P.I.D. 3 - Entfesselte Schuld - Andrea Bugla - E-Book

P.I.D. 3 - Entfesselte Schuld E-Book

Andrea Bugla

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Beschreibung

Ein neuer Fall für die P.I.D. Mic Thorne kämpft täglich gegen das Böse dieser Welt - und gegen die Bilder seiner Vergangenheit. Vor Jahren fiel seine Frau einem brutalen Serienmörder zum Opfer. Als nun die neue Mandantin Anna Catalano auftaucht und das Team der P.I.D. bittet, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, stürzt Mics mühsam geflicktes Leben erneut in sich zusammen. Obwohl sein Verstand es anders will, nimmt Mic den Auftrag an. Nicht nur, weil die atemberaubende Anna eine Sehnsucht in ihm auslöst, die er auf ewig verloren glaubte. Ihre Informationen wecken auch tiefe Zweifel in ihm: Was, wenn der Killer noch auf freiem Fuß ist?

Der dritte Teil der P.I.D.-Serie von Andrea Bugla.

P.I.D. 1 - Im Visier der Vergangenheit
P.I.D. 2 - Gefährliche Hingabe

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Seitenzahl: 626

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IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]

Geschäftsleitung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke

Copyright © 2016 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: g-stockstudio, SimonSkafar, David Oldfiel / Thinkstock Umschlaggestaltung: Arne Reuter

Veröffentlicht im ePub Format im 04/2016

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733785673

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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WIDMUNG

Dieses Buch widme ich allen, die jeden Tag aufs Neue den Kampf gegen ihre inneren Dämonen aufnehmen. Gebt nicht auf!

PROLOG

„Du hältst dich für so schlau. Aber bist du das wirklich? Verwettest du darauf das Leben deiner Liebsten? Ich gebe dir 24h Zeit. Vielleicht hat deine Gattin ja mehr Glück als Oreithya.“

Die Nachricht, die vor Stunden unter dem Scheibenwischer geklemmt hatte, lag bei der Spurensicherung, wo sie in der Hoffnung auf eine heiße Spur analysiert und seziert wurde. Doch Special Agent Michael Thorne brauchte den Zettel nicht, um sich an die Unglück verheißenden Worte zu erinnern. Jedes einzelne brannte ein immer tiefer werdendes Loch in sein Innerstes, als er in die Wakefield Road einbog. Weil er viel zu schnell unterwegs war, konnte er nicht verhindern, dass er trotz einer scharfen Bremsung den Streifenwagen touchierte, der gleich hinter der Ecke parkte. Sein Partner neben ihm schrie auf und fluchte dann ungehalten. Letzteres galt nicht dem Aufprall, sondern dem Bild, das sich ihnen bot. Unzählige Einsatzfahrzeuge der Polizei und einige weitere des Rettungsdienstes standen kreuz und quer auf der Straße. Gelbes Absperrband fasste das Grundstück ein und hielt die Schaulustigen und die Presseleute davon ab, näher zu treten.

Michael wurde übel. Seine Finger krampften sich um das Lenkrad, sein Blick ging starr geradeaus. Er kam zu spät. Aber das durfte nicht sein. Er hatte doch noch Zeit. Die Frist war noch nicht abgelaufen, verdammt nochmal!

„Vielleicht sollte ich erst mal allein nachsehen gehen, was los ist“, schlug Simon mit dünner Stimme vor.

Ein einziger Blick genügte, um seinen Partner zum Schweigen zu bringen. Nichts und niemand würde Michael davon abhalten, es selbst herauszufinden. Er löste die Finger vom Lenkrad, öffnete die Tür und stieg aus. Den Dienstausweis bereits in der Hand eilte er auf das Haus zu, ohne auf Simon zu warten. Sein Herz raste, und sein Atem ging stoßweise. Die Beine drohten unter ihm nachzugeben, doch Michael zwang sie unnachgiebig weiter voran. Mit jedem Schritt flackerten vor seinem inneren Auge die Bilder derer auf, die diesem Wahnsinnigen bereits zum Opfer gefallen waren.

Seit Monaten schon versuchte das FBI den Eastcoast-Rubens-Killer − wie die Presse ihn medienwirksam getauft hatte −, zu fassen. Doch jedes Mal, wenn sie glaubten, es gelänge ihnen endlich, tauchten irgendwo neue Opfer auf.

Dieses Mal jedoch war alles anders. Dieses Mal hatte es eine Vorwarnung gegeben. Und dieses Mal war es wichtiger denn je, die Tat zu verhindern. Denn dieses Mal war es persönlich!

Michael schob sich durch die Menschentraube und schlüpfte unter dem Absperrband durch. Simon hatte längst aufgeholt und bückte sich ebenfalls darunter hinweg, ehe Michael das Absperrband losließ. Als sich ihnen ein Polizist in den Weg stellte, hoben sie, ohne sich aufhalten zu lassen, die Ausweise. Drei Mal mussten sie die Prozedur wiederholen, ehe sie das zweistöckige Backsteingebäude mit dem schwarzen Dach, den blau umfassten Fenstern und den bunt bepflanzten Blumenkübeln neben dem Eingang erreichten. Hier wurden sie dann doch zum Anhalten gezwungen.

Ein Detective stellte sich ihnen in den Weg. „Das FBI?“ Er betrachtete die Ausweise genauer. „Wow, Leute, ihr seid aber flott. Ich habe doch erst vor zehn Minuten angerufen.“ Er nahm seine Mütze ab und rieb sich mit dem Unterarm über die Stirn.

„Wir haben einen Tipp bekommen. Es könnte sich um ein weiteres Opfer des Eastcoast-Rubens-Killers handeln“, erklärte Michael mit belegter, aber bemüht geschäftsmäßig klingender Stimme.

„Ja, das dachte ich mir auch. Deshalb habe ich ja sofort angerufen, als wir die Tote gesehen haben.“

Eine Frau! So sehr sich Michael an den letzten Rest Hoffnung zu klammern versuchte, sie entglitt ihm mehr und mehr.

„Handelt es sich bei dem Opfer um die Hausbesitzerin?“, fragte Simon, während sein Blick über die Hausfront wanderte.

Bitte sagen Sie Ja.

„Nein. Die Stuarts befinden sich im Urlaub. Einem Nachbarn fiel auf, dass das Gartentor ein Stück weit offenstand. Deshalb hat er nach dem Rechten gesehen. Dabei hat er die Leiche gefunden.“ Der Polizist sah hinter sich und schüttelte betreten den Kopf. „Was für ein krankes Schwein. Hoffentlich kriegt ihr ihn bald.“

Michael entgingen die Polizisten nicht, die eilig und mit blassen Gesichtern aus der Haustür traten. Auch hörte er deutlich ihre Kommentare und Flüche.

„Ist … das Opfer noch da drin?“ Er warf einen Blick über die Schulter. Nirgends war ein Fahrzeug des Coroners zu entdecken.

„Ja, alles noch wie vorgefunden. Die Spurensicherung ist zwar schon da, aber der Leichenbeschauer noch nicht. An der Ausfahrt zur River Road gab es einen Unfall. Die ist noch eine Weile gesperrt. Der Doc muss also ein kleinen Umweg fahren.“ Erneut sah der Cop zum Haus. „Wenn Sie wollen, gehen Sie nur rein. Ich warte lieber hier.“

„Danke, Detective …“

„Reynolds.“

„Danke, Detective Reynolds. Wenn noch etwas sein sollte oder unsere Kollegen kommen, informieren Sie uns bitte“, sagte Simon.

Michael war ihm dankbar für die Initiative. Und für sein Vorausschauen. Denn genaugenommen durfte Michael gar nicht hier sein. Die Regeln sahen vor, dass man von einem Fall abgezogen wurde, sobald man selbst involviert war. Doch er würde den Ausgang dieser Geschichte nicht irgendwelchen Kollegen überlassen. Da konnten sie noch so kompetent sein. Er wusste mehr als jeder andere über das Profil des Täters. Er selbst hatte es geschrieben. Der Schmerz in seiner Brust und die Taubheit in seinem Kopf straften diese Überlegung Lügen. Selbst wenn er nicht seit Monaten an diesem Fall säße und den Täter nicht bis zum Erbrechen studiert hätte, würde er sich nicht davon abhalten lassen … Wut gesellte sich zu der Angst, und er unterbrach den Gedankengang. Wenn das alles nicht gewesen wäre, gäbe es für ihn keinen Grund, jetzt in das Gebäude zu gehen. Dann gäbe es jetzt keinen Grund für diese verzehrende Angst, alles, was ihm wichtig war verloren zu haben.

Mit schwerfälligen Bewegungen, die eher zu einem alten Mann als zu einem durchtrainierten Mittdreißiger passten, erklomm Special Agent Thorne die Stufen zum obersten Stockwerk.

Männer und Frauen in weißen Schutzoveralls kamen ihm entgegen. Nur die Gesichter waren frei, und sie spiegelten Fassungslosigkeit wider. Michael schluckte. Sie sahen weit mehr Tod und Grausamkeit als er und seine FBI-Kollegen. Wenn der Anblick das bei ihnen auslöste, musste es besonders heftig sein.

„Sind Sie fertig mit dem Tatort?“, fragte Simon und wies sich aus.

Michael betete stumm um ein Ja. Denn wenn nicht, müssten sie wertvolle Zeit damit vergeuden, ebenfalls eines dieser Ganzkörperkondome überzustreifen. Der Forensiker nickte und schob sich eilig an den Agents vorbei. Ihm war deutlich anzusehen, dass er einfach nur weg wollte. Michael erhaschte einen kurzen Blick auf eins der Beweissicherungstütchen, die der Mann vor sich her trug. Eine Strähne langen blonden Haares befand sich darin. Gabrielle hatte dunkles Haar. Vielleicht hatte er sich ja ganz umsonst Sorgen gemacht. Michael rieb sich über die Brust, um den Druck darin loszuwerden. Mit einem letzten Hauch Hoffnung, dass sein Leben vielleicht doch noch nicht völlig zerstört worden war, nahm er die verbleibenden Meter in Angriff.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung hockten unmittelbar vor der Zimmertür im Gang und räumten ihre Ausrüstung zusammen. Proben vom Tatort, Plastikfläschchen mit Pulvern und Ampullen mit chemischen Lösungen wurden in Allerseelenruhe verstaut. Michael ballte ungeduldig die Hände zu Fäusten und machte mit einem geknurrten Gruß auf sich aufmerksam. Sie grüßten zwar zurück, rührten sich nicht vom Fleck. Warum ließen sie ihn nicht wenigstens vorbei? Ihre Arbeit schien doch beendet.

Er brauchte endlich Gewissheit.

Michael versuchte, einen Blick in den Raum und auf das Opfer zu werfen. Erkennen konnte er aber nur einige helle Möbel, die an mintgrün tapezierten Wänden standen. Der Spiegel an der Seitenwand war auch keine Hilfe. In ihm zeigte sich nur die gegenüberliegende Ecke mit einem weiteren Sideboard. Michael knirschte mit den Zähnen. Er musste da rein! Sofort! Schweiß ließ das Hemd an seinem Rücken kleben. Die Ungeduld surrte förmlich in seinen Ohren. Aus Angst wurde mehr und mehr Panik. Bisher hatte er sich trotz der Befürchtung, gleich den leblosen Körper seiner geliebten Frau vorzufinden, recht gut unter Kontrolle. Wie er das zustande brachte, konnte er selbst nicht sagen. Und wie lang dem noch so war, wagte er auch nicht einzuschätzen.

Gerade wollte er ein paar gepfefferte Worte über die Geschwindigkeit der Forensiker hervorstoßen, als diese sich erhoben und den Weg freimachten. Na endlich. In Wirklichkeit mochte keine Minute vergangen sein, ihm war es aber vorgekommen wie ein halber Tag.

Michael atmete gegen den plötzlich einsetzenden Fluchtreflex an und betrat den Raum. Seine Augen richteten sich sofort auf die nackten Arme, die über den Köpfen zweier weiterer Männer emporragten. Wie viele von diesen Laborbullen rannten hier eigentlich rum? Während der eine auf einer Trittleiter stand und sich an den Handgelenken der Toten zu schaffen machte, hatte der andere seine Arme um ihre Hüften gelegt. Offensichtlich versuchten sie gerade, sie unbeschadet auf den Boden herunter zu lassen. Michael erstarrte. Er presste die Fingerknöchel auf die Stelle zwischen Mund und Nase, um nicht laut aufzustöhnen und sich seine inneren Reaktionen zu konzentrieren, statt auf den aufsteigenden Würgereiz.

Dieser Mistkerl hatte sein Opfer mit Metallmanschetten an den Deckenventilator gehängt. Im Moment zeigte ihr Gesicht zur hinteren Wand, so dass Michael nur den Hinterkopf erkennen konnte. Blondes Haar fiel in stumpfen Strähnen über Schultern und Rücken. Der Agent senkte den Blick zu ihren nackten Füßen. Unter ihnen hatte sich eine Lache aus Blut gesammelt.

Schon jetzt schmeckte er nichts weiter als bittere Galle.

„Da seid ihr ja endlich, Jungs. Wir dachten, wir nehmen euch die Arbeit ein wenig ab und holen die Tote …“ Der Mann wandte sich um und verstummte. Offenbar hatte er jemand anderen erwartet. Da er das Opfer nach wie vor festhielt, um sie aufzufangen, sobald sein Kollege sie befreit hatte, drehte der leblose Gestalt sich mit ihm. Michael keuchte auf und ging fast in die Knie. Sein Blick lag fest auf dem verzerrten Gesicht der Frau.

„Verdammt! Michael“, ächzte Simon neben ihm, doch Michael nahm dessen Worte kaum mehr wahr. Sein Blick wanderte über den nackten, leblosen Körper und landete schließlich bei den Armen des Forensikers. Mit jeder Sekunde zerbrach mehr in ihm.

„Weg von ihr!“, brüllte Michael los und sprang auf den Mann zu. „Gehen Sie weg von ihr!“ Niemand durfte sie so berühren. Niemand! Sonst hatte niemand das Recht dazu!

Simon packte ihn, bevor er seinem Gegenüber zu nahe kommen konnte, und versuchte ihn zurück zu zerren.

„Tun Sie, was er sagt! Gehen Sie!“ Simon hielt Michael fest, der verzweifelt versuchte, sich aus dessen Griff zu befreien. „Na los!“

„Wir warten auf …“

„Verschwinden Sie schon!“ Simon holte Luft. In wesentlich ruhigerem aber nicht weniger beharrlichem Ton fügte er hinzu: „Sie war seine Frau.“

Blankes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht des Forensikers breit. Der Mann ließ die Tote vorsichtig los und flüchtete dann, so schnell er nur konnte, aus dem Zimmer. Sein Kollege tat es ihm gleich und machte dabei den größtmöglichen Bogen um die Agents.

Simons Arm verschwand und Michael stürzte nach vorne.

Einen halben Meter vor der Leiche seiner Frau blieb er stehen und blickte erneut zu ihrem Gesicht empor. Er bekam keine Luft mehr. Alles um ihn herum verschwamm zu einem dickflüssigen Einheitsgrau. Eiseskälte umschloss sein Herz wie eine Faust. Plötzlich fühlte er sich taub. Nichts war mehr wichtig. Nichts außer der Frau, die hier vor ihm an diesem Ventilator hing.

Perseus befreit Andromeda, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Nachdem er sich wochenlang jedes berühmte und weniger berühmte Kunstwerk von Rubens eingeprägt hatte, fiel es ihm leicht, das Abbild zu erkennen. Michael schluckte Mageninhalt und Tränen runter. Er war nicht Perseus, verdammt noch mal! Und Gabrielle war nicht Andromeda.

Aber dennoch konnte er sie befreien – wenn auch nicht retten.

Langsam hob er seine zitternden Hände, doch er war nicht groß genug, um an die Eisenfesseln zu gelangen. So sehr er sich auch reckte, er kam einfach nicht ran. Etwas fiel laut scheppernd zu Boden. Wäre er nicht so auf seine Aufgabe konzentriert gewesen − und unfähig, klar zu denken −, hätte er sicher bemerkt, dass es die Trittleiter war. So aber sprang er einfach nur verzweifelt hoch.

Eine Minute später gab er den Versuch auf, die Schellen zu erreichen. Es fiel ihm nicht leicht, sich die Aussichtlosigkeit seines Vorhabens einzugestehen. Er hatte versagt, als es darum ging, sie zu retten. Und nun konnte er sie nicht mal befreien. Heiße Tränen liefen ihm über die Wangen, als er mit den Händen über ihren entblößten und von Hämatomen übersäten Körper fuhr. Er strich sanft über die blassen Lippen, den von Würgemalen verfärbten Hals und das Schlüsselbein, über die Senke zwischen ihren Brüsten und hinab zum Bauch. Dort hielt er inne. Neuer, bisher ungekannter Schmerz erfüllte ihn, während er seine Hände über die ausgeprägte Wölbung legte, als könne er noch schützen, was sich dahinter verbarg.

Um Fassung ringend legte er seine Stirn an den runden Bauch.

„Es tut mir so leid“, flüsterte er weinend.

Die Erinnerung daran, dass er sich vor nicht mal vierundzwanzig Stunden mit fast derselben Geste von seiner ungeborenen Tochter verabschiedet hatte, drohte ihn um den Verstand zu bringen. Michael sank in die Knie und ließ kraftlos den Kopf hängen.

Er würgte ein gequältes Krächzen heraus. Sein Flehen würde ungehört bleiben. Nichts und niemand konnte rückgängig machen, was geschehen war, und ihm so wiedergeben, was er verloren hatte.

Michael wurde speiübel. Er sprang auf die Füße und taumelte zurück. Dieser Scheißkerl mochte Gabrielle vielleicht erwürgt und ihm damit seine Frau und seine Tochter genommen haben. Doch er selbst trug nicht weniger Schuld an ihrem Tod. Denn er hatte versagt.

Diese Erkenntnis war zu viel für Michael. Er hörte Simon etwas rufen, spürte noch, wie er kippte und ihm die Welt entglitt.

Dann wurde alles schwarz.

1. KAPITEL

Fünf Jahre später …

Mic lenkte den Audi A5 auf den Parkplatz und schloss das Dach. Da das Thermometer bereits seit Tagen deutlich über die üblichen Januarwerte stieg, würde sich dadurch zwar das Innere binnen einer halben Stunde in einen Hochofen verwandeln, doch das war immer noch besser, als später Möwen- und Pelikanscheiße von den Ledersitzen wischen zu müssen. So nah am Ozean musste man eben Prioritäten setzen.

Während er die ehemalige Feuerwache betrat, die ihnen als Büro diente, dachte er sehnsüchtig an die eigentlichen Pläne für seinen freien Tag zurück. In der Hängematte liegen, Eistee schlürfen und einfach nur das Wetter, das Rauschen der Wellen und den Ausblick genießen. Abends ein Steak auf den Grill werfen und sich vielleicht noch ein Spiel ansehen. Stattdessen durfte er sich nun mit einer potentiellen Auftraggeberin treffen. Normalerweise übernahmen das Derek oder Trevor, doch beide waren heute vor Gericht. Coop und Juliette waren nicht in der Stadt. Genau wie Frog, der sich in West Palm Beach mit einem Freund aus Deutschland traf. Leo fiel aus offensichtlichen Gründen aus. Sie mussten langsam wirklich etwas wegen der Fahndung gegen ihn unternehmen. Blieb also nur er, um das Gespräch zu führen.

Mic schloss schnell die Tür hinter sich, um die Hitze auszusperren, und rieb sich den Schweiß aus dem Nacken. Dank der getönten Scheiben und der Klimaanlage war es im Inneren des Gebäudes herrlich kühl. Oh, er würde sich weiß Gott nicht darüber beklagen, dass hier im Januar gut dreißig Grad herrschten. In Washington lag Schnee, es war glatt und viel zu kalt. Diese Art Winter war noch nie etwas für ihn gewesen.

Mic sah auf die Uhr. Wenn die Frau pünktlich war, dann blieben ihm noch etwa dreißig Minuten. Unter anderen Umständen würde er die Zeit nutzen, um einen Blick in die Notizen zu werfen, nur gab es diesmal noch keine. Die Anfrage war vor nicht mal zwei Stunden gekommen. Derek und Trevor waren schon beim Gericht gewesen und hatten darauf gewartet, ihre Aussage zu machen. Letzterem war gerade noch genug Zeit geblieben, nach dem Namen und der Art der Ermittlungen zu fragen und Mic eine Nachricht zu schicken.

Um sich die Wartezeit zu verkürzen, räumte Mic die Spülmaschine aus, fegte durch, sortierte die Post und füllte den Kühlschrank mit neuen Getränken auf. Zum Schluss hatte immer noch zehn Minuten Zeit, also legte er sich schon mal einen Block und einen Stift bereit und notierte die spärlichen Informationen.

Anna Catalano, Lake Butler/Florida, Unschuld des Vaters beweisen, neue Spuren bzw. unbeachtete Beweise.

Viel war das nicht. Er konnte nur hoffen, dass schnell noch einiges dazu kam. Die Notizen würde er später in eine Akte übertragen.

Er beschäftigte sich gerade mit einer Einkaufsliste, als die Tür aufging. Mic sah von seinem Zettel auf. Im Türrahmen stand eine Frau. Das war allerdings auch schon alles, was er sagen konnte. Die Sonne, die wie ein Leuchten um ihren schlanken Körper lag, ließ genaueres Erkennen nicht zu.

„Sind Sie Mr. Thorne? Von der Phoenix − Investigation and Defense?“

Normalerweise hätte er sofort eine ironische Antwort auf die Frage nach dem Offensichtlichen parat gehabt. Doch im Anbetracht der Stimme, die sich gerade rauchig und samtweich wie alter Scotch über seine Sinne legte, fiel ihm kaum noch sein eigener Name ein. Gut, dass sie ihn schon kannte und er nur noch nicken musste.

Er winkte seinen Gast näher und stöhnte im nächsten Moment beinahe auf. Die Frau, die durch die Tür trat und auf ihn zukam, war nicht etwa hübsch oder sogar schön. Sie war atemberaubend. Kastanienbraunes Haar rahmte das sehr attraktive Gesicht ein und fiel in vollen Wellen über die schmalen Schultern. Das sonnengelbe Kleid verbarg nichts von der wohlgeformten Figur. Und erst diese Augen. Auch wenn ihre Farbe im Moment noch nur zu erahnen war, loderten sie geradezu vor Temperament.

Als Anna Catalano mitten im Raum stehen blieb, stand Mic auf und räusperte sich. „Setzen Sie sich doch, Miss Catalano. Dann können wir gleich anfangen.“ Er dankte Gott dafür, dass sie ihn nicht korrigierte und sich als Misses Catalano vorstellte. Warum ihn das so erleichterte, verstand er selbst nicht.

Ein gewinnendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie den Stuhl zurückzog, die Tasche neben sich auf den Boden stellte und Platz nahm. „Danke, zu freundlich. Aber nennen Sie mich bitte Anna.“

Sehr gerne.

„Gut. Dann also Anna. Ähm, kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Eine Coke light, wenn Sie haben. Sonst nehme ich auch einfach ein Wasser.“

Mic beeilte sich, ihrem Wunsch nachzukommen, und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Er hatte Mühe, mit den Gedanken bei der Sache zu bleiben. Er verstand nicht, was hier gerade geschah. Seit Jahren hatte er nicht mehr auch nur ansatzweise so auf eine Frau reagiert.

Er nahm den Stift und zog einen Strich unter ihren Namen. „Also dann, erzählen Sie mal, Anna. Was führt Sie zur P.I.D.?“ Sofort verschwand das Lächeln wieder und wurde von tiefem Kummer ersetzt. Mic schalt sich aus unerfindlichen Gründen selbst dafür. Doch hier ging es nicht darum, dass sein Gegenüber gute Laune hatte. Oder dass ihr Lächeln so eine seltsame Wirkung auf seine Libido hatte. Die Frau brauchte ganz offensichtlich dringend Hilfe. Und sie war überaus nervös.

Anna knetete ihre Fingerknöchel und schürzte die Oberlippe. Den rasenden Puls, der die Haut an ihrem Hals in schnellen Intervallen anhob, konnte Mic selbst von seinem Platz auf der anderen Seite des Tisches aus deutlich erkennen.

Schließlich richtete sich Anna auf und atmete tief durch. „Am 17. März soll mein Vater hingerichtet werden. Für Morde, die er gar nicht begangen hat. Er hat Alibis für drei der Morde und wäre rein körperlich gar nicht in der Lage dazu gewesen, die Leichen …“ Sie unterbrach sich und trank hastig einen Schluck. „Aber das interessierte die Ermittler nicht. Der Staatsanwalt und der Richter haben mich erst gar nicht angehört. Nicht mal diesen unfähigen Schnösel von Verteidiger interessiert das. Aber er war es nicht. Bitte, Sie müssen das beweisen!“

Mic hatte längst aufgehört, sich Notizen zu machen. Anna sprach so unzusammenhängend, dass es nichts brachte. „Fangen Sie doch am Anfang an. Und lassen Sie sich Zeit.“

Sie trank einen weiteren Schluck und nickte dann. Wieder brauchte sie einen Moment. „Es gab vor ein paar Jahren in DC und Umgebung eine Reihe von Morden. Furchtbare Morde.“ Sie stockte erneut. „Also, nicht, dass Morde nicht sowieso furchtbar sind. Auf jeden Fall geriet mein Vater irgendwie ins Visier der Ermittlungen. Dabei hatte er wie gesagt für drei der Morde ein Alibi. Außerdem hat er nach einem Unfall eine irreversible Muskelschädigung in der Schulter und kann mit dem einen Arm kaum mehr als fünf Kilo heben. Wie hätte er die Leichen also derart herrichten können? All das hat jedoch weder den Richter noch die Geschworenen von seiner Unschuld überzeugen können. Mal ganz davon abgesehen, dass die Verhandlung eher einer Show als einem fairen Prozess geglichen hat. Hauptsache, die Sensationslust der Leute ist befriedigt. Er wurde … Er wurde zum Tode verurteilt. Eigentlich sollte das Urteil später vollstreckt werden. Aber jetzt haben sie es plötzlich vorgezogen.“ Anna hielt erneut inne. Ihre Flasche war längst leer, und doch wollte sie sie an ihre Lippen führen. Zerstreut stellte sie das Glasgefäß ab und begann erneut, ihre bereits stark geröteten Fingerknöchel zu malträtieren.

Mic stand auf und holte eine neue Coke light. Dankbar nickend nahm Anna das eiskalte Getränk zwar entgegen, machte jetzt aber keinerlei Anstalten, etwas zu trinken.

„Wir können eine Pause machen.“ Mic hatte sich längst dazu entschlossen, den freien Tag abzuschreiben. Er wollte unbedingt wissen, wie er Anna Catalano helfen konnte. Doch er durfte sie nicht drängen. Auch wenn sie erst wenig erzählt hatte, war sie bereits sichtlich blasser geworden.

„Nein, es geht schon, danke. Ich muss das jetzt hinter mich bringen. Meinem Vater läuft die Zeit weg, und ich weiß einfach nicht weiter.“ Endlich ließ sie von ihren Knöcheln ab und begann stattdessen an einer ihrer Strähnen zu spielen. Das kontinuierliche Zwirbeln schien sie ein wenig zu beruhigen.

„Erzählen Sie mir von den Alibis. Und wie es dazu kam, dass Ihr Vater zum Hauptverdächtigen wurde. Wie viele Morde werden ihm angelastet?“

Anna hob langsam die Schultern und beugte sich zu ihrer Tasche hinab. Einen Moment später schob sie eine Akte über den Tisch. Mic ignorierte den Stapel Unterlagen allerdings vorerst. Er wollte sich erst ein genaues Bild von der Frau und ihren Eindrücken machen. Papier konnte bekanntermaßen sehr geduldig sein.

„Er war bei meiner Mutter. Einmal war ich mit ihm zusammen da. Also, ich war öfter mit ihm zusammen da. Eben zum Teil auch, während die Morde begangen wurden. Sie erlitt bei dem Unfall, bei dem auch mein Vater an der Schulter verletzt wurde, schwere Hirnschäden. Seitdem lebt sie in einem Pflegeheim. Die Ermittler sagten, sie hätten das nachgeprüft. Aber sie kamen zu dem Schluss, dass mein Vater unbeobachtet hätte verschwinden und zurückkommen können. Und da ich seine Tochter bin, ist meine Aussage in deren Augen wertlos.“ Anna stand auf und lief zum Fenster. Sie lehnte sich seitlich gegen die Scheibe und sah eine Zeitlang einfach nur schweigend auf die Straße hinaus.

Mic legte den Stift beiseite und wartete geduldig, bis sie sich gerade weit genug umdrehte, um ihn wieder ansehen zu können. Als wolle sie sich vor dem schützen, was sie als nächstes erzählen würde, schlang sie die Arme um den Leib. „Es gab acht Funde mit insgesamt elf Opfern. Sie alle waren auf die gleiche Weise ermordet und nach dem gleichen Muster arrangiert worden.“

Etwas in Mics Innerem verkrampfte sich. Seine Kehle wurde trocken, und sein Herz begann zu rasen. Nein, das kann nicht sein! Oder? Unruhig wischte er sich vom Tisch verdeckt die Hände an der Jeans ab.

Bitte, nicht ausgerechnet dieser Fall …

Seine Chancen standen alles andere als gut. In den letzten Jahren hatte es in DC nur zwei Mordserien mit einer so hohen Opferzahl gegeben.

Catalano. Catalano. Nein, der Name war in keinem der beiden Fälle aufgetaucht − zumindest solange er mit ermittelt hatte.

Und dieser Frau war er auch nie begegnet. Daran würde er sich erinnern. Auch, wenn er damals zum Schluss von Trauer, Wut und Alkohol geradezu benebelt war. Er ahnte, was Anna als nächstes sagen würde, noch ehe sie es tat. Schon damals war das Glück nicht auf seiner Seite gewesen. Wieso sollte es das dann jetzt sein?

„Als Professor der Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Europa im späten Mittelalter war er anscheinend der perfekte Hauptverdächtige. Dass er seine Dissertation dann auch noch über genau den Maler verfasst hat, nach dessen Gemälden der Mörder …“ Sie schluckte schwer. „Warum weitersuchen, wenn man doch ein solches Prachtexemplar von Mörder präsentieren kann?“ Dass Anna resigniert den Kopf schüttelte, bekam Mic nur am Rande mit. Ein Wirbel aus Bildern – real und auf Leinwand gebannt – versuchte ihn mit aller Macht zu verschlingen. „Vom Tag seiner Verhaftung an haben sie ihn ständig mit diesem furchtbaren Namen betitelt …“

„Eastcoast-Rubens-Killer“, flüsterte Mic und musste gegen den plötzlichen Brechreiz ankämpfen, der in ihm aufstieg.

„Ja, genau. Aber er war es nicht. Er ist nicht dieser Irre.“ Anna kam zum Tisch zurück und stützte sich auf die Stuhllehne. „Bitte sagen Sie mir, dass Sie ihm helfen werden. Sie sind seine letzte Chance.“

Mic schluckte mehrfach, bis er sich sicher war, den Mageninhalt bei sich zu behalten. Sie schien nicht zu wissen, wen sie hier vor sich hatte. Andernfalls würde sie doch nicht ausgerechnet ihn – oder die Organisation, für die er tätig war – um Hilfe bitten. Sein Name war nach Absprache mit dem Richter und dem Staatsanwalt aus den Akten entfernt worden. Bei seiner Frau hatten sie den Mädchennamen verwendet. Keiner von ihnen hatte das Risiko eingehen wollen, der Fall könne durch vermeidliche Ermittlungsfehler oder Ähnliches platzen.

Mic erhob sich und stemmte seine Fäuste auf den Tisch. Es diente weniger dazu, den Worten, die nun folgen würden, Nachdruck zu verleihen, als ihn überhaupt auf den Beinen zu halten. Er musste das hier beenden. Sofort. „Wir können Ihnen und Ihrem Vater nicht helfen. Es tut mir leid“, hängte er zähneknirschend an.

„Wie bitte? Aber man sagte, mir … Ihr Kollege meinte, Sie könnten uns helfen!“, empörte sich Anna und stieß sich vom Stuhl ab.

Wieso sagte Trevor sowas, ohne den Fall – und die Hintergründe − zu kennen? „Da hat er sich geirrt. Dürfte ich Sie jetzt bitten, zu gehen.“

„Bitte, Mr. Thorne – Michael. Ich brauche Ihre Hilfe. Wenn Sie sich nur mal ansehen würden, was ich inzwischen gesammelt habe.“ Natürlich entging Mic die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht. Doch er hatte gerade genug damit zu tun, sich nicht vor den nächsten Sightseeing-Bus zu werfen. Kopfschüttelnd deutete er zur Tür. „Wie gesagt, Miss Catalano, ich kann nichts für Sie tun.“

Anna nickte resigniert und schniefte. „Okay, ich verstehe. Er ist halt nur irgendein Killer. Warum sollte man auch nur annehmen, dass er unschuldig sein könnte?“ Mit einem letzten Blick aus tränenerfüllten Augen wandte sie sich ab. „Ich sagte Simon, dass es sinnlos ist.“

Wie Mic den Weg überwand, der ihn von ihr trennte, wusste er nicht. Doch im nächsten Moment packte er Anna beim Handgelenk und riss sie herum.

„Welcher Simon?“, verlangte er zu wissen.

Die Frau entriss sich ihm und wich einen Schritt zurück. Sie schien erschrocken aber nicht ängstlich.

„Welcher Simon?“, wiederholte Mic, ohne ihr zuvor wirklich eine Chance zur Antwort gegeben zu haben.

„Agent Simon Riddick. Er ist beim FBI in Washington. Er war der einzige, der sich Zeit nahm, um sich alles anzuhören.“ Besorgt sah sie ihn an. „Ist Ihnen nicht gut?“

„Erzählen Sie weiter.“ Mic konnte nicht glauben, dass Simon diese Frau mit ausgerechnet diesem Fall zu ihm geschickt haben könnte. Und doch musste er nun auch den Rest hören.

„Simon bat mich, meine Aufzeichnungen in Ruhe durchsehen zu dürfen, nachdem ich ihm alles erzählt habe. Zwei Tage später rief er mich an und gab mir Ihren Namen. Er sagte, wenn mir jemand helfen könne, dann Sie. Es gäbe niemanden auf der Welt, der das Profil des Täters besser kenne.“

Anna wusste nicht, was sie von dem Verhalten des Mannes halten sollte. Erst total hilfsbereit, dann extrem abweisend und schließlich von jetzt auf gleich wieder ruhig, aber rein geschäftsmäßig.

Mit einem knappen „Man wird sich bei Ihnen melden“ hatte er sie schließlich regelrecht rausgeworfen und die Tür dann so schnell hinter ihr geschlossen, dass er dabei fast einen Zipfel ihres Kleides erwischt hätte. Selbst jetzt noch, eine Stunde später, konnte sie das Klicken des Schlosses hören. Es hatte sogar den Verkehrslärm übertönt, so war es ihr zumindest vorgekommen. Aber nicht nur sein Verhalten hatte etwas leicht Beunruhigendes. Michael Thorne hatte eine Wirkung auf sie gehabt, mit der sie nicht gerechnet hätte. Er war ein gut aussehender Mann, keine Frage. Seine muskulöse Statur war ein absoluter Hingucker. Das blaue T-Shirt hatte eng angelegen, so dass sich jeder Zentimeter seines durchtrainierten Oberkörpers darunter abzeichnete. Die kurzen Ärmel hatten sich bei jeder Bewegung um seine Oberarme gespannt. Auch sein Hintern war schlichtweg spektakulär. Und doch war es etwas ganz anderes, das sie in den Bann gezogen hatte. Anna war immer schon schlecht darin gewesen, das Alter eines Menschen zu schätzen. Doch sie war sich sicher, dass Michael Thorne kaum älter als vierzig war. Wahrscheinlich war er eher noch jünger. Und trotzdem lag in den blau-grauen Augen etwas, das nicht so recht dazu passen wollte.

Als hätten sie bereits mehr gesehen, als gut war.

Die kurzen − ebenfalls für das Alter ungewöhnlichen − grau melierten Haare und der Drei-Tage-Bart taten ihr Übriges, um ihm ein reiferes Aussehen zu verleihen. Anna hatte nie auf diesen Typ Mann gestanden. Ihr Fall war eher der erfolgsorientierte Crack, der zwar was im Kopf hatte, aber auch ab und an mal auf alles pfiff. Michael Thorne passte augenscheinlich so gar nicht in diese Kategorie. Dessen ungeachtet fragte sie sich, wie er wohl schmeckte und ob sein Bart nur kratzte oder angenehm reizte.

Das ungeduldige „Hey Lady!“ des Taxifahrers holte sie glücklicherweise aus ihren Gedanken, ehe diese noch seltsamere Wege einschlagen konnten. Sie hatte wahrlich wichtigere Probleme, über die es nachzudenken galt als diesen Mann und ihre Reaktion auf ihn.

Anna bezahlte schnell und verließ das Taxi. Für einen Moment stand sie ratlos auf dem Gehweg in der Sonne und überlegte angestrengt. Sollte sie ins Hotel zurück oder ein wenig runter zum Strand gehen? Bei der Ruhe im Zimmer würde sie sich besser konzentrieren können. Allerdings war ein Strandspaziergang entspannend und machte den Kopf ein wenig frei. Letzteres brauchte sie jetzt auf jeden Fall dringender. Die vergangenen Wochen und Monate waren mehr als aufreibend gewesen. Seit der Hinrichtungstermin vorverschoben worden war, hatte sie umso emsiger versucht, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Natürlich hatte sie auch vorher schon die Erfahrung gemacht, mit ihren Bitten und Anträgen auf Revision nicht unbedingt offene Türen einzurennen. Aber die letzten Wochen war sie nur noch gegen Mauern gerannt. Dann noch die Sorge um ihre Mutter, die stetig abnehmende Geduld ihres Arbeitgebers und die Rechnungen, die mit ihrem Gehalt kaum noch zu bezahlen waren.

Anna zog die Schuhe aus und tauchte mit den Zehen in den warmen Sand. Sie beneidete die Menschen, die sich hier einfach sorglos in die Sonne legen und alles vergessen konnten. Wenn es für sie doch nur auch so einfach wäre.

Den Blick starr auf die Wellenbrecher gerichtet, lief sie los. Vorbei an Volleyballspielern, Sonnenanbetern und Sandburgen, bis der Strand leerer wurde und sie schließlich allein war. Nur noch das Rauschen der Wellen, der Wind in ihrem Haar und die Wärme auf ihrer Haut umgaben sie, als sie die großen Steine des Wellenbrechers erklomm. Sie suchte sich einen bequemen Platz und ließ ihren Blick über das Meer wandern. Wie schön wäre es, wenn sie sich nur irgendein Boot schnappen und einfach losschippern könnte. Alles hinter sich lassen und der Welt den Stinkefinger zeigen. Allen voran Dwayne, diesem blöden … Anna schluckte den Fluch herunter, der ihr auf der Zunge lag. Wie leidenschaftlich hatte er ihr doch seine Liebe geschworen. Und seine Treue. Und dass er immer für sie da wäre, egal, was die Zukunft auch bringen mochte. Dieses Immer hatte genau bis zum Tag ihrer Hochzeit gehalten. Dem Tag, an dem ausgelassen das Ja-Wort bejubelt und gefeiert wurde, das sie sich gegeben hatten. Dem Tag, an dem plötzlich der Ballsaal gestürmt und ihr Vater abgeführt wurde. Dwayne hatte sie nicht getröstet, dass das alles nur ein Irrtum sei und sich alles ganz bald aufklären würde. Er hatte sie nicht in den Arm genommen und gehalten, als sie es am dringendsten brauchte. Er hatte ihr empört eine Szene gemacht und noch am gleichen Tag den Antrag auf Annullierung gestellt. Ja, wie sehr er sie doch liebte!

Anna wischte sich energisch über die Wangen und das Kinn. Doch es half nichts. Ihre Tränen wollten einfach nicht versiegen. Der Gedanke an Dwayne hatte eine Lawine von Erinnerungen losgetreten, die sich nun nicht mehr aufhalten lassen wollte. Erinnerungen und Zweifel. Sie schämte sich dafür, die gelegentlich auftretende Unsicherheit bezüglich ihres Vaters nicht niederringen zu können. Sie hatte Edward Brennings erst wenige Jahre vor seiner Verhaftung kennengelernt und wusste von der Zeit davor nicht viel von ihm. Aber sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Er war freundlich, aufgeschlossen und zuvorkommend. Er war ein toller Lehrer und behandelte seine Schüler so respektvoll, wie er ihr und ihrer Mom gegenüber fürsorglich war. Es hatte ihn schwer getroffen, nicht früher von seiner Tochter erfahren zu haben, und er hat sich redlich Mühe gegeben, die verlorene Zeit irgendwie wieder gutzumachen.

Anfangs war Anna wütend auf ihre Mutter gewesen, weil sie verschwiegen hatte, dass ihr Vater nur eine Autostunde entfernt lebte und nichts von ihr wusste. Immerhin hatte sie sich stets einen Vater gewünscht und fest geglaubt, ihrer würde sie nicht wollen. Doch nach einem klärenden Gespräch hatte sie ihrer Mutter schließlich verziehen. Zwei Jahre später – ihre Eltern hatten sich gemeinsam auf den Weg zur Verlobungsfeier gemacht − passierte dann der schreckliche Unfall und nichts war mehr wie vorher. Bis heute plagten sie deshalb furchtbare Schuldgefühle. Hätte sie früher erkannt, was für ein Arschloch ihr damals frisch Verlobter war, wäre das alles nicht geschehen. Dieser Unfall schien der Startschuss für die Serie von Katastrophen gewesen zu sein, und Anna fragte sich viel zu häufig und sinnloserweise, was gewesen wäre, wenn …

Eine Windböe streifte ihre nackten Schultern und ließ sie erschauern. Die Luft hatte sich ganz schön abgekühlt, während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte. Tatsächlich verriet ihr ein Blick auf die Uhr, dass es fast Abend war. Ihr war gar nicht mal aufgefallen, dass sie bereits seit gut drei Stunden hier hockte. Wenigstens zeigte ihr Telefon keine verpassten Anrufe an. Natürlich ärgerte sie das, immerhin ging es hier um eine dringende Angelegenheit. Doch gleichzeitig war sie auch erleichtert, dass sie den betreffenden Anruf nicht überhört hatte.

Durch das tiefe Grollen in ihrem Magen veranlasst, beschloss Anna, den Leuten von der P.I.D. noch Zeit zu geben, bis sie gegessen hatte. Sollen sie sich bis dahin nicht gemeldet haben, würde sie erneut zum Büro fahren. Sollte dort niemand sein, hatte sie immer noch die Telefonnummer, die Simon ihr gegeben hatte. Im Zweifelsfall würde sie eben versuchen, Michael Thorne ausfindig zu machen.

So oder so, noch heute würde sie herausfinden, ob die Männer den Auftrag annahmen oder nicht!

Zufrieden mit ihrem Plan steuerte Anna das kleine Restaurant an, das sie in der Nähe des Hotels gefunden hatte.

2. KAPITEL

Mic hockte auf den Stufen seiner Veranda und starrte abwechselnd auf den Ozean und auf die Flasche, die neben ihm stand. Seine Hände zitterten so stark wie schon lange nicht mehr. Sein Herz hörte nicht mehr auf zu rasen, und auch die tiefsitzende Übelkeit ließ sich einfach nicht vertreiben. Er wusste, was er vorhatte, war falsch. So falsch. Doch der Drang wurde von Minute zu Minute stärker.

Das Gespräch mit Anna Catalano und der anschließende Blick in die Akte hatten ihn wie eine Zeitmaschine zurück zu den schlimmsten Momenten seines Lebens katapultiert. Warum hatte er auch nicht die Finger von dieser verfluchten Akte gelassen? Warum hatte er nicht einfach Derek angerufen und sich dann aus dem Staub gemacht? Die Antwort darauf war ganz einfach. Weil er, naiv, wie er war, gedacht hatte, stark genug für ein paar gekritzelte Aufzeichnungen einer Hobbydetektivin zu sein.

Aber wie hätte er auch ahnen können, dass es weit mehr als das war?

Anna Catalano hatte in ihrem Eifer, diesen Mann aus dem Gefängnis zu bekommen, alles zusammengetragen, was sie in ihre schlanken Finger bekommen hatte. Das schloss nicht nur Zeitungsberichte über die Morde und den Prozess und kurze Notizen mit ein, sondern auch Fotos von den Opfern, Lebensläufe und Zeit- und Lagepläne. Dazu kamen noch Statistiken, eine Liste der Orte, an denen sich ihr Vater zum Tatzeitpunkt aufgehalten haben sollte, detaillierte Zusammenfassungen von Gesprächen mit Richtern, Reportern, dem Staatsanwalt und Psychologen, vermeintliche Zeugen für Brennings Alibis und Indizien, die gegen ihren Vater als Täter sprachen. Sogar ein Teil des von ihm erstellten Profils befand sich in dem beigen Einband. Alles ordentlich sortiert und in verschiedene Kategorien unterteilt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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