurde nun wieder deutlicher.

»Hallo?! Hallo?!«

Zerstreut wandte Ari sich wieder dem Telefon zu. »War nur ein Ast. Entschuldigung, ja, ich bin da. Hier ist ein Unwetter und –« Doch der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Denn in diesem Augenblick wurden ihr schlagartig zwei Dinge klar: Die Äste des alten Lindenbaums, der unten im Hof stand, reichten nicht bis zum Fenster des Gestütsbüros. Der riesige Ast musste demnach abgerissen und am Fenster vorbeigeflogen sein. Und das Heulen, dass aus dem Telefonhörer an ihr Ohr drang, war auch kein Staubsauger. Das war der Sturm. Und wer immer sie anrief, war mittendrin.

»Sie müssen lauter sprechen!«, schrie sie, hielt sich das eine Ohr zu und presste den Hörer an das andere. Das nächste Wort, dass sie im tosenden Rauschen verstand, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

»HILFE!«

Die erste Hürde ihrer Rettungsmission war, das Stallgebäude überhaupt zu erreichen. Mit all ihrer Kraft stemmte Ari sich gegen die schwere Eichentür des Gutshauses, um sie gegen den Wind, der draußen tobte, aufzudrücken. Doch da er in heftigen Böen kam und ging, flog die Tür dann so unerwartet auf, dass Ari ungebremst herausschoss und um ein Haar die Steintreppe heruntergestürzt wäre. Der Hof, der unter pechschwarzen Wolken vor ihr lag, glich einem Schlachtfeld. Äste, Eimer, Fahrräder lagen überall verstreut. Und als sich der Sturm im nächsten Augenblick wieder erhob, sah Ari mit großen Augen eine Gartenliege vorbeiwirbeln, so als wäre sie ein Papierflugzeug. Immer wenn das Tosen kurz innehielt, lief sie geduckt weiter, und so dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die wenigen Meter zurückgelegt hatte und die Stalltür mit einem heftigen Windstoß hinter ihr ins Schloss krachte.

Einige Minuten später galoppierte Ostwind aus der Stallgasse und Ari hing tief über seinem Rücken. Sie krallte sich in seine Mähne und wappnete sich gegen den Sturm, doch der hatte in Ostwind seinen Meister gefunden. Es schien so, als würde die entfesselte Naturgewalt ihn nicht bremsen, sondern anspornen, so mühelos sprang er vorwärts. Um sie herum krachte, heulte und blitzte es, ihre Ohren dröhnten und ihre Augen brannten in der elektrischen Luft – aber Ari hatte keine Angst. In ihrer Innenwelt kam sie einfach nicht vor. Alle anderen Gefühle waren ihr umso vertrauter: Wut, Freude, Trauer – all das empfand sie heftig und unmittelbar –, aber Angst war etwas, das sie so gut wie nie verspürte. Da man die Abwesenheit von etwas selbst kaum bemerkt, hatte erst Herr Kaan sie auf diese Tatsache aufmerksam gemacht.

Hätte sie in diesem Augenblick Angst gehabt, das wusste sie mittlerweile, hätte sie Ostwind niemals in den Orkan reiten können. Der Hengst folgte ihrer Energie. Er vertraute ihr, vertraute darauf, dass sie die Gefahr im Griff hatte. Doch als sie sich gemeinsam durch den peitschenden Wind kämpften, beschlich Ari das mulmige Gefühl, dass sie sein Vertrauen diesmal missbraucht hatte.

Die Bäume am Rand der riesigen Wiese bogen sich ächzend unter den Sturmböen, Blätter und Äste wirbelten durch die Luft und immer wieder hörte sie das Geräusch von berstendem Holz. Um stürzenden Bäumen zu entgehen, hatte Ari es vorgezogen, über das freie Feld zu reiten, doch hier war sie den Blitzen schutzlos ausgeliefert, die im Minutentakt aus dem bleifarbenen Himmel zuckten.

Als der Hilferuf sie erreicht hatte, war nur wenig Zeit geblieben, um einen Plan zu fassen. Die Telefonverbindung war schlecht und nach wenigen weiteren Sätzen ganz abgerissen. Doch so viel konnte der aufgeregte Anrufer ihr noch klarmachen: Ein Transporter mit mehreren Pferden war auf der Landstraße in einen Straßengraben gefahren. Es war den Fahrern zwar gelungen, die Pferde zu befreien, aber nun liefen sie in Panik frei herum.

»Können … nicht … einfangen … brauchen … Hilfe!«, war das Letzte, was Ari gehört hatte, bevor die Leitung tot war. Sie wusste noch nicht allzu viel über Pferde, aber sie verstand wie gefährlich eine Kombination aus Fluchttier, Panik, Gewittersturm und Autoverkehr war. Es kam auf jede Sekunde an. Jemand musste diesen Leuten helfen, die Pferde zusammenzutreiben. Doch weder Sam noch Frau Kaltenbach – noch sonst irgendjemand – waren zu erreichen. Es war niemand da außer ihr.

Der Wind heulte ihr um die Ohren wie ein hungriges Tier, als sie Ostwind mit einer Drehung ihres Körpers in die Richtung lenkte, in der sich die Landstraße den Hügel hinaufschlängelte. Ari erinnerte sich gut an die scharfe Linkskurve, die Sam jedes Mal zu schnell nahm, und hoffte inständig, dass sie sich nicht irrte. Sie hatte keine Ahnung, wo der Unfall passiert war, aber jemand, der die Strecke nicht kannte, würde am ehesten hier von der Straße abkommen. Sie hatte den Gedanke kaum zu Ende gedacht, als sie auch schon die Kuppe des Hügels erreichte.

Das Bild, das sich ihr bot, erinnerte Ari an die Fotos, mit denen Verkehrspolizisten bei ihren Vorträgen in Schulklassen die Kinder erschreckten. Vor ihr lag die zweispurige Straße, auf der ein Lkw gerade den Hügel hinauf und um die enge Kurve donnerte. Haarscharf vorbei an einem langen schwarzen Pferdeanhänger, der zur Seite gekippt neben der Fahrbahn im Scheitelpunkt der Kurve hing. Da war der altmodische Kastenwagen, der den Hänger gezogen hatte und der nun mit rauchender Motorhaube und eingesunkenen Vorderrädern in dem Kornfeld stand, das hinter dem Straßengraben begann. Und dann sah Ari die Pferde. Den beiden Männern war es gelungen, zwei von ihnen einzufangen, vier weitere pflügten in panischem Zick-Zack-Galopp durch das aufgepeitschte Weizenfeld.

Wieder zerriss ein ohrenbetäubender Donnerschlag die Luft und mit einem hysterischen Wiehern stieg das Pferd, das der größere der beiden Männer am Strick hielt, auf die Hinterbeine. Es riss sich los und galoppierte auf die kopflose Herde zu, die prompt die Richtung wechselte und nun auf die Straße zuhielt. Der ganze Vorgang hatte nur wenige Sekunden gedauert, doch von ihrem Aussichtspunkt aus sah Ari alles wie in Zeitlupe. Sie konnte die Angst der Tiere spüren, die wie eine große Welle auf sie zurollte. Sie hörte die Stimmen der beiden Männer, die verzweifelt gegen den tosenden Sturm anschrien.

In diesem Augenblick wusste sie, dass sie diese Welle aufhalten konnte. Plötzlich verstummten die Männer unten im Feld und verfolgten mit aufgerissen Augen das schwarze Pferd, das sich mit wehender Mähne den Abhang hinunterstürzte und der fliehenden Herde folgte.

2. Kapitel

Ari zerrte gerade mit fieberhaftem Eifer den vierten Heuballen auf die große Strohkarre, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

»Was machst du da, Ari?«, fragte eine ruhige Stimme.

Sie fuhr herum und sah Herrn Kaan aus glänzenden Augen an. Schweiß stand auf ihrer Stirn, Heustaub rieselte aus ihren Locken, aber sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Na, ich hol Heu. Für die Pferde. Ich hab sie … wir … ich hab sie erst mal in die Reithalle gebracht. Da sind sie in Sicherheit«, schloss sie atemlos und grinste glücklich. Doch Herrn Kaans undurchdringliche Miene verunsicherte sie doch ein bisschen.

»Da kam ein Anruf. Es gab einen Unfall und sie waren frei, neben der Straße«, versuchte sie zu erklären. »Sie sind uns gefolgt, bis hierher! Es war … unbeschreiblich!«

Doch der alte Mann schien Aris Euphorie nicht zu teilen. Im Gegenteil. Seine Stirn unter den wirren grauen Haaren lag in Furchen und er sah richtig wütend aus.

»Was ist denn?«, fragte sie, plötzlich beklommen. »Ist was passiert?«

»Ja, es IST etwas passiert. Du hast dich sinnlos in Gefahr gebracht!«

»Das war nicht sinnlos! Ich hab sie gerettet«, protestierte Ari erschrocken, doch die weiche Wolke des Hochgefühls, das sie eben noch getragen hatte, verpuffte. Sie schob ihr Kinn vor und sah ihn trotzig an. »Woher wollen Sie überhaupt wissen, was passiert ist?«

Herr Kaan seufzte. »Weil Sam, Maria und mir vor zehn Minuten ein völlig aufgelöster Mann fast vors Auto gelaufen wäre, der uns erzählte, die Windsbraut persönlich sei aus einer Donnerwolke gesprungen und habe auf ihrem flammenden Rappen seine Pferde entführt. Und ich habe zwar eine Schwäche für Sagen und Mythen, aber in diesem Fall war ich doch skeptisch.«

Er sah Ari durchdringend an, die trotz seines strengen Blicks grinsen musste.

»Windsbraut ist irgendwie cool.« Herr Kaan schloss die Augen, so als habe er plötzlich starke Kopfschmerzen.

»Wir haben darüber geredet, Ari. Manchmal denke ich, du suchst die Gefahr. Du genießt sie.«

»Tu ich nicht! Und der Typ spinnt. Ich bin nicht aus einer Donnerwolke gesprungen und ich habe die Pferde auch nicht entführt! Sie sind mir gefolgt – und zwar bis hierher in die Reithalle. Und wenn ich nicht gekommen wäre, dann könnte er sie jetzt da draußen von der Landstraße kratzen!«

Sie verschränkte die Arme und nickte, um sich selbst beizupflichten, wenn es schon sonst niemand tat. Einen langen Augenblick sah Herr Kaan sie schweigend an. Ari kannte und hasste diesen Blick. Es lag eine Mischung aus Besorgnis und Resignation darin, als habe er etwas Schlimmes befürchtet, das soeben eingetroffen war. Dann schüttelte er den Kopf und seine nächsten Worte klangen wieder so ruhig wie immer.

»Mag sein. Aber vielleicht erklärst du ihm das selbst. Ich glaube, ich höre sie kommen.« Und damit drehte er sich um und ging die Stallgasse entlang, dem Geräusch eines brummenden Dieselmotors entgegen.

Seite an Seite standen Herr Kaan und Ari unter dem schützenden Vordach des Sattelplatzes und sahen dem großen Schlepper entgegen, der sich durch die Hofeinfahrt schob. Der düstere Himmel hatte endlich die Schleusen geöffnet und Regen prasselte in Sturzbächen auf das Kopfsteinpflaster, so als gelte es das elektrische Feuer der letzten Blitze endgültig zu löschen. Ari erkannte Sam im Führerhaus des Traktors, der immer wieder über seine Schulter sah, um sicherzugehen, dass der ganze Lastzug nicht in dem niedrigen Torbogen hängen blieb. Dann war er hindurch und der riesige Motor orgelte noch einmal, als er seine Fracht wie eine Dampflokomotive auf den Hof zog. Ari erkannte den altertümlichen Kastenwagen und auch den Pferdeanhänger sofort wieder. Was sie jetzt erst bemerkte, war die seltsame Bemalung. Zugfahrzeug und Anhänger waren gar nicht schwarz, wie sie ursprünglich gedacht hatte, sondern in dem gleichen matten Dunkelblau lackiert. Beide waren außerdem mit einem unregelmäßigen Muster aus weißen Sprenkeln unterschiedlicher Größe versehen, das nahtlos von einem auf das andere Fahrzeug überging.

»Equuleus«, murmelte sie, und Herr Kaan sah sie überrascht an.

»Gut erkannt«, sagte er und nickte beeindruckt. »Ich wusste nicht, dass du dich für Astronomie interessierst.«

»Na ja, das steht da.« Ari zeigte auf den handgemalten Schriftzug in abblätterndem Gold auf der Motorhaube des Transporters, der eben an ihnen vorbeiratterte.

»Ah«, machte Herr Kaan, und Ari ärgerte sich plötzlich, dass sie nicht den Mund gehalten hatte. Sie hätte ihn gerne beeindruckt. Aber immerhin war es ein Anknüpfungspunkt, um ihren Zusammenstoß von eben zu begraben.

»Wieso, was heißt das denn?«, fragte sie deshalb und sah ihn interessiert an.

»Equuleus ist ein Sternbild. Zwischen Pegasus und Delfin«, sagte er und zeigte dabei verwirrenderweise auf den langen Pferdeanhänger, der nun am anderen Ende des Hofes zum Stehen gekommen war.

»Hä?« Ari kniff die Augen zusammen. Und dann sah sie es. Die hellen Sprenkel auf der schwarzblauen Seitenwand des Anhängers – das war kein abstraktes Muster, das waren Sterne an einem Nachthimmel. Herr Kaan beugte sich zu ihr und streckte seine Hand aus, damit Ari wusste, wo sie hinsehen musste.

»Equuleus ist da in der Mitte, die vier hellen Punkte. Sie bilden den Kopf eines Pferdes.«

»Hm«, erwiderte Ari. »Das ist aber ein bisschen weit hergeholt. Für mich ist das einfach ein Viereck.« Herr Kaan richtete sich auf und zu ihrer großen Freude lächelte er wieder.

»Ja, man braucht etwas Fantasie. Aber ich denke, wer immer dieses Gespann da bemalt hat, hat genug davon.«

Der große hagere Mann, der wenige Augenblicke später über den Hof auf sie zustürzte, schien allerdings mehr Fantasie zu haben, als Ari lieb war.