Wenn Gott verschwindet, verschwindet der Mensch - Rolf Bauerdick - E-Book

Wenn Gott verschwindet, verschwindet der Mensch E-Book

Rolf Bauerdick

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Beschreibung

Was der Glaube an Gott heute bedeutet

Kein Himmel, keine Hölle, kein Gott! Nicht nur John Lennon erträumte eine friedliche Welt ohne Religion. Immer mehr Menschen scheint die Abkehr vom Glauben das Heilmittel gegen Kriege, Unrecht und Gewalt, gegen Fanatismus, Unmündigkeit und kirchliche Bevormundung.

Der Katholik und Weltreisende Rolf Bauerdick folgt den Wegen und Irrwegen des Christentums der Gegenwart nicht als distanzierter Beobachter. Er zeigt, was es heißt, wenn der Mensch die spirituelle Dimension seines Daseins verliert. In einer Zeit, in der die alten Gottesbilder verschwinden und der Mensch selbst zum Maß aller Dinge wird, wirbt Bauerdick für einen selbstbewussten Glauben, der Tradition und Freiheit versöhnt. Dieser Glaube lebt vom steten Wachhalten des Fragens und verlässt sich nicht auf ewig gültige Antworten. Rolf Bauerdicks Buch ist eine äußere und innere Reise auf den Spuren einer der zentralen Fragen des Menschseins.

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Seitenzahl: 460

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Zum Buch

Imagine – kein Himmel, keine Hölle, kein Gott! Nicht nur John Lennon erträumte eine friedliche Welt ohne Religion. Immer mehr Menschen scheint die Abkehr vom Glauben das Heilmittel gegen Fanatismus, Gewalt und Krieg, Unmündigkeit und kirchliche Bevormundung.

Der Katholik und Weltreisende Rolf Bauerdick zeigt jedoch, was es heißt, wenn der Mensch die spirituelle Dimension seines Daseins verliert. In einer Zeit, in der die alten Gottesbilder verschwinden und der Mensch selbst zum Maß aller Dinge wird, wirbt er für einen selbstbewussten Glauben, der Tradition und Freiheit versöhnt. Dieser Glaube verlässt sich nicht auf ewig gültige Antworten. Er lebt vom steten Wachhalten des Fragens.

Zum Autor

Rolf Bauerdick, Jahrgang 1957, lebt im Münsterland. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theologie wurde er Journalist. Er hat Reportagereisen in rund sechzig Länder unternommen; seine Text- und Bildreportagen erscheinen in europäischen Tageszeitungen und Magazinen wie Stern, Brigitte, Spiegel, GEO, Playboy und wurden vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Natali-Award (für Menschenrechtsjournalismus) der Europäischen Union und beim Hansel-Mieth-Preis. Wie die Madonna auf den Mond kam, sein viel beachtetes Debüt, erschien 2009, wurde in zwölf Sprachen übersetzt und 2012 mit dem Europäischen Buchpreis in der Kategorie »Roman« ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm die Reportage Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk (2013) und der Roman Pakete an Frau Blech (2015).

Rolf Bauerdick

Wenn Gott verschwindet,

verschwindet der Mensch

Eine Verteidigung des Glaubens

Deutsche Verlags-Anstalt

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1. Auflage

Copyright © 2016 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: © Johan Doumont/plainpicture

Typografie und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Berling Nova

ISBN 978-3-641-10136-7V002

www.dva.de

»Ich weiß nicht, was zuerst verschwinden wird – der Rock ’n’ Roll oder das Christentum.«

John Lennon

»Wir sind immer noch unterwegs, aber wir wissen nicht mehr wohin.«

Zygmunt Baumann

Meinen Lehrerinnen und Lehrern

Inhalt

Vorwort

I – Wenn die Worte leer werden

II – Die Geschichte von Padre Roberto, der im Müll den Weg ins Leben fand

III – Die Suche nach dem großen Schatz

IV – In den Appalachen auf den Spuren des Heiligen Geistes

V – Schlachten an der Glaubensfront

VI – Kein Himmel, keine Hölle, kein Gott

VII – Wenn die Sünde selig macht

VIII – Erinnern, Vergessen, Bekennen

IX – Die Wurzel des Bösen

X – Wie liest du? Wo stehst du? Wie lebst du?

XI – Das Lächeln der weißen Dame

XII – Pilger auf dem Königsweg

Ausgewählte Literatur

Vorwort

Der Hase und der Igel und die Angst, niemals anzukommen

Beginnen wir mit einem Wettlauf, der tödlich endet. Zumindest für einen der Rivalen. Unter der Nummer 187 fand das Rennen Eingang in die Märchensammlung der Gebrüder Grimm und nahm von dort den Weg in die Theologiegeschichte des späten 20. Jahrhunderts. In dem Märchen von Hase und Igel treffen zwei gegensätzliche Charaktere aufeinander, die sich idealtypisch ergänzen. Der Igel, von dem Hasen wegen seiner krummen Stummelbeine verspottet, verkörpert die Pfiffigkeit der im echten Wortsinn Zukurzgekommenen. Der flinke Hase hingegen repräsentiert die Blindheit selbstgefälligen Hochmuts. Aus trügerischer Überlegenheit nimmt er die Herausforderung des Igels an, sich auf einem Feld beim Lauf durch die Ackerfurchen zu messen. Den Gewinn des Wetteinsatzes, eine goldene Münze und eine Flasche Branntwein, wähnt der Hase sicher. Doch der Igel greift zu einem Trick. Heimlich postiert er seine Frau, die ihm zum Verwechseln ähnelt, am Ende des Ackers, während er selbst am Start ausharrt. Als der Hase dem Ziel entgegeneilt, ruft die Igelfrau: »Ich bin schon hier!« Der brüskierte Verlierer fordert ein neues Rennen. Nur wartet am anderen Ende der Strecke der Igelgatte bereits als allgegenwärtiger Sieger. Wie bekannt erweist sich der Hase als hartnäckig. Erst beim vierundsiebzigsten Rennen bricht er nach einem Blutsturz tot zusammen.

Gemeinhin gehört die Sympathie der Märchenleser dem listigen Igel. Der katholische Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz indes liest die Erzählung gegen den Strich. Er ergreift Partei für den Hasen. Metz bedient sich des Märchens, um seine Idee eines Glaubens darzulegen, der sich kritisch in die Konflikte in Geschichte und Gesellschaft einmischt. Hase und Igel symbolisieren für Metz zwei gegensätzliche Modelle christlicher Identitätsbildung: Der Hase rennt und rackert sich ab. Er geht das Risiko ein, zu stürzen, zu scheitern und auf der Strecke zu bleiben. Der Igel steht für die sichere und bequeme Variante. Ohne sich einem Wettlauf auszusetzen, hat er sein Ziel immer schon erreicht.

Dem doppelten Igel entspricht die Vorstellung von einem Gott, der vor, nach und jenseits aller Zeit existiert. Welche Höhen und Tiefen der Mensch auch durchläuft, Gott ist bereits da. Über der Geschichte waltend und sich selbst immer gleich bleibend ist er Schöpfer und Erlöser, Ursprung und Ziel. Der Glaube an ihn verleiht vermeintliche Sicherheit, erkauft um den Preis eines Selbstbetrugs. Der »Igel-Trick« erzeuge die Illusion, so Metz, »die Straße der Geschichte fest im Blick« zu haben. Warum sollte der Gläubige, der Anfang und Ende der Geschichte überschaut, sich noch auf den Weg machen? Warum sich auf das Wagnis des Lebens einlassen?

Hase oder Igel? Wem auch immer die Sympathie gelten mag, als Allegorie für den Gottesglauben taugt das Märchen im 21. Jahrhundert nur noch bedingt. Der Wettlauf setzt das Fundament eines kollektiven Selbstverständnisses voraus, von dem nur noch Fragmente geblieben sind. Der Acker, auf dem der Hase und der Igel wetteiferten, war das Feld des homo religiosus. Auf dessen Terrain wird nicht darum gerungen, dass geglaubt wird, sondern wie. Dieses Feld liegt heute nicht bloß brach. Es scheint unfruchtbar geworden und vertrocknet. Womöglich auch überdüngt, mit einer inflationären Rede von Gott, dessen Existenz zwar behauptet, aber nicht erfahren wird. Gott! Der Begriff ist entkernt, füllbar mit allzu menschlichen projektiven Zuschreibungen. Kein Attribut blieb Gott erspart, alle denkbaren Bilder wurden gedacht: der geoffenbarte Gott, der verborgene Gott, der verschwundene Gott, der schweigende Gott, der verheißene Gott. Er ist der lebendige, liebende, hörende, sehende, verstehende, der grausame und strafende, der allmächtige, der ohnmächtige, der entthronte, der stille oder der sterbende Gott. Für viele auch der kommende. Die einen beweisen seine Realität, führen zu ihm hin oder widmen ihm täglich fünf Mal fünf Minuten Zeit. Andere erklären ihn für tot oder vergleichen den Wahrscheinlichkeitsfaktor seiner Existenz, wie etwa der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins, mit dem Evidenzquotienten von Rotkäppchen, der Zahnfee oder den Mars umschwirrenden Teekannen. Manche geben um Gottes willen ihr Leben hin und gelten als Heilige, andere morden für ihn, halten ihn für den Größten und sich selbst für Märtyrer. Eine Bildungsministerin, die über eine Plagiatsaffäre stolperte und heute Botschafterin im Vatikanstaat ist, schrieb ein Buch Gott ist größer, als wir glauben. Mir wird bei solchen Aussagen schwindelig. Nicht weil sie falsch wären, sondern weil ihr Erkenntniswert so unendlich ist, dass er wieder gegen null geht.

Gottesbilder kommen und gehen. Ihr Verschwinden ist kein Anlass zur Beunruhigung. Die Religionsgeschichte quillt über von verloren gegangenen und entsorgten Bildern. Zu Beginn des dritten Jahrtausends jedoch geschieht etwas Verstörendes. Nicht weltweit, aber im christlichen Abendland. Nicht die Gottesbilder verschwinden, vielmehr der Rahmen, in dem sie einst hingen. Die aufklärerische Religionskritik erkannte diesen Rahmen, die Frage nach Gott, jederzeit an. Sie lehnte allerdings die Antworten ab. Die atheistischen Kritiker radierten die menschlichen Projektionen aus dem Rahmen heraus und stellten dann fest, dass er leer ist. Aber sie ließen den leeren Rahmen hängen. Der bekennende Atheismus steckt da in einer Zwickmühle; mit jedem Gott, den er demontiert und vom Thron stürzt, bleibt ein verwaister Königsstuhl übrig, der die Erinnerung an die Frage nach Gott lebendig hält. Nur sterben Fragen nicht, wenn alle Antworten als falsch entlarvt werden; sie sterben, wenn sie niemand mehr stellt. Wenn sie gleichgültig geworden sind. Der leere Rahmen forderte heraus, ihn immer wieder zu füllen, mit Zeichen, Symbolen und inneren Bildern – mit Wahrheit und Sinn, die über den Horizont des Projektiven hinausweisen. Wo der Rahmen zerfällt, hat die Sehnsucht zwar noch einen Ort, aber kein Ziel mehr.

»Imagine there’s no heaven!« Kein Himmel, keine Hölle, kein Gott! John Lennon erträumte eine friedliche Welt ohne Religion. Und er blieb mit seinem Traum nicht allein. Mit »Imagine« hat Lennon den Geist einer Epoche gleichermaßen geschaffen und gespiegelt. Sein hymnischer Abgesang auf die Religion verbucht ihren Untergang als Freiheitsgewinn. Ihre Verabschiedung scheint das Heilmittel gegen Glaubenskriege, gegen Unrecht und Gewalt, fundamentalistischen Irrsinn, Unmündigkeit, Verdummung und klerikale Bevormundung. Dem säkularisierten Subjekt ist der Glaube an Gott nicht bloß suspekt. Er ist ihm ein Wahn, der die Entfaltung des kreativen Menschheitspotentials blockiert. Doch ist es wirklich ein Sieg der Freiheit, wenn die Kirchen, wie Johann Baptist Metz so schmerzlich konstatierte, »wie entlaubte Bäume in unserer postmodernen Landschaft stehen«? Eröffnet eine Welt ohne Gott die Tür zu einer Zukunft, in der die Menschen zu wahrer Humanität erblühen, und befördert ein aggressiver, oft militanter Atheismus tatsächlich jene Souveränität, um derentwillen er den Gläubigen die Gottesidee austreiben will? Oder bewahrheitet sich zusehends das Trauma von Friedrich Nietzsches tollem Menschen, der nach dem Tod Gottes orientierungslos durch den sternenlosen Raum taumelt, wo ihn die kalte Nacht anhaucht?

Der Gläubige war immer eingebunden, oft auch gefangen, in einem horizontalen und vertikalen Koordinatensystem. Er lokalisierte sich zwischen Himmel und Erde, zwischen Heiligem und Profanem, und ging allzu häufig dabei verloren. Der säkulare Mensch tritt aus der Religionsgeschichte heraus. Mit der Abschaffung des Himmels im Achsenkreuz seiner Weltverortung wirft er das jüdisch-christliche Erbe des Alten und Neuen Testamentes ab: das Glaubenswissen um die untrennbare Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe. Da dem Atheisten Erstere ein Hirngespinst ist, zählt für ihn allein Letztere. »Liebe galt einst einem Horizont von Dingen, die über einem liegen, so wie ein Stern, an dem man sich orientiert«, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk. »Eine solche Spannung auf ein fernes, aber unendlich liebenswertes Objekt hin ist aus dem modernen Weltentwurf a priori ausgegliedert. In dem Moment, in dem man die Liebe vollständig aus zwischenmenschlichen Beziehungen erklärt, verschwindet ihre Vertikaldimension. Es fehlt die Schöpfung, es fehlt der Stern.«

Einst wurde dem Menschen zugetraut, die Krone der Schöpfung zu sein. Als Gottes Ebenbild, das der Allmächtige schuf, um im Geheimnis seiner Ewigkeit nicht in sich selbst gefangen zu sein. »Glauben, dass Gott existiert«, sagt der Religionsphilosoph Robert Spaemann, »heißt glauben, dass er nicht unsere Idee, sondern dass wir seine Idee sind.« Was auch immer der glaubensbefreite Zeitgenosse in seiner Liberalität zu tolerieren vermag, der Gedanke, als Idee eines Anderen zu existieren, zählt nicht dazu. Er ist nicht Geschöpf. Er ist Schöpfer. Er bedarf des Segens nicht mehr, mit dem der Gott der Genesis die ersten Menschen in die Welt entließ. Der säkulare Mensch macht sich selbst und erfindet sich selbst, ohne allerdings dem höchsten Anspruch an sich je zu genügen. Er ist ständig in Bewegung, rastlos, aber nicht mehr unermüdlich, vielmehr dauernd erschöpft. »Wir sind immer noch unterwegs«, sagt der polnisch-jüdische Sozialphilosoph Zygmunt Baumann, »aber wir wissen nicht mehr wohin.« Im 21. Jahrhundert, so scheint es, ist dem Hasen das Ziel abhandengekommen.

Sein Problem stellt sich nicht mehr. Kein Igel fordert den Hasen mehr heraus. Aus der Not seiner Ziellosigkeit haben wir eine Tugend gemacht, indem wir den Igeltrick abschafften und stattdessen den »Hasentrick« etablierten. Wir haben den Weg zum Ziel erklärt. Seitdem hoppelt der Hase allein über den Acker. Er mümmelt mal hier, mal dort. Mal springt er in diese, mal in jene Furche, die ihm Optionen sind, aber keine Wege, von denen er wüsste, wo sie herkommen und wo sie hinführen. Manchmal hält er inne. Wenn er begreift, dass seine Freiheit mit der Ausweitung seiner Wahlmöglichkeiten nicht mitwächst, gönnt er sich, wie man zu sagen pflegt, eine Auszeit. Dann rennt er wieder los, im Wettlauf gegen sich selbst, begleitet insgeheim von der Angst, auf dem Weg zu sein und niemals anzukommen.

»Wohin geht die Reise?« So fragt der große Glaubenslehrer Karl Rahner in einem heute kaum mehr gelesenen Text, den der Theologe Mitte des letzten Jahrhunderts verfasste und dessen beseelte Sprache heute fremd anmutet. Rahner reflektiert darin die Sehnsucht des Herzens »nach der Freiheit des inneren Menschen«. Der Jesuit versteht die Lebensreise als Suche. Der Mensch ist ihm der Heimatlose, der Getriebene, der Wanderer. Kurz: der Pilger. Dessen biblisches Urbild findet Rahner in den drei Magiern, von denen das Matthäusevangelium erzählt, dass sie aus dem Osten kamen, um den neugeborenen König der Juden zu finden. Sie waren, so Rahner, bei der »Reise ihres Herzens« ihrem Stern gefolgt, nicht ahnend, dass er sie zu einem Stall in Bethlehem führen sollte. Sie waren unterwegs als Könige, um einem anderen König in einer Krippe die Ehre zu erweisen.

Ich nehme an, dass die Weisen aus dem Orient das Grimmsche Märchen Nummer 187 nicht verstanden hätten. Den Hasen nicht, den sein Ehrgeiz gewinnen zu müssen, in den Tod treibt; und schon gar nicht den Igel, der seine Cleverness zelebriert und immer schon angekommen ist, ohne das Wagnis des Unterwegsseins auf sich zu nehmen. Der Pilger indes weiß um die Mühsamkeit seines Weges. Und er weiß um sein Ziel, das fern ist und sich immer wieder entzieht. Im Grunde bestand das Theologenleben des 1984 achtzigjährig verstorbenen Karl Rahner darin, sich diesem Ziel in immer neuen Versuchen auch begrifflich anzunähern. Rahner sprach vom »unbegreiflichen Grund aller Wirklichkeit«, vom »namenlosen Jenseits« oder vom »unendlichen Rätsel, das alle anderen Rätsel in sich birgt«. Nie zweifelte er daran: Das Ziel der Pilgerschaft heißt »Gott«.

Die Selbstverständlichkeit, mit der frühere Generationen von Gott sprachen, ist verschwunden. Die Selbstgerechtigkeit, mit der religiöse Fundamentalisten dies heute noch tun, ist naiv und anmaßend. Kein Weg führt zurück in angeblich glaubensfestere Zeiten. Man mag dem nachtrauern, mag eine geistliche Orientierungslosigkeit bejammern und den Autoritätsverlust der Kirchen beklagen. Aber die Entkoppelung von tradierten Gewissheiten des Glaubens kann auch ein Gewinn sein. Unsere Freiheit hat uns erlaubt, uns von Gott zu verabschieden. Aber nie waren wir freier, in der Erfahrung des Verlustes nach Gott zu fragen. Nicht mehr und nicht weniger beanspruchen die zwölf Kapitel dieses Buches. Es kann und will keine theologischen Spekulationen anstellen und erst recht kein spiritueller Ratgeber sein. Es lebt, so hoffe ich, vom Wachhalten der Frage. Karl Rahner war sich sicher: Wo die Frage nach Gott stirbt, dort stirbt auch der Mensch:

»Wenn das Wort Gott verschwunden ist, spurlos und ohne Erinnerungsrest, dann hätte der Mensch das Ganze und seinen Grund vergessen, und zugleich vergessen – wenn man das noch so sagen könnte – dass er vergessen hat. Was wäre dann? Wir können nur sagen: Er würde aufhören, ein Mensch zu sein. Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier.«

I

Wenn die Worte leer werden

»Wir sollten uns nur den Dingen widmen, die bei einem Zusammenbruch unversehrt bleiben würden.«

Nicolás Gómez Dávila

In einem Moment von Entschlossenheit, als es mich drängte, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, ging ich in einen Büromarkt und kaufte mir einen Aktenvernichter mit der unsentimentalen Typenbezeichnung HSM80.2 Compact. Dann machte ich mich daran, Berge von Papierkram zu entsorgen. Hinfällige Mahnungen, Kontoauszüge aus D-Mark-Zeiten und vergilbte Quittungen wanderten ebenso in den Reißwolf wie die Weihnachtsgrüße und Geburtstagswünsche wohlgesinnter Redaktionen. Auf Knopfdruck zerhäckselte das Schneidwerk private und geschäftliche Altlasten: Konzepte für journalistische Reportagen, die nie geschrieben wurden; Entwürfe für Verträge, die nie zustande kamen; und Schreiben, in denen nach einer höflichen Anrede im ersten Satz das unselige Wort »leider« auftauchte. In den Absagebriefen erklärten Redakteure, weshalb sie diese oder jene Fotogeschichte aus diesem oder jenem Land zu diesem oder jenem Thema nicht abdrucken konnten oder wollten.

Als der Schredder meine gesammelten Absagen fraß, überkam mich ein Anflug von Wehmut. Rückblickend erschienen mir die Briefe gestandener Publizisten nicht mehr als Zeugnisse von Ablehnung, sondern wie rare Relikte einer verlorenen Zeit. Dokumente von Klarheit, Offenheit und Verbindlichkeit. Von Wertschätzung gar. Für Menschen, die man nicht achtete, verfasste man keine ausgiebigen Begründungen mit individueller Handschrift. Heute greift man, wenn man überhaupt noch antwortet, zu Musterbriefen und Textbausteinen, die als elektronische Mitteilungen verschickt werden. Mit ihrer kalkulierten Freundlichkeit erwecken sie den Eindruck, persönlich gemeint zu sein. Der Vorteil solcher Mails liegt darin, dass man für sie keinen HSM Compact braucht. Man klickt auf die Delete-Taste.

Trotzdem: Abschlägige Bescheide, ob plausibel begründet oder auch nicht, sind ein Ärgernis. Mal mehr, mal weniger deprimierend. Absagen vernichten. Sie zerstören investierte Arbeit, sie enttäuschen Hoffnungen, sie lassen Träume sterben und das Bankkonto ins Dunkelrote abrutschen. Absagen demontieren Illusionen, sie ernüchtern und entblößen. Sie sind nichts als nackte Realität, und als solche liefern sie die Rechtfertigung zu klagen und zu stöhnen. Weil aber der notorische Nörgler eine erbärmliche Figur abgibt, wünsche ich bisweilen, ich wäre Zen-Buddhist. Als solcher würde ich Absagen aus einer in mir selbst ruhenden Mitte annehmen, könnte Ablehnungen aus freier Bindungslosigkeit heraus bejahen und sie als Möglichkeit für persönliches Wachstum nutzen. Vielleicht spränge bei all der Gelassenheit sogar noch ein unaufgeregt gewogener Blick auf die Mitmenschen heraus. Das wäre wahrhaft souverän.

Aber ich bin kein Buddhist. Und ich werde auch keiner mehr, obschon ich vor einigen Jahren aus dem nordindischen Dharamsala, dem Exilsitz des tibetischen Dalai Lama, einen Zwölf-Kilo-Messingbuddha mit nach Hause schleppte. Ihm sollen mächtige kurative Kräfte innewohnen. Das jedenfalls versprach mir der Verkäufer, ein Tee ausschenkender, überfreundlicher und sehr, sehr schlitzohriger Kashmiri.

»Buddha very, very healing power. You buy. You very, very lucky man«, sagte er, und ich fand bis auf die dreiste pekuniäre Forderung keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Zumal mir der Buddha gefiel. Den auf die Hälfte heruntergehandelten, indes noch immer üppigen Preis begründete er mit der Versicherung, der Buddha sei »very, very old« und habe seine heilende Potenz quasi über Jahrhunderte potenziert. Später erst sah ich im nepalesischen Kathmandu in einem Hinterhof unweit der Souvenirmeile um den Königspalast Hanuman Dhoka halbwüchsige Jungen in der Sonne sitzen. Vor ihnen stand eine Batterie fabrikneuer Blechbuddhas. Mit dicken Brenngläsern brachten die Burschen das Metall zum Glühen und brannten den Figuren unter Mitwirkung von Altöl dunkle Flecken ein. Es war schon erstaunlich, wie der Ramsch optisch zur Antiquität mutierte. Jedenfalls schauten die Buddhas nach der Behandlung aus, als hätten Archäologen sie in verborgenen Tempeln dem Staub des Vergessens entrissen, um sie als Träger spiritueller Energien an Trekkingtouristen in Outdoor-Outfits zu verscherbeln.

Mein Buddha ist selbstverständlich echt. Gewichtig thront er auf einem hölzernen Sockel vor einem Fenster zum Garten. Sein rechter Daumen und Zeigefinger formen das Rad der Lehre, während die drei übrigen Finger nach oben deuten. Ich habe mir erzählen lassen, seine Handstellung symbolisiere einen nach allerhöchster Erkenntnis strebenden Bodhisattva. Den Bodhisattvas wird nachgesagt, sie benützten ihre Einsichten nicht um der eigenen Erleuchtung willen, sondern um sich in den Dienst der Unwissenden zu stellen. So wäre ich auch gern. Einsichtig, wissend, selbstlos. Aber ich bin nicht sicher, ob mein Buddha mir dabei hilfreich zur Seite steht. Obwohl er sündhaft teuer war, funktioniert er nicht. Einmal nur hat er seine Wirkmacht voll entfaltet. Als ich ihn eingewickelt in Blisterfolie und eingenäht in Sackleinen beim Check-in am Airport in Delhi auf die Waage legte und British Airways einen horrenden Gepäckaufschlag verlangte.

»In dem Sack steckt ein echter Buddha«, sagte ich zu der Dame vom Bodenpersonal.

»Really? So heavy!«

»Yes. Very heavy. Very, very mighty power!«

Die Angestellte lachte und winkte mich durch. Ich hatte knapp zweihundert Dollar gespart. Trotzdem hätte ich den Buddha vielleicht besser in Indien gelassen. Fern seiner Heimat wirkt er nicht. Jedenfalls nicht spürbar. Was eventuell nicht an seinem Mangel an »mighty power« liegt, sondern an mir. Meine Antennen sind für energetische Flow-outs nicht sonderlich empfänglich. Wenn nicht komplett blockiert.

Ich könnte natürlich zur Sensibilisierung ein Seminar besuchen. Oder einen Wochenendworkshop. Ein mentales Coaching. So wie Mitte der achtziger Jahre, als sich verkopfte Intellektuelle zur Erweiterung ihrer sinnlichen Wahrnehmungskompetenz in das Abenteuer der Selbsterfahrung stürzten. Lebenshungrig und für psychologische Einsichten empfänglich meinte auch ich mit dreißig, der Schlüssel zur Welterkenntnis läge in der Auflösung zwangsneurotischer Kindheitsprägungen mittels bioenergetischer Meditationen und gruppentherapeutischer Befreiungszeremonien. Offen gestanden, wenn wir aus dem biografischen Schatten unserer bürgerlichen Deformationen heraustraten, wenn Unscheinbare erblühten, Kleinmütige über sich hinauswuchsen und aufgeblasenen Wichtigtuern die Luft ausging, das hatte was. Nur kühlen die in psychodynamischen Prozessen hochgekochten Emotionen im Abklingbecken des Alltags gemeinhin schnell wieder auf Normaltemperatur herunter. Deshalb lassen sich Therapeuten immer neue Rituale der Selbsterlösung einfallen, die man buchen und besuchen kann.

Vor mir liegt das aktuelle Programm eines esoterischen Zentrums in der Schweiz. Mit Bildern von ausnahmslos schönen Menschen. Sie alle lächeln. Sympathisch, entspannt und befreit. Sie transformieren negative karmische Einflüsse in positive um. Den Intensivworkshop »Dancing with the Heart of the World« könnte ich belegen oder mich aufraffen zu einer »Journey of Empowerment«. Oder die Liebes- und Lebensschule des »Sky Dancing Tantra« mitmachen. Das Foto eines Buddhas ist in dem Prospekt auch abgedruckt. Meditierend im Lotussitz wirbt er für ein »craniosacral balancing«. Das verspricht, sprachlich leicht verstolpert: »Still werden, geduldig warten – und Ganzheit ist am Werden«. Für einen stattlichen Batzen Schweizer Franken könnte ich in die Erfahrung eintauchen, vom Atem geatmet zu werden, wäre ich für das Ziel ausbalancierter Gelassenheit nicht ein Totalausfall.

Denn ich bin Katholik. Und Katholizismus und Gelassenheit schließen sich für mich aus. Die Ruhe des Gemüts anstreben, sie erlangen und bewahren gar und zugleich katholisch sein – wie soll das gehen? Sich zum katholischen Glauben zu bekennen heißt, sich aufzuregen. Genauer gesagt, sich aufregen zu müssen. Permanent. Weniger über Gott als über den Irrsinn der Welt und über die Ecclesia una sancta sowieso. Gottes irdische Stellvertreter treiben einen bei der Vollstreckung des himmlischen Heilsplans bis an die Grenze zum Infarkt. Mich allerdings weniger als meinen ungarischen Priesterfreund István, dessen Pfarrei im rumänischen Siebenbürgen liegt. Er ist ein begnadeter Spötter vor dem Herrn, der mit seinem Ortsbischof im Dauerclinch liegt, seit er es vorzog, eine Einladung zu einem gediegenen Weihnachtmahl auszuschlagen, um lieber mit den Obdachlosen in seiner Gemeinde ein paar Biere zu trinken. »Schlimm, schlimm«, pflegt István nach zwei, drei Gläsern aus tiefstem Herzensgrund zu seufzen. »Diese Brustkreuzträger, glaub mir, es ist eine Last mit ihnen.« Ich nicke dann und gebe meinerseits ein paar haarsträubende Histörchen zum Besten, die unser Gefühl der Verbundenheit stärken und uns in der Gewissheit bekräftigen, dass unsere Treue zum Katholizismus, »Fest soll mein Taufbund immer stehn«, heute ein mehr als heldenhafter Akt ist. Die Leidensfähigkeit des Katholiken an und mit seiner Kirche erweist sich zusehends als begrenzt. Früher litt man, harrte aus und blieb. Heute ärgert man sich noch ein wenig und schickt eine Mail, so wie man die Mitgliedschaft in einem Verein kündigt oder eine Beziehung per SMS beendet.

Zugestanden, manchen Gläubigen mag die Symbiose von Gelassenheit und katholischem Credo einst gelungen sein und auch heute noch gelingen. Der heilkundigen Mystikerin Hildegard von Bingen in ihrem Kräutergarten etwa, der in Demut gebeugten Mutter Teresa oder dem unbeugsamen und altersmilden Papst Johannes Paul II. Nicht zu vergessen den freundlichen Pater Anselm Grün, der es irgendwie hinbekommt, alle paar Wochen ein neues Buch zu schreiben. Die Titel klingen, als habe mein Buddha sie ersonnen.Perlen der Weisheit, Jeder Tag ein Weg zum Glück, Zur inneren Balance finden oder Im Einklang mit sich selber sein. In den gefühlten hunderttausend Büchern des unermüdlichen Benediktiners findet sich bewundernswerterweise kein einziger Gedanke, der so geistlos oder gar töricht wäre, dass man den HSM Compactanwerfen müsste.

Ich selbst bin kein Freund von Lebensratgebern und Pflücke-den-Tag-Geschenkbändchen. Vor über hundert Jahren schon schrieb der Pater-Braun-Erfinder Gilbert Keith Chesterton, die Religion des Carpe diem sei der »Kult einer pessimistischen Lustsuche« und als solcher »nicht die Religion glücklicher, sondern höchst unglücklicher Menschen«. Ist das heute anders? Tagaus, tagein unterwegs zum Glück! Suchend, heischend, ringend um den Einklang mit sich selbst! Das ist keine leichte Sache. Während vieler Reisen habe ich wunderbare Menschen getroffen, auch ein paar Fieslinge, denen ich die Pest an den Hals wünschte. Nie jedoch traf ich einen Menschen, im Guten wie im Bösen, der von sich hätte behaupten können, er schwinge mit sich selbst im Einklang. Das ist schon aus grammatikalischen Gründen schwierig, als Subjekt sich mit sich selbst als Objekt in Einklang zu bringen, widerspruchsfrei und ohne disharmonische Restbestände. Wenn es überhaupt jemand vollbringt, innerlich ausbalanciert zu sein, dann ist es mein Buddha vom Fuße des Himalayas. Obschon er wegen seines verborgenen mentalen Potentials im Grunde unbezahlbar ist, musste ich dennoch irgendwann einsehen, dass er zwar einen hohen dekorativen Wert besitzt, zum Spiritus Rector auf meinem Weg des Wissens aber nicht taugt.

Er ruht in sich selbst. Angstfrei, leidensfrei. Aber auch leidenschaftslos. Schweigend schaut er in sich hinein und lächelt. Ich frage mich, was er sieht. Ich habe keine Ahnung, vermute jedoch, dass sein Gleichmut nicht gratis zu bekommen ist. Ich fürchte sogar, dass der Preis, den mein Buddha für seine Seelenruhe und sein stoisches Lächeln bezahlt, recht hoch ist. Zu hoch. Dass er hohl klingt, wenn man ihm vor die Brust klopft, geschenkt. Das ist man als Katholik von manchen Exzellenzen und Eminenzen gewohnt. Nein, aufgeplustert vom Nimbus der eigenen Bedeutung ist mein Buddha nicht. Sein Manko ist von anderer Art.

Er hat die Augen geschlossen. Das macht ihn als Objekt kultischer Verehrung für mich gänzlich ungeeignet. Mit gesenkten Lidern ist er als Vorbild für Autoren und als Schutzpatron für Journalisten unbrauchbar. Und für Fotografen selbsterklärend erst recht. Seine geschlossenen Augen unterscheiden meinen Messingbuddha von dem Stifter des Christentums. Von ihm erzählt das Neue Testament, dass er den Menschen die Augen öffnete, Lahme gehen und Blinde sehen ließ, dass er Wasser wandelte in Wein. Eine überaus sympathische Metamorphose, die leider im Laufe der Kirchengeschichte von Jesu Nachfolgern wieder rückgängig gemacht wurde. Das jedenfalls behauptet mein Freund István.

»Glaub mir, diese Heilsbürokraten verdünnen edlen Wein zu schalem Wasser. Sag, wann hast du je ein kluges Wort aus dem Mund eines Kardinals gehört, das mitzuschreiben sich gelohnt hätte?« István ist ein umgänglicher Mensch, zweifelsfrei, aber gemeine Fragen stellen kann er schon. Wir treffen uns nicht oft. Alle zwei Jahre höchstens. Dann hocken wir zusammen und lästern uns den Kummer von der Seele. Bis spät in die Nacht. Schlussendlich einigen wir uns darauf, dass nicht diejenigen Kirchenführer den Katholizismus in den Untergang treiben, über die es sich noch aufzuregen lohnt. Schlimmer sind jene, die so Dürftiges von sich geben, dass sie nicht einmal mehr unsere Spottlust befriedigen.

Ich denke dabei an das Wort zum Sonntag, wo Episoden aus dem Alltag nach dem Motto »Neulich in der S-Bahn begegnete ich …« mit jesuanischen Botschaften garniert werden. Oder die Mahnreden zu Weihnachten und Ostern, in denen katholische Bischöfe, Landeskirchenräte und evangelische Pastorinnen in feierlichen Ansprachen Krieg und Unfrieden anprangern. Wenn sie Hunger, Flucht und Vertreibung beklagen, die Kluft zwischen Nord und Süd, Arm und Reich sowie die ökonomische Gier; wenn sie an die Begrenztheit irdischer Ressourcen erinnern, vor den Gefahren atomarer Energiegewinnung und ökologischem Raubbau warnen und an die Verantwortung appellieren und zur Bewahrung der Schöpfung aufrufen, dann sagen sie nie etwas Falsches. Ihre Worte sind immer korrekt. Und doch lassen sie den Zuhörer seltsam unberührt. Wie eine zigfach aufgekochte und zigfach verdünnte Suppe, die nicht sättigt. Das ist ihr Dilemma. Diese Worte scheuen jedes Risiko. Sie sagen lauter Richtiges, gut Gemeintes und Wichtiges, doch schon lange nichts Wahres mehr. Sie klingen wie Textbausteine, wie Parteiprogramme im Wahlkampf.

Investierte die Kirche ihre Energien im und vor dem 20. Jahrhundert in die Stabilisierung ihrer Herrschaft, so ringt sie im 21. Jahrhundert um ihre Selbsterhaltung. Der Auftrag von Papst Franziskus, »an die Ränder zu gehen«, ist ein Versuch, den Katholizismus nicht um seiner Macht willen zu stärken, sondern ihn wieder an den Kern der jesuanischen Botschaft heranzubringen. An die Seligsprechung der Armen und Hungernden, der Ausgestoßenen und Verachteten. Die Redlichkeit des Papstes steht nicht in Zweifel. Wo Franziskus ein Unrecht ausmacht, erhebt er seine Stimme, appelliert an das Mitgefühl, klagt an: die Unterdrückung der indigenen Völker Lateinamerikas, die Versklavung von Arbeitsmigranten in den USA, die Brutalität der mexikanischen Drogenmafia, den Terror religiöser Fanatiker, die Not syrischer Kriegsflüchtlinge, den Konsumwahn und den Egoismus des Westens.

Der Pontifex gibt sich als Pfarrer. Schlicht und anspruchslos. Bescheidenheit statt Prunk, Volksnähe statt Weltfremdheit. Seinem Namenspatron entsprechend ersetzte er die Mercedes-Dienstlimousine durch einen gebrauchten Ford Focus, statt Rolex trägt er am Handgelenk eine Swatch, und wenn er bei seinen Reisen in die Menge eintaucht, verzichtet er auf das Papamobil mit Panzerglas und lässt sich lieber im Fiat 500 durch New York kutschieren. Statt seine Amtswürde zu zelebrieren, setzt der Heilige Vater auf Gesten der Verbrüderung. Strafgefangenen und Asylbewerbern wäscht er die Füße, der Trauergemeinde eines Obdachlosen spendiert er den Beerdigungsschmaus, muslimische Flüchtlingsfamilien nimmt er, wie nach einem Kurzbesuch auf der griechischen Insel Lesbos im Frühjahr 2016, mit nach Rom. Keine dieser Gesten will ich diffamieren. Nur geschehen die Akte päpstlicher Barmherzigkeit nicht in diskreter Zurückhaltung, sondern unter den Augen allzeit präsenter Berichterstatter. Als Indiz von Offenheit gewährt Franziskus den Medien eine distanzlose Nähe. Nur wollen Presseleute keine Einsichten in den Glauben gewinnen, sie wollen Nachrichten verkaufen. Sie gieren nach starken Emotionen, nach plakativen Bildern und markigen Worten. Franziskus enttäuscht sie nicht.

Anders als bei seinen Amtsvorgängern machte das Magazin DerSpiegel bei ihm eine »fröhliche Fehlbarkeit« aus und nannte ihn in einer Titelstory »Der Entfesselte«. Die Reporter mögen Papa Francesco als einen nahbaren Papst zum Anfassen, wobei nicht ganz ersichtlich ist, ob sie ihn eher wegen seiner Programmatik oder wegen seines Unterhaltungswertes schätzen. In seiner leutseligen Weihnachtsansprache 2014 prangerte Franziskus »fünfzehn Krankheiten« der römischen Kurie an, darunter eitlen Karrierismus, Hartherzigkeit und mentale Erstarrung, wobei neben der Diagnose des »spirituellen Alzheimers« der Vorwurf des »Terrorismus der Geschwätzigkeit« der Presse besonders gut gefiel. Nur: Die Rede benannte nicht nur ein Problem in der Kirchenführung, sie machte es gleichermaßen sichtbar. Denn kein einziger Kardinal stand auf und verbat sich die harsche päpstliche Abrechnung. Nachdem Franziskus 2016 dem polternden amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump bescheinigt hatte, er sei kein Christ, war in der Zeit zu lesen: »Für uns Journalisten sind Donald Trump und Franziskus Geschenke des Himmels. Beide produzieren in Serie vermeintlich starke Sätze, bei denen sich selbst die Wohlgesonnensten fragen, ob die beiden wissen, was sie sagen und tun.«

Zur Ehrenrettung des geistlichen Standes jedoch ist zu sagen: Ab und an taucht ein denkwürdiges Wort auf, gleich einem Eiland im Ozean der Banalitäten. Ich denke an eine Predigt. Gehalten wurde sie am Montagvormittag, dem 18. April 2005, während des Gottesdienstes »pro eligendo Romano Pontifice« im Petersdom in Rom. Anlass war die Wahl des Nachfolgers von Papst Johannes Paul II. Es sprach der Dekan des Kardinalkollegiums Joseph Ratzinger, der aus dem anschließenden Konklave in der Sixtinischen Kapelle als Benedikt XVI. hervorgehen sollte.

Ich hatte die Predigt damals aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt, mit dem Vorsatz, sie wenigstens zu überfliegen. Lange blieb es bei der Absicht. Bis ich mich anschickte, mein Büro zu entrümpeln. Doch weil ich es nur schwer über mich bringe, ein priesterliches Wort mit derselben Achtlosigkeit in den Papiermüll zu befördern wie den Werbeprospekt eines Möbelhauses, begann ich zu lesen. Nicht gerade fiebernd vor Erwartung, doch mit wohlwollendem Interesse. Bis ich an einem Satz hängen blieb. An einer Frage. An meiner Frage, um die ich unbestimmt immer schon wusste.

Joseph Ratzinger hatte sie nicht bloß für die einhundertfünfzehn Mitglieder des Kardinalskollegiums ausgesprochen. Er fragte stellvertretend für alle Menschen. Wenigstens für diejenigen, die diese Frage nicht von vornherein als unsinnig abtun würden. Oder sich dagegen verwahrten, sich überhaupt mit ihr zu beschäftigen. Mir schien, als halte diese Frage den Strom der Zeit an. Wie ein Damm, hinter dem die Vergangenheit andrängt und sich die Lebenszeit für einen Augenblick staut. Die Intention der Frage zielte, wenn dieser Vergleich statthaft ist, auf das Gegenteil dessen, was mein HSM Compact leistet. Der Schredder vernichtet. Er zerstört Relikte von Vergangenem, tilgt Spuren des Gestern und löscht Erinnerungen, die nicht wert sind, bewahrt zu werden. Kardinaldekan Ratzinger hingegen kehrte den Blick um. Er fragte: Was bleibt?

»Alle Menschen wollen eine Spur hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt? Das Geld nicht. Auch die Gebäude bleiben nicht; ebenso wenig die Bücher. Nach einer gewissen, mehr oder weniger langen Zeit verschwinden all diese Dinge. Das Einzige, was ewig bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit erschaffene Mensch. Die Frucht, die bleibt, ist deshalb diejenige, die wir in den menschlichen Seelen gesät haben – die Liebe, die Erkenntnis; die Geste, die es schafft, das Herz zu berühren; das Wort, das die Seele öffnet.«

Ich glaube …, nein, im Grunde weiß ich: Diese Sätze sind wahr. Und ich weiß auch: Das Wissen um die Wahrheit dieser Worte ist nicht verhandelbar.

Doch schon da ich dieses Bekenntnis in die Tastatur tippe, schleicht der Argwohn heran. Die Sirenen des Zweifels heulen los. Gegenstimmen klopfen an. Und mit ihnen tritt das Misstrauen ein. Und mit dem Misstrauen schwindet das Wissen um das, was bleibt. Es schrumpft zu einem vermeintlichen Wissen, das wiederum zu einem vagen Glauben verkümmert, der immer kleingläubiger wird und sich seiner selbst nicht mehr sicher ist. Es ist in solchen Momenten nicht leicht zu entscheiden, ob der Glaube stirbt oder ob er vor der Schwelle steht, hinter der er neu geboren wird.

Was bleibt, ist die menschliche Seele!

Ja, was denn sonst, möchte ich ausrufen. Doch ich traue meiner Gewissheit nicht. Es wäre nun ein Leichtes, mich in der Verzagtheit auf eine fremde Stimme zu berufen, auf einen Freigeist, der nicht in dem Verdacht steht, ein Apologet katholischer Dogmatismen zu sein. Jemand wie der Künstler Joseph Beuys. Zwei Jahre vor seinem Tod 1986 sagte er in einem Gespräch mit dem Jesuiten Friedhelm Mennekes: »Das Einzige, was sich lohnt aufzurichten, ist die menschliche Seele.« Man kann diesen Satz richtig finden. Oder auch falsch. Doch kann man die Wahrheit dieses Satzes spekulativ begreifen, aus gesicherter Distanz, ohne sich je zu mühen, zum Träger dieser Wahrheit zu werden?

Joseph Ratzingers Antwort auf die Frage »Was bleibt?« birgt die Idee des Christlichen. Ihre Wahrheit ist nicht beweisbar wie die Stringenz eines mathematischen Gesetzes, nicht diskutierbar wie die Plausibilität eines logischen Systems oder die argumentative Schlüssigkeit einer philosophischen Weltanschauung. Das Wissen um diese Wahrheit ist anders als die Wahrscheinlichkeit, dass auch morgen wieder die Sonne aufgeht. Es ist anders als die Gewissheit, dass Kreise niemals eckig sind, drei mal drei auch in der nächsten Woche noch neun sein wird und kein Gott den Urvater Adam vor fünftausend Jahren aus ein paar Handvoll Erde knetete. Doch welch eine grandiose Vorstellung, dass der Mensch mehr ist als ein Klumpen Materie, sondern dass ein göttlicher Odem ihm Leben und Seele eingehaucht hat!

Seele! Was ist damit gemeint? Gibt es eine Seele überhaupt? Oder ist der für »die Ewigkeit erschaffene Mensch« eine Chimäre? Wie ein erschaffender Gott ein Hirngespinst ist, von naiven Wirrköpfen geflochten, die in der Evolutionsgeschichte der Vernunft die letzten Upgrades verpasst haben, unfähig, auch nur einen Bruchteil des biochemischen Potentials ihres Gehirns auszuschöpfen? Die noch immer im Zustand selbst gewählter Unmündigkeit verharren und noch glauben? Der Glaube sei, so höhnte einst der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner, »der Krückstock, mit dem Lahme ihre Flüge in höhere Welten bestreiten«. Deschner hält diesen Satz für einen Aphorismus. Tut mir leid, aber ich halte ihn für dumm. Und mir fällt unter meinen Freunden und Bekannten niemand ein, der im Diesseits des irdischen Jammertals zu Kreuze kriecht, um sich dann in metaphysischer Weltflucht in eine imaginäre Ewigkeit hinaufzuschwingen. Womit ich als Berichterstatter nicht gesagt haben will, solchen Menschen an der fundamentalistischen Glaubensfront nie begegnet zu sein.

Was bleibt? Es steht jedem frei, die Frage als in letzter Instanz nicht beantwortbar zu erklären, sie als irrelevant abzutun oder sie nicht einmal zu ignorieren. Wer jung ist oder sich jung fühlt und wer noch jenes produktive Chaos in sich verspürt, von dem Friedrich Nietzsche annahm, es sei nötig, um einen tanzenden Stern zu gebären, der neigt dazu, die Frage mit einem entschiedenen »nichts« zu erledigen. Häufig schwingt bei dieser Antwort Trotz mit. Aber auch ein gesunder Widerstand gegen ein Leben, das in der Gegenwart als öde und leer, als ziel- und zwecklos erfahren wird.

»Jeden Tag stirbt ein Teil von dir, jeden Tag schwindet deine Zeit. Jeder Tag ein Tag, den du verlierst, nichts bleibt für die Ewigkeit«, singt Campino von der Band Die Toten Hosen. Dass nichts für ewig ist, behaupten auch die Rocker von den Böhsen Onkelz, und der Rapper Bushido textet in »Asche zu Asche«: »Glaub mir, nichts bleibt für immer.«

Theologen mögen solche Aussagen. Es beglückt sie, wenn die Grundlagen des Glaubens in Zweifel gezogen werden. Der Theologe liebt die Attacke gegen die Theologie. Jeder Angriff bietet die Möglichkeit, dem Angreifer logische Defizite nachzuweisen und Aporien aufzuspüren. So entstehen Bücher, in denen Denker anderen Denkern ihre Denkfehler vorrechnen. Bücher von Beleidigten, die ihrerseits beleidigen, aber niemanden berühren und bewegen. Was bleibt? Berge bedruckten Papiers, die jeden HSM Compact überfordern. Nach einem guten Dutzend Semestern universitärer Theologie weiß ich, wovon ich rede.

Deshalb strenge ich mich an, kein Theologe mehr zu sein. Denn wäre ich einer, müsste ich den Sänger Campino belehren, dass die Vorstellung von einer Ewigkeit, in der nichts bleibt, wenig Sinn ergibt. Ein Paradoxon, eine contradictio in adiecto. So wie ein Lied ohne Töne, ein Gedicht ohne Worte oder alkoholfreies Bier, das meinem Freund István nie ins Haus käme. Als Theologe würde ich den Nachweis erbringen, dass die Toten Hosen den Begriff der Ewigkeit mit dem Begriff des Nichts verwechseln. Das juckt zwar niemanden, aber die Theologik hätte im Streit um die Begriffe das letzte Wort behalten. Selbstverständlich unter endzeitlichem Vorbehalt.

Als die Welt noch jung war und die Dinge der Namen entbehrten, mussten die Menschen mit den Fingern auf sie zeigen, um sie zu benennen. So beginnt einer der schönsten Romane der Weltliteratur, Hundert Jahre Einsamkeit, von Gabriel García Márquez. In der Eingangssequenz erzählt der Kolumbianer von der Geburt der Urwaldstadt Macondo, deren Bewohner mit der Bildung der Begriffe und der Benennung ihrer Welt in die Geschichte eintreten. Die Hommage des Literaturnobelpreisträgers an den Prolog des Johannesevangeliums ist offenkundig. Dort steht geschrieben, unzählige Male zitiert: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« Für Johannes liegen die Wurzeln der Materie und allen Werdens im Geistigen. Entkoppelt von diesen Wurzeln verkümmert der Mensch. Das glauben bekennende Christen. Befreit von der Fessel des Glaubens, gelangt der Mensch zu wahrer Größe. So glauben die Gegner der Religion.

Nur ist die Welt, anders als im fiktiven Macondo, heute nicht mehr jung. Sie ist erwachsen geworden. Alle Dinge sind benannt. Alles hat seinen Namen. Worte gibt es zur Genüge, für das Materielle wie für das Geistige. Bei García Márquez fehlten der Welt die Begriffe. Heute verfügen wir über sie, nur ihr Inhalt verflüchtigt sich. Mir scheint, als gähne hinter den Worten ein Abgrund. Gott, Seele, Ewigkeit, Erkenntnis, Liebe, Herz. Einem Joseph Ratzinger stehen diese Begriffe wie selbstverständlich zur Verfügung, nicht als leere Signifikanten, vielmehr gefüllt mit dem Wissen, dass der Mensch von nackter Materie, vom Brot allein, nicht leben kann. Und doch ist mit diesen Worten etwas Beunruhigendes geschehen, etwas Befremdendes, Beängstigendes gar. Der Nährwert, der diesen Begriffen innewohnt, kommt ihnen abhanden. Oder wird nicht mehr als sättigend erfahren. Damit weiß die Kirche nicht umzugehen. Fast zwei Jahrtausende hat sie allen Angriffen standgehalten, hat sich als Burg verstanden, als Festung der Glaubensgemeinschaft. Nun hat sie es mit einem Feind zu tun, ungleich gefährlicher als alle Gegner der Vergangenheit. Dieser Feind greift nicht mehr von außen an. Er heftet sich an die Begriffe, dockt sich an wie ein Virus, der die Hüllen der Worte durchstößt und zu ihrem inneren Kern vordringt. Zu der Idee des Bleibenden.

Um zu begreifen, was bei diesem Prozess passiert, bietet sich die Lektüre einer der wahnwitzigsten Reportagen an, die je ein Journalist geschrieben hat. Sie heißt »Ich und die Menschenfresser«. Nach Bekunden ihres Erzählers André Kaminski soll die Geschichte wahr sein und sich tatsächlich zugetragen haben. Was ich zweifelsfrei glaube. Der 1991 verstorbene Schweizer, ein Fernsehdramaturg, Reporter und promovierter Philosoph, lebte einige Jahre in Afrika und berichtete von einem spektakulären Gerichtsverfahren, das am 1. Februar 1961 in Boké stattfand, einer vermüllten, stickigen, als Sumpflatrine verrufenen Stadt im westafrikanischen Guinea. Angeklagt war eine gewisse Madame Diop, Mutter von neun Kindern und Gattin des berüchtigten Schürzenjägers Abdulaj Diop, der es mit der ehelichen Treue nicht genau nahm und seine Nachbarin geschwängert hatte. Sechs Monate nach der Geburt des Kindes, so die Anklage, habe Madame Diop an ihrer Nebenbuhlerin Rache genommen und deren Säugling aufgefressen. Im Gerichtssaal vor großem Publikum gab die Beschuldigte den ungeheuerlichen Vorwurf unumwunden zu. Frau Diop bestritt jedoch, sie habe das Kind, »einen hübschen kleinen Engel«, wie sie sagte, zum Zwecke des Verzehrs zerschnitten, zerbissen oder zerkaut. Der linksliberale Richter, ein Vertreter der französischen Kolonialmacht, glaubte ihr nicht. Als er erfahren wollte, wie genau sich die Geschichte zugetragen hatte, verlangte Madame Diop, eine möglichst große und saftige Frucht in das Gericht zu bringen. Gerichtsdiener schleppten daraufhin eine riesige Papaya an, die einhundertsiebzig Pfund auf die Waage brachte. Dann bat die Angeklagte um ein Streichholz, steckte es zwischen ihre Lippen und begann daran zu saugen.

»Es wurde mäuschenstill im Raum«, erzählt Kaminski. »Alle brannten vor Neugier, was hier weiter geschehen würde. Frau Diop sog und schnaubte, schnaubte und sog. Sie horchte in sich hinein, starrte mit gläsernen Augen in die Menge und fing an, sich hin- und herzuwiegen, mit dem Kopf zu wackeln und zu stöhnen. Eine merkwürdige Angst befiel mich.« Irgendwann in der trägen Gluthitze des Mittags füllte ein Raunen den Saal. Die Beschuldigte spuckte das Zündholz aus, erhob sich und verlangte, die Papaya erneut zu wiegen. Die Frucht wog knappe neun Pfund. Als ein Gerichtsdiener sie mit einem Buschmesser aufschnitt, stellte sich heraus, die Papaya war hohl. Leer gesogen mit telepathischer Macht. Unter dem Jubel der Schaulustigen sprach der Richter Madame Diop von der Anklage der Menschenfresserei frei. Er fand kein Gesetz, das auf ihre Tat hätte angewendet werden können.

Die schwarzmagischen Hexereien der Madame Diop verlieren sich in der Nacht der Vergangenheit. In unserer Zeit, die sich als Nachmoderne versteht, agiert eine subtilere Macht, allgegenwärtig, unbehelligt am lichten Tag. Sie saugt weder Kinder noch Papayas aus und ist dennoch beklemmend unheimlich. Sie macht sich an den Früchten der geistigen Nahrung zu schaffen, höhlt und frisst sie von innen her auf. Sie entkernt Ideen. Gott, Seele, Mensch. Zurück bleiben Hohlkörper, Hüllen von Begriffen, die Inhalt nur vortäuschen. Die Kirchen haben diesem Prozess der Aushöhlung nichts oder nur wenig entgegengesetzt. Aus trügerischem Vertrauen in die eigene Autorität, aus Selbstzufriedenheit, vielleicht auch erstarrt und gelähmt vor der gespenstischen Macht des Materialismus und Konsumismus, die alles entwertet. Mir fällt kein Begriff ein, der so inflationär gebraucht, vergewaltigt und erniedrigt wurde wie der Begriff der Seele.

Dagegen kämpfte Joseph Ratzinger an, als Kardinal und später als Papst. »Das Einzige, was ewig bleibt, ist die menschliche Seele …« Ja! Doch es ist das Versäumnis der Kirchen, ihr ureigenes Wissen ausgehöhlt und entleert zu haben. Allzu oft wurde das Ewige und das Bleibende verkündet, behauptet, ohne dass eine Spur davon sichtbar wurde. Das befreiende Wort, das die Seele öffnet, wurde weder gesucht noch gefunden und folglich auch nicht ausgesprochen. Nun stellen die Kirchen erschrocken fest, dass eine feindliche Übernahme stattgefunden hat. Seiner Substanz beraubt taumelt die Seele in ein Nichts, das jeder nach freiem Belieben füllt, um die Leere zu ertragen.

»Lass mich zärtlich deine Seele füllen.« Mit diesem Slogan wirbt ein Online-Shop für schmalzige Herz-Schmerz-Postkarten. Ein Hersteller von Arzneimitteln verspricht »Sonne für die Seele durch Johanniskraut«. Vor einigen Jahren fand in Berlin eine Konferenz statt. Politiker reisten an, um »Europa eine Seele zu geben«. Dabei ging es recht profan eigentlich nur um eine kulturpolitische Imagekampagne. Obwohl in unserem abendländischen Kulturkreis unzählige »Inseln für die Seele« aus dem Eismeer der sozialen Kälte aufsteigen, wird es nicht wärmer. Die geistliche Pflege findet nicht mehr in Kirchen statt, vielmehr in Beautyfarmen, Bräunungsstudios und dem Verwöhnbereich von Spaßbädern. Den Seelsorger ersetzen die Wellness-Masseurin, die Wellness-Kosmetikerin und der Wellness-Coiffeur. Unweit meines Domizils im Sauerland, wo ich mich zum Schreiben in ein stilles Haus im Wald zurückziehe, betreibt ein Landfleischer allen Ernstes eine »Wellness-Metzgerei mit Party-Service. Premium Qualität«.

Die Gesten, die das Herz berühren, gehen uns aus. Dafür werden wir zu Voyeuren von öffentlichen Ritualen der Selbstentblößung. Der Wunsch sich zu zeigen, und die Sehnsucht gesehen zu werden, verlottert zum Psychostriptease, zu dem TV-Moderatoren Zeitgenossen in Fernsehstudios locken, die sich für ein paar Euro selbst erniedrigen und sich demütigen lassen. Zugleich blasen wir Alltäglichkeiten mit Sinngeschwafel auf. Einst fuhren Menschen in den Süden, ans Meer und in die Sonne, in der Absicht, Urlaub zu machen. Früher gingen die Leute am Strand oder im Wald spazieren, um frische Luft zu tanken, sich an der Natur zu erfreuen und um sich zu erholen. Sie besuchten Bad und Sauna, um zu entspannen und weil Schwitzkuren gesund sind. Heute pflücken sie allesamt den Tag und lassen ihre Seele baumeln. Ein Bild, in das sich unbemerkt ein Quantum Wahrheit hineingemogelt hat. Die Seele hängt tatsächlich nur noch an einem dünnen Faden, baumelnd am Galgen der Banalität. Möglich, dass sie längst schon zu Grabe getragen wurde. Vor einigen Jahren lief im Fernsehen ein Reklamespot. Eine prominente Skirennläuferin warb darin für einen Brotaufstrich. Werbetexter hatten der Sportlerin den Spruch in den Mund gelegt:

»Bungee! Bungee ist gut gegen die Angst vor der Abfahrt.

Brüder! Brüder sind gut für die Ellenbogen.

Downhill! Downhill ist gut fürs Gleichgewicht. Und Nutella!

Nutella ist gut für die Seele!«

Wenn der Priester während der heiligen Messe vor dem Empfang der Kommunion der Gemeinde das eucharistische Brot zeigt und zum Mahl lädt, knien die Gläubigen nieder und sprechen Worte, deren Sinn sich heute nicht mehr ohne weiteres erschließt. Bei vielen lösen diese Worte Befremden, wenn nicht Ablehnung aus. »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Dieses kurze Gebet beschäftigt mich, seit ich denken kann. Und ich schätze, es wird mich auch weiter noch beschäftigen. Was auch immer es bedeuten mag, es widersteht dem Geschwätz, die menschliche Seele gesunde durch Wohlfühlkuren, Duftöl und Kuschelmusik. Gegen derlei Konkurrenz muss sich das Wort, von dem Kardinal Ratzinger in der Sixtinischen Kapelle sagte, es sei die Frucht, die bleibe, nun behaupten. Heute gegen eine Nougatcreme, morgen gegen eine Anti-Aging-Pille und übermorgen gegen ein Ich-mag-mich-Shampoo.

Früher, als Theologe, dachte ich, der geistige Nullpunkt müsse ein Schreckensort sein. Die Hölle des Horror vacui. Aber das stimmt nicht. Im Tal der Belanglosigkeit geht es komfortabel und behaglich zu. Es ist der perfekte Ort des Carpe diem, wo jener letzte Mensch seinen Ruhestand verbringt, den Nietzsches Zarathustra antizipiert. »›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.« Eine allerletzte Geste, die nicht mehr ist als das irritierte Zucken eines postchristlichen Subjekts, dass keine Ewigkeit mehr will und nichts Bleibendes mehr ersehnt.

II

Die Geschichte von Padre Roberto, der im Müll den Weg ins Leben fand

»For what is a man, what has he got?

If not himself, then he has naught.«

»My way«, Text von Paul Anka, gesungen von Frank Sinatra

Zurück zum HSM80.2 Compact. Während meiner Aktenvernichtungsaktion fiel mir ein überdimensioniertes Formular in die Hände. Es nannte sich »Hoja de reclamationes« und trug die Bearbeitungsnummer 00077. Ausgefüllt hatte ich das Beschwerdeblatt am Dienstag, dem 20. Februar 2007, am Aeropuerto Benito Juarez in Mexiko-Stadt. Es war eine Verlustmeldung, die schon in jenem Augenblick wertlos war, als ein missmutiger Mitarbeiter der spanischen Fluggesellschaft Iberia einen Stempel auf das Papier knallte. Zumindest beherrschte seine Kollegin die Kunst, ihren Mangel an Motivation in den Mantel der Höflichkeit zu kleiden, als sie erklärte, man werde sich bei mir melden, sobald die Schadensmeldung bearbeitet sei. Das aber könne dauern.

Via Düsseldorf und Madrid war ich mit Flug IB6403 am Abend in Mexiko gelandet. In Deutschland war es jetzt zwei Uhr nachts, ich fühlte mich müde, durstig und hungrig. Hinter mir lag ein langer Reisetag, vor mir der Auftrag, für das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat den Jesuiten Roberto Guevara Rubio in Text und Bild zu porträtieren. Ich kannte den Padre nicht persönlich und wusste nur, dass er als eigenwilliger und unorthodoxer Ordensmann galt und mich am Flughafen abholen wollte. Gemeinsam würden wir an den Rand der mexikanischen Hauptstadt fahren, wo ich Jahre zuvor schon einmal als Fotograf unterwegs gewesen war, in der definitiv unattraktivsten Region von ganz Mexiko. Pater Robert arbeitete in den östlichen Außenbezirken von Mexiko-Stadt mit den zungenbrecherischen Namen Nezahualcóyotl und Chimalhuacán. Dort liegen die riesigen Müllhalden der 25-Millionen-Metropole.

Während sich die anderen Flugpassagiere mit ihren Koffern längst im Taxi zu ihren Hotels chauffieren ließen und das Personal an der Kofferausgabe Feierabend machte, stand ich noch immer allein in der Ankunftshalle und wartete auf mein Gepäck. Als meine Reisetasche schließlich auf dem Förderband auftauchte, sackte meine Laune vollends in den Keller. War die Tasche beim Packen in Deutschland noch prallvoll gewesen, war sie nun welk in sich zusammengefallen. Das Schloss war aufgebrochen, der Reißverschluss zerrissen. Bücher, Wäsche und Kulturbeutel hatten mir die Diebe gelassen, das elektronische Equipment war weg.

Padre Roberto hatte mit seiner deutschen Mitarbeiterin Bernadette hinter der Passkontrolle auf mich gewartet. Um den Diebstahl anzuzeigen, irrten wir gemeinsam durch ein Labyrinth aus Rolltreppen, Aufzügen und Verwaltungstrakten, deren kahle Wände unterschiedslos gleich ausschauten. Wir sprachen mit zwei Dutzend schulterzuckenden Bediensteten, die uns mal hierhin, mal dorthin schickten, bis wir am Ende verwaister Flure an verschlossene Türen klopften. Nach zwei Stunden gaben wir auf. Ich war um ein neues Notebook ärmer und um die Reiseerfahrung reicher, dass der Aeropuerto Benito Juarez sehr viel größer ist, als ich bislang annahm, und dass man klug beraten ist, einen Computer inklusive diverser Festplatten zur Datensicherung nicht in ein und dieselbe Tasche zu packen, wenn man mit der Iberia nach Mexiko fliegt.

Als wir Nezahualcóyotl erreichten, waren die Laternen erloschen, die Straßen leergefegt. Gegen Mitternacht brachte mich Pater Robert in mein Quartier. In das Viertel Tlatel in die Colonia el Sol. Das klang nach Sonne, Strand und Meer. Nach Urlaubsparadies. Was daran lag, dass der Mensch bei der Benennung von Orten zum Euphemismus neigt, wobei die Faustregel gilt, je hässlicher die Gegend, desto poetischer die Bezeichnung. Die wohlklingendsten Namen haben Müllsiedlungen. In Kairo lebten die Zabbaleen, die christlich-koptischen Müllsammler, in Ezbet el-Nakhl. Doch die »Palmenplantage« entpuppte sich als ein staubgraues Inferno aus Dreck und Gestank. In Manila tauften die philippinischen Scavenger, die »Aasfresser«, ihren Slum auf der städtischen Müllkippe Lupang Pangako, »Land der Verheißung«. Doch im postbiblischen Kanaan flossen weder Milch noch Honig. Ebenso wenig hielten die Villa Princesa oder der Jardim Paraná, was die Namen versprachen. Die Bewohner an den Rändern der brasilianischen Metropole São Paulo hatten ihre Favelas so getauft. Die »Stadt der Prinzessin« oder der »Garten von Paraná« waren Worthülsen, gefüllt mit geplatzten Träumen und Sehnsüchten.

Colonia el Sol! Die nächsten Tage würde ich über einer Guadería, einer Kindertagesstätte wohnen, ein quirliger, quicklebendiger Ort. Aber nur tagsüber. Abends, wenn die Kinder ihr Reich verlassen hatten, wirkte die Stille surreal. Deprimierend in der Abwesenheit alles Lebendigen. In einem Aufbau auf einer betonierten Dachterrasse hatte ich ein karges Zimmer bezogen. Draußen stand die Luft, geschwängert vom Rauch kokelnden Mülls. Der beißende Qualm stieg in die Nase, der faulige Gestank gärender Abfälle kroch in die Kleider, setzte sich fest und klebte schon nach wenigen Stunden am Körper wie eine zweite Haut.

In der Ferne jaulte eine Alarmanlage. Minutenlang. Der Schrei einer Frau durchschnitt die Nacht. Gellend und schmerzvoll. Bevor sich die Stimme orten ließ, verstummte sie. Ein Motor heulte auf, durchdrehende Reifen quietschten auf Asphalt. Dann wurde es wieder still. Ich träumte. Irgendwo weit draußen, im trüben Dämmerlicht am Horizont, pulsierte das Herz der mexikanischen Hauptstadt. Am Zócalo, wo immer irgendwer lautstark gegen irgendwas demonstrierte, oder auf der Plaza Garibaldi, wo die Mariachi-Musiker mit schmachtenden Volksweisen die Herzen der Liebenden erwärmten. Dreißig, vierzig Kilometer entfernt. Eine Ewigkeit weg. Ich träumte von einem kühlen Corona im quirligen Centro Histórico, von der nachtaktiven Zona Rosa und dem unscheinbaren Kellerrestaurant, in dem kulinarische Köstlichkeiten serviert wurden, für die man in Deutschland nach dem Ordnungsamt schreien würde. Cabeza al horno, glubschäugiger Ziegenkopf aus dem Backofen. Ich nahm einen Schluck aus einer Plastikpulle. Das lauwarme Wasser half nicht. Weder gegen den Durst noch gegen den Frust.

Ich wollte weg.

Noch ahnte ich nicht, dass ich in den nächsten Tagen die Geschichte eines Menschen kennenlernen würde, die all meinen Ärger, all meine Unpässlichkeiten zu Nichtigkeiten schwinden ließ, die Geschichte des Jesuiten Roberto Guevara Rubio, eines Mannes, der in manchen Momenten so aussah wie Sean Connery. Aber der Reihe nach.

Während die ersten Kinder um morgens um sieben von ihren Müttern in die Guadería gebracht wurden, holte mich Roberto ab. Seinen Kleinwagen vollgepackt mit Lebensmitteln, bretterte er durch das quälend monotone Nezahualcóyotl, benannt nach einem feingeistigen Aztekenkönig, der sich einst der Poesie verschrieben hatte. Neza, wie es kurz heißt, war angelegt wie ein Schachbrett und schier endlos in seiner Ausdehnung. Hier lebten mehr Menschen als in Berlin. Wir fuhren an einem künstlichen Fluss entlang, in dem eine schwarze Brühe gärte, Faulgase blubberten und Armaden grüner Fliegen summten. Der Abwasserkanal trennte die Wohnstadt Neza von der größten Müllkippe der Welt. Und die Abfallhalden Neza I, Neza II und Neza III waren verdammt groß. Vierzehn Kilometer lang und vier Kilometer breit. Im Jahr 2003 war ich hier allein unterwegs gewesen und hatte mir Ärger eingehandelt. Nicht mit den Pepenadores, wie die Müllsammler genannt wurden, wohl aber mit den Aufsehern. Die Müllmafia mochte nicht, wenn Fotografen durch den Unrat stiefelten und Kinder ablichteten, die Blechdosen oder Glasflaschen aus dem Abfall klaubten. Damals lebte der schwerreiche Müllbaron Don Celestino Fernandes Reyes noch, von dem man ehrfurchtsvoll erzählte, er habe mit achtzehn Frauen fünfundsechzig Kinder gezeugt. Der Patron prahlte, jedem seiner Sprösslinge genügend Grund und Boden für ein angenehmes Leben vererben zu können. Nun, so erzählte mir Roberto, herrschten Reyes’ Söhne über das gigantische Müllentsorgungs- und Recyclinggeschäft.

Wir passierten überladene Lastwagen, schwankende Eselskarren und Pferdefuhrwerke, die in Kolonnen an den Zufahrten der Deponie ausharrten. Ein Kontrollposten erkannte den Padre, bekreuzigte sich, öffnete den Schlagbaum und winkte uns durch. Roberto parkte am Fuße eines Abfallbergs, neben einer Hüttensiedlung, zusammengeschustert aus Presspappe, Plastikplanen und Wellblech. Im Minutentakt düsten Flieger vom Aeropuerto über die Kolonie hinweg, höllisch laut, zum Greifen nah und doch in himmlische Sphären entrückt. Unerreichbar für die Pepenadores. Sie begrüßten ihren Padre. Frauen, die eben noch im Müll nach Verwertbarem gestochert hatten, legten ihre Schürfhaken zur Seite. Männer, die unter Plastikplanen dösten, krochen aus dem Schatten hervor. Rudel streunender Köter tauchten aus dem Nirgendwo auf. Sie sahen wohlgenährt aus. »Hunde sind gut«, sagte Roberto, »wo es viele Hunde gibt, gibt es keine Ratten.«