Otternbiss - Regine Kölpin - E-Book

Otternbiss E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Bei einem Spaziergang vor etlichen Jahren verschwand der achtjährige Achim im Osten der Insel Wangerooge im plötzlich aufkommenden Seenebel. Maria, damals 15 Jahre alt und seine Betreuerin, quält sich seitdem mit Gewissensbissen. Als Jahre später auf Wangerooge ein Junge ermordet am Dünenufer aufgefunden wird, beschließt sie, dass der Zeitpunkt gekommen ist, auf die Insel zurückzukehren und die Vergangenheit aufzuarbeiten. In den Ostdünen stößt Maria auf ein kindliches Skelett. Sie ist sich sicher, dass es sich um Achim handelt. Während Kommissar Rothko zum Dienst nach Wangerooge beordert wird, sucht Maria auf eigene Faust nach dem Mörder. Es gibt aber jemanden, dem das nicht passt …

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Regine Kölpin

Otternbiss

Inselkrimi

Zum Autor

Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren, lebt seit dem 5. Lebensjahr an der Nordseeküste und schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie etliche Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist verheiratet mit dem Musiker Frank Kölpin. Sie haben 5 erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf an der Nordsee. In ihrer Freizeit vereisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen. Dabei haben sie auch Usedom entdeckt und lieben gelernt. Ihre Lesungen gestaltet die Autorin oft mit dem Gitarrenduo »Rostfrei«. Mehr unter www.regine-koelpin.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mörderische Mecklenburger Bucht (2017)

Mörderisches Usedom (2017)

Das verlorene Kind – Kaspar Hauser (2016)

Wer mordet schon im Wattenmeer? (2014)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © ThomBal / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6492-8

Widmung

Für Torben

Im Jahr 2000 Wangerooge

Maria weiß nicht, was Achim hier will. Sie weiß nicht einmal, warum sie sich von dieser Nervensäge hat breitschlagen lassen, ihm bis zum Osten von Wangerooge zu folgen.

Sie blickt zum Himmel. Es wird erneut ein heißer Tag werden. Später würde man sich am aufgeheizten Sand die Füße verbrennen. Achim hüpft fröhlich neben ihr her, aber sein Gesicht wirkt verkrampft. Er scheint ein großes Geheimnis zu haben. Sie sieht es ihm an. Immer wieder zerfurcht er seine sommersprossige Stirn, lässt den Zeigefinger in der kleinen Nase verschwinden. Außerdem hat sie gehört, wie er etwas von Bernsteinen geflüstert hat. Er ist fasziniert vom Goldgelb dieser Steine. Wenn Maria ihre Kette trägt, streicht er mit seinen dünnen Fingerspitzen fast andächtig darüber. Im Osten liegen nach starkem Seegang öfter welche. Wahrscheinlich hat Achim davon gehört. Er hat seine Ohren ja überall.

Da stehen sie sich beide nichts nach. Sie nehmen alles auf, was sie hören. Ihre Art, am Leben teilzunehmen, weil sie von den anderen ausgeschlossen sind. Außer Daniel gibt es niemanden, der Maria wirklich mag. Alle finden sie eigenartig. Weil sie mit ihren fünfzehn Jahren zu viel nachdenkt.

Sie weiß, dass Achim sie nett findet. Aber er ist gerade erst acht. Der Kleine wirkt immer so wie ein zu früh aus dem Nest gefallener Vogel. Seine rotblonden Haare, die sein blasses, mit Sommersprossen überzogenes Gesicht strähnig umrahmen, tragen dazu bei. Vielleicht mag sie ihn deshalb. In den zwei Wochen, seit sie zusammen im Schullandheim sind, hat sie ihn lieb gewonnen, wie einen kleinen Bruder.

Maria ist es jetzt am frühen Morgen bereits zu warm. Immer öfter wischt sie sich verstohlen über die Stirn. Schweißperlen reihen sich Pore an Pore. Sie schwitzt so leicht. Ab und zu öffnet sie den Mund, will etwas sagen, verschließt ihn dann aber, sperrt die Worte ungesagt ein.

Sie hält Achims Hand fest umschlossen und stapft mit ihm den langen Weg in Richtung der Ostdünen. Ihre Lippen werden von Schritt zu Schritt schmaler, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen sind. Ihr Atem geht eine Spur zu schnell. Sie hofft, dass keiner ihr Verschwinden bemerkt und sie zum Frühstück zurück sind. Es ist nicht erlaubt, unangemeldet zu gehen. Aber etwas in ihr hat sie davon abgehalten, ihren Spaziergang kundzutun. Vielleicht ist es die Spur von Abenteuer, die das alles hier so spannend macht. Endlich ist sie der Bestimmer, muss sich nicht den Anweisungen anderer unterordnen. Hätte sie gesagt, was sie vorhaben, es wäre ihnen vermutlich verboten worden. Keiner darf so früh am Morgen allein durch die Dünen laufen, geschweige denn sich so weit vom Heim entfernen. Auch wenn sie als Betreuerin arbeitet, ist es ihr nicht erlaubt, mit einem der Kinder einfach wegzugehen.

Maria wedelt sich mit der bloßen Hand Luft zu. Sie ist völlig aus der Puste. Es ist keine gute Idee gewesen, mit Achim mitzugehen. Sie hat ein schlechtes Gefühl.

Der Junge hüpft wie ein Gummiball auf und nieder, stimmt ein Lied an. Seine Worte klingen merkwürdig dünn in der Landschaft, so sehr er sich auch um Festigkeit in der Stimme bemüht.

»Kleine Möwe Jonathan …« Als hätten die Vögel seinen piepsigen Gesang vernommen, antworten sie ihm kreischend.

»Lass uns umkehren, Achim!«

Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich muss bis ans Meer. Wo die Wellen brechen.«

»Warum?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort eigentlich kennt. Maria zieht an seiner Hand. Die ist mittlerweile feucht geworden. Achim ist aufgeregt. Sie schaut in seine blassblauen Augen, die ihrem Blick aber ausweichen. »Du willst Bernsteine suchen, stimmt’s?«

Er nickt. Eine Strähne schiebt sich übers rechte Auge, wischt eine herauskullernde Träne zu einer gebogenen Linie.

»Für Oskar«, flüstert er und reißt sich los. Er kraxelt den Dünenüberweg hinauf.

»Bleib stehen!«, ruft Maria.

Achim hört aber nicht hin. Er stolpert durch den Sand, rennt in Richtung Dünenkamm. Dort verharrt er eine Weile, schaut sich kurz um und verschwindet zum Strand.

Für Oskar also. Maria seufzt. Oskar ist Achims kleiner Bruder. Todkrank, hat Leukämie. Deshalb ist Achim in der Kinderfreizeit. Seine Eltern müssen sich um den Jüngeren kümmern. Für den Älteren bleibt nicht viel Raum in einer solchen Zeit. Maria hat die Mutter beim Abschied erlebt. Achim ist ihr zu viel. Ihr Herz war nicht bei ihm. Maria sieht das. Der Vater ist auch komisch. Er hat den Kleinen fest im Arm gehalten und ihm noch etwas ins Ohr geflüstert. Danach hat Achim zwar gestrahlt, aber trotzdem war auch zwischen den beiden keine Nähe zu spüren.

Es steht ihr nicht zu, über irgendjemanden zu richten. Das ist arrogant.

Maria folgt Achim. Der Sand, der seitlich in ihre Sandalen rieselt, ist unangenehm. Sie schüttelt ihn aus, schleppt sich die Düne hinauf. Neben ihr raschelt es. Sie sieht das Ende einer Kreuzotter gerade im Dünengras verschwinden. Maria ist froh, dass der Überweg größtenteils mit Holzbohlen ausgelegt ist. Darauf läuft es sich etwas besser. Doch die Wärme steht hier schon, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Sie ist empfindlich damit. Als sie den Strand endlich vom Dünenkamm aus überblicken kann, rennt Achim bereits in Richtung Wattsaum.

Die Nordsee dümpelt in der Ferne wie eine leicht bewegte Folie auf und ab und erinnert Maria an das Meer der Augsburger Puppenkiste. Es ist auflaufend Wasser. Maria kann fast zusehen, wie sich die ersten Priele in Ufernähe füllen und das Meer nach und nach das Watt bedeckt.

Der Horizont ist aber zur Blauen Balje hin nicht erkennbar. Das Meer wird nicht wie sonst mit einem schmalen Strich vom Himmel getrennt. Es vermischt sich mit ihm zu einer graudunklen Masse, die auf die Küste zuwabert.

Marias Herz schlägt ein paar Takte schneller. Hier stimmt etwas nicht. Achim wird immer winziger, je deutlicher er sich entfernt. Maria formt die Hände zu einem Trichter. Sie atmet tief ein, versucht Kraft in die Stimme zu legen: »Achim! Komm zurück!« Die Töne verhallen in der Weite, die durch diese merkwürdige Wand weniger zu werden scheint.

Maria hastet die Düne hinunter, stürzt, rollt den feinsandigen Abhang hinab, krallt ihre Hände in den Sand, um den Sturz abzufangen. Sie schafft es, auf die Füße zu kommen, greift nach ihren Latschen und rennt. Und rennt und rennt. Sie bemerkt nicht, wie ihre Zehe zu bluten beginnt, weil sie auf eine klaffende Muschel getreten ist. Sie merkt nicht das Stechen im Knie, das sie sich bei ihrem Sturz verletzt hat.

»Achim!«, ruft sie wieder. Doch der ist längst nur noch ein kleiner blauer Tupfen, den man wie zufällig dorthin platziert hat. Er hat die Welt um sich herum vergessen.

Maria sammelt ihre Kräfte, will dem Jungen ein Stück näher kommen, ihn einholen. Sie spürt, wie wichtig es ist. Dass ihr kaum noch Zeit bleibt.

Die dunkle Wand nähert sich stetig der Küste, scheint mit ihren ersten Ausläufern bereits am Wattsaum zu lecken. Es wirkt so, als habe sie sich auf die herannahende Wasseroberfläche gesetzt und reite auf ihr dem Strand entgegen.

Maria hält abrupt an. Ein Begreifen kriecht vom Kopf her in ihren Bauch und verursacht dort ein Brennen. Diese seltsame Wand ist der Nebel. Dieser tiefe, graue, gefährlich undurchdringliche Nebel, der jetzt feine Schwaden über das noch trockene Watt schickt und mit den ersten Ausläufern am Strand leckt.

Bald werden diese Fäden sich mit der See und dem Sand verweben und Wasser und Meer zu einer Einheit verbinden.

»Achim!« Marias Stimme überschlägt sich, gerät in ungeahnte Höhen. »Wir müssen weg!«

Der Junge blickt nicht einmal auf. Wahrscheinlich hat er sie nicht gehört. Maria erkennt seine gebückte Haltung. Er scheint unglaublich in etwas vertieft zu sein.

»Achim!« Ihr Ruf wird vom Meer und dieser Suppe verzerrt, dringt nicht durch.

Bevor der Kleine vom Nebel verschluckt wird, glaubt Maria noch eine Gestalt neben ihm zu erkennen, aber sie weiß selbst, dass es nur ein Trugschluss, eine verfehlte Hoffnung ist.

Die dunkle Wand hat auch sie fast eingeholt.

»Wenn der Seenebel kommt, müsst ihr, so rasch es geht, an die Dünenkette laufen. Bei Flut ist er so dicht, ihr wisst nicht mehr, in welche Richtung ihr gehen sollt. Und ihr seid verloren!« Warum fällt ihr erst jetzt ein, was der Betreuer ihnen wieder und wieder eingetrichtert hatte? Vorhin wäre es früh genug gewesen, Achim zurückzuholen. Wenn sie nur die Zeichen rechtzeitig erkannt hätte. Hätte, hätte, hätte …

Erst im vergangenen Jahr ist ein Mädchen bei See­nebel im Osten ertrunken, weil es vor Angst ins Wasser gefallen, dort in einer Senke abgetaucht und in Panik geraten war.

Aber sie kann jetzt nicht zurück zu den Dünen. Sie muss Achim finden. Irgendwo in dieser Brühe irrt er herum, wartet auf ihre Hilfe. Er vertraut ihr. Sie ist die Einzige, die in der Lage ist, etwas zu tun. Niemand sonst ist hier. Es ist zu früh am Tag. Er ist ihr anvertraut. Sie wird ihn nicht allein lassen. Mittlerweile umtanzen die Nebenschwaden ihre Füße. Es ist fast unmöglich, den Boden zu erkennen. Dann wird auch sie verschluckt. Es ist plötzlich viel kälter und unglaublich feucht. Suchend schlägt Maria mit den Armen um sich. Sie verharrt auf der Stelle, versucht sich zu orientieren. Ganz ruhig bleiben. Es ist so still um sie herum, als gäbe es auf der Welt nur sie allein. Sie vernimmt weder Möwenschreie noch das Plätschern der Wellen. Gespenstische Ruhe, tödliche Ruhe.

Maria lässt ihre Latschen aus der Hand fallen. Sie braucht sie hier nicht. Sie tastet sich vorwärts. Schritt für Schritt tappt sie durch den Sand, in die Richtung, wo sie den Jungen vermutet. »Achim!« Ihre Stimme klingt so dumpf, so verloren. »Wo steckst du, verdammt?« Wieder heften sich die Augen in das graue Dickicht, suchen Millimeter für Millimeter alles ab.

Nach einer Weile entdeckt Maria, dass sie im Kreis gelaufen ist. Ihre Latschen liegen achtlos dahin geworfen im Sand.

Wangerooge, zehn Jahre später Seelenpfad 1

Ränder

 

Manchmal muss einer fortgehen

um allein zu sein …

 

Elke Langenstein-Jäger

Angelika Mans stand vor der Polizeistation in der Charlottenstraße und klingelte schon seit geraumer Zeit Sturm. Sie hatte ihr Handy vergessen, konnte die dort angeschlagene Nummer nicht wählen. Wangerooge schlief um diese Zeit noch und normalerweise würde sie das auch tun. Wenn sie nicht eine Eingebung früh aus dem Bett gescheucht hätte und in das Zimmer von Lukas sehen lassen. Das Bett war ordentlich gemacht, das Kopfkissen in der Mitte geknufft, wie sie das gern tat, und darauf thronte der dunkelbraune Teddy mit dem Herzen an der Hand. Aber von ihrem Sohn keine Spur. Er hatte das Haus mitten in der Nacht oder zumindest früh am Morgen verlassen.

Lukas war erst acht Jahre, viel zu klein für eine solche Aktion. Es passte auch nicht zu ihm. Aber er war in der Zeit seit der Trennung von Dieter seltsam geworden. Deshalb hatte sie diesen Kurztrip allein mit ihrem Sohn gebucht, wollte sich ein schönes verlängertes Wochenende auf der Insel machen. Lukas hatte sie in der Schule krankgemeldet, Urlaub während der Ferien war in der Firma einfach nicht drin. Zu viele andere Mitarbeiter drängten mit ihren Urlaubswünschen in die schulfreie Zeit.

Gestern war er eine Weile allein am Strand gewesen. Sein Vater hatte angerufen, wieder hatte es Streit gegeben. Sie konnte nicht mehr sagen, an welcher Stelle das Gespräch eskaliert, wann es genau entglitten war. Nur Lukas’ große Augen waren ihr in Erinnerung. Wie sie sich mit Tränen gefüllt, wie seine Unterlippe zu zittern begonnen hatte. Bevor er sich abgewandt, den kleinen roten Eimer und seinen Käscher in die Hand genommen hatte und über die Straße in Richtung Strand entschwunden war.

Danach war er anders gewesen. Gelöster. Freier. Er hatte sogar gelacht. Eine Reaktion, die er schon lange nicht mehr gezeigt hatte. Doch jetzt war ihr Sohn verschwunden.

Und die Polizeistation war nicht besetzt. Ihr war, als würden die Gedärme in ihrem Bauch brennen, Angst ihre Kehle zuschnüren. Hatte er doch zu viel von dem Streit mitbekommen und durch seine Fröhlichkeit, die vermutlich gar nicht echt war, nur alles überspielen wollen?

Angelika spürte die Tränen die Wangen hinunter­rinnen.

Sie trommelte mit der Faust gegen die Glasscheibe der Eingangstür der Polizei und wusste gleichzeitig, wie sinnlos ein solches Unterfangen war. In diesem Haus befand sich keiner. Sie musste erst zurück in ihre Ferien­wohnung gehen und das Handy holen. Sie suchte in ihren Taschen, fand aber weder Stift noch Zettel. Sich unter den gegebenen Umständen die angegebene Telefon­nummer einprägen zu wollen, war völlig unmöglich. Sie konnte sich nur die ersten vier Zahlen merken, mehr war nicht drin. Es half nichts. Sie musste umkehren und wiederkommen. Wiederkommen, dröhnte es in ihrem Kopf. Lukas sollte zurückkommen. Sie hoffte einfach, dass er, wenn sie nach Hause kam, brav in seinem Bett liegen würde. Sich vorhin nur versteckt hatte.

»Das hat er schon so oft getan«, sagte sie laut, während sie auf die Straße zurücktrat. »Ja, das hat er schon so oft getan …« Den Gedanken, dass es aber nie so früh am Morgen passiert war, weil ihr Sohn als Morgenmuffel lange brauchte, um zu Späßen aufgelegt zu sein, verdrängte sie. Ihre Schritte beschleunigten sich von Meter zu Meter. Sie würde Lukas gleich zu Hause antreffen, sie war völlig umsonst so in Panik geraten. Er lag bestimmt in seinem Bett, würde sie mit seinen blauen Augen anblinzeln und »Hallo, Mama« sagen. Sie sah schon sein Grinsen. »Hast dich ganz schön erschreckt, was?«

*

Rothko blickte in den Himmel. Der zeigte sich ihm in strahlendem Blau, nur ein paar vereinzelte Wolken zogen behäbig darüber. Sie wirkten wie Schafe und der Kommissar empfand direkt so etwas wie Empathie für sie. Er war auch ein Schaf. Hierher abkommandiert. Er wartete auf die Schlachtbank. Ein bisschen durfte er auf der Insel noch seinen Dienst tun, dann würde man ihm den Todesstoß versetzen.

Eine Kur hatte er beantragt. Weil ihm all die Verbrechen auf die Nerven fielen, weil er keine Lust mehr hatte, sich mit dem Abschaum der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

»Für eine Kur reicht es nicht, Herr Rothko. Wir lassen Sie den Frühling und den Sommer auf Wangerooge Ihren Dienst tun. Dann sehen wir weiter. Dort wird Ihnen der frische Wind um die Nase wehen, Ihre negativen Gedanken einfach wegpusten.« Ein breites Grinsen hatte sich über das Gesicht seines Chefs gezogen, bevor er Rothko die übrigen Vorzüge der Insel angepriesen hatte. »Klären Sie den einen oder anderen Fahrraddiebstahl auf. Vielleicht beschäftigen Sie auch ein paar Drogendelikte, da haben Sie dann aber die Kollegen vom Zoll als Unterstützung. Und natürlich Jillrich, Ihren Partner in der Polizeistation. Den Rest der Zeit nutzen Sie für ausgiebige Spaziergänge am Strand.«

Rothko fand im Nachhinein, dass die Stimme seines Vorgesetzten ein wenig spöttisch geklungen hatte.

Er hatte sich nicht gewehrt. Gedacht, so schlecht sei die Idee mit der Insel nicht, und sich in sein Schicksal ergeben. Gleich zu Beginn war er über diese Gedichttafeln in den Dünen gestolpert. Das erste, das er gelesen hatte, war »Manchmal muss einer fortgehen, um allein zu sein mit Himmel und Wasser.« Das hatte er sich zu eigen gemacht und als Startschuss für sein neues Leben betrachtet. Ein ungewöhnlicher Zug an ihm, sonst dachte er nicht in diesen esoterischen Bahnen, war eher nüchtern veranlagt. Aber wenn er schon sein Dasein komplett veränderte, warum dann nicht auch im Denken anders werden?

Eine Woche befand er sich bereits auf Wangerooge. Außer dem bisschen Papierkrieg hatte er tatsächlich nichts weiter zu tun gehabt. Zwischendurch beschlich ihn das Gefühl, er könne es hier wirklich aushalten. Es kam natürlich darauf an, was der Kollege, der hier seinen regelmäßigen Dienst tat, für ein Typ war. Mit dem musste er schließlich eine ganze Weile auskommen. Aber der wohnte unten in seiner eigenen Wohnung. Man konnte sich aus dem Weg gehen.

Ein weiteres Manko war die Kaffeemaschine. Völlig verkalkt spuckte sie eine undefinierbare braune Brühe aus. Ein Gesöff, das er nun wirklich nicht als Kaffee bezeichnen würde.

Immerhin gab es einen funktionierenden Wasserkocher. Im Augenblick trank er Pulverkaffee.

Eine Katastrophe, wenn man dermaßen auf Kaffee fixiert war wie er. Hin und wieder beschlich ihn das Gefühl, es könne ihm doch so etwas wie Sucht anhaften. Aber gab es das? Kaffeesucht? Er schüttelte den Kopf darüber, mit was für Gedanken er sich so den ganzen Tag beschäftigte, wenn er dem Nichtstun ausgesetzt war.

Der Kollege würde morgen aus seinem Urlaub zurückkehren. Bevor der Osteransturm auf die Insel begann, hatten sie ungefähr zwei Wochen, sich aneinander zu gewöhnen. Schlimmer als mit dem Kollegen Kraulke konnte es sicher nicht werden. Kraulke war für Rothko nach wie vor ein rotes Tuch. Er war ihm auf dem Festland im letzten Jahr an die Seite gestellt worden. Sie hatten den Mord an einer Frau aufzuklären gehabt.

Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach nicht.

Rothko sog die salzige Luft tief in seine Lungen. Allein, dass er diesen Menschen auf dem Festland zurückgelassen hatte, war ein Geschenk. Eines, das selbst den fehlenden Kaffee zur Nebensache degradierte. Seine Frau vermisste er nicht sonderlich, sie hatten sich schon lange nicht mehr viel zu sagen. Sie wollte in drei Wochen kommen. Vielleicht.

Rothko legte den Kopf in den Nacken, erfreute sich jetzt an den weißen Schafen, die gemächlich über den Himmel schwebten. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, ein Glückspilz zu sein.

Zu seiner Rechten ertönte das laute Hecheln eines Hundes. Dann stoppte etwas neben ihm und im selben Augenblick fühlte er winzige Sandkörner an seinem Unterschenkel. Rothko warf einen Blick auf das Tier. Der Hund war groß und ihm fehlte der Schwanz. Einen solchen Hund gab es nur einmal auf der Insel und er gehörte dem Zollbeamten.

»Moin!« Der Kollege klang etwas gehetzt, vermutlich hastete er schon eine geraume Weile hinter seinem Tier her. »Auch unterwegs?«

Rothko mochte Ubbo Münkenwarf. Sie hatten gleich am ersten Abend ein Bier in Rothkos neuer Wohnung getrunken. »Moin! Bisschen Frischluft tanken. So gemütlich ist meine neue Bleibe ja nicht!« Rothko streichelte dem Hund flüchtig über den Kopf. Der schleckte sofort mit der Zunge über seinen Unterarm.

»Buddy, lass das!«, sagte Ubbo.

Rothko wischte die Hand an der Hosennaht ab und verkniff sich einen Kommentar, zumal sein Kollege gleich weiterredete: »In der Bude bei Ihnen da oben fühlt man sich wie in dem schwedischen Möbelhaus, oder?« Er grinste. »Nur ohne die schöne Deko, die sie da immer noch haben. Aber seien Sie froh, dass Sie noch allein wohnen können. Genießen Sie das!« Der Zollbeamte schob sich die Mütze in den Nacken und strich sich über die Glatze.

Rothkos Gesicht sprach Bände. »Ich freu mich schon, wenn sich das in Kürze ändert und wir zu zweit in der Bude hausen dürfen. Ist genau das Richtige für einen Einzelgänger wie mich.« Die Tatsache, dass er nur vor­übergehend allein in der Dienstwohnung wohnen konnte, war der größte Nachteil seiner Versetzung. Zur Hauptsaison, kurz vor Ostern, kam immer ein dritter Kollege auf die Insel und würde zu ihm in die Wohnung ziehen. Er hatte vorsorglich den größten Schlafraum mit dem Doppelbett besetzt. Er hoffte auf einen umgänglichen Mitmenschen, der ihn in Ruhe ließ.

»Der Hund ist heute so unruhig, das geht auf keine Kuhhaut.« Der Zollbeamte schüttelte den Kopf. »So kenne ich Buddy gar nicht. Immer will er zu den Dünen. Merkwürdig. Sonst kann er vom Wasser nicht genug haben und nun das! Ich werde ihn anleinen.« Er tippte sich mit Zeige- und Ringfinger grüßend an die Stirn. »Nichts für ungut, Herr Kommissar!« Der Mann trollte sich.

Rothko sah, dass der Hund seine Schnauze ständig in Richtung Dünenkette drehte, der Zollbeamte ihn aber lieber am Wattsaum halten wollte.

Der Wind blies aus Osten, was sicher die klare Luft erklärte. Das schlechte Wetter kam fast immer aus Nordwest. Rothko spazierte noch ein Stück dagegen an, kehrte schließlich um und schlenderte über den Strand in Richtung der Dünen, die sich hier recht steil auftaten.

Der Kommissar betrachtete die überhängenden Dünen­kämme. An einigen Stellen hatte der Sturm es geschafft, sie zum Einstürzen zu bringen. Wie Schnee­lawinen waren sie abgebrochen. Nicht mehr lange und der Wind würde den Sand davontragen. Nichts bliebe davon zu sehen. Die Dünenformation änderte sich ständig. Nie sah die Insel gleich aus. Ein ewiges Wechselspiel.

Rothko ließ sich vor der Anpflanzung nieder, die zum Schutz der Dünen errichtet worden war. Er griff mit der Faust in den Sand. Die feinen Körner rieselten zwischen den Fingern hindurch. Eine Möwe schrie gellend.

Dieser Ton löste in ihm eine Unruhe aus, die ihn an seine Zeit auf dem Festland erinnerte. Ein Gefühl, das ihn genau dann anfiel, wenn er in einem Fall eine Spur gewittert hatte, wenn er glaubte, auf der richtigen Fährte zu sein. Hier gab es allerdings nichts, nach dem er jagen konnte und wollte. Er war auf Wangerooge, um Abstand zu bekommen. Dass er so reagierte, zeigte ihm deutlich, wie nötig er eine Auszeit hatte. Doch ihm ging das Verhalten des Hundes nicht aus dem Kopf. Warum zum Teufel war der so erpicht darauf gewesen, vom Wasser weg genau in diese Richtung zu laufen?

Rothko schlug mit der geballten Faust im Sand herum. Er wollte diese Gedanken jetzt nicht zulassen. Er war hier, weil er seine Ruhe brauchte. Keine Verbrecherjagd mehr. Aus. Vorbei. Schluss.

Rothko erhob sich. Es war besser, wenn er weiterging und damit weitere Fantasien um das Theater, das der Hund gemacht hatte, im Keim zu ersticken.

Sein Blick wanderte dennoch zum Dünenkamm hinauf. Der war erst frisch abgebrochen und das Ausmaß recht groß. »Als ob jemand nachgeholfen hätte«, sagte er zu sich. Der Sand hatte sich großflächig verteilt, sah an einigen Stellen nicht verweht aus. Fußspuren gab es eine ganze Menge. Entweder hatten da oben Kinder herumgeturnt und dabei war der Kamm hinuntergestürzt oder aber …

Rothko entfernte sich. Er war wirklich krank. Hinter allem und jedem vermutete er ein Verbrechen. Was für eine armselige Kreatur er war.

Nach fünf Minuten hielt er jedoch inne, bohrte die Spitze seines Schuhs in den Sand. Drehte sein Gesicht zur Meerseite, beobachtete eine Sturmmöwe, wie sie ihr Gefieder putzte.

Nach weiteren fünf Minuten kehrte er in Richtung Osten um. Und nach wiederum fünf Minuten befand er sich hinter der Dünenbepflanzung und schabte mit dem Fuß im Sand herum.

Es dauerte nicht lange und er stieß auf einen Widerstand. Vorsichtig begann er, mit seinen Händen zu graben. Als er eine Stelle freigelegt hatte, wünschte er, er hätte sich niemals auf den Kompromiss eingelassen, seinen Dienst auf Wangerooge zu verbringen.

*

Er hat es getan. Es ist einfach passiert, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Er weint, schaut auf seine Hände. Gepflegt sind sie und enden in schönen Fingerkuppen. Kleine Haare sprießen über dem Gelenk. Sie bewegen sich, wenn er die Finger auf und nieder gleiten lässt. Wie Schwingen heben sich die Hände an, wie Schwingen senken sie sich erneut. Er spreizt die Finger leicht, sieht sich selbst gern an. Er ist zu schön und das ist ihm seit jeher zum Verhängnis geworden. Seine Schönheit, seine Weichheit … beides ein Fluch, sein Verderben. Er muss es tun. Immer wieder, weil er rein bleiben muss. Er muss sie bewahren. Sie sollen nicht in der Sünde verkommen. Gott hat ihn berufen.

Er schaut die Hände an. Junges Fleisch hat er damit gehalten, zentimeterweise ausgekostet.

Zu schön sind sie, wenn sie leben. Zu schön, wenn der Seewind ihnen das Haar aus dem Gesicht streicht. Er liebt den frischen Geruch, der von ihrer glatten Haut ausgeht, seine Nase streichelt. Wenn er aber diesen Duft aufsaugt, muss er ihn auslöschen. Weil er ihn nicht ertragen kann, weil er zu betörend ist. Weil dieser Duft sie in Gefahr bringt. Eine Gefahr, der sie nicht mehr entrinnen können. Wenn er nicht da ist. Es ist jedes Mal gleich.

Seine Arme drücken zu, umschlingen den kleinen dürren Körper. Immer kräftiger, bis alles in ihm danach lechzt, den Leib ganz in sich aufzusaugen, ihn zu verschlucken. Er lockert den Griff, wenn sein Gegenüber sich nicht mehr wehrt, weil es erstarrt ist, sich in sein Schicksal ergibt. Seine Hände tanzen über das Gesicht, tasten über jede Öffnung, jede Erhebung. Auch weiterhin rührt der Junge sich nicht. Als spüre der die Gefahr, die von seinen Händen, seinem ganzen Ich ausgeht. Er weiß, dass keine Chance besteht, dem Schicksal zu entrinnen. Der Mann selbst ist gespannt wie eine Feder. Sein Atem fließt ruhig und gezielt, fokussiert sich auf das Wesen, das er voll und ganz in der Hand hat. Er liebt diese Macht. Sie macht ihn unangreifbar, lässt ihn über dem stehen, was ihn einst erniedrigt hat. Der Mensch in seiner Hand ist ihm ergeben.

Seine Finger wandern weiter bis zum Hals, der so dünn ist, dass seine Hände ihn ganz umschließen.

Ein letzter Blick in Augen, die noch glänzen, jetzt ängstlich schauen. Ängstlich und gleichzeitig wissend. Er liebt den Augenblick kurz davor. Er braucht ihn, um eine Weile überleben zu können. Wenn er den Moment ausgekostet hat, drückt er zu. Die Augen werden größer und größer. Sie quellen aus dem Gesicht, zeigen die Tiefe der Seele. Es gibt nichts in der Welt, das erhebender ist.

Man muss gehen, um den Himmel zu erreichen. Es ist etwas Gutes, was er macht. Er bereitet den Weg ins Paradies. Kinder kommen immer dort hin. Wenn sie jedoch länger leben und eine Verfehlung nach der anderen begehen, wird das nicht mehr klappen. Dann bleibt nur noch der Weg nach unten in die Hölle. Davor schützt er sie. Die, die gefährdet sind.

Er ist ein guter Mensch, fast ein Engel auf Erden, der die unschuldigen Kinder vor dem Schlimmsten bewahrt. Er muss es tun. Vor allem bei den bestimmten kleinen Jungs, die den Schalk in den Augen haben. Er behütet sie vor den Fehltritten dieser Welt. Nur durch ihn haben sie die Chance, bei den Engeln zu wohnen. Er bereitet ihnen den direkten Weg dorthin. Es ist gut, was er tut. Gut und richtig.

Das letzte »Nein«, die Verzweiflung in der Stimme, die in dem Augenblick schon keine mehr ist, gepaart mit dem Geruch nach Todesschweiß, lässt sein Glied erigieren. Wenn das letzte Röcheln die kleinen Münder verlässt, begleitet er es mit seinem Timbre. Ein ähnliches Geräusch. Und doch ganz verschieden. Lust und Leid. Es hält sich die Waage. Er braucht den gemeinsamen Schrei. Er verspricht tiefe Erfüllung. Für den kurzen Moment schwebt er mit einer anderen Person auf einer Welle, ist ihr nah. Gibt es eine größere Nähe, als einem Menschen im Augenblick des letzten Atemzuges beizustehen, ihn zu halten?

Dann ist es vorbei. Der Körper hängt schlaff in seiner Hand, zu nichts mehr zu gebrauchen.

Danach folgt das Begreifen. Er hat Leben ausgelöscht. Sich zum Gott gemacht. Er muss sich hinterher übergeben. Jedes Mal. Und jedes Mal kommen die Tränen. Gepaart mit einem Schluchzer, der nicht von dieser Welt ist.

Wieder starrt er auf seine Hände. Sie können in ihrer Perfektion brutal sein. Auf das Begreifen folgt das Handeln. Keiner darf wissen, was er getan hat. Er kann planvoll vorgehen, das hat er gelernt. Er ist ein organisierter Mensch. Er fühlt sich stark. Jetzt.

Er allein war dabei, als sie gegangen sind. Er hat den letzten warmen Atem an seinem Handgelenk gespürt. Manchmal hat etwas Speichel an ihm geklebt. So lange, bis das graugrüne Nordseewasser sich erbarmt und das klebrige Nass mit seinen Wellen abgeleckt hat. Er geht hinterher immer baden. Das reinigt. Seinen Körper, seine Seele, nimmt die Erinnerung mit. Damit er weiterleben kann. Einfach so. Bis zum nächsten Mal.

*

Der Junge war blass, bläuliche Adern drückten sich unnatürlich durch die Haut. Der Sand hatte sein Gesicht gepudert, sich über die einst blaue Iris gelegt und nahm ihr so den letzten Glanz.

Rothko wandte sich ab. Er hätte vorhin weitergehen sollen, seinen Instinkt ignorieren. Vielleicht wäre der Junge nie gefunden worden. Ein frommer Wunsch! Er entsprach auch überhaupt nicht Rothkos wirklichem Empfinden.

Er zückte das Handy und rief bei Ubbo an. »Ich brauche Dienstbeistand«, sagte er. »Dein Hund hatte recht damit, in Richtung der Dünen laufen zu wollen.«

Es dauerte nicht lange, bis sein Kollege eintraf. Sofort schob er seine Mütze vom Kopf und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt.«

»Wir müssen in Wilhelmshaven anrufen, hier alles absperren. Weißt du, ob jemand dieses Kind vermisst?« Rothko war wieder ganz der Kommissar. Obwohl es eine besondere Situation war. Er hatte noch nie in seinem Polizistendasein selbst eine Leiche gefunden.

Ubbo zuckte mit den Schultern. Er war fast so blass wie der tote Junge. »Willst du dich lieber setzen?«, fragte Rothko, der befürchtete, dass sein Kollege sich gleich daneben legen würde.

Ubbo trat einen Schritt zurück, schüttelte entschieden den Kopf. »Geht schon.«

Mittlerweile hatten sich ein paar Neugierige um die beiden geschart. Ubbo wies den Hund an, auf und ab zu laufen, um die Meute in Schach zu halten. Das machte zumindest vorübergehend Eindruck, die Leute wichen zurück. Doch deren Neugierde war stärker. Einer glaubte den Jungen gestern noch mit dem Rad die Zedeliusstraße entlangfahren gesehen zu haben, andere waren der Meinung, ganz sicher gehöre er zu einem der Inselheime.

»Ich alarmiere die Feuerwehr. Zum Absperren«, beschloss Ubbo.

Rothko hatte sein Telefon bereits in der Hand. »Die Kollegen vom Festland müssen kommen«, erklärte er, während er die Nummer in die Tasten haute.

Seelenpfad 2

Reisen

 

… Ach, vergeblich das Fahren!

Spät erst erfahren Sie sich …

 

Gottfried Benn (1886–1956)

Maria schälte sich aus dem Bett. Sie hatte keine große Lust aufzustehen, aber der Nachbarin versprochen, ihr beim Fensterputzen zu helfen. Sie konnte es nicht lassen, glaubte sich immer und überall kümmern zu müssen. Wer sie bat, ihm unter die Arme zu greifen, dem schlug sie nichts ab.

Sie jobbte ein paar Stunden in der Woche im Buchladen von Carolinensiel. Sie liebte das tägliche Schmökern, das Abtauchen in fremde Welten, die sie von ihrer eigenen Realität entfernten. Lektüre, die sie später den Leuten guten Gewissens zum Kauf anbieten konnte. Wobei sie eher scheu war. Menschen anzusprechen, auf sie zuzugehen, war nicht ihre Stärke. Sie war auch nicht in der Lage, einem wirklich geregelten Alltag nachzugehen, füllten ihre Grübeleien doch einen beträchtlichen Teil ihres Lebens aus.

Im letzten Jahr hatte sie beschlossen, den kleinen Fischerort zu verlassen, und eine längere Reise gebucht. Sie hatte eine größere Summe geerbt, weil ihr Vater, den sie gar nicht kannte, gestorben und sie Alleinerbin war. Sie solle verreisen, die Welt kennenlernen und darüber gesund werden, hatte Onkel Karl gesagt. Überall war Maria gewesen. In Habana, Zürich, Paris. Alle großen Städte dieser Welt hatte sie gesehen, um festzustellen, dass es besser war, sie blieb für den Rest ihres Lebens in Carolinensiel. Sie konnte nicht vor sich selbst davonlaufen. Die Vergangenheit wurde sie auch nicht los, wenn sie vor ihr floh. Verreisen war nur für die Menschen gut, die sich erholen wollten. Es taugte nichts für Leute, die schwer bepackt durch ihr Leben stolperten.

Nur wenige wussten allerdings von ihrem Trauma, von dem Tag vor zehn Jahren, der ihr Dasein so drastisch verändert hatte, dass sie ihr Leben nicht so führen konnte, wie andere es taten. Daniel gehörte zu diesen wenigen.

Die Schuld lastete schwer auf ihren Schultern. Sie hatte sich einen leicht gebeugten Gang angewöhnt. Maria war es wichtig, nicht aufzufallen, leise zu existieren. War sie schon zuvor ein eher stiller und zurückhaltender Mensch gewesen, so steigerte sie sich mittlerweile dermaßen in ihren Rückzug hinein, dass sie kaum engere Bekanntschaften oder Freunde an ihrer Seite duldete. Maria glaubte, dass alle Lebewesen, die zu dicht an sie herankamen, dazu verurteilt waren, Schlimmes zu erfahren­. Sie verstieg sich in schlechten Phasen so weit, sich selbst als Überbringerin des Bösen schlechthin zu sehen.

Sie duldete nur wenige Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Daniel eben, ihren Sandkastenfreund. Und Onkel Karl, den Bruder ihrer Mutter. Da Onkel Karl alleinstehend war, hatte ihre Mutter ihm irgendwann angeboten, bei ihnen einzuziehen. So lebte er, seit sie denken konnte, bei ihnen und spielte seitdem eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Einen Vater kannte Maria ohnehin nicht.

Er war ein stiller Zeitgenosse, passte mit seiner Art zu Maria, weshalb sie sich in seiner Nähe auch unglaublich wohlfühlte. Weil ihre Mutter sich nur wenig um sie gekümmert hatte, war er es, der mit ihr zum Schwimmen gegangen war, war er es, der sie in jenem Sommer zum Anleger gebracht hatte. Und dort in Empfang genommen hatte, als sie zurückgekommen war. Schwer bepackt mit einer Schuld, die eine Fünfzehnjährige genauso wenig tragen konnte wie eine heute Fünfundzwanzigjährige.

Ihr Onkel versuchte immer wieder, sie mit Gleichaltrigen bekannt zu machen, motivierte sie, dem Sportverein beizutreten. Doch ab dem Augenblick, in dem sich jemand mit ihr verabreden wollte, tauchte Maria nicht mehr auf. Sie hatte kein Interesse an einer Freundschaft, konnte die Nähe anderer Menschen nicht ertragen.

Jede Nacht schreckte sie hoch. Träumte den immer gleichen Traum.

Sie ist gefangen im Nebel, sucht Achim. Sie riecht seine Haut, spürt die kleine Hand in ihrer. Manchmal haucht er sie mit seinem Atem an, fragt, wo sie sei, warum sie nicht käme. Ihm sei so kalt. Maria kämpft sich zu ihm durch, kann aber immer nur sein blaues T-Shirt sehen. Es ist leer. Kein Achim steckt darin. Nur seine Stimme ist zu hören, bis auch sie sich weit entfernt.

Wenn sie erwachte, war die Last oft so schwer, dass sie kaum aus dem Bett kam. Sie hatte Achim damals im Stich gelassen. Ihn allein in sein Verderben geschickt, wo er von einer Macht aufgefressen wurde, die sie nicht hatte beeinflussen können.

Keiner hatte ihr dafür die Schuld gegeben. Alle hatten sie getröstet. Der Seenebel sei schon oft eine tödliche Gefahr gewesen. Er komme und verschlucke die Welt. So auch Achim. Er war nie wieder aufgetaucht, seine Leiche hatte man nie gefunden. Er war vom Meer und diesem grauenhaften Nebel einverleibt worden.

Die Feuerwehr hatte die Suche nach einiger Zeit eingestellt, behauptet, Achim sei wahrscheinlich in Panik geraten, hatte die Orientierung verloren. Dabei sei er ins Meer hineingestolpert, in der Senke verschwunden und später mit der Ebbe in die Nordsee hinaus gespült worden.

All das konnte Maria nie beruhigen, ihr nie die Last von der Seele nehmen, dass sie schuld war an seinem Verschwinden. Hätte sie ihn damals nicht laufen lassen, wäre ihm nichts passiert.

Sie stolperte mit halb geschlossenen Augen in die Küche, stellte den Wasserkocher an, um sich einen Tee aufzubrühen. Die meisten ihrer Bekannten hatten mittlerweile diese neumodischen Kaffeevollautomaten und tranken mit Vorliebe Latte Macchiato oder Cappuccino. Sie selbst war noch immer ein eingefleischter Teetrinker, der an dem alten Zeremoniell festhielt, sich die Mühe machte, die richtige Zeit des Ziehens abzuwarten und beim Trinken kleine Tassen zu verwenden. Bei jedem Einschenken musste der obligatorische Kluntje knacken, sonst war es nicht gut. Dieses »gut« war unglaublich wichtig in Marias Dasein. Wenn nichts in Ordnung war, so sollte es doch wenigstens dieser winzige Bestandteil ihres Lebens sein.

Egal, was noch kommen mochte, sie, Maria, war Teetrinkerin. Es war, als sei dieses Ritual so etwas wie ein Halt, der sie begleitete, der ihr vermittelte, alles sei so, wie es sein müsse.

Während das Wasser kochte, schleppte sie sich zum Briefkasten und entnahm ihm die Tageszeitung.

*

Daniel stand am Fenster und wartete wie jeden Morgen darauf, dass Maria loszog. Gestern Abend hatte sie das Licht in ihrem Zimmer erst spät ausgemacht. Daniel wusste immer sehr genau, was sie tat. Er liebte es, sie beim Fensterputzen oder Rasenmähen zu beobachten, mochte ihren Gang, der so anrührend schleppend war. Ihre leicht gebeugten Schultern weckten in ihm den Beschützerinstinkt. Wie gern würde er seine Arme darum legen, sie auffangen und nach und nach aufrichten.

Er sah, dass Maria die Tür öffnete und sich auf den Weg zum Bäcker machte. Drei Brötchen kaufte sie dort jeden Morgen. Ein »Weltmeister«, das sie jedoch erst am Mittag zu sich nahm, ein »Mohn«, dessen Hälften sie dick mit Erdbeermarmelade beschmierte und ein »Normales«. Das aß sie immer mit viel Remoulade und Käse.

Daniel wusste alles über Maria. Wusste, dass sie darunter litt, ein paar Kilos zu viel auf die Waage zu bringen, wusste, dass sie es aber verabscheute, sich übermäßig zu bewegen. Hin und wieder hatte er versucht, sie zu überreden, ihn zum Joggen zu begleiten, aber das hatte Maria vehement abgelehnt. Sie hasste es zu schwitzen.

Sie würde in circa fünf Minuten zurück sein, die Tageszeitung unter den Arm geklemmt, die Brötchentüte in der Hand, den Schlüssel bereits vorgestreckt in der anderen. Sie hatte es immer unglaublich eilig, rasch in ihrem Haus zu verschwinden. Dort war der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Maria lebte wie eine Einsiedlerin mit ihrem verschrobenen Onkel.

Daniel hätte so gern mehr Kontakt zu ihr, würde ihre Mauern gern Schicht für Schicht abtragen. Sie ließ ihn nicht.

Also blieb ihm nur, sie weiter zu beobachten, alles in sich aufzusaugen, zu speichern. Bis sie ihn erhörte. Jedes Opfer würde er dafür bringen. Er brauchte Maria wie keinen Menschen auf der Welt. Sie war die Einzige, die ihn erretten konnte.

*

Rothko sah sich in seiner Dienstwohnung um. Die karge Einrichtung kam ihm eigentlich entgegen, wenngleich er das Sofa gern gegen ein anderes ausgetauscht hätte. Er ging in die Küchenecke, füllte etwas Kaffeepulver ein, er hatte die Nase von dem Pulvergesöff so was von voll. Er wollte einen zweiten Versuch mit der Maschine wagen. Er war eigentlich nicht pingelig, aber das Weiß des Kalkes war auch ihm aufgefallen.

Der Kaffee hatte fast keinen Geruch, das Pulver wirkte blass. Angeekelt schubste er den ausgefahrenen Filter zurück und stellte die Taste an. Wider Erwarten konnte er den Geruch von Kaffee tatsächlich erahnen. Das Wasser rülpste sich durch die Maschine. Er nahm die Kanne und goss sich die fast schwarze Brühe ein. Schon der erste Schluck war eine Beleidigung für seinen Gaumen. Er goss den gesamten Kaffee in den Ausguss.

Wie sollte er unter diesen Umständen einen vernünftigen Gedanken fassen? Er war hierher gekommen, um Abstand zu gewinnen und als ersten Akt fand er sogleich eine Leiche. Und dann noch die eines Kindes.

Die Spurensicherung aus Wilhelmshaven war mit dem letzten Schiff schon aufs Festland zurückgekehrt. Viel hatten sie nicht sichern können. Spuren waren unmöglich zu finden, bei der Bewegung, mit der der Sand sich immer wieder umschichtete.

Kraulke war auch mit von der Partie gewesen. Wichtig hatte er sich aufgeplustert, etwas davon gefaselt, man könne eventuell mit extremer Kriminaltechnik auch die Fingerabdrücke auf der Haut nachweisen. Weil DNA-Spuren bleiben. Der Pathologe hatte unwirsch abgewinkt. Es zwar nicht negiert, aber doch gemeint, es sei überaus schwierig und in den meisten Fällen nicht von Erfolg gekrönt. Oft fehle die Masse an Zellen. An Rothko gewandt, hatte er mit vorgehaltener Hand geflüstert, dass der Kollege Kraulke sich doch besser mit seinem eigenen Dunstkreis beschäftigen solle.