Pandurenloch - Hans Regensburger - E-Book

Pandurenloch E-Book

Hans Regensburger

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Beschreibung

Kriminalkommissar Frieser ist in Pension. In Sulzbürg kursiert das Gerücht, dass im Pandurenloch hoch oben auf dem Schlossberg der Pandur umgeht. Seltsame Geräusche kommen aus dem Fels. Frieser verspürt keine Lust dem Gerede nachzugehen. Doch es will nicht verstummen. Zunächst ist es nur eine Ahnung, dann eine Idee, und plötzlich weiß Frieser, was er tun muss.

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Ähnliche


Vollständige eBook Ausgabe 2018

© 2018 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt/Regensburg

Titelbild: Pandurenloch am Schlossberg in Sulzbürg

Umschlaggestaltung: Silke Dorr

Umschlagfoto: Silke Dorr

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Hans Regensburger, geboren 1951 in Mörsdorf LK. Neumarkt i.d.OPf. Nachkomme von Land- und Gastwirten. Die Leidenschaft für die Schönen Künste stellte sich bei Hans Regensburger bereits in frühen Jahren ein. Seitdem ist er darin auch schöpferisch tätig.

www.hans-regensburger-literatur.lima-city.de

 

 

Geschichte und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Topografische Bezüge können von der Wirklichkeit abweichen.

 

 

Zum besseren Verständnis für Leserinnen und Leser, die »Krähentisch« nicht gelesen haben:

Anja - Leiterin der Spurensicherung bei der Kripo

Robert - Marions Ehemann

Jimmy - Roberts Halbbruder und Marions Geliebter vor Frieser

 

Goldner Hut von Buch - Prähistorischer Fund; gewürdigt von einem Denkmal in Postbauer-Heng, OT Buch

Hinweis

Der Autor haftet für keinerlei Personen- und/oder Sachschäden, die beim Betreten des Pandurenlochs entstehen. Er weist in diesem Zusammenhang auf das amtliche Betretungsverbot des Pandurenlochs hin. Das verfügte Herr Dr. Martin Hundsdorfer, der 1. Bürgermeister von Mühlhausen, im Namen seiner Gemeinde. Schilder und Absperrungen weisen darauf hin.

1.

Alfred hatte sich am Abend auf die Couch gelegt und war eingeschlafen. Er erwachte spät in der Nacht. Erst nach einer Weile dämmerte ihm, dass ihn ein Traum gebeutelt hatte.

In Alfred machte sich Erleichterung breit. Statt wie in diesem Traum Sklave seines Schicksals zu sein, war er Herr seiner selbst. Auch der Ort, wohin ihn sein Traum entführt hatte, und die Leute, denen sich Alfred dort ausgeliefert sah, waren wieder in weite Ferne entrückt. Er atmete auf. Statt im Würgegriff eines finalen Schreckens, ohne einen Funken Hoffnung seinem drohenden Ende ausgeliefert zu sein und vor Angst aufzuschreien, herrschte Ruhe, und Alfred sah Gegenstände, die ihm vertrauter nicht hätten sein können.

Der Leuchter über dem Couchtisch erhellte das Wohnzimmer. In diesem Licht schimmerte wie eh und je das Kirschbaumrot des Schranks und es glänzte das Graubraun des Fußbodens. Wie immer aus diesem Blickwinkel, sah Alfred auch das Bild neben der Tür. Kaum, dass er all das wahrgenommen hatte, verflogen die Einzelheiten seines Traums. Doch der Streit mit Dagmar, seiner Frau, der seinem Schlaf und Traum vorausgegangen war, lebte in ihm auf. »Weshalb ist sie so unzufrieden und giftig?«, fragte er sich. »Sie hat doch alles! Und was hatte sie zuvor? Einen Haufen Schulden, eine Wohnung in einer Bruchbude, eine Rostlaube mit abgelaufenem TÜV und keinen Vater für Katja! Für sie hatte Vater Staat die Alimente vorgestreckt. Ja, mit offenem Herzen habe ich das Mädchen adoptiert, weiß Gott, ja. Ich spürte schon am ersten Tag, dass es zwischen ihr und ihrer Mutter nicht stimmte, umso mehr zwischen ihr und mir.«

Alfred erinnerte sich, dass Katja und er sich vom ersten Augenblick an mochten. Mit Dagmars aufkeimender Launenhaftigkeit, die sich gegen ihn und Katja richtete, war das Mädchen für ihn im Haus zum einzigen Lichtblick geworden. Das jedoch habe ihm Dagmar nicht gegönnt. »Glaubst du, ich habe es auch dieses Mal nicht bemerkt, dass du deinem Adoptivvater schöne Augen machst.« Mit dieser Bezichtigung stieß sie die eigene Tochter vor den Kopf, als diese ihm ein Bier eingeschenkt hatte, ihm noch eine Bratwurst vom Grill holen und auf seinen Teller Gurkensalat nachlegen wollte. Eine seiner Leibspeisen, die er in den warmen Jahreszeiten besonders schätzte. »Neulich, als du ihm die Haare geschnitten hast, ist mir ein Licht aufgegangen. Von da an musste ich nicht länger rätseln, weshalb du jeden deiner Verehrer schon nach kurzer Zeit wieder den Laufpass gegeben hast.« Im Nu löste sich das Beisammensein im Garten auf. Schließlich saß Dagmar alleine am Tisch. Katja war in ihr Zimmer geflüchtet und Alfred ins Wirtshaus. Nicht einmal die laue Sommernacht hatte beide zurückhalten können; sie nahmen die Schwüle in Kauf, vor der sie am Abend Reißaus genommen hatten.

Nach ihrer Friseurinnenlehre und bestandener Gesellenprüfung mietete sich Katja in Neumarkt eine Wohnung. Alfred wäre es lieber gewesen, wenn sie bei ihm im Haus geblieben wäre oder wenigstens ihre Möbel dagelassen hätte. Doch diese Wünsche behielt er für sich. Weder ihren Namen noch Fragen zu ihrem Befinden noch den Grad seiner Sympathie zu ihr, wagte er in Gegenwart seiner Frau in den Mund zu nehmen. Trotzdem glaubte sie zu wissen, was Katja ihm bedeutete. Darüber hatte sich Dagmar immer wieder in Behauptungen verstiegen, zuletzt wenige Tage vor Katjas Umzug nach Neumarkt.

»Du hast nur meine Tochter im Kopf, die immerhin deine Adoptivtochter ist, du alter Bock, du, und das von Anfang an. Sag, schämst du dich gar nicht?« Es hatte ihm auch diesmal die Sprache verschlagen. Gezeichnet von einer Tränenattacke war er zu mehr als einem Kopfschütteln nicht imstande gewesen, denn er fühlte sich so unschuldig wie ein kleines Kind. Und obwohl ihm auf der Zunge lag, er sei doch nicht wie jener Prominente…, brachte er kein Wort über die Lippen. Stattdessen erinnerte er sich an seine letzte Begegnung mit Katja; für ihn ein untrüglicher Beweis, dass sie seit ihrer ersten Begegnung miteinander verschworen waren.

Er hatte in Neumarkt einen Zahnarztbesuch hinter sich gebracht, und sie wollte an ihrem freien Montag, angelockt von der Wärme und Pracht der Frühjahrssonne, in der Stadt ein bisschen bummeln. Im Schatten des Münsters kreuzten sich ihre Wege, und die Nachwirkungen von Alfreds Backenzahnbehandlung waren wie weggeblasen. Er schmunzelte. Es bedurfte keiner Absprache zu einer Einkehr beim Gottfried. Im Nu standen sie vor dessen Laden und Imbiss. »Wir haben Glück«, kommentierte Katja ihren Blick durchs Fenster, »schau, an dem Tisch dort sind noch zwei Plätze frei – wie für uns geschaffen, wir können sogar gegenübersitzen.«

Die 23-Jährige ergriff Alfreds Hand und zog ihn ins Innere des Lokals. Auf Barhocker gezwängt stießen sie an. Katja hatte an der Theke einen Weißwein bestellt und Alfred ein Wasser. »Gibt´s die Maunzi noch?«, eröffnete Katja die Unterhaltung.

»Ja!«, antwortete Alfred.

»Ich vermisse sie und nicht nur sie«, meinte Katja vielsagend und fügte hinzu: »Verwöhnst du sie noch mit Leckerbissen aus dem Kühlschrank, bevor du ins Bett gehst?«

»Ab und zu, Katja, ja, ab und zu!«

»Soll ich dir dabei einmal helfen?« Alfred holte Luft und wollte erwidern, dass es ihm lieber wäre, wenn sie darauf verzichten würde, doch er äußerte: »Nichts lieber als das!«

»Zuvor schreib ich dir eine SMS«, brachte Katja ihre Freude zum Ausdruck. Alfred lag auf der Zunge, dass er so gut wie nie sein Handy eingeschaltet habe und so gut wie nie seine Mitteilungen kontrolliere, doch nichts davon erreichte Katjas Ohr. Ihm war bewusst, wie belastend seine Zustimmung für ihn werden konnte. »Ach, wer weiß«, tat er diese Ahnung ab. Im Bann dieser Beschwichtigung verringerte er seine Nähe zu Katjas Gesicht keinen Fingerbreit. Denn sie hatten ihre Köpfe zusammengesteckt und redeten und redeten und lachten und redeten. Um sie herrschte Geschäftigkeit. Die Unterhaltungen der Leute an den Tischen, der Gläser- und Porzellanklang und das Kommen und Gehen der Gäste summierte sich in einem Grundrauschen, garniert von den Düften aus der Küche. Doch Katja und Alfred schienen davon nichts wahrzunehmen.

»Das Mädchen teilt meinen Geschmack und auch meine Ansichten über Gott und die Welt«, sinnierte Alfred, »doch ihre Mutter kann nicht einmal tolerieren, dass ich nicht will, dass in mein eigenes Haus ein Fremder einzieht, ein Fremder von weit, weit her – schon gar nicht in Katjas Zimmer, wie es meiner Angetrauten vorschwebt. Jene Zeitungsberichte über manche dieser Leute, die ich ihr unter die Nase rieb, riss sie mir aus der Hand und zerfetzte sie.« Alfred neigte seinen Kopf zur Seite. »Tatsächlich«, raunte er, »sie ließ das Ergebnis ihres Wutanfalls unter dem Couchtisch liegen: Das ist ein unverkennbares Zeichen.«

Den Schrank, den Fußboden und das Bild neben der Tür vor Augen schüttelte Alfred über Dagmars Geschmack den Kopf und murmelte: »Doch ich ertrage diesen Gelsenkirchener Barock, dieses Klickparkett, diese pseudoerotische Bizet-Carmen und deren Rahmung, die Gold vorspiegelt und die Zeit des Rokoko. Und meine Frau hat nur noch diese fremden Leute im Kopf und wirft dafür mit meinem Geld um sich; von ihren Mittelmeerkreuzfahrten ganz zu schweigen. Doch sie denkt nicht einmal im Traum daran, meine Ecken und Kanten hinzunehmen.« Die Vertiefung dieses Urteils war Alfred weder ein weiteres Wort noch einen weiteren Gedanken wert und die Dinge, die sein Auge beleidigten, keinen weiteren Blick.

Weil der Fernseher schwarz und stumm war, musste Alfred nicht lange überlegen. Ohne es gesehen und gehört zu haben, wusste er, dass Dagmar das Gerät ausgeschaltet hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Doch noch steckte Schlaftrunkenheit in ihm; sie hemmte seine Schritte – sein Gang war schleppend und seine Haltung gebückt. Als Alfred das Wohnzimmer verließ und hinter sich das Licht löschte, schlug der Regulator elf Uhr. Diese Wanduhr, deren Verbleib im Wohnzimmer Alfred und Katja zu Dagmars Verärgerung behauptet hatten, hatte bereits in der guten Stube seiner Urgroßeltern gehangen. Alfred hatte sie einst aus einem Berg alten Zeugs gerettet, bevor sein Vater aus dem Uhrkasten und dessen Schnitz- und Drechselwerk Brennholz machen und das Uhrwerk in die Eisenschrotttonne schmeißen konnte. »Und trotz aller Unkenrufe habe ich diese Uhr eigenhändig restauriert und wieder zum Schlagen und Laufen gebracht«, murmelte er von Trotz und Stolz geleitet vor sich hin.

Der 66-Jährige wollte ins Schlafzimmer hinaufgehen und sich neben Dagmar ins Bett legen, doch seine Schritte führten ihn von der Toilette nicht ins Schlafzimmer, sondern zur hinteren Haustür. Durch sie trat Alfred in den Hof und Garten hinaus. Da der Mond sich über den First des Hauses neigte, lag der halbe Hof in dessen Schatten.

In der kühlen Nachtluft lösten sich in Alfred auch die letzten Fesseln seines Schlafs. Die Nachwehen der Auseinandersetzung mit Dagmar blieben ihm auf den Fersen. »Es tut gut, dass ich hier draußen erst einmal zu mir komme, bevor ich mich neben sie ins Bett lege, wenn überhaupt«, sagte er sich.

Die Katze kam in den Schein des Lichts, der vom Flur nach draußen fiel. Sie begann zu betteln – lautstark. »Na, Maunzi«, raunte Alfred, »glaubst du, für dich finde ich im Kühlschrank noch etwas?« Mit einer Handvoll Schweinebraten, den er in der Küche in Streifen geschnitten hatte, kehrte er zu ihr zurück. »Gott sei Dank habe ich am Abend noch eine Scheibe übriggelassen«, atmete er auf. Doch wo war die Katze? Trotz des Vollmonds am Nachthimmel machte Alfred das Hoflicht an und schnalzte mit der Zunge. Von Maunzi war nichts mehr zu sehen und zu hören. Aus Erfahrung wusste er, dass ihn Maunzi jeden Augenblick wieder vor die Füße laufen konnte, außer sie hatte am Komposthaufen, im Holzstoß oder in der Hecke dahinter Beute gewittert. Sein Blick schweifte über den Rasen und die Hecke entlang. Dieser mannshohe Liguster begrenzte an der Ost- und Südseite das Grundstück. Auch dort war von Maunzi weder etwas zu hören noch zu sehen. Nicht ohne einen Schuss Wehmut bedauerte Alfred das. Denn nun kam er vor dem Schlafengehen nicht mehr zu dem Vergnügen, dass Maunzi gierig zu ihm emporschaute und miaute oder sich auf ihren Hinterbeinen aufrichtete, um endlich die Leckerbissen in seiner Faust fressen zu können. Daran hätte er Maunzi schnuppern lassen, bevor er den kalten Braten vor ihr aufs Pflaster gelegt hätte.

2.

Als es dämmerte erwachte Dagmar. Vergeblich tastete sie im Bett neben sich nach Alfred. »Warum habe ich ihn auf der Couch schlafen lassen, als ich ins Bett gegangen bin?«, haderte sie mit sich. »Typisch«, grummelte sie, als sie das Schlafzimmer verlassen hatte und ins Parterre hinuntergegangen war. Dort schien das Küchenlicht durch die offenstehende Tür in den Flur. Sie betrat die Küche, und ihr Herz begann zu rasen. »Alfred, bist du hier?« Mit diesem Pfeifen im Wald hatte Dagmar ihre Angst um ihn zu unterdrücken versucht. Doch außer ihr war niemand in der Küche.

Dagmar kehrte zurück in den Flur. Durch die Milchverglasung in der Wohnzimmertür schimmerte kein Licht. »Ich wette jeden Betrag, dass ich im Wohnzimmer das Licht brennen ließ und den Fernseher ausschaltete, bevor ich um zehn ins Bett ging – merkwürdig«, schoss es ihr durch den Kopf. Im Wohnzimmer angekommen, sprach sie in die Dunkelheit hinein: »Alfred, bist du vielleicht wachgeworden und hast das Licht gelöscht, bevor du dich wieder zum Schlafen auf die Couch gelegt hast?« Doch ihr blieb eine Antwort versagt. Dagmar machte Licht. Außer ihr befand sich niemand im Wohnzimmer.

Überall im Haus, in der Garage und draußen im Holzschuppen wollte sie ihn suchen. Doch sie zögerte. »Er wird sich doch nichts angetan haben«, wisperte sie und versuchte, mit einem Atemstoß den Druck in ihrer Brust zu mindern. »Weiß dieser Idiot denn nicht, was er uns damit antut? Weshalb nimmt er sich alles so zu Herzen, dieser Idiot, dieser verdammte Idiot, dieser alte, unappetitliche Mann, dieser schreckliche Knauser. Er stammt von einem Bauern ab, und er blieb ein Bauer, Ingenieur hin oder her. Als solcher war er mehr ein Tüftler als ein Ingenieur. Würde es ihn nicht geben, könnte Katja ihm keine schönen Augen machen, und mir blieben seine politischen Ansichten erspart – unerträglich sind die«, sagte sie kopfschüttelnd vor sich hin. Ihr Streit mit Alfred hatte sie eingeholt.

Dagmar hetzte durchs Haus und in die Garage, zu der im Flur eine Tür führte. Vor jeder Tür, die sie öffnete, und vor jedem Zimmer, das sie betrat, drohte sie vor Aufregung ohnmächtig zu werden. Ob im Parterre, im Keller, im ersten Stock und auf dem Dachboden, überall rief und suchte sie nach Alfred: Es war vergebens. Als sie in den Flur des Erdgeschosses zurückhastete, sah sie, dass im Hof das Licht brannte. Sie wusste, dass sie es überall im Haus angeknipst und nicht wieder gelöscht hatte. Aber den Schalter des Hoflichts hatte sie nicht einmal angerührt. Sie wollte hinaus und dennoch suchte sie nochmals im Haus und in der Garage nach Alfred, sogar in den beiden Autos sah sie nach. »Keine Spur«, stöhnte sie, als sie in Alfreds Golf und ihrem Touareg nachgeschaut hatte. Zurückgekehrt in den Flur des Hauses starrte sie wieder zur hinteren Haustür. Langsam näherte sie sich ihr. Auf halben Weg drang Maunzis Miauen an ihr Ohr. Dagmar blieb stehen. Sie wollte umkehren. »Nein, ich will die Polizei nicht anrufen – jetzt noch nicht!«

Nach Augenblicken des Zögerns ging sie in den Hof hinaus. Sofort kehrte ihr die Katze die Rückseite zu. Mit erhobenem Panier lief sie laut miauend nach links zum Hoftor und nicht geradewegs zum Holzschuppen, was Dagmar erwartet hatte. Die Fünfundvierzigjährige wischte sich einige Strähnen ihres blond gefärbten Haars aus dem Gesicht und folgte Maunzi. Vor dem Hoftor schrie Dagmar auf. Ein Mensch lag am Boden. Obwohl sie nur die Rückseite eines Mannes sah, erkannte sie, dass es Alfred nicht sein konnte. »O Gott, hoffentlich ist es nicht … Er darf es nicht sein!«, zuckte ihr durch den Kopf. Als ihr das Messer in seiner Faust auffiel, drohte ihr ein Schrei zu entfahren. Sie wusste nicht, ob sie sich drüber freuen oder betrübt sein sollte, dass sie am Messer kein Blut entdecken konnte. Einige Meter weiter trat sie auf etwas. »Für Maunzi. Aber es sieht so aus, als hätte sie davon nichts gefressen«. Während Dagmar das vor sich hin murmelte, bemerkte sie, dass Maunzi verschwunden und ihr Miauen verstummt war. Nun fiel Dagmar ein dunkler Halbkreis auf; er umschloss wie ein Heiligenschein den Schädel des Mannes am Boden. »Blut – mein Gott, er wird doch nicht tot sein! Er darf nicht tot sein, sonst…!«, gab sie mit erstickter Stimme von sich. Dagmar wollte zurück ins Haus. Doch als sie sich umdrehte, sah sie an der Tür des Holzschuppens Leuchtspuren; diese Fäden schimmerten in Bruchstücken entlang der Umrandung der Katzenklappe. Dagmar schreckte davor zurück, die Tür zu öffnen, um das Licht im Holzschuppen zu löschen. In ihr ging vor, was sie dort Schreckliches erwartete. Das wollte sie sich nicht antun. Doch als sie sich nach einigem Hin und Her sagte: »Es wird mir so oder so keine Ruhe lassen, denn vielleicht lässt sich noch etwas tun, bevor die Polizei kommt. Also Augen zu und durch.« Sie ging hinein. Alfred stand weder mit der Axt in der Hand vor ihr noch baumelte er mit einem Strick um den Hals an einem Querbalken der Decke. Ihr Mann war verschwunden und auch die Axt. Dagmar hatte erwartet, dieses Werkzeug würde mit der Schneide im Plateau des Hackstocks stecken – herbeigeführt von Alfred mit einem ansatzlosen Hieb aus dem Handgelenk; wann immer sie die Axt so im Hackstock stecken sah, rief sich ihr diese Beobachtung in Erinnerung. Nun knipste Dagmar im Schuppen das Licht aus, schloss die Tür und holte im Haus eine Taschenlampe. Obwohl es inzwischen heller geworden war, leuchtete Dagmar mit ihr vom Hof aus über den Rasen und die Hecke entlang, mit gedrückter Stimme einige Male den Namen ihres Mannes rufend. Sie kehrte ins Haus zurück, um es am anderen Ende des Flurs durch den Vordereingang wieder zu verlassen. Doch weder im Vorgärtchen noch auf dem Gehsteig noch auf der Straße war ihre Ausschau nach Alfred von Erfolg gekrönt. Zurückgekehrt ins Haus griff Dagmar zum Telefonbuch. Beim Blättern fiel ihr die Notrufnummer ein. Als sie am Apparat die 112 tippte, gehorchten ihr nur mit Müh und Not die Finger, und das, was sie in den Hörer sprach, drohte an ihrem Schluchzen zu ersticken. Nachdem sie die Verbindung getrennt hatte, bemerkte sie, dass sie nur den Mann, der in der Hofeinfahrt lag, erwähnt hatte, aber nicht Alfreds Verschwinden. Davon erfuhren aus ihrem Mund die Kriminaler Bachmann und Götz, als sie an der vorderen Haustür geklingelt hatten. »Ich hab ihn weder im Haus noch draußen finden können.« Die Beamten wollten zum Tatort. Dagmar ging voraus. »Da ist nichts mehr zu machen«, grummelte Bachmann mit Blick auf den Toten, Götz stimmte ihm zu. »Und seitdem … ist Ihr Mann verschwunden«, sagte er zu Dagmar. Sie nickte. Auch Bachmann und Götz fanden ihn nicht. Dagmar hatte der Hausdurchsuchung zugestimmt. »Wohnt außer Ihnen und Ihrem Mann noch jemand hier?«, fragte Götz. Dagmar verneinte. Im selben Augenblick dachte sie an Katja.

Mit Anja sowie dem Arzt und Pathologen an der Spitze traf kurze Zeit später auch die Spurensicherung ein. Für den Mann am Boden kam jede Hilfe zu spät. Der Arzt deutete an, dass dieser bereits mehrere Stunden zuvor an seinen Verletzungen verstorben war ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. »Mit einem Beil oder dergleichen wurde er am Kopf getroffen!«, antwortete er auf Bachmanns Frage. Dagmar dachte an die Axt, die sie nicht wie sonst im Holzschuppen gesehen hatte. Dass sie so selbstverständlich zum Inventar des Holzschuppens gehörte wie das Brennholz, der Hackstock, die Kreissäge, der Rasenmäher sowie Maunzis Fress- und Wassernapf, behielt die Frau für sich. Auch dann noch, als die Spurensicherung weder dort noch anderswo auf ihrem Grundstück und in den Gebäuden eine Axt oder ein Beil entdeckt hatte. Doch angesichts eines Hackstocks und von aufgeschichteten Holzscheiten im Schuppen wunderten sich Bachmann und Götz über Dagmars Unkenntnis. »Und sie haben nie das Ding gesehen, womit ihr Mann das Holz hackte?«, versuchte ihr Götz auf den Zahn zu fühlen.

»Nie!«, behauptete Dagmar. »Aber ich weiß, dass nur er unser Holz hackte.«

»Obwohl Sie das zu keiner Zeit mit Ihren eigenen Augen und Ohren wahrgenommen haben«, ließ Götz nicht locker.

»Zugeschaut habe ich nie. Aber das Holzhacken war nicht zu überhören, und manchmal fluchte mein Mann dabei auch«, redete sich Dagmar heraus. Ihr Gesicht war feuerrot.

»Sie haben nie den Holzschuppen betreten?«, bohrte Götz nach.

»Schon, aber meist nur, um die Katze zu füttern!«, erwiderte Dagmar.

»Und Sie können sich nicht erinnern, dabei einmal eine Axt oder ein Beil gesehen zu haben?«, legte Götz nach.

»Nie!«, behauptete Dagmar. »Mein Mann kümmert sich ganz allein ums Holz! …für ihn ein guter körperlicher Ausgleich.«

»Welcher Erwerbstätigkeit geht er nach?«, fragte Bachmann.

»Er verkaufte an die Chinesen!«

»Was?«, wunderte sich Bachmann.

»Seine Fabrik!«

»Eine große Fabrik?«, versuchte Götz Dagmars Einsilbigkeit zu durchkreuzen.

»Dreißig Beschäftigte, ich war die einunddreißigste.«

»Haben Sie und Ihr Mann Kinder?« Über diese Frage aus Götz´ Mund erschrak Dagmar. Katja werde doch nicht so dumm sein und ihn – Alfred – verstecken, dachte sie. Bei ihrer Antwort geriet sie ins Stottern. Götz wiederholte, was sie gesagt hatte: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Sellwald, haben Sie eine leibliche Tochter, die Ihr Mann adoptierte, und er selbst hat keine leiblichen Kinder, auch nicht aus einer anderen Beziehung.«

»Soviel ich weiß, ja!«

»Gab es vor Ihnen eine andere Frau hier im Haus?«, fragte Götz.

»Sie starb! Mein Mann war Witwer, als wir uns näher kennen lernten«, erklärte Dagmar.