Pakete an Frau Blech - Rolf Bauerdick - E-Book

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Rolf Bauerdick

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Beschreibung

Gerade hat Maik Kleine seinen väterlichen Freund, den exzentrischen Zirkusdirektor Alberto Bellmonti, mit viel Pomp zu dessen letzter Ruhestätte begleitet, da tauchen verstörende Meldungen über eine angebliche Stasi-Vergangenheit des Toten auf. Zusammen mit Szymbo, dem Kapellmeister, und Albina, der schwebenden Jungfrau, begibt Maik sich auf eine abenteuerliche Spurensuche – nicht ahnend, dass er sich nun auch seiner eigenen Familiengeschichte stellen muss: der Wahrheit über die schreckliche Tragödie, die in jener eisigen Winternacht 1978/79 in Leipzig seine beiden Geschwister das Leben und seine Mutter die Freiheit kostete.

Ein lebenspraller, von unbändiger Erzähllust getriebener Roman, der uns vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Vergangenheit in Welten entführt, die unterschiedlicher kaum sein können: vom Jesuitenkolleg in die Zirkusmanege, vom Heidelberger Apothekenmuseum in eine Stasi-Giftküche in Leipzig, vom Fünfsternehotel in einen Budapester Hinterhof. Großherzig, unterhaltsam und raffiniert!

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Seitenzahl: 541

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ROLF BAUERDICK

PAKETE AN FRAU BLECH

ROMAN

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. Auflage

Copyright © 2015 by Rolf Bauerdick

Copyright © 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA /Brigitte Müller

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-15632-9V002www.dva.de

Für Anke, Dimi und Maria

PROLOGMarienborn; Freitag, 5. Januar 1979

Die Nacht war kalt und wollte nicht enden. »Minus neunzehn«, sagte der Busfahrer. Doch niemand regte sich. Die Reisenden dämmerten weiter vor sich hin, im Halbschlaf versunken. Nur vorn rechts, der Junge mit den verschränkten Armen und den zusammengepressten Lippen blickte kurz auf. Anfangs hatten ihn Fahrgäste freundlich angesprochen, ihm über das Haar gestrichen und ihn an der Schulter gestupst, aufmunternd und fürsorglich. Um ihm Kekse zu reichen, eine Schokolade, eine Apfelsine, eine wärmende Decke. Stets hatte der Junge den Kopf geschüttelt und wieder aus dem Fenster geschaut. Irgendwann ließen die Erwachsenen ihn in Ruhe, weniger aus Gleichgültigkeit oder weil sie eigenen Gedanken nachhingen, eher weil er einem aus der Wirklichkeit gefallenen Traumwandler glich. Mehr noch einem Tier im Winterschlaf, das seine Körpertemperatur der Umgebung anpasste. Wie ein Igel, von dem man nicht wusste, ob er stirbt, wenn man ihn weckt.

Eine Woche schon wütete der Katastrophenwinter, vor dessen Wucht die Rettungskommandos kapitulierten. Schneefräsen irrten durch weiße Wüsten, Kettenraupen verreckten im eisigen Sturm, während die meisten Brigaden gar nicht erst ausrückten, weil der Diesel in den Tanks der Räumfahrzeuge gefroren war. Verzweifelte Suchtrupps stocherten nach Vermissten, die in ihren Autos unter Schneewehen erfroren und erstickten. Einige würden mit dem Tauwetter erst im Frühling wieder auftauchen. Auf den Autobahnen kam der Transitverkehr zum Erliegen. Ein Wochenende stand bevor, doch an den Grenzübergängen wurden weder Staus noch Wartezeiten vermeldet. Wer im Westen lebte, vertraute den Wetterberichten und blieb im Westen. Wer im Osten lebte, ärgerte sich, dass sich der Vorsitzende des Staatsrats in diesen Tagen des nationalen Notstands der internationalen Solidarität verpflichtet fühlte. Während er in Mosambik mit Bruderküssen die Bündnistreue des revolutionären Widerstands bekräftigte, trat daheim der Verteidigungsminister mit Pelzkappe und Wollschal vor die Fernsehkameras. Um Haltung bemüht und von Spirituosen gezeichnet erklärte er mit schwerer Zunge, das Land habe die Lage im Griff. Seine Leute langten indessen zur Schneeschaufel und hofften, dass Licht und Heizung, wenn nicht heute, so doch morgen oder übermorgen wieder eingeschaltet würden.

Auf dem weitläufigen Areal der Grenzstation Marienborn, wo gleißendes Flutlicht gemeinhin die Nacht erhellte, tuckerten die Aggregate für den Notstrom. Hin und wieder bewegten sich Volkspolizisten und Zöllner im trüben Schein funzeliger Glühbirnen, verhuscht, gesichtslos und eins geworden mit ihrem Schatten. Der Busfahrer ließ den Motor laufen, doch den Reisenden wurde kaum warm. Seit Stunden parkte der Magirus mit dem Kennzeichen TVX-31-36 hinter den Baracken der Zollabfertigung, abgestellt auf einer verschneiten Freifläche, einsam vor sich hin qualmend in der Wolke seiner Abgase. Zweimal schon hatten die Grenzer die Ausweise kontrolliert, hatten mit ihren Taschenlampen die Gesichter der Fahrgäste angeleuchtet und mit den Passbildern verglichen. In den Hohlräumen unter den Sitzen und in den Gepäcknetzen hatten sie nach Verborgenem gesucht, eher nachlässig und gelangweilt als von dem Verdacht getrieben, tatsächlich Verbotenes zu entdecken. Obschon sie die Ausreisepapiere längst überprüft und abgestempelt hatten, ließ nichts darauf schließen, dass sich der Omnibus in absehbarer Zeit wieder in Bewegung setzen würde. Die Zollformalitäten, deren Zweck nicht einleuchtete, zogen sich hin. Doch niemand beschwerte sich, niemand klagte über bürokratische Schikanen, vielleicht weil die Müdigkeit stärker war als der Unmut, vielleicht aus der Furcht, das Tor zur Freiheit könne sich in letzter Minute wieder schließen; ein Tor, das deshalb offen stand, weil die Regierung im Westen für die Öffnung zahlte. Dass der Freikauf der Politischen harte Devisen in die klamme Staatskasse im Osten spülte, wusste jeder. Dass es nicht klug war, darüber zu reden, auch.

Der Junge kauerte rechts am Fenster, vorn auf dem erhöhten Sitz über dem Radkasten. Seit dem frühen Morgen hatte er nicht gegessen und getrunken, dennoch verspürte er weder Hunger noch Durst. Ihm war nicht kalt, obwohl die Luft die Scheiben des Busses gefrieren ließ. Er hatte ein Loch in das Eis gehaucht, durch das er hinaus in die Nacht schaute. Der Junge starrte auf eine defekte Leuchtstoffröhre, die an einem Mast neben einem Wachturm flackerte. Der Lampe war nicht zu trauen. Ihr kaltes Licht war trügerisch. Es zitterte und zuckte. Oft flammte es auf, drei, vier Wimpernschläge lang. Noch öfter blieb es dunkel, eine kleine Ewigkeit, drohte gar, für immer zu erlöschen. Dann plötzlich flirrte es, schwoll an, mal langsam lichter werdend, mal explosiv, blitzend im Stakkato wie das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs, um mit verschossener Munition erschöpft wieder zu verglühen. Seit Stunden klebte der Blick des Buben an dieser kranken Lampe, von der er nicht wusste, ob sie gerade starb oder wiederauferstand. Ihr Licht verlieh der Welt einen blässlichen Grünstich, in dem die Schwärze der Nacht nicht schwarz und das Weiß des Schnees nicht weiß war. Jahre später, als der Junge erkannte, dass er in der Schule nichts Brauchbares mehr lernen würde, sollte das Bild dieser flackernden Lampe wieder aufleuchten. In einem Zirkus. Genau genommen in dem Wohnwagen eines Zirkusdirektors, der ihm eine merkwürdige Frage zum Wesen des Schattens stellte. Als der Alte ihm riet, niemals das Licht mit dem zu verwechseln, was es beleuchtet, erinnerte sich der Junge an den 5. Januar 1979, an jene frostige Nacht von Freitag auf Samstag, als der Grenzübergang von Marienborn schimmerte wie grünes galliges Gift.

Der Reisebus war komfortabel und bis auf wenige Plätze besetzt. Er hatte sogar eine eigene Bordtoilette. Dass sie verschlossen war, fiel nicht auf. Niemand mochte sie benutzen, seit der Fahrer gesagt hatte: »Wer ein Geschäft zu verrichten hat, erledigt das draußen.« Doch keiner der Fahrgäste verließ seinen Sitz. Kaum jemand sprach. Manchmal vernahm man ein verhaltenes Hüsteln, ein Flüstern, bei dem die Befürchtung mitschwang, womöglich könne sich irgendwer gestört fühlen. Unterbrochen wurde die Stille nur vom Schnappen der Feuerzeuge und vom Fauchen der Zündhölzer, wenn jemand eine Zigarette anbrannte. Selbst als die Grenzbeamten in ihren Mänteln und Fellmützen heißen Tee in Plastikbechern reichten, quittierten die Ausreisenden die Geste guten Willens nicht mit einem freundlichen Wort. Nur mit stummem Nicken.

Gegen 1.15 Uhr betraten zwei Kontrolleure den Bus. Einer rief die Nachnamen der Passagiere auf, der andere verteilte die Dokumente über die ausgeführten Waren. Als sein Name fiel, hob der Junge die Hand. Wortlos reichte man ihm die Zoll- und Personalpapiere. Die Identitätsbescheinigung Nr. 678673 wies ihn aus als Maik Kleine, geboren am 4. Februar 1965 in Leipzig, Augenfarbe blau, Größe 165 Zentimeter, keine besonderen Kennzeichen. Die Gebühren in Höhe von zehn Mark für den Identitätsnachweis und fünf Mark für das Ausreisevisum waren bereits entrichtet worden und gingen, wie man dem Jungen zuvor erklärt hatte, zulasten der Staatskasse. Ein weiteres Dokument lag in seinem Koffer. Mit einer Ausnahmeregelung für ausreisende Minderjährige hatten ihm die Behörden eine Urkunde übergeben, unterschrieben vom Innenminister. Maik Kleine hatte das Dokument weder angeschaut noch den Text gelesen:

»Die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik wird gemäß § 15 Abs. 3. des Staatsbürgerschaftsgesetzes mit der Aushändigung dieser Urkunde wirksam.«

Um 1.25 Uhr wechselte der Fahrer das Nummernschild. Statt des Kennzeichens TVX-31-36, das auf eine Zulassung des Busses in Karl-Marx-Stadt schließen ließ, montierte er ein Kennzeichen aus Frankfurt am Main an. Dann setzte er sich hinter das Lenkrad, nahm einen Schluck lauen Kaffee aus seiner Thermoskanne und legte den ersten Gang ein. Im Schritttempo durchpflügten die Reifen den Schnee. Bis zu den Sicherheitsschleusen und der Blechtafel »Weiterfahrt nach Aufforderung«. Eine Schranke öffnete sich. Ein Volkspolizist winkte den Omnibus durch. Der Fahrer gab Gas. Als die Scheinwerfer das Schild »Bundesrepublik Deutschland« anstrahlten und die Passagiere wie bei der gelungenen Landung eines Urlaubsflugzeugs applaudierten, war der Junge bereits eingeschlafen. Und als auf den hinteren Sitzbänken die Sektkorken knallten, zuckte er nur mit den Augenlidern. Dann träumte er weiter von der flackernden Leuchte auf der anderen Seite der Welt.

In einem Monat, am 4. Februar, würde er vierzehn Jahre alt werden. Er ließ sein altes Leben hinter sich, in dem es nichts mehr gab, was für ihn noch von Wert war. Als er am Morgen des 6. Januar 1979 aufwachte, war es bereits hell. Er wischte die beschlagene Scheibe frei. Es lag nur wenig Schnee. Ein blaues Hinweisschild gab an, dass bis Frankfurt am Main noch etwa zweihundert Kilometer zu fahren waren. Noch immer hielt der Junge das Papier vom Zoll in den Händen. Die Liste über »Zum Verbleib außerhalb der DDR bestimmte Gegenstände« zählte auf, was er bei der Übersiedlung in sein neues Leben mitgenommen hatte.

1

BELLMONTIS ASCHEBerlin; Mittwoch, 15. August 2007

Als ich die polierte Urne sah, wie zum Triumph in das strahlende Blau des Berliner Himmels gereckt, wusste ich: Alberto Bellmonti war sich treu geblieben, im Tod noch und selbst darüber hinaus. Wie er gelebt hatte, so ließ er sich zu Grabe tragen, mit der letzten pompösen Geste eines früh gealterten und zu früh gestorbenen Grandseigneurs, der das Gespür für das rechte Maß verloren hatte. Lange vor seinem Ableben hatte er in Amerika eine Combo mit schwarzen Blechbläsern verpflichtet. Keine zweitklassigen Freizeittrompeter, eine professionelle Marching Band aus New Orleans vielmehr, Virtuosen auf der Klaviatur der Sentimentalität, die für eine großzügige Gage, bar bezahlt per Vorkasse, auf Abruf parat standen. Als der Ernstfall eintrat, waren die Musikanten mit Posaunen, Trommeln und Tuba in ein Flugzeug gestiegen und in Tegel gelandet, um ihren Part des Kontraktes zu erfüllen. Leichtfüßig swingend, doch getragenen Schrittes führten sie unseren Trauerzug an, in der flirrenden Hitze eines heißen Augusttages, geschlagene acht Stunden, quer durch das Herz der ehemaligen Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Den Wunsch des Verblichenen einlösend bliesen die Musiker unerbittlich und ohne Anzeichen von Ermüdung nichts anderes als den molltriefenden Trauerblues St. James Infirmary.

Hinter der Blaskapelle trottete ein Elefantenbulle. Auf seinem Rücken, in einer Thronsänfte mit Baldachin, saß ein junger Tierbändiger. In seiner Kostümierung mit Turban, Krummdolch und einem Diadem aus falschen Rubinen schaute er unpässlich drein wie ein aus dem Figurenkabinett entwichener Maharadscha. Seine Hände umklammerten eine Urne aus blankem Messing. Sie barg Bellmontis Asche. Eskortiert wurden Elefant und Urnenträger von sechs Kaskadeuren auf schwarzen Motorrädern. Sie gehörten zu den Devils of the Doom, einer ukrainischen Artistentruppe, Gladiatoren der Neuzeit, die bei ihren Höllenfahrten in einem runden Stahlkäfig Kopf und Kragen riskierten. Während der Beerdigung ließen sie ihre Maschinen nur auf untertouriger Drehzahl tuckern, weil bei röhrendem Vollgas der Elefant wütend wurde und mit seiner Trompeterei die Musiker aus dem Takt brachte.

Wir folgten dem Elefanten in gebührendem Abstand. Die Zahl der Trauergäste war respektabel, aber noch überschaubar. Auffällig in jedem Fall: Schrille Gestalten missbrauchten die Beisetzung als Bühne ihrer Selbstdarstellung. Jongleure und Einradfahrer, Flick-Flack-Schläger und Feuerspucker, die Bellmonti sicher nie persönlich begegnet waren, ließen jede Pietät vermissen. Eine exzentrische Tänzerin mit Handrasseln, wallendem Haar und wallendem Gewand wollte Passanten sogar hartnäckig zum Mitmachen animieren, um gemeinsam in einer Reigenkette der Banalität des Todes zu spotten.

Die geladenen Gäste indes hatten sich nach Berlin aufgemacht, um Alberto Bellmonti die letzte Ehre zu erweisen. Artisten und Akrobaten, Illusions- und Varietékünstler, Gönner und Freunde des Verstorbenen kondolierten einander. Die Patrone der achtbaren, teils erloschenen Zirkusdynastien Krone, Knie, Althoff, Renz, Castelli und Sarrasani, alle in Frack mit Fliege nebst Gattin, beklagten den schmerzenden Verlust. Einige Gesichter wusste ich noch mit Namen zu verbinden, wenige mit einem Gefühl der Vertrautheit. Istvan natürlich, von den Brüdern Lakatos, Schleuderbrettakrobaten aus Budapest. Den wahnwitzigen französischen Clown Jaco Trudeau. Die Flying Varadis, einst erstklassig am Trapez, nun sichtlich gealtert.

Unter den Trauernden beeindruckte die gelähmte Dagmar Heise, deren Unglück die Zirkuswelt noch immer bewegte. In Wien zum Auftakt unserer Vorstellung am Neujahrnachmittag 1992 musste sie bei einer riskanten Parforcerittnummer auf einen galoppierenden Hengst springen. In den Stand. Während sie anlief, warf ein unerfahrener Garçon de piste einen Blick in die Manege. Er hatte den Vorhang zum Ausgang beiseitegeschoben. Für das Pferd das Zeichen die Laufrichtung zu ändern. Als Dagmar sprang, war der Hengst weg. Nun nahm sie im Rollstuhl an Bellmontis Beisetzung teil, wie immer mit Noblesse. Nie hörte man von ihr ein verbittertes Wort. Begleitet wurde sie von ihrem Mann Vladi. Vladimir Tarchenkov war Russe, ein Kraftprotz und Schlitzohr, der mit imponierendem Muskelspiel und ausgeklügelter Tricktechnik einst als Samson Ramones auftrat.

Gekommen waren auch die ehemaligen Musiker der Zirkuskapelle. Jakub, der Trompeter aus Prag. Nathan, der amerikanische Bassist. Krysztof, der polnische Schlagzeugtrommler. Und sein Landsmann Pjotr Stanislav Szymborski, genannt Szymbo, Pianist, Saxofonist und begnadeter Dirigent, der einzige Mensch, den ich einen Freund nennen mochte. Als Kapellmeister – die Bezeichnung Bandleader lehnte er ab – hatte er unser kleines Ensemble früher furios durch das Programm geführt, gepeitscht, muss ich wohl sagen, und in seine Kompositionen geniale Dissonanzen eingebaut, so kreischend schräg, dass dem Publikum in dramatischen Momenten das Herz stillstand und das Blut gefror.

Die Nachricht vom Tod Bellmontis hatte mich in Hamburg erreicht, als ich dabei war, meine Wohnung aufzulösen, Versicherungen und Verträge zu kündigen und behördliche Formalitäten abzuwickeln. Bald schon würde ich in die USA reisen. Für zwei Jahre, wahrscheinlich für länger, womöglich für immer. Der Verlust des väterlichen Freundes hatte mich bestürzt, aber auch ernüchtert, denn seit meinem Entschluss, Deutschland zu verlassen, hatte ich die kümmerlichen Pflänzchen meiner sozialen Kontakte kaum mehr gewässert. Mit dem Tod des Alten war eine meiner letzten dürren Wurzeln herausgerissen und vertrocknet.

Trotz des traurigen Anlasses hatte ich mich auf ein Wiedersehen mit den ehemaligen Gefährten des Zirkus Bellmonti gefreut. Immerhin hatte ich ihnen meine besten Jahre zu verdanken. Zugleich löste der Gedanke, in Berlin womöglich meiner Vergangenheit zu begegnen, in mir eine diffuse Unruhe aus, eine nervöse Anspannung, die nicht mit der Aussicht verschwand, in zwei Wochen in einem Flieger nach Los Angeles zu sitzen. Szymbo wusste nichts von meinen Plänen. Er lebte in Kattowitz, und wir trafen uns nur selten. Dafür telefonierten wir. Ein Ritual, bei dem ich regelmäßig versprach, eines Tages auszuwandern und meine Geschichte hinter mir zu lassen. »It’s all over now«, pflegte ich in Anlehnung an einen Bob-Dylan-Song zu sagen. Szymbo hatte meine Ankündigungen stets als Kopfgeburten eines Zauderers verspottet. Er war immer sehr direkt, wohingegen ich vermieden hatte, ihn auf meinen tatsächlichen Abschied vorzubereiten. Ein Fehler, der mir im Nacken saß und den ich allmählich bereute.

Pjotr Szymborski stammte aus einer schlesischen Kohlenhauerfamilie, bekannte sich zu Gott, Kirche und Papsttum und verfocht als orthodoxer polnischer Katholik grundsätzlich unzeitgemäße Ansichten. Trotz unserer weltanschaulichen Differenzen verbanden mich mit ihm in diesen Tagen zwei Gemeinsamkeiten: unsere Zuneigung zu Bellmonti und unsere Abneigung gegen Berlin. Meine beschränkte sich auf den ehedem sozialistischen Ostteil. Szymbo machte bei Berlin zwischen Osten und Westen keinen Unterschied. Als Alberto Bellmonti nach dem Fall der Mauer ein Gastspiel in der künftig gesamtdeutschen Hauptstadt erwogen hatte, war Szymbo aufgesprungen, hatte seinen Taktstock zerbrochen und mit sofortiger Kündigung gedroht. »In einer Stadt, die glaubt, sie habe ein lebenslanges Recht auf eine Luftbrücke; in einer Stadt, die ihr Arschloch für den Nabel der Welt hält und das grausamste Bier südlich des Nordpols braut, niemals werde ich in einer solchen Lokalität das Saxofon blasen und den Stab des Kapellmeisters schwingen. Eher quittiere ich und verzichte auf Lohn, Brot und Applaus.« Der Alte hatte damals nur genickt, und die Angelegenheit war vom Tisch.

Szymbo hatte uns ein Quartier in einer Hinterhofpension in Pankow besorgt, wo wir uns für zwei Nächte ein Zimmer teilten. Schon am Vorabend der Beerdigung waren wir angereist, und seine Laune war miserabel gewesen. Er hatte sich zurückgezogen, um sich Notizen zu der Trauerrede zu machen, die er zur Beisetzung Alberto Bellmontis halten wollte, kam aber bei seinen Überlegungen nicht voran und jammerte, in Berlin wolle der Funke der Inspiration einfach nicht zünden. Um die Stimmung zu heben, zog ich los, besorgte kühles Dosenbier und schlug einen Spaziergang in den nahen Ernst-Thälmann-Park vor, wo sich Szymbos Gemütslage weiter verschlechterte. Der Park wirkte wenig einladend. Auf einem tonnenschweren Granitsockel mit dem Schriftzug »Rotfront« thronte eine monumentale Bronzebüste des von den Nationalsozialisten ermordeten Arbeiterführers. Mit entrücktem Blick und geballter Faust vor der Fahne der Weltrevolution stierte Thälmann auf einen imaginären Punkt, der sich im Nirgendwo einer fernen Utopie verlor. Während ich plädierte, das klobige Denkmal als missratenes Dokument sozialistischer Kulturklotzerei der Nachwelt zu erhalten, wollte Szymbo es zertrümmern und die Bronze einschmelzen lassen. In Kirchenglocken, die künden sollten vom Sieg des Kreuzes über Hammer und Sichel.

Pjotr Szymborski neigte dazu, sich zu ereifern. Bei Konflikten tendierte er zu rabiaten Lösungen, da er ständig glaubte, sich gegen die Beschneidung seiner künstlerischen Freiheit wehren zu müssen. Mir kam die Aufgabe zu, Szymbos Empörungspotenzial und seine Zivilisationswut wenngleich nicht zu zähmen so doch abzumildern, wobei er prinzipiell keine Diskussion zuließ, erstens über die musikalische Genialität von Miles Davis und zweitens über die Qualität von Bieren. Mein Missgriff beim Getränkekauf wurde mir bewusst, als ich zwei Sixpacks Heineken anschleppte und Szymbos entsetztes Gesicht sah.

»Bist du wahnsinnig, Maik! Wie kannst du nur diese Plempe kaufen. Dieses schale Gesöff, diese Grachtenplörre. Lieber verdurste ich!«

Weil Szymbo sich in der Regel ebenso schnell wieder beruhigte wie er sich aufregte, knackte er eine Dose und trank sie in einem Zug leer. Angewidert wischte er sich den Schaum von den Lippen und forderte, allen gebürtigen Holländern bis in die dritte Generation die Lizenz zum Bierbrauen zu entziehen.

»Was ist los mit dir, Pjotr? Du bist unausstehlich.«

Szymbo zerdrückte seine leere Bierdose und warf sie in die Richtung eines Abfallkorbes. Das Blech schepperte über das Pflaster des Thälmann-Platzes.

»Nichts ist los. Und ich sage dir, genau das ist der Grund allen Übels. Es passiert nichts.«

»Was soll denn passieren?«

»Ich komme nicht weiter. Ich trete auf der Stelle. Ich meine, künstlerisch, musikalisch. Nur ab und zu noch ein Blues-Festival für die schwarze Kattowitzer Seele. Ansonsten immer dasselbe, immer das Übliche. Sauberer Blues, sauberer Jazz, an sauberen Stätten, mit sauberem Sanitär, alles keimfrei und blitzblank für saubere Menschen. Immer nur dieses seichte Zeug. Gefällig und nett, zwischen Kaffeehaus, Hotelbar und Airportlounge für diese ignoranten Businessclasstypen. Alles gedämpft, alles gediegen, alles langweilig. Du spielst einen Fünf-Viertel-Takt und ein paar atonale Akkorde zu viel, und schon erklären dir schnöselige Geschäftsführer, dass du ein herausragender Musiker bist. Aber deinen Vertrag verlängern sie nicht. Musik darf alles sein, nur keine Zumutung mehr. Ich sag dir, Maik, ich sterbe den Tod der Mittelmäßigkeit. Du siehst ja, wie weit es mit mir gekommen ist, wenn ich jetzt schon dieses grässliche Gebräu trinken muss.«

Szymbo öffnete zwei neue Heineken, reichte mir eine Dose und stieß mit mir an. »Was soll’s. Prost, Maik. Na zdrowie! Und selber? Wie läuft’s so?«

»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, meine Zeit hier ist abgelaufen.«

»Ja, es macht keinen Spaß mehr.« Freudlos trank Szymbo sein Bier.

Eigentlich hatte ich die feste Absicht gehabt, dem Freund von meinen Plänen zu erzählen. Doch mich verließ der Mut. Szymbo war betrübt. Geschichten, die gut ausgingen, deprimierten ihn. Hätte ich ihm erzählen sollen, dass ich eine Greencard besaß, eine Einwanderungserlaubnis für die USA, die mir ein unbegrenztes Aufenthalts- und Arbeitsrecht garantierte?

In den vergangenen zehn, zwölf Jahren hatte ich ausgiebige Erfahrungen gesammelt, in einem Metier, das dem Zirkus eng verwandt war: der Musicalbranche. Das Geschäft boomte. Nicht nur für die Produzenten, für die Veranstalter und die Künstler, die im Rampenlicht standen. Auch für die Techniker im Hintergrund, die dafür sorgten, dass die Akteure auf der Bühne im rechten Licht standen. Mitte der neunziger Jahre, im Anschluss an meine Zeit bei Bellmonti, hatte mich ein neues Theater im Hamburger Hafen für sein erstes Musical angestellt. Über den Rock ’n’ Roller Buddy Holly. Ich bediente den Super Trouper. Der legendäre Scheinwerfer, berühmt geworden durch einen Song der Pop-Gruppe Abba, erlaubte, die Tänzer bei ihren wendigen Rock- ’n’- Roll-Einlagen jederzeit mit einem gebündelten Lichtstrahl zu verfolgen und effektvoll in Szene zu setzen.

Mit meiner Zuverlässigkeit und meiner Begabung, komplizierte lichttechnische Probleme zu lösen, hatte ich mir als Beleuchter einen soliden Namen erarbeitet. Über deutsche Grenzen hinaus. Im Rotterdamer Nieuwe Luxor Theater übertrug man mir Verantwortung für das Lichtdesign in Elvis – The King. Im Londoner Palladium wurde ich für Saturday Night Fever engagiert, im Dominion für das Queen-Musical We will rock you. Aus Berlin war ich Anfang des Jahres angefragt worden, die Lichtdramaturgie für die Beatles-Show All you need is love zu gestalten. Aber da lockten bereits lukrative Engagements in den Vereinigten Staaten. Außerdem hatte es mich ermüdet, immer nur Künstler auszuleuchten, die berühmte Originale imitierten. Unbestritten, die Doppelgänger von Buddy, Elvis und Freddy Mercury machten ihre Sache erstaunlich gut. Oft waren die Doubles perfekter als ihr Vorbild. Dennoch fehlte mir das letzte Quäntchen Verständnis dafür, dass jemand zur Kopie eines anderen werden wollte. Mir blieb fremd, was Menschen motivierte, sich so zu kleiden, so zu bewegen und so zu singen wie die Pilzköpfe Paul, John, Ringo und George. Allerdings hatte ich mich bei Urteilen über die Originalität meiner Zeitgenossen zurückzuhalten, wusste ich doch selbst nicht zu unterscheiden, welche fremden Identitätsfragmente ich mir im Lauf meines Lebens angeeignet hatte und was meinem ureigensten Wesen entsprach.

Ich musste mit Szymbo reden. Ich musste ihm mitteilen, dass ich nach Amerika gehen und dort als Lighting operator arbeiten würde. Sollte ich den Herausforderungen gewachsen sein, würde ich nicht mehr zurückkehren. Nach Europa nicht und nach Deutschland schon gar nicht. Ich würde Pjotr enttäuschen. Enttäuschen müssen. Verletzt würde er sich fühlen, gekränkt, vom Freund im Stich gelassen. Seine Verachtung würde mich treffen, die Wucht seines Grolls, seine ganze Verbitterung. Aber nicht jetzt. Lieber später, in einem günstigeren Moment.

Wir tranken noch ein paar Heineken, plauderten über dieses und jenes, und als es dunkelte, gingen wir vom Thälmann-Platz zurück zu unserem Quartier. Ich fühlte mich fremd neben Szymbo, verspürte eine beklemmende Distanz, erwachsen aus meinem Schweigen, das unsere Freundschaft beschwerte. Umso erleichterter war ich, als die Rede auf den Alten kam.

»Die Vorstellung, morgen einem Elefanten mit Bellmontis Asche durch Berlin zu folgen«, bemerkte ich, »ist schon etwas befremdend.«

»Das ist es!« Szymbo fiel mir fast um den Hals und bedankte sich überschwänglich, obwohl ich keine Ahnung hatte, weshalb. »Das Befremden!«, tönte er, glücklich darüber, endlich ein Stichwort für seinen Nekrolog gefunden zu haben. »Das Befremden ist der erste Schritt auf dem mühsamen Weg zur Erkenntnis!« Szymbo erklärte mir, Alberto Bellmontis Beisetzung sei keine ordinäre Beerdigung, vielmehr eine grandiose Geste von aristokratischer Grandezza, ein subversiver Akt gegen Banalität und Geistlosigkeit. Gerade als ich fürchtete, mir eine Kanonade auf die Verblödung des Abendlandes anhören zu müssen, erklärte Szymbo, er wolle seiner morgigen Grabrede nicht vorgreifen. Dann sagte er unvermittelt: »Albina kommt auch.«

Ich blieb stehen.

»Woher weißt du das?«

»Ich habe sie in Moskau angerufen. Noch an demselben Abend, als ich vom Tod Bellmontis erfahren habe.«

»Und? Was meinte sie?«

»Ich bin unterwegs. Ich eile, ich fliege!«

»Schön«, erwiderte ich, weniger um meine Zustimmung zu bekunden als meine Verunsicherung zu verbergen.

»Ich dachte, es würde dich interessieren, dass Albina den Alten bei seinem letzten Gang begleiten will.«

»Mäßig.«

»Sie ist übrigens noch wie immer.«

»Inwiefern?«

»Sie fragte, wann und wo wir uns treffen. Ich sagte ihr, die Trauergemeinde sammle sich um zehn. Vormittags am Pariser Platz. Sie bat mich um die Reservierung eines Zimmers, besser noch einer bescheidenen Suite. Im Kempinski. Rate mal, warum sie dort wohnen will?«

»Um ihre zarten Füße zu schonen.«

Szymbo lachte. »So ungefähr. Albina meinte, wenn wir ihr eine anständige Bleibe direkt am Platz buchen, würden wir ihre Taxikosten sparen.«

So war sie. Ich kannte niemanden, der seinen Egoismus so charmant als Selbstlosigkeit verkaufte, wie Albina Kurkova. Nun kam sie nach Berlin. Mir war, als zerre jemand an einem Teppich unter meinen Füßen, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Meine Trauer über den Tod Alberto Bellmontis verflüchtigte sich. Stattdessen kroch eine Melange aus Freude und Bangen in mir hoch, der ich mich kaum erwehren konnte. Albina und ich hatten nie etwas miteinander gehabt, und sogar der Begriff Freundschaft wäre für unser Verhältnis während der gemeinsamen Zeit im Bellmonti anmaßend gewesen. Nur manchmal hatte ich mir ein stilles Begehren gestattet, verschämt und unschuldig, nie mit dem Blick eines Mannes mit der Leidenschaft für eine Frau. Und doch war mir Albina damals auf eine intime Weise vertraut, mehr als jeder andere Mensch, dem ich vor und nach ihr begegnet war.

Albina Kurkova war zwei Jahre jünger als ich und musste jetzt um die vierzig sein. Ich hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, zwölf Jahre und drei Monate, um genau zu sein. Ich zwang mich, nicht zu spekulieren, was geschehen könnte und wie ich mich verhalten würde, sollten wir einander gegenüberstehen. Ohne ein Geheimnis zu verraten, darf ich sagen: Es geschah nichts. Oder nicht viel. Albina reichte mir die Hand, wünschte einen Guten Tag und sprach ansonsten während des Beerdigungsmarsches kein Wort mit mir. Ich hatte überlegt, aus eigenem Antrieb einen Schritt auf sie zuzugehen, doch entmutigt von ihrer spröden Unnahbarkeit irgendwann einsehen müssen, das Gespür für den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben.

Der Trauerzug hatte sich an der Ostseite des Brandenburger Tores formiert, führte vom Pariser Platz auf den Boulevard Unter den Linden, vorbei an Humboldt-Universität, Fernsehturm und Alexanderplatz, weiter Richtung Osten. Alle naselang hielt der Zug an, flankiert von Schaulustigen, manche sprachlos, manche verwundert, manche rätselnd, ob es sich bei dem illustren Aufmarsch um ein avantgardistisches Theaterprojekt, eine Prozession zu Ehren eines hinduistischen Elefantengottes oder möglicherweise um eine Marketingkampagne des indischen Touristenverbandes handelte. Während ein paar Tierschützer in einer spontanen Gegendemonstration mit Trillerpfeifen die Freiheit für Zirkus- und Zootiere forderten, tauchte das Gros der Passanten ein in die schwermütigen Melodien der schwarzen Posaunisten, bewegt von einer unergründlichen Traurigkeit und ergriffen von der eigenen Rührung. Indessen hob der Bursche auf dem Elefanten, einem heidnischen Tempelpriester gleich, die Urne hoch. Wie eine Monstranz. Nur dass die Monstranz keine Hostie barg, in der die Katholiken den Leib ihres Herrn Jesus Christus verehrten, sondern den letzten Staub des einstigen Magiers der Manege Alberto Bellmonti. Ab und an löste sich das Befremden der Leute über das merkwürdige Ritual auf in heiteres Gelächter: wenn der Bulle in weihevollen Momenten seine Blase entleerte und mit pladderndem Schwall auf den Asphalt pisste.

Es war nicht der Moment, daran zu erinnern, dass mit dem Untergang des Zirkus Bellmonti auch der Abstieg seines Gründervaters begonnen hatte. Bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren war der Alte gerade siebzig geworden, doch zu einem Greis ergraut, ein verbrauchter Mensch, der sich nicht mehr dagegen wehrte, dass ihm die Zeit enteilte. In Grunewald bewohnte er die untere Etage einer Villa aus der Kaiserzeit, die ein anonymer Privatier ihm überlassen hatte, über den es hieß, er sei mit beträchtlichem Vermögen nach Argentinien ausgewandert. Auf der Terrasse mit Blick auf einen verwilderten Park, in dem schon lange kein Strauch mehr beschnitten und kein Laub mehr gefegt wurde, hatte Bellmonti meine Hand ergriffen, die Augen geschlossen und gefragt: »Maik, wenn ich gehe, was bleibt zurück?«

Einen Nachfolger hatte er sich ersehnt. Einen Erben, der ohne eigene Blutsverwandte nur einer Wahlverwandtschaft entstammen konnte. Lange hatte er gehofft, ich würde diese Aufgabe annehmen und in sie hineinwachsen. Doch ich war nicht der Richtige. Der Zirkus war mir Lebensschule, ganz sicher, aber er war mir nicht Lebenssinn und Lebensziel. Der Alte wusste das. Aber mir schien, als müsse er den Kummer, den diese Gewissheit ihm bereitete, von sich selbst fernhalten und vor mir verbergen.

An Alberto Bellmonti nagte die Furcht, keine Spur zu hinterlassen. Um nicht in den Strudel des Vergessens zu geraten, hatte er vor der Jahrtausendwende für ein symbolisches Entgelt in Pankewitz, einem Ort im Norden Berlins, ein ehemaliges Dienstgebäude der Staatssicherheit der DDR übernommen und darin ein Museum eingerichtet, dessen Name schamlos überdimensioniert war. Doch sein Internationales Museum für zirzensische Artistik und Illusionskunst bröckelte, bereits am Tag seiner Eröffnung. Zwar hatte der Berliner Oberbürgermeister eine Stellvertreterin geschickt, die ein paar warmherzige und anerkennende Worte sprach, doch der in Presse, Funk und Fernsehen angekündigte Ehrengast Prinzessin Stéphanie von Monaco hatte ebenso wenig den Weg nach Pankewitz gefunden wie die Eiskunstläuferin Katarina Witt. Zudem trugen die gestelzten Grußbotschaften, in denen David Copperfield, der Meister der Illusionen, seine Glückwünsche übermittelte und die Magier Siegfried und Roy ihre Unabkömmlichkeit in Las Vegas bedauerten, in Wortwahl und Sprachstil unverkennbar die Handschrift Alberto Bellmontis.

Wo auch immer ich mich in der Welt herumtrieb, stets war es dem Alten gelungen, mir zum Geburtstag am 4. Februar per Kurier ein »Honoratiorenbillett« zukommen zu lassen. Es war exklusiv auf den Namen Maik Kleine ausgestellt und garantierte mir auf Lebenszeit freien Eintritt in sein Museum. Ich war der Einladung nie gefolgt. Nicht aus Geringschätzung und schon gar nicht aus fehlender Zuneigung, eher aus Vorsicht. Gewiss auch aus mangelndem Mut, fürchtete ich doch, in dem Museum mit meiner eigenen Lebensgeschichte konfrontiert zu werden und den Mächten der Vergangenheit nicht gewachsen zu sein. Das sollte sich ändern, und zwar an jenem Tag, als die Urne mit Bellmontis Asche in einem Grabloch auf dem Friedrichsfelder Zentralfriedhof verschwand.

Nicht nur mich hatte verblüfft, dass Bellmonti an diesem historischen Ort beigesetzt wurde. Der Alte musste über einflussreiche Beziehungen verfügt haben, denn der Friedhof stand unter Denkmalschutz. Seit der Wende 1989 waren keine neuen Gräber mehr genehmigt worden, nur in Ausnahmefällen, bei engen Verwandten bereits beerdigter Personen. Wie bei dem obersten Geheimagenten der Deutschen Demokratischen Republik: Der Familie von Generaloberst Markus Wolf wurde 2006 gestattet, den Verstorbenen im Grab seines Bruders Konrad beizusetzen. Und nun Alberto Bellmonti. Wer ihn zu kennen glaubte, staunte aus einem weiteren Grund. Bellmonti lebte in Grunewald, einem Villenviertel im Westen Berlins, die Begräbnisstätte jedoch lag im Osten und war weit über die Stadt hinaus als Kommunistenfriedhof berühmt. Dass der Alte sich in der Gegenwart der sterblichen Überreste von Karl Liebknecht und Ernst Thälmann, von Rosa Luxemburg, Käthe Kollwitz und all den Widerständlern gegen die nationalsozialistischen Barbaren in ehrenhafter Gesellschaft wähnte, mochte angehen. Aber neben dem Mauerbauer Ulbricht, dem Genossen Spitzbart? Neben dieser Parteisoldatin Benjamin, der strammen Richterin, wegen ihrer Gnadenlosigkeit gefürchtet als die Rote Guillotine? Bellmonti neben Mielke, dem Schnüffler, dem Wächter über die staatliche Sicherheit und Herrn über die Furcht?

Dass ein Zirkusdirektor und Illusionskünstler, der seine Asche von einem Elefanten durch Berlin tragen ließ, zwischen den höchsten Funktionären der Deutschen Demokratischen Republik seine letzte Ruhe finden wollte, war schon merkwürdig. Befremdend fürwahr. Allein Szymbo gab sich nicht irritiert. Als Katholik wisse er um die Unergründlichkeit der Wege des Herrn und fühle sich getragen von der Hoffnung, dass sich am Ende der Zeiten beim Jüngsten Gericht die Wahrheit der Dinge offenbaren werde. Für alle, die bis dahin genug Geduld aufbrächten.

Am Alexanderplatz legte unsere Gesellschaft eine Rast ein. Der Elefant brauchte eine Pause und soff sich am Brunnen der Völkerfreundschaft den Wanst voll. Weil die Karl-Marx-Allee wegen Kanalarbeiten gesperrt war, wichen wir von der geplanten Route ab und wurden umgeleitet. Am Platz der Vereinten Nationen war die Zahl der Weggenossen bereits auf die Hälfte geschrumpft. Wir erreichten die Landsberger Allee, die sich öde und endlos hinzog, sodass weitere Teilnehmer den Trauerzug an der S-Bahn-Station nach der Danziger Straße verließen. Jakub der Trompeter und Krysztof der Trommler versprachen, nur eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen, plöppten jedoch an einer Trinkhalle zu viele Flaschen Bier, um hernach noch den Willen aufzubringen, den Anschluss an unseren Zug zu suchen, der sich wie eine verlorene Wüstenkarawane voranquälte. Als wir am späten Nachmittag mit den Bluesbläsern und Bellmontis Asche in die Rhinstraße einbogen und über die Allee der Kosmonauten endlich den Friedhof der Sozialisten erreichten, war der Kreis der Ausdauernden auf zwei Dutzend Leute geschrumpft. Während des ganzen Marsches war Albina in der letzten Reihe zwischen Szymbo und mir gegangen, hatte mit dem polnischen Freund das ein oder andere Wort gewechselt, sich bisweilen sogar bei ihm eingehakt und ihn angelächelt. Mich hatte sie ignoriert. Bis auf einen Moment. Als ich einmal mit meinen müden Füßen über eine Bordsteinkante stolperte, hatte sie unwillkürlich ihre Arme ausgestreckt, um mich aufzufangen, sie aber sofort zurückgezogen, als sie gewahrte, dass ich mich aus eigener Kraft auf den Beinen hielt.

Am Haupteingang des Friedhofs stellten die Musiker aus New Orleans ihr St. James Infirmary ein. Der Elefantenführer rutschte, entkräftet vom Präsentieren der Messingurne, von dem Bullen herunter und schaute sich um, unsicher, was er mit Bellmontis Asche machen sollte. Albina nahm ihm das Behältnis ab, wobei sie die Hilflosigkeit des Burschen mit übernahm und ihrerseits signalisierte, keine Idee zu haben, wie zeremoniell nun weiter zu verfahren sei. Zwei Friedhofswärter, die seit Stunden in der Hitze auf uns gewartet hatten, motzten sich den Ärger vom Leib und schimpften auf den kostümierten Dompteur. Sie würden bezahlt, beschissen genug, um die Gräber ehrenwerter Sozialisten zu pflegen, aber nicht um die Eskapaden dieser Künstlerclique, dieser dekadenten Mischpoke zu ertragen. Dennoch erlösten sie uns aus der undurchsichtigen Lage. Mürrisch, doch zügig lotsten sie uns zu der Grabstelle. Ein Loch war bereits ausgehoben. Ob Bellmonti es versäumt hatte oder bewusst keinen Geistlichen an seinem Grab wissen wollte, jedenfalls hatte niemand dafür gesorgt, dass ein Priester anwesend war, der die Asche hätte segnen und ein tröstendes Wort oder Gebet hätte sprechen können. In dieser Situation der Erschöpfung und kollektiven Ratlosigkeit trat Albina mit der Urne an das Grab. In ihrer schneeweißen Bluse über dem züchtigen blauen Rock stand sie da und blickte uns fragend an. Als niemand ihr eine deutbare Reaktion zurückschickte, zuckte sie mit den Schultern, schaute zum Himmel auf, bekreuzigte sich und beförderte die Urne, ein wenig unsanft, hinein in das Loch. Dann trat sie zur Seite. Einige warfen angewelkte Rosen und Chrysanthemen, manche eine Schüppe Erde hinterher.

Auch ich hatte vor, mich von dem Menschen, der mir ein gewogener Lehrer und väterlicher Freund gewesen war, mit einem stillen Gruß zu verabschieden. Doch ich stand da, wie angekettet, unfähig einen Schritt zu tun. Verstockt. Zuerst glaubte ich, mein Zustand sei ein Tribut an den strapaziösen Fußmarsch. Dann schoss mir das Wasser in die Augen, ein physiologischer Reflex, kaum beherrschbar, obschon ich mich gegen Rührseligkeiten immer zu wehren gewusst hatte.

Albinas Gesten hatten etwas in mir ausgelöst, das ich nicht steuern konnte. Es war nicht das Kreuzzeichen oder ihr Blick nach oben gewesen, vielmehr die lapidare Handbewegung, mit der sie Bellmontis Asche der Erde zurückgab. Man mochte in dieser Geste einen Akt der Achtlosigkeit sehen. Aber dem war nicht so. Ich sah in Albinas Gesicht etwas, das mir einen Stich versetzte, eine Art bodenlose Verzweiflung, ein lautloser Schrei, ein Verstummen vor der Einsicht, dass am Ende tatsächlich nichts blieb. Albina schien mir allein, so unendlich allein, dass sie mich, wie soll ich sagen, mit dem Virus ihres Alleinseins infizierte und ich nicht wusste, wie mir geschah. Ich schämte mich und drehte mich zur Seite. Ich wollte nicht, dass jemand bemerkte, wie ich gegen die Tränen kämpfte.

Ich sah meinen kleinen Bruder und meine Schwester, Ronny und Kessryn, an deren Grab ich nie gestanden hatte. Ich sah meine Mutter, Freya Kleine, die Kindstöterin, die Brandstifterin, von der ich nicht einmal wusste, ob sie noch immer in einer geschlossenen Anstalt dahindämmerte, wieder frei oder schon längst gestorben war. Ich war hin und wieder in den Westen Berlins gefahren, aber nie mehr in den Osten, seit diesem schrecklichen Winter. Ich sah das Bild meines Vaters vor mir, oder vielmehr das Bild eines Bildes. Eine Fotografie, aufgenommen in einem klinischen Labor, Jahre vor seinem Unfall. Er war umringt von adretten jungen Frauen, die fasziniert seinen Ausführungen lauschten. Mein Vater trug einen weißen Kittel und gab zweifellos eine gute Figur ab. Mit prüfendem Blick reckte er ein Reagenzglas gegen das Licht. Den Text neben dem Foto kannte ich Jahrzehnte später noch auswendig: »Wissenschaft dient Menschen, nicht Kapital, Gier und Profit: Der Biochemiker und Mediziner Professor Dr. Gerhard Kleine erklärt seinen Pharmaziestudentinnen den Entwicklungsstand eines neuen Impfstoffs.«

Das Foto war auf Seite 297 in dem Buch Der Sozialismus – Deine Welt abgebildet, das in der Deutschen Demokratischen Republik Mädchen und Jungen zum Anlass der Jugendweihe geschenkt wurde. Nun, auf dem Friedrichsfelder Zentralfriedhof, bereute ich, dass ich das Buch entsorgt hatte, damals im Westen, im Internat, als der Sozialismus aufgehört hatte, meine Welt zu sein.

An meinen Vater erinnerten mich nur der Laborkittel und das Reagenzglas. Er blieb mir ein Fremder, ein Doktor, ein Wissenschaftler im Kreis attraktiver Wissenschaftlerinnen. Für eine von ihnen sollte er später Frau und Familie verlassen. Ohne sein neues Glück lange genießen zu können. Ich war fünf, als Mutter die Nachricht von dem tödlichen Laborunfall erfuhr. Und was tat sie? Sie stellte sich vor den Spiegel. Sie trug roten Lippenstift auf, lackierte ihre Fingernägel und versprühte das teure Parfum, das ihre Schwester, unsere Tante Vera, aus dem Westen geschickt hatte. Mutter sagte, ich solle auf Kessy und Ronny aufpassen. Dann ging sie tanzen. Als sie am nächsten Morgen nach Hause kam, fühlte ich mich zu alt, um meine Mutter noch Mutti zu nennen. Ich nannte sie fortan bei ihrem Vornamen Freya, was sie nicht zu stören schien.

Die Bluesmusiker aus Louisiana packten ihre Instrumente ein. Während die verbliebenen Beerdigungsteilnehmer die Taxizentrale anriefen oder Mitteilungen in ihre Mobiltelefone tippten, klatschte Szymbo mit den Händen. Dreimal. Alle schauten zu ihm herüber. Pjotr Szymborski trat an das Grab und schloss die Knöpfe seines schwarzen Jacketts. Dann hielt der Kapellmeister jene feierliche Totenrede, die er dem Alten, mit Ehrenwort und Hand auf Herz, dereinst versprochen hatte.

2

SIEBEN BRÜCKENZakopane, Polen; Winter 1978/79

Menschen neigen dazu, je nach persönlichem Nutzwert, unliebsame Ereignisse kleiner und belangloser, gegebenenfalls aber auch größer und bedeutender darzustellen, als diese sind. Katastrophen etwa. Überschreitet das Maß des Erschreckens über ein Unglück eine bestimmte, letztlich undefinierbare Grenze, dann ist von einer Jahrhundertkatastrophe die Rede. Von einem Jahrhunderterdbeben, einem Jahrhunderthochwasser, einer Jahrhundertdürre oder von einer ebensolchen Hungersnot, Grippe, Seuche, Feuersbrunst oder Flut; unheilvolle Dramen, deren historischer Stellenwert nur Jahre später im Schatten der nächsten Jahrhunderttragödie verblasst. Und doch, für mich gab es ein Ereignis, das diese Bezeichnung wirklich verdiente: der Jahrhundertwinter zur Jahreswende 1978/79.

An dem Tag, an dem ich mit einem Omnibus und einer Gruppe freigekaufter politischer Häftlinge quer durch die Bundesrepublik fuhr, hatte der Fahrer den Verkehrsfunk im Radio eingeschaltet. Erstmals hörte ich Westnachrichten. Ungefiltert, im Original. Ich wunderte mich über die angenehme, warme Stimme des Sprechers, die ich nicht mit der hässlichen Fratze des Imperialismus zusammenbringen mochte, vor der in Der Sozialismus – Deine Welt auf jeder Seite gewarnt wurde. Auch in der Staatsbürgerkunde in Klasse acht auf der Polytechnischen und bei den Pionieren hatten wir gelernt, der kapitalistische Klassenfeind verberge seine aggressiven Absichten grundsätzlich hinter wohlklingenden Worten und geschminkten Gesichtern. In der veredelten Gesellschaftsform des Sozialismus hingegen war der Mensch dem Menschen kein Wolf mehr, sondern Bruder und Schwester, weshalb niemand zur Täuschung seiner Mitmenschen Kreide fressen musste, um seine Stimme zu verstellen.

Doch die Meldungen aus dem Radio waren keine Propagandalügen, die einen Sachverhalt verschleierten oder beschönigten. Ich hatte den Katastrophenwinter mit eigenen Augen gesehen. Es stimmte: In Deutschland war das Chaos ausgebrochen, wobei die Natur sich nicht an Mauern und Grenzen hielt. Die Schneestürme tobten im Osten ebenso wie im Westen. Mit einem Unterschied. Im Westen wurden die Toten gezählt, im Osten nicht. Vielleicht hätte ein anderer Junge damals losgeheult. Vor Schmerz, vor Verzweiflung und Wut. Aber ich spürte nichts. Und wenn mich jemand gefragt hätte, was mich so traurig stimmt, hätte ich geantwortet: »Gar nichts!« Weil gar nichts und alles dasselbe ist.

Der Sprecher meldete, in der Bundesrepublik habe der Winter bereits ein Dutzend Menschenleben gefordert, während in der Deutschen Demokratischen Republik, wie offiziell verlautet, keine Opfer zu beklagen seien. Bis auf einen Helfer, der auf Rügen im Blitzeis unglücklicherweise von einem sowjetischen Räumpanzer überrollt wurde.

»Nein, nein, nein«, hätte ein guter Bruder, ein besserer als ich, geschrien. Da waren noch mehr. Kessryn, meine zehnjährige Schwester! Und Ronny. Mein Bruder. Gerade erst sieben! Und ich? Ich war in Polen, als alles passierte. In den Winterferien. Wäre ich in der Neujahrsnacht zu Hause gewesen, bei Freya und meinen Geschwistern, bestimmt würden Ronny und Kessy noch leben. Dann würde ich nicht in diesem Bus sitzen, wäre nicht auf dem Weg zu meiner Tante Vera. Oder es hätte daheim auch mich erwischt. Glück hätte ich gehabt, meinte der Herr von der Jugendhilfe, verdammt großes Glück, in dieser grässlichen Nacht weit weg gewesen zu sein, hoch oben in den Bergen. Doch ich hatte kein Glück. Zu überleben und übrig zu bleiben, was soll das für ein Glück sein?

Vor zehn Tagen noch wusste ich, was Glück ist. Absolut sicher. Hundertprozentig. Und alle anderen wussten es auch. Gejubelt hatten wir, hatten uns in den Armen gelegen, vierzig Jungen. Da tobte die Hütte, als Artur Kretschmer in den Speisesaal trat und meinte, er habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Klar wollten wir alle zuerst die schlechte hören. Artur Kretschmer räusperte sich und erklärte, soeben habe die Betriebsparteileitung des VEB Chemopharm Leipzig im einvernehmlichen Zusammenschluss mit dem Rat des Bezirkes ein Telegramm an die befreundeten Genossen der Verwaltung in Zakopane geschickt, zur dringlichen Weiterleitung an ihn persönlich: »Als verantwortlicher Leiter des Betriebsferienlagers der volkseigenen Chemopharm habe ich mitzuteilen, dass in Teilen unserer deutschen demokratischen Heimat momentan aufgrund eines unvorhersehbaren Temperatursturzes äußerst widrige Witterungsbedingungen herrschen. Die Räumdienstbrigaden kämpfen derzeit unermüdlich gegen die Eis- und Schneemassen an. Auch die Freiwilligenkader der Partei sind in pausenlosen und selbstlosen Arbeitseinsätzen dabei, die Energie-, Verkehrs- und Versorgungslage zur vollsten Zufriedenheit der werktätigen Bevölkerung wieder zu gewährleisten. Selbstverständlich werden auch die Planrückstände bei der VEB Chemopharm Leipzig schon in den nächsten Wochen wieder aufgeholt.«

»Und die gute Nachricht?«, tönte es vielstimmig.

»Da ein sicherer Rücktransport zurzeit nicht zu einhundert Prozent gewährleistet werden kann, wurde mir angetragen, euch in Kenntnis zu setzen, dass sich unsere Heimreise um vorerst eine Woche verschieben wird.«

Das hieß, wir würden Silvester und den Beginn des neuen Jahres in der Volksrepublik Polen verbringen. In der Hohen Tatra im Ferienheim Gomulka in dem Wintersportort Zakopane.

Ich hatte mit der Chemopharm insofern zu tun, als mein Vater dort einst in der Forschung tätig war. Als Kind eines ehemaligen Mitarbeiters stand ich immer auf der Liste, wenn die Betriebsferienlager durchgeführt wurden. Außerdem hatte Vater mich schon als Knirps im werkseigenen Sportverein Dynamo angemeldet, wo ich als Stürmer in der Saison 1976/77 Vize bei den Torschützen war. Im letzten Jahr hatte meine Lust am Fußball jedoch merklich abgenommen. In unserer Jugendmannschaft kickten fast nur Kinder von Chemikern, Biologen und promovierten Ingenieuren. Wir waren trotzdem in Ordnung, keine Arschkriecher, aber weil einige von uns echte US-Levi’s trugen und nicht diese marmorierten Boxer-Jeans galten wir als unproletarisch. Die anderen Klubs sahen in uns Bonzensöhne, weshalb sie für sich das Recht reklamierten, uns die Knochen zu polieren, sodass ich montags regelmäßig humpelte, wenn ich zur Schule ging. Kessryn übrigens, die bei Dynamo Ballettstunden nahm, hatte mit ihren Kameradinnen nie Schwierigkeiten.

Ich hatte schon an einigen Sommerferienlagern teilgenommen, zuerst als Jung-, dann als Thälmannpionier. Die Ferienlager waren das Beste, an das ich mich erinnere. Nun ja, das Spalierstehen, das Fahnehissen, blaues Hemd, rotes Halstuch, die Vollzähligkeitsappelle, die Kopflauskontrollen, die Tischsprüche zu den Mahlzeiten, das ewige Hoch auf Partei, Vaterland, Werktätige und Internationale Solidarität, das war halt der Preis, den wir zu bezahlten hatten. Aber wir sahen ihn als akzeptabel an, für den unendlichen Spaß miteinander. Für die Gemeinschaft nahmen wir in Kauf, dass Parteisoldaten, Kommissköpfe und sonstige Betonbirnen stocksteife Reden hielten und wir anschließend Makkaroni mit Tomatensoße und gebratener Fleischwurst essen und Club-Cola trinken mussten. Obwohl, wirklich zum Grausen war eigentlich nur der Lagerleiter, der Meister des hölzernen Wortes und der gedrechselten Rede: Artur Kretschmer, kurz Kretsche genannt. Wenn irgendwo ein Orden zu verleihen, ein Lob zu hudeln oder eine Plansollübererfüllung zu beklatschen war, wenn alles von allen zigmal gesagt worden war und die Zuhörer dösend zur Seite wegsackten, dann griff Kretsche zum Mikrofon. Auch er war im VEB Chemopharm beschäftigt, aber nicht in den Entwicklungs- und Produktionsabteilungen. Die Betriebsführung hatte ihn als Leiter im Jugendbereich von Dynamo eingesetzt. In dieser Position organisierte er auch die sommerlichen Pionierlager an der Ostsee. Im Winter ging es für die älteren Jugendlichen ins sozialistische Bruderland nach Polen. Im November fragte er mich: »Maik, wann wirst du eigentlich vierzehn?« Nächstes Jahr, im Februar, hatte ich geantwortet und befürchtet, Kretsche würde mich wieder mit Rotlicht bestrahlen und mich zuquatschen wegen des Beitritts zur FDJ. Aber Kretsche meinte nur: »Im Februar schon? Da dürfen wir ruhig mal ein Auge zudrücken. Junge, du bist dabei. Über Weihnachten, in Zakopane.«

Am Heiligen Abend hatte mich Freya frühmorgens mit meinem Koffer zum Platz der Volkssolidarität am Hauptbahnhof gebracht, wo zwei Betriebsbusse auf uns warteten. Schon am Abend würden wir in den Bergen sein! Das war wahres Glück. Im Gegensatz zur Weihnacht im Jahr zuvor. Das Fest war der blanke Horror gewesen. Ronny hatte schon Tage vorher gequengelt, er wolle auch einen grünen Tannenbaum mit Kerzen und Lametta, wie in richtigen Familien. Weil er sich nicht beruhigte, war Freya am Vierundzwanzigsten noch mit ihrem Lada in die Stadt gefahren, um für Ronny eine Tanne zu besorgen. Und wir? Wir warteten und warteten. Ich vermutete, dass Freya noch bei einem ihrer Witwentröster gelandet war. Jedenfalls stolperte sie erst abends wieder herein, mächtig angeschickert, tatsächlich mit einem mickrigen Bäumchen unterm Arm und einer bunten Lichterkette. Aber die Stimmung war komplett im Eimer, und Freya nickte gleich auf dem Sofa ein. Ich hatte ihr noch das lila Halstuch, das ich für sie zum Fest gekauft hatte, umgewickelt, weil ich nicht wollte, dass Kessy die ganze Zeit auf die violetten Knutschflecken starrt.

Halbwegs gerettet hatte uns damals das Weihnachtspaket meiner Tante, obwohl wir es schon eine Woche zuvor geöffnet hatten. Tante Vera lebte im Westen. In Heidelberg. Zweimal im Jahr schickte sie ein Päckchen, adressiert an Frau Freya Blech. Die Adresse fiel auf, weil sonst nie der Mädchenname unserer Mutter auf der Post stand. Sie trug wie wir Kinder den Namen Kleine, den Familiennamen unseres Vaters. Tante Veras erstes Paket brachte der Postbote im Frühling zu Ostern. Ein Fest, das wir nie feierten. Ich war zwar, anders als Kessryn und Ronny, noch getauft worden, aber wie Freya katholisch nur auf dem Papier. Freya hatte uns erklärt, Ostern sei erfunden worden, damit die heulenden Frauen am Grab vom Jesus sich nicht vor einen Zug werfen. Das war ihr Standardspruch in Sachen Christentum und Religion. Sie wartete immer darauf, dass Gläubige ihr entgegneten, zu Zeiten Jesu habe es noch keine Eisenbahn gegeben, um dann kühl zu kontern: »Ach nein? Aber die Auferstehung von den Toten schon!« Die Hoffnung auf ein späteres Leben im Jenseits, meinte Freya, tauge nur für Gemüter wie das ihrer Zwillingsschwester. Vera war wenige Minuten nach Freya zur Welt gekommen. Die äußere Ähnlichkeit der eineiigen Zwillinge war unübersehbar, soweit das nach den Fotografien zu beurteilen war, die wir von Vera besaßen. Ansonsten gab es zwischen den Schwestern keine Gemeinsamkeiten. Vera war meine Patentante. Mit zwölf hatte ich meine Mutter gefragt, weshalb ihre Schwester nicht in Leipzig lebe, sondern im Westen. Freya hatte mir erklärt, die Sache sei einigermaßen kompliziert, zu vertrackt für einen Jungen in meinem Alter, doch sie hatte mir versprochen, mir die ganze Geschichte eines Tages zu erzählen. So wusste ich nur: Meine Tante Vera Blech war unverheiratet, glaubte offensichtlich an einen Gott und arbeitete in Heidelberg in einem berühmten historischen Museum, irgendwas mit Medizin und altem Apothekenkram. Freya hatte uns drei Kinder zu versorgen, nahm es mit den Männern nicht unbedingt überkorrekt und war bekennende Atheistin. Wer allen Ernstes glaube, ein König mit Dornenkrone, an ein Kreuz genagelt und mit einer Lanze zwischen den Rippen, steige nach drei Tagen zum Himmel auf, um rechts neben dem Thron seines Vater zu sitzen, der gehörte für Mutter zu den Irren in die Anstalt von Dösen oder in die Waldenburger Klapse.

Brauchbarer als das Osterpaket war das Paket im Dezember. Freya bekam von ihrer Schwester feinen Jacobs-Krönung-Kaffee, Für-Sie-Seidenstümpfe und Kosmetik, bei der allein die Verpackung ein Vermögen gekostet haben dürfte. Für uns Kinder gab es Süßzeug mit drei Toblerone, die ich alle gleich für mich reservierte, während Ronny alle Smarties einheimste. Klasse Klamotten gab es auch. Mir schenkte meine Patentante zu Weihnachten immer eine Original 501, mit der ich allerdings in der Schule keinen Staat machen konnte. Tante Vera kriegte anscheinend nicht mit, dass ich hin und wieder ein Stück wuchs, obwohl ich ihr zum Neuen Jahr immer einen Brief und ein Foto von mir und den Geschwistern schickte. Mir waren die Jeans immer zwei Nummern zu klein. Für Ronny waren sie zu groß. Und Kessy trug nur Kleider. In dem Paket zur Weihnacht siebenundsiebzig steckte neben einem Rauschgoldengel, den Kessy über ihr Bett hängte, auch ein Bastelset, das Freya gleich entsorgt hatte und das ich zum Glück heil wieder aus der Mülltonne fischte: eine Krippe aus Pappmaschee zum Aufbauen mit Figuren aus Glanzpapier zum Ausschneiden, mit Stall, Ochs und Esel, Schafen und Hirten und mit Jesus und seinen Eltern. Ein paar Kamele waren auch dabei, außerdem Könige, die niederknieten und Geschenke brachten. Kessy und Ronny haben den halben Heiligen Abend geklebt und gebastelt. Dann wurde mein Bruder wieder quengelig und hat die Krippe kaputt getrampelt. Seine Schwester langte ihm deftig eine, danach war das Geheul groß und zu essen gab es auch nichts Anständiges. Ich hatte noch Zwiebäcke in Milch eingestippt und mit Rührei und Zucker eine Pfanne voll Blinde Fische gebacken, aber als ich sie servieren wollte, waren meine Geschwister schon eingeschlafen.

In Zakopane war ich der Jüngste, aber trotzdem voll dabei. Bei unserer Ankunft am Weihnachtsabend wollte sich eine gemütliche Winterlaune zuerst nicht einstellen. Das Thermometer zeigte zwölf Grad an, und wir waren enttäuscht, weil es regnete. Doch in den nächsten Nächten sank die Temperatur, und es fiel so viel Schnee, dass wir tagsüber nicht von den Skibrettern herunterkamen. Dass die Schlepplifte ruckelten und manchmal komplett stillstanden, störte uns nicht die Bohne. Auch nicht, dass die Duschen nach fünf Minuten nur noch tröpfelten. Aber dass bei fast allen Toiletten die Spülung hakte und man sein Geschäft morgens mit Wasser aus dem Eimer entsorgen musste, war bei vierzig Jungen und einem halben Dutzend Betreuern schon nervig. Als der FDJler Maximilian tönte, der Pole kriege es zivilisatorisch nicht gebacken, musste er sich von Artur Kretschmer belehren lassen. Dass der sozialistische Nachbar dem Weltniveau der Deutschen Demokratischen Republik noch hinterherhinke, sei im Prozess der Entfaltung der Produktivkräfte nicht verwunderlich, weil der Pole in der revolutionären Geschichte der Arbeiterklasse nun mal keine Visionäre wie Karl Marx und Friedrich Engels hervorgebracht habe.

Um uns von der Überlegenheit des sozialistischen Menschen nicht nur auf intellektuellem Terrain, sondern auch auf dem Feld der Körperbeherrschung zu überzeugen, wanderten wir mit unserem Lagerleiter vor Silvester zur großen Skisprungschanze von Zakopane, ein furchteinflößendes Monstrum, zu dem alle ehrfürchtig aufschauten und das uns mächtigen Respekt abnötigte.

»Hier siegte ein Vorbild. Hier strahlte eine Lichtgestalt der Sportgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik«, sagte Kretsche. »Sein Name, er lautet …?« Artur Kretschmer blickte fragend in die Runde, ohne eine Antwort zu erhalten.

»Ich sage nur, neunzehnzweiundsechzig, Goldmedaille bei den Nordischen Skiweltmeisterschaften.«

»Neunzehnzweiundsechzig«, erwiderte Uwe Hauswald, »an diesem prähistorischen Termin war selbst der Gedanke an meine Zeugung noch nicht gezeugt. Was erklärt, weshalb ich in diesem Kreis der Kleinste bin.«

Alle lachten, außer Kretsche, der Uwes Einwand offenbar nicht verstanden hatte: »Ich sage nur, Gold bei Olympia, in Squaw Valley, neunzehnsechzig! Sieger der Vierschanzentournee. Dreimal! Achtundfünfzig, neunundfünfzig, einundsechzig! Wer war’s?«

»Ein Held. Womöglich ein Skispringer?«, meinte Uwe, der seine fehlende Körpergröße stets mit einem Überschuss an Frechheit ausglich.

»Ich sage nur: Recknagel Helmut, ausgezeichnet mit dem vaterländischen Verdienstorden der DDR! In Gold!« Als der Name des Sportlers nicht die erhoffte Reaktion hervorrief, fragte Artur Kretschmer flehend: »Was sind das für Zeiten? Habt ihr Jungs denn gar keine sportlichen Vorbilder mehr? Athleten, Turner, Fußballer?«

Wir schauten uns schulterzuckend an. Rudi Schottmann hob die Hand, brav wie ein Schuljunge. Rudi war schon achtzehn. Ich kannte ihn vom Sehen, weil er bei Dynamo in der A-Jugend spielte und Tricks mit dem Ball draufhatte, bei denen einem die Augen aus dem Kopf kullerten.

»Klar bringt unsere DDR Vorbilder hervor. Damals wie heute. Jürgen May, Leichtathlet; Kurt Kubicki, Radfahrer; Jürgen Pahl, Fußballer; Norbert Nachtweih, Fußballer! Noch mehr Namen gefällig? Andy Thomaschewski, ebenfalls …«

»Halt’s Maul«, bellte einer der älteren FDJler. »Bist du verrückt!«

Artur Kretschmers Halsadern schwollen an. Er glühte wie ein Hochofen und schnappte nach Luft. »Rudi, du? Das hätte ich nie von dir gedacht. Du, du paktierst mit dem Feind. Deine Ferien sind zu Ende. Du fährst morgen früh nach Hause.«

Rudis vorzeitige Rückreise wäre wegen der Wetterlage daheim sowieso kein ernsthaftes Thema gewesen, aber Kretsche hatte sich am Abend wieder beruhigt. Statt den Autoritären rauszuhängen, kehrte er seine fürsorgliche Seite hervor, die gewiss seinem Naturell entsprach, aber auch einer Portion Kalkül. Dass ein Kind oder ein Jugendlicher aus einem Ferienlager aus disziplinarischen Gründen vorzeitig zu seinen Eltern zurückgeschickt wurde, kam kaum vor. Ließ sich aus solch einer Maßregelung doch ableiten, die Lagerleitung sei im eigenen Haus nicht Herr der Lage. Nach dem Vesperbrot schlug Kretsche mit dem Löffel gegen sein Glas, und uns war klar, dass er nun wieder Wegweisendes zur historischen Mission der Arbeiterklasse zum Besten geben würde.

»Rudi« sagte er, »Rudi Schottmann, wir alle schätzen deinen Mut, deine Ehrlichkeit und deine aufrechte, wenn auch nicht immer weltanschaulich gefestigte Gesinnung. Aber diese Namen, die du heute erwähnt hast, an einem Ort, an dem unser aller Idol, der Skiflieger Helmut Recknagel, einst unserem Vaterland zur Ehre gereichte, diese Namen sind eine Provokation für jeden treuen Genossen. Ein Schlag ins Gesicht für jeden aufrechten Sozialisten. Diese Männer, nein, diese Drückeberger, diese Deserteure der gerechten Sache, haben für Ruhm und für Geld, jawohl für sehr viel Geld, ihr Vaterland im Stich gelassen. Dein Vaterland, Rudi. Und ich sage das zu euch allen hier: Euer und unser Land hat in die Zukunft dieser vaterlandslosen Gesellen investiert, in Schule, Ausbildung, Beruf, ja sie hat diese Männer freigestellt und unterstützt, um getragen von der Solidarität aller Werktätigen sportliche Höchstleistungen zu erzielen. Und ich sage euch im Vertrauen, weit mehr als jeder verdiente Politiker und jeder verdiente Funktionär ist der leistungswillige und leistungsfähige Sportler ein Botschafter unseres Landes: die Helden der Lüfte, die vor jedem Sprung von der Schanze ihre Angst überwinden; die Athletinnen und Athleten, die sich in den Turnhallen an Ringen und Reck, an Barren und Schwebebalken quälen, die auf der Tartanbahn Runde um Runde drehen und in den Schwimmhallen Bahn um Bahn ziehen, sie alle sind die wahren Repräsentanten sozialistischer Ideale. Nicht zu vergessen die Akrobaten und Artisten, die mit unserem Staatszirkus ihr sensationelles Programm in aller Welt präsentieren. Auch sie haben sich jederzeit als würdige Vertreter unserer Nation und der sozialistischen Idee erwiesen. Sie reisen durch die Welt! Und sie kehren zurück! Anders als diese sogenannten Sportsfreunde Nachtweih, Pahl und Kubicki und wie sie alle heißen. Was tun diese Verräter? Was machen sie! Ihr, die freie deutsche Jugend: Nennt das schändliche Tun dieser Leute niemals Republikflucht. Niemals! Aus unserer sozialistischen Heimat muss niemand flüchten. Es sei denn, um sich als Überläufer dem bürgerlichen Klassenfeind anzudienen. Rudi, denke über meine Worte nach. Komm zur Vernunft, und ich gebe dir meine Hand darauf, du bist in unserem Kreis hier jederzeit wieder willkommen.«

Kretsche ging auf Rudi Schottmann zu und streckte ihm die Rechte entgegen. »Alles klar, Artur«, sagte Rudi und schlug ein. Wir applaudierten und klopften mit den Knöcheln auf die Tische. Die Stimmung war gerettet. Dann wurde gesungen. Wie immer nach dem Abendessen.

Der Betreuer Karsten Turek, wegen seiner unmodischen Augengläser Don Brillo gerufen, zog seine »Weltmeister«-Mundharmonika hervor, und Artur Kretschmer legte los, wobei er, zuerst noch mit der flachen Hand, dann mit seiner Bierflasche, auf die Tischplatte klopfte und den Takt vorgab:

»Links, links, links, links! Die Trommeln werden gerührt. Links, links, links, links! Die Arbeiterklasse marschiert.«

Es folgte nach gleichem Ritual Bertold Brechts Aufbaulied, die Hymne der Freien Deutschen Jugend: »»Besser als gerührt sein ist sich rühren«. Dann das Lied der Partei, der wir für alles dankten, für was man sich bedanken kann. Anschließend weiterer Dank an die Sowjetsoldaten, die uns überhaupt erst ermöglicht hatten, der Partei danken zu können.

»Die Welt von Licht überflutet, wir wussten es immer schon: Für aller Glück hat geblutetdas Herz der Sowjetunion.«

Wenn Don Brillo die Mundharmonika zur Seite legte und sich sein mächtiges Akkordeon umschnallte, war Der kleine Trompeter angesagt. Bei dem Grabgesang auf »das lustige Rotgardistenblut«, das bei seinem fröhlichen Spiel, getroffen von feindlicher Kugel, im Freiheitskampf sein Leben ließ, wurden nicht nur Artur Kretschmers Augen feucht. Freilich nicht, um im Tal der Tränen zu ertrinken, sondern um wiederaufzuerstehen. Wehrhaft und aufrecht. Zum Kampfe fest entschlossen folgten wir der roten Fahne, und der musikalische Teil des Abends steigerte sich zu einem vorläufigen Höhepunkt. Wenn wir am Ende mit geballter Faust und breiter Brust «Avanti popolo, alla riscossa, bandiera rossa trionferà« schmetterten, gab es für mich mit meinen fast vierzehn Jahren keinen Grund daran zu zweifeln, dass die rote Fahne triumphieren würde. Wenn sie nicht längst schon gesiegt hatte.

Trotzdem gingen den meisten Kretsches ewige Hochrufe auf Revolution, Arbeiterklasse und internationale Solidarität irgendwann auf den Wecker. Uwe Hauswald, um einen flotten Spruch nie verlegen, meinte, um den Lagerleiter abends vorzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, sei die Erinnerung an die Frage aller Fragen des großen Lenin hilfreich: »Was tun?«

Den älteren, die schon Alkohol trinken durften, war aufgefallen, dass Artur Kretschmer sich mit der Begründung »Wahre Wärme wärmt von Innen« schon tagsüber beim Skifahren einen Schluck aus seinem Flachmann genehmigte. Vor dem Abendbrot verzog er sich in sein Zimmer, vorgeblich, um sich Notizen zu den Geschehnissen des Tages zu machen. Wenn er in den Klubraum zurückkehrte, hatte er glasige Augen und schien uns, wie wir frotzelten, bereits mittelschwer angedüst. Also wurde Kretsches Trinkerei genutzt, um ihn früh in die Federn zu manövrieren. Wenn Kretsche sein Bier aus der Flasche trank, sorgten die Jungen vom Küchendienst gleichzeitig dafür, dass sein Schnapsglas immer gefüllt war. Mit polnischem Wodka. »Gut«, sagte er nach jedem Schluck. »Na zdrowie. Auf den Polen! Glaubt mir, auf den Polacken, da lasse ich nichts kommen.« Wenn Lagerleiter Kretsche schließlich rülpste und tönte, bei aller Kaderdisziplin müsse man auch mal fünfe gerade sein lassen, gaben wir ihm noch eine halbe Stunde. Maximal. Spätestens um neun, halb zehn verzog sich Artur Kretschmer. Bemüht, nicht zu torkeln, presste er sich ein »Freundschaft, Leute, Freundschaft für alle« ab und fiel ins Bett.

Dann griff Uwe Hauswald zur Gitarre, und die Post ging ab. Uwe war zwei Jahre älter als ich und tatsächlich so kurz wie sein Vorname. Aber er kriegte die Stones hin, Satisfaction und Jumping Jack Flash. Das ruhige Angie zupfte er auf der Klampfe begnadet lässig herunter, außerdem sang er ganz passabel. »Eyn-dschä, ey-hin-dschä, wenn will siss Klauds ohl diss-äh-pie-hi-hir, yäah.« Oder so ähnlich. Man musste bei dem Lied angestrengt das Gesicht verzerren und die Töne wie unter Folter herausquetschen, dann klang es gut. Wenn Uwe Stücke von Rockbands brachte, die keiner kannte, wurde Led Zeppelin gefordert. Oder Deep Purple. Der brachiale Hammer! Smoke on the water. Niemand bekam den Text auf die Reihe, und Uwe schrammelte das Intro in G-Dur bis zum Abwinken: G-B-C, g-b-d-c, g-b-c, B-G, »Dam dam da, dam dam dada«. In Zakopane war Smoke absolut angesagt, nur hatten die Musikexperten unter meinen neuen Mitschülern nachher, im Kollegium Sankt Ignatius im Westen, nicht unrecht, wenn sie abwinkten, die Nummer sei der abgenudeltste Rocksong seit der Erfindung des elektrischen Stroms.

Ein Lied indes war im Klubraum des Gomulka der Oberhammer. Es wurde im Jahr achtundsiebzig ständig im Radio gespielt und stellte selbst die Stones in den Schatten. Wenigsten in der DDR. Bei uns war das Lied Sieben Brücken