Pâquis - Geheimnisse der Nacht - Carlo Muller - E-Book

Pâquis - Geheimnisse der Nacht E-Book

Carlo Muller

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Beschreibung

In der Genfer Privatbank Tarbes findet ein ungeplantes Treffen statt. Es geht um eine Tasche voller Geld und ein altes Versprechen. Der junge Angestellte Louis, der heimlich lauscht, wittert die Chance seines Lebens. Mit dem Geld könnte er seine kühnen Zukunftsträume sofort verwirklichen. Er entwirft einen Plan, für dessen Umsetzung er auf die Hilfe der bezaubernden Fleur angewiesen ist, die in einem berüchtigten Varieté als Maskottchen arbeitet. Als alles aus den Fugen gerät, hängt die Zukunft von illustren Freunden ab ...

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Carlo Muller

Pâquis – Geheimnisse der Nacht

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Hugh Adams / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7922-9

Zitat und Widmung

»Deine Verantwortungslosigkeit ist jedes Mal wieder eine Inspiration für mich.«

Daniel Klein

*

Für Anna

1 Ein Traum

Die Rhône rauschte friedlich dahin auf ihrem langen Weg nach Süden und hinter dem Pont du Mont-Blanc zog ein gelbes Propellerflugzeug seine Bahnen über dem glitzernden Wasser des Genfer Sees. Gleißendes Licht flutete die Straßen und Plätze der Stadt. Es war Anfang Juni und zum ersten Mal richtig heiß.

Mein Chef, Gaspar Tarbes, wedelte wütend mit einem Bündel Papier in der Luft herum. Unter seinen Achseln verdunkelten Schweißflecken das hellblaue Hemd. Mit stechenden, tief in seinem verlebten Baumrindengesicht vergrabenen Augen nahm er mich ins Visier.

»Louis, was soll der Mist? Ich sagte Dienstag, nicht Donnerstag! Dienstag, kapiert?«

Ich rückte meinen Kragen zurecht. Für den Inhalt des Sitzungsprotokolls, dessen Entwurf er vor meinen Augen in tausend Fetzen riss, hätte ich die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte Donnerstag gesagt, das wusste ich so sicher wie meinen eigenen Namen. Trotzdem verzichtete ich darauf, mich zu verteidigen, und ließ seinen Angriff widerstandslos über mich ergehen.

»Wird sofort geändert. Kann ich sonst noch was tun?«

»Und ob! In Zukunft spitzt du gefälligst deine Ohren, wenn ich etwas sage, kapiert?«

Ständig sagte er kapiert. Kapiert hier, kapiert dort, jeder zweite Satz endete damit, und jedes Mal hätte ich ihm dafür am liebsten einen Kinnhaken verpasst. Aber das ging nicht. Am Ende des Monats brauchte ich das Geld. Kein Geld, kein Boot. Kein Boot, keine Freiheit.

Also antwortete ich: »Jawohl, Gaspar.«

Ohne sich darum zu scheren, ob sie ihr Ziel erreichten, warf er die Schnipsel in Richtung Papierkorb. Kaum hatten sie seine Hand verlassen, formierten sie sich zu einer Wolke und rieselten langsam zu Boden. Er stampfte zurück in sein Büro und warf die Tür dermaßen wuchtig ins Schloss, dass sie direkt wieder aufsprang.

Während ich die Unordnung beseitigte, lächelte mir Claire, deren Schreibtisch direkt an meinen anschloss, aufmunternd zu. Dabei rückte sie sorgsam das gerahmte Familienfoto zurecht, das sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter, alle drei strohblond und braun gebrannt, im Urlaub in der Toskana zeigte. Sie gehörte zu den wenigen in der Bank, die Fröhlichkeit nicht für ein Symptom fortgeschrittener Debilität hielten.

Schräg gegenüber weidete sich Émile an Gaspars eben geführter Attacke. Hinter seinen dicken runden Brillengläsern, die die Unschärfe seiner hornhautverkrümmten Augen korrigierten, hauste ein hocheffizienter, fehlerlos arbeitender Verstand. Er war der geborene Bürokrat: pflichtbewusst, pingelig und vollkommen humorlos. Seine eingefallenen Wangen und die schmalen, kaum vorhandenen Lippen zeugten von seiner angeborenen Neigung zur Askese. Er war blind für die Freuden des Lebens. Abgesehen davon, dass wir beide fünfundzwanzig Jahre alt waren und am exakt gleichen Tag bei Tarbes angefangen hatten, besaßen wir nicht die geringste Gemeinsamkeit. Uns trennte ein unüberwindbarer Graben instinktiver, ehrlicher Abneigung, den kein guter Wille dieser Welt, nicht einmal lastwagenweise, zuzuschütten vermochte.

Gaspar schwang als Finanzchef und Leiter der IT eine unerbittliche Peitsche. Und wenn er nicht gerade am Knechten war, dann wütete er. In seiner Seele glomm die Raserei, und wenn sie plötzlich Flammen schlug, war es besser, man kam ihm nicht in die Quere. Konsequenzen brauchte er keine zu fürchten, denn die Banque Privée Tarbes, wie diese Heimsuchung mit vollem Namen hieß, war eine Privatbank und befand sich vollumfänglich im Besitz seines Vaters, des Bankiers Laurent Tarbes, dessen einziger Sohn und künftiger Alleinerbe Gaspar war.

Was mich betraf, so war ich einfach nur irgendeiner von zweihundert Angestellten. Unauffällig. Bedeutungslos. Identifikationsnummer A472. Das Gebäude, in dem ich mir den lieben langen Tag den Hintern platt saß und wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Grundstein für mein heutiges Arbeitsleiden gelegt worden war, stand auf der Nordseite des Flusses an der Place des Bergues. Mit seinen hohen Fenstern und den Ornamenten in Form von gequälten Ochsenköpfen und seltsam schielenden Mondgesichtern sah es aus wie ein Gemeindehaus, das sich vom Land in die Stadt verirrt hatte. Von ländlicher Beschaulichkeit war im Inneren allerdings wenig zu spüren; hier prägten nach mehreren raumschaffenden Ausweidungen monotone Großraumbüros das Bild. Lediglich ein längst ausrangierter Schließraum, der sich nur wenige Meter von meinem Arbeitsplatz entfernt befand und sich mit seiner blau lackierten Eisentür und dem langen Hebel angenehm von der allgemeinen Eintönigkeit abhob, hatte die Jahre heil überdauert. Er diente Gaspar als persönliche Rumpelkammer, in der er Alkohol, Schuhe und allerlei anderen Kram aufbewahrte. Die Place des Bergues war nur mehr der stickige Maschinenraum, der den Luxusdampfer auf Kurs hielt. Den Hauptsitz hatte man längst in einen repräsentativen Sandsteinbau mitten ins Herz der Altstadt verlegt. Dort empfingen die Kundenberater ihre gut betuchte Klientel, und dort ruhten, tief in den Boden eingegraben und durch meterdicken Stahlbeton geschützt, Schließfächer und schwer gepanzerte Tresore. Zuoberst, umgeben von den Ölporträts seiner Vorfahren, residierte der Boss: Laurent Tarbes. Er war der Einzige, den niemand zu duzen wagte. Ein ungeschriebenes, von Mund zu Mund tradiertes Gesetz besagte, dass dazu nur Mitglieder der Geschäftsleitung sowie langjährige Angestellte befugt waren, denen dieses Privileg zuvor von ihm selbst angetragen worden war. Der Alte, so sein heimlicher Spitzname, sprühte mit seinen zweiundsiebzig Jahren nur so vor Lebenskraft und hielt die Zügel unermüdlich fest in der Hand. Von der Belegschaft wurde er seiner Geradlinigkeit und Entschlossenheit wegen vorbehaltlos als Anführer akzeptiert, wohingegen der unberechenbare Gaspar weniger durch seine Finanzexpertise als vielmehr durch irritierendes Verhalten auffiel. Gaspar war nicht nur ein krankhafter Choleriker und ein versoffener Egomane, sondern obendrein auch noch ein stadtbekannter Lustmolch. Einer gut informierten Quelle zufolge entschied der Alte höchstpersönlich darüber, welche Mitarbeiterinnen in seiner unmittelbaren Reichweite arbeiten durften und welche nicht. In Betracht kamen dabei nur solche, die entweder verheiratet oder ästhetisch benachteiligt waren, im Idealfall beides. Dieselbe Quelle hatte zudem berichtet, dass selbst Gaspars eigene Kinder unter seinem diabolischen Wesen zu leiden hatten. So mussten die siebenjährigen Zwillinge – der erstgeborene Laurent junior und der um fünf Minuten jüngere Gaspar junior – ohne ihren Vater aufwachsen, da dieser keinerlei Interesse an ihnen zeigte. Die aus einer vertraglich abgesicherten und längst geschiedenen Zweckverbindung hervorgegangenen Stammhalter standen deshalb voll und ganz unter der Knute der Großmutter, die ihnen mit einem Vielfachen jener Strenge Anstand und Selbstbeherrschung einzutrichtern versuchte, die an ihrem missratenen Sohn abgeprallt war wie Wasser an einem Duschvorhang. Manchmal zogen Tage, gar Wochen ins Land, in denen er sie nicht zu Gesicht bekam. Der Alte ermahnte ihn hie und da, es nicht allzu bunt zu treiben, doch grundsätzlich sah er keinerlei Anlass zur Besorgnis. Die Kleinen gediehen und die Geschäfte entwickelten sich trotz der verheerenden Finanzkrise, die etlichen Konkurrenten den Garaus gemacht hatte, sehr erfreulich. Und nur darauf kam es letzten Endes an. Außerdem hatte Gaspar seinen Laden, so wie die meisten Tyrannen, jederzeit fest im Griff.

Diese Quelle, dieser Maulwurf, der die halbe Welt über die Tarbes’schen Privatangelegenheiten auf dem Laufenden hielt, hieß Laura und saß an einem blumengeschmückten Schreibtisch direkt neben Gaspars Büro. Die fleißige Assistentin mit der reizlosen Birnenfigur und den hellbraunen Haaren sortierte die ein- und ausgehende Post, nahm Anrufe entgegen, organisierte Gaspars E-Mails, seinen Kalender und auch sonst sein halbes Leben. Zusätzlich zu den ihr übertragenen Pflichten hörte sie heimlich Telefonate und Unterhaltungen mit, durchsuchte Kleidungsstücke, Taschen und Schubladen und plauderte jeden Klatsch, dessen sie habhaft werden konnte, mochte er noch so vertraulich sein, brühwarm aus. Sie besaß gerade genug Selbstkontrolle, um sich nicht vor potenziellen Denunzianten à la Émile zu produzieren. Sie könne nichts dafür, hatte sie mir einmal anvertraut, denn Mutter Natur habe ihr eine penetrante Neugier und eine nicht therapierbare Form des Geheimnisdurchfalls mit auf den Weg gegeben. Ihr war klar, dass, sollte sie jemals auffliegen, mit Gnade nicht zu rechnen war. Umso mehr ließ sie jede noch so he­rabwürdigende Behandlung klaglos über sich ergehen und bemühte sich, ihrem ahnungslosen Chef jeden Wunsch von seinen wulstigen Lippen abzulesen.

Normalerweise fiel auch das Verfassen von Protokollen in ihren Zuständigkeitsbereich. Letzte Woche aber hatte sie sich einen Nachmittag freigenommen, um ihrem geliebten Kater Cuauhtémoc bei dessen Kastration fürsorglich die Pfoten zu drücken. So oblag es mir, Gaspar in die Vorstandssitzung zu begleiten und das leidige Amt des Protokollführers zu übernehmen. Protokolle schreiben kann eine überaus undankbare Aufgabe sein, denn man ist gezwungen, Sachverhalte und Gespräche wiederzugeben, von denen man unter Umständen gar nichts wissen will. Und schweift man auch nur für ein paar Sekunden ab, so riskiert man, den Faden zu verlieren und nicht wiederzufinden. Aber ich war nicht abgeschweift. Ich hatte mich am Riemen gerissen und ein ordentliches Dokument verfasst.

Laura legte den Hörer auf und schloss vorsichtig die Tür zu Gaspars Büro. Mit Ausnahme der Sitzungsräume war es der einzige abgeschlossene Arbeitsraum auf dem gesamten Stockwerk. Er bestand vom Boden bis zur Decke aus wackligen Kunststoffglasplatten. Zwecks Gaffschutz hatte Gaspar Jalousien anbringen lassen und ringsherum Bambuspflanzen aufgestellt. Den Rest des Großraumbüros entstellten geometrisch angeordnete hellgraue Tische, die den Platz optimal ausnutzten und die Zahl der Arbeitsplätze maximierten. Damit man sich nicht restlos wie eine Henne in der Legebatterie vorkam, schufen hüfthohe Aktenschränke und temperamentloses Grünzeug sogenannte Arbeitsnischen, die die verschiedenen Teams notdürftig voneinander abgrenzten. In einer dieser Nischen arbeiteten wir zu dritt an Projekt Phoenix, dessen Ziel es war, die existierende Softwarelandschaft mit ihren zahlreichen veralteten Anwendungen durch ein einziges neues System abzulösen. Claire, eine selbstständige Unternehmensberaterin, war eigens für die Dauer dieses furchtbaren Projekts eingestellt worden und stellte sicher, dass alle Funktionen der neuen Software mit den Anforderungen und Eigenheiten der Bank konform gingen. Der in Windeseile zu Gaspars wichtigstem Handlanger aufgestiegene Émile wachte mit seinem Geierschädel über den Projektplan.

Ich änderte Donnerstag in Dienstag und schickte Gaspar die aktualisierte Fassung. Danach war ich wieder frei für meine eigentliche Aufgabe: das Erstellen von Arbeitsabläufen, der Kürze halber »Prozesse« genannt. Es war wie verhext. Schwarze Magie. Ein böser Zauber. Immer, wenn ich das Programm mit dem hochtrabenden Namen Poseidon startete, war es, als bestiege ich eine Zeitkapsel: Während der Mauszeiger über den Bildschirm huschte und ich blaue Kästchen für Arbeitsschritte, gelbe für die dabei benutzte Software und grüne für die ausführenden Abteilungen mit Pfeilen in eine sinnvolle Ordnung brachte, schien es, als stünde die Zeit still. Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Die Zeit dehnte und streckte sich, teigig und schwerfällig, ohne die geringste Absicht zu vergehen. Es war der blanke Horror. Um he­rauszufinden, wer was tat, verschleppte ich meine Kollegen in langwierige Sitzungen, in denen sie mir haargenau berichten mussten, welche Tätigkeiten sie in welcher Reihenfolge erledigten und wie lange sie dafür brauchten. Wenig überraschend betrachteten sie mich als Nervensäge, als Eindringling, der ihnen viel zu dicht auf die Pelle rückte. Ich wünschte mir, sie hätten gewusst, dass mir dieser Mist genauso lästig war. Aber das konnte ich ihnen ja schlecht sagen. Die fertigen Prozesse besprach ich dann mit Claire, die engen Kontakt mit dem Softwarehersteller und dessen Programmierern hielt. Ganze zwei Jahre ging das nun schon so. Seit dem allerersten Tag. Schon mehrmals hatte ich kurz davorgestanden, alles hinzuwerfen. Dieser ganze Kokolores interessierte mich nicht, nichts davon. Und ich fragte mich, ob es tatsächlich Menschen gab, die derartigen Stumpfsinn gerne taten. War das möglich? Machte ich einen Denkfehler? War ich abnormal? Vielleicht undankbar? Oder erging es den anderen gar gleich wie mir? Litten sie heimlich dieselben Qualen? Wollten auch sie abends nicht einschlafen, um den Beginn des nächsten Tages noch eine oder zwei Stunden hinauszuzögern? Denkbar, sicherlich. Jedoch unwahrscheinlich. Den Leuten hier schossen Erfolgshunger und Arbeitswut aus allen Poren. Unter ihnen kam ich mir vor wie ein Aussätziger; ein Nackter unter lauter Bekleideten. Aber irgendwie gelang es mir trotzdem jeden Morgen aufs Neue wieder, meinen ungeheuren Widerwillen gegen all dies zu überwinden und anständige Arbeit abzuliefern. Das tat ich nicht etwa aus Ehrgefühl oder Gründen der Moral, sondern aus reiner Notwendigkeit. Denn wer die hohen Erwartungen nicht erfüllte, landete schnell auf der Abschussliste. Weil Émile und Claire ständig bis spätabends schufteten, leistete ich gelegentlich sogar unnötige Überstunden, nur um nicht abzufallen. Ich hatte mich, so gut es eben ging, eingerichtet. Gaspars ständige Ausraster versuchte ich zu ignorieren, was am besten funktionierte, wenn ich einfach alles kommentarlos hinnahm und unzerkaut hinunterschluckte, tief durchatmete und weitermachte, als sei nichts gewesen. Ich überlebte, indem ich stets nach dem übergeordneten Prinzip der Konfliktvermeidung agierte und mich aus allem heraushielt. Dies galt auch für scheinbar belanglosen Small Talk, in den ich, aller Vorsicht zum Trotz, immer wieder verwickelt wurde. Die Gespräche drehten sich dann um Nichtigkeiten wie den allgemeinen Gang der Geschäfte, die Entwicklung der Zinskurve oder den Zustand der Weltwirtschaft. Nichts davon kümmerte mich. Es hätte mir gleichgültiger nicht sein können. Und genau deswegen war hier größte Vorsicht geboten. Mit unüberlegten Kommentaren gab man sich nämlich leicht als demotivierter Trittbrettfahrer zu erkennen, was äußerst unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen konnte, zum Beispiel eine Unterredung mit Gaspar. Also handelte ich immer nach dem gleichen Muster: Geduldig hörte ich mir das Gefasel an, und was immer der Erzähler von sich gab, mochte es auch der bahnbrechendste Mumpitz sein, tat ich, als sei es der Weisheit letzter Schluss und erging mich in zustimmendem Gemurmel. Gaspar war ein Ekel und die Arbeit eine wahre Plage, aber immerhin stimmte die Bezahlung. Und solange ich gewisse Termine einhielt, durfte ich frei entscheiden, wann ich was erledigte. Mehr durfte einer wie ich von der Arbeitswelt nicht erwarten.

Die Bank war sowieso nur eine Zwischenstation, eine Art Durchgangslager auf dem Weg in die Freiheit. Bunte Kästchen in irgendeinem beknackten Computerprogramm interessierten mich nicht die Bohne! Das Leben hatte mehr zu bieten, als in einem nach warmem Computerplastik stinkenden Büro zu verwelken wie die Blumen auf Lauras Tisch. Viel mehr. Was ich in Wirklichkeit wollte, war segeln. Segeln, segeln und nochmals segeln. Auf meinem eigenen Boot, quer und endlos über die Meere dieser Welt. Da war diese brennende Sehnsucht. Diese Gier nach dem ganz großen Abenteuer. Meine Zukunft, anders konnte und wollte ich es mir nicht vorstellen, war die Weltenbummelei. Ich wollte hin zu den grünen Küsten Brasiliens und den Düften Sansibars, den Stürmen Feuerlands, den Fjorden des Nordens und der Einsamkeit Australiens; ich wollte mich in den magischen Nebeln Japans verlieren, durch das Labyrinth der Philippinen irren und den Piraten Indonesiens entkommen; ich wollte nach Papua, wo die Zeit nicht existierte, tanzen zu den Rhythmen der Karibik und surfen auf den Wellen Hawaiis, die Geheimnisse Neuseelands ergründen und die Pyramiden Yucatáns besteigen, in den Hafen von Buenos Aires einfahren und in den Lorbeerwäldern Madeiras spazieren; ich wollte vom ewigen Frühling der Kanaren kosten und den einsamen Norden Kanadas erkunden, das herbstliche Neuengland besuchen und die Beringstraße passieren; ich wollte mich im Golf von Neapel in der Sonne wälzen, in den weißen Städtchen Andalusiens Tinto de Verano schlürfen, den Zauber Südostasiens entdecken; einen Abstecher machen zu den Regenbögen von Iguaçu; ich wollte hin zu den Wolken der Azoren, hin zu den Abertausenden Atollen Polynesiens, hin zu den Orten, an denen die Menschen noch Menschen sind, hin zu den Inseln unter dem Winde und denen darüber, hinaus aufs Meer, wo der blaue Himmel mit dem Ozean verschmilzt, wo der Horizont unsichtbar und die Welt grenzenlos ist, zu den fliegenden Fischen, Schildkröten, Walen, Riesenkraken und Delfinen; hin, wo die fernen Inseln sind mit Palmen und Stränden von weiß bis schwarz, speiende Vulkane, zischende Schlangen, Urwälder und riesige Ströme, Affen, Riesenkatzen und Vögel in allen Farben; ich träumte von goldenen Sonnen und silbernen Sternen.

Doch die Sache hatte einen Haken: Irgendwer musste den ganzen Spaß bezahlen. Und weil ich keinen kannte, der das für mich übernahm, kam dafür nur ich selbst infrage. Was ich brauchte, war eine hochseetaugliche Jacht von zwölf bis fünfzehn Metern Länge, stark genug, um den wildesten Stürmen zu trotzen. Gebraucht und mit dem nötigen Drum und Dran kostete so ein Ding mindestens siebzigtausend Franken. Damit war es aber noch längst nicht getan. Auch laufende Kosten, insbesondere für Essen und Diesel, mussten einberechnet werden. Vo­rausplanung und Bescheidenheit waren Pflicht. Treibstoff kaufte man dort, wo er günstig war, und unnötiges Fahren unter Motor galt es tunlichst zu vermeiden. Zu essen gab es vor allem Reis und Pasta, dazu warf man die Rute aus und bunkerte billiges Bier anstatt teuren Wein oder brannte den Fusel gleich selbst. Überdies schadet es der Bordkasse nicht, bei Gelegenheit als Hafenarbeiter anzuheuern. Die größte Gefahr für das bescheidene Seemannsglück drohte indes durch Schäden. Risse in der Schale, ein Ruderbruch oder ein geknickter Mast ließen sich nicht eben mit ein paar Tagen Hafenarbeit berappen. Deshalb brauchte ich ausreichend Puffer. Denn wäre ich erst einmal aufgebrochen, dann würde ich nie wieder in ein Leben wie das jetzige zurückkehren. In der Summe belief sich mein Kapitalbedarf auf schätzungsweise zweihunderttausend Franken. Das musste bis zur Erreichung des Rentenalters und den damit verbundenen monatlichen Minimalzah­lungen, denn mehr stünde mir nicht zu, reichen. Um diesen Betrag aufbringen zu können, legte ich jeden Monat eintausendfünfhundert auf die hohe Kante. Das bedeutete, dass ich bei gleichbleibendem Einkommen elf Jahre und vier Monate diszipliniert sparen musste. Gehaltssprünge erwartete ich keine, da der überproportionale Mehraufwand, um diese zu erreichen, mich zwangsläufig in den mentalen Ruin triebe. Mein Kumpel Paul hielt nicht viel von alledem. »Zweihunderttausend?!«, schnodderte er jedes Mal, wenn ich darauf zu sprechen kam, »Das reicht nirgendwohin. Allein zehn Prozent des Listenpreises pro Jahr musst du als Betriebskosten rechnen. Nach fünf, spätestens sieben Jahren bist du pleite. Allerspätestens. Außer du lässt dir von einer Agentur alle drei Wochen eine Fuhre Touris aufs Boot schicken, aber dann bürdest du dir wieder Verpflichtungen auf und kannst nicht hin, wo du hinwillst. Und diese Idee von wegen Hafenarbeiter, das ist doch totaler Quatsch. Tu, was du willst, Louis, aber ich sag dir, du bist ein Träumer. Ein Träumer!«

Paul konnte sagen, was er wollte. Ich glaubte felsenfest an meinen Plan und nichts und niemand würde mich jemals davon abbringen.

Zwei Jahre, die sich anfühlten wie zehn, lagen mittlerweile hinter mir, und mir wurde übel, wenn ich an die neun anderen dachte, die mir noch bevorstanden. Manchmal, nachts, wenn ich wach dalag und an die Decke starrte, grübelte ich nach einer Abkürzung, einem Weg, um dieses Siechtum in Anzug und Krawatte zu umgehen oder doch zumindest zu beschleunigen. Ich überlegte und überlegte. Aber mir fiel einfach nichts ein. Von Mord und Totschlag abgesehen, hätte ich alles dafür getan.

Um kurz nach fünf stellte Gaspar seine rotbraune Krokodilledertasche auf Lauras Schreibtisch und erteilte ihr mit dirigentischem Gefuchtel letzte Anweisungen. Dann warf er einen Blick auf seine klobige Armbanduhr und hastete davon, als stünde er kurz davor, ein Treffen mit dem Sultan von Brunei zu verpassen. Diese Clownerei führte längst niemanden mehr in die Irre. Er hatte so wenig einen Termin, wie er sich gegen das Bienensterben einsetzte. In Wirklichkeit begab er sich schnurstracks in die nächstbeste Bar, um sich Whiskey hinter die Binde zu kippen und Jagd auf kurze Röcke zu machen. Am nächsten Morgen, so gegen halb zehn, vielleicht auch später, würde er mit einem gewaltigen Kater, ohne dass er seiner Tasche auch nur ein einziges Dokument entnommen hätte, angetaumelt kommen und alle seine Termine absagen.

Eine halbe Stunde nachdem er gegangen war, schaltete ich meinen Computer aus, was Émile ein verächtliches Schnauben entlockte. Dieser Langweiler ging nie so früh nach Hause. Mit schierem Fanatismus klebte er an seinem Stuhl und fütterte den Computer mit Daten, die die Welt nicht brauchte. Ich machte mich lieber vom Acker. Heute gab es keine Überstunden; dafür war der Abend viel zu schön.

Auf dem Korridor, mit dem unsere Arbeitsnische durch eine Tür direkt verbunden war, kam mir Valérie entgegen. Mühsam wuchtete sie ein Bein vor das andere. Sie war dick wie ein Eisbär und ihre dünnen blonden Haare klebten an ihrem aufgedunsenen Kopf, als hätte man verkochte Spaghetti auf eine Wassermelone geklatscht. Sie roch nach Schweiß und Puder und sandte negative Vibrationen aus. Sie tat mir leid. Ständige Hektik, Medikamente und schlechtes Essen hatten sie in ein Monster verwandelt. Seit Anbeginn der Zeit unterstand ihr die Buchhaltung, womit sie zum erlauchten Kreis der Laurent-Tarbes-Duzer gehörte.

Ihr schlaffer, schlauchiger Mund formte ein Wort, vielleicht auch mehrere. Auf jeden Fall verstand ich rein gar nichts.

»Wie?«, fragte ich.

»Schnen bend!«, wiederholte sie schweratmig.

»Was bitte?«, fragte ich noch einmal. Wenn sie gleichzeitig sprach und sich bewegte, war sie kaum zu verstehen. Trotzdem kam ich mir langsam blöd vor.

»Schnen bend!!« Ein ungesundes Rasseln stieg aus ihren Lungen auf.

Endlich begriff ich. »Ach so. Danke, Valérie, dir ebenfalls einen schönen Abend.«

Sie stützte sich an der Wand ab und hustete in die hohle Hand.

Ich hielt meine Karte an den Auslöser und betrat das Drehkreuz der Sicherheitsschleuse, das mich auf die andere Seite zu den Liften schob, wo eine eulenhaft anmutende Kamera jede meiner Bewegungen überwachte.

Dann war es endlich geschafft. Wieder ein Tag weniger. Auf dem Vorplatz unter der jungen Linde lockerte ich meinen Krawattenknoten und ritzte in Gedanken einen weiteren Strich in die Zellenwand.

Ich folgte dem Wasser. Die ganze Strecke vom Pont du Mont-Blanc bis zur äußersten Ecke der Promenade, dort wo der Quai du Mont-Blanc auf den Quai Wilson trifft, drängten sich Scharen von Touristen und Einheimischen, die sich gut gelaunt unterhielten, Fotos schossen und an ihren Getränken nippten. Auf der breiten Quaimauer hüpften Kinder zu den Melodien von Straßenmusikanten, und ein Eisverkäufer läutete ein hell klingendes Glöcklein. Im Hintergrund sprühte der Jet d’Eau einen zarten Regenbogen in den Abendhimmel. Es waren Szenen wie aus einem Reiseprospekt. Am Ende des Quais überquerte ich die Brücke zu den Bains des Pâquis. Das Freibad bei dem kleinen Leuchtturm war der perfekte Ort, um nach der Schufterei ein wenig abzuschalten.

Zuhinterst, weg vom Trubel, setzte ich mich an den Rand der Mole und zog die Schuhe aus. Ich tauchte die Füße ins Wasser und sah den Masten der Boote zu, die auf der anderen Seite der Bucht wie verkehrt in den Himmel ragende Pendel gleichmütig und beruhigend hin und her wogten. Kleine Wellen platschten gegen die Steine. Die Sonne wärmte mein Gesicht.

2 Die Rue de Neuchâtel

Ich kam oft in die Bains des Pâquis und genoss den Anblick der Segelboote und die Aussicht auf die Berge, die sich im Wasser spiegelten. Manchmal ging ich auch einfach spazieren, machte Umwege und schlenderte dahin. Im Winter, wenn es so kalt war, dass der Wind Bäume und geparkte Autos mit einem stromlinienförmigen Eis­panzer überzog und einem schon nach wenigen Minuten im Freien die Lippen blau anliefen, verlegte ich mein frühabendliches Entspannungsritual ins Einkaufszentrum und ließ mich vom allgemeinen Sog durch die Regale spülen.

Knappe zehn Minuten wackelte ich mit den Füßen im kühlen Wasser, dann zog ich sie auch schon wieder heraus und machte mich barfuß auf den Heimweg. Mein Magen knurrte wie ein Löwe. Den ganzen Tag über hatte ich kaum etwas gegessen. Trotz meines Hungers ignorierte ich die Flut von Restaurants, die links und rechts um die Gunst der Hungrigen wetteiferten. Und auch an den allgegenwärtigen Imbissbuden, in denen ich mir regelmäßig den Bauch mit zweitklassigem Fraß vollschlug, ging ich zielstrebig vorbei. Mich erwartete etwas Besseres. Etwas, auf das ich mich schon seit Stunden freute; ein Stück Fleisch der ganz besonderen Art: ein Elefantenohr. Auf meinem gestrigen Streifzug war ich zufällig in ein Delikatessengeschäft mit dem vielversprechenden Namen Bel Paese gestolpert, in dem sich vom hölzernen Boden bis unter die stuckverzierte Decke die erlesensten Köstlichkeiten türmten. Nachdem ich mich eine Weile umgesehen hatte, entdeckte ich in der Auslage schließlich ein riesiges, platt geklopftes, paniertes Stück Kalbfleisch, das die Italiener in Anlehnung an das tierische Original »orecchia d’elefante« nannten – das hatte mir zumindest der alte Wucherer erzählt, der hinter der Kasse stand. Ohne nachzudenken, blätterte ich wahnwitzige dreißig Franken hin. Die Zubereitung nahm weniger als zehn Minuten in Anspruch und war kinderleicht: kurz in Butter auf beiden Seiten anbraten, dazu ein Zitronenschnitzchen und fertig. Während ich halb betäubt vor Vorfreude durch die Straßen schwebte und das Treppenhaus hochflog, malte ich mir den Genuss in allen Farben aus: erst das knusprige Paniermehl und dann das zarte Fleisch; jeder einzelne Bissen reine, ehrliche Glückseligkeit; ein Tellerchen voll Glück für die vom Alltag gebeutelte Abenteurerseele.

Auf dem letzten Absatz, nur wenige Armlängen von der rettenden Mahlzeit entfernt, stieg mir plötzlich ein verdächtiger Geruch in die Nase. Von bösen Ahnungen erfüllt warf ich die Tür auf. Ich ließ die Schuhe fallen und rannte in die Küche. Dort fand ich mich in einer triefenden Wolke aus Bratfett wieder. In der Spüle lag eine benutzte Pfanne, darauf Besteck und ein verschmierter Teller. Ich riss den Kühlschrank auf. Vergeblich. Es war nicht mehr da. Im Abfalleimer stieß ich schließlich auf das rosarote Einschlagpapier, in das der Halsabschneider meine kostbare Delikatesse gewickelt hatte. Fassungslos betrachtete ich das Schlachtfeld.

Nach dem Übeltäter musste nicht lange gesucht werden. Für so ein Verbrechen kam nur einer infrage: Jérôme Decastel, mein Mitbewohner und Vermieter, dessen Anwesenheit mir in der Hektik entgangen war. Dieser unersättliche Barbar hatte mein Elefantenohr nicht einfach nur rücksichtslos aufgefressen, sondern es auch noch mit Unmengen an Ketchup vergewaltigt. Ich riss das Küchenfenster auf, um den Fettnebel zu lichten. Dass es so etwas wie einen Dampfabzug gab, hatte er in seiner blinden Gier vergessen.

In Christus-Erlöser-Pose, die langen Beine auf dem Beistelltisch abgelegt und die Arme über der Rückenlehne ausgebreitet, beobachtete Jérôme traumversunken und mit Unschuldsmiene die braunen goldumrandeten Vorhänge bei ihrem Tango mit dem Wind, der durch die offenen Wohnzimmerfenster hereinströmte.

Ich baute mich vor ihm auf und hielt ihm den verschmierten Teller unter die Nase. »Musste das unbedingt sein?«

Mit dem Handrücken wischte er lethargisch über sein fettglänzendes, kantiges Kinn. Anstatt zu antworten, ließ er einen gewaltigen Rülpser fahren.

»Sprich!«

»Da macht man ausnahmsweise mal früher Feierabend und dann das …« Er grinste und küsste affektiert seine Fingerspitzen. »Köstlich! Göttlich! Das beste Schnitzel aller Zeiten.« Als er die Wut in meinen Augen aufblitzen sah, hob er beschwichtigend die Hand. »Ganz ruhig, mein Lieber. Denk nach. Denk gut nach.«

Ich sah ihn an.

Er musterte mich abwartend. »Na, dämmert’s?«

»Mist!« Es gab Regeln, genauer gesagt Kühlschrankregeln, deren Einhaltung absolute Ehrensache war. Das Regelwerk umfasste zwei Punkte: Erstens, der Inhalt des Kühlschranks ist vogelfrei und, zweitens, Ausnahmen von dieser Regel müssen klar und deutlich angemeldet werden. Dummerweise hatte ich vergessen, von Punkt zwei Gebrauch zu machen und ihm dadurch zu einem unverhofften, aber legalen Leckerbissen verholfen. Nichtsdestotrotz hätte er wissen müssen, dass dieses besondere Stück allein für mich bestimmt war, und entsprechend Rücksicht nehmen können.

Ich legte den Teller zurück in die Spüle und appellierte an sein Gewissen: »Das Recht mag auf deiner Seite sein, aber vom moralischen Standpunkt her hast du mich beschissen.«

Er brach in heulendes Gelächter aus. Sein muskulöser, einen Meter siebenundneunzig großer Körper bebte. Die braunen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und sein vollkommen symmetrisches Gesicht verzog sich zu einer grölenden Fratze. Prustend deutete er auf eine halb zerknüllte Einkaufstüte auf dem Esstisch. »Da, ich hab was für dich … Haaa! Waaah!«

»Was soll da drin sein?«

Er japste wie ein Irrer und wippte vor und zurück. »Waaaah! Wüü! Würstchen! Und gummiges Brot. Waahaaa!«

»Krieg dich wieder ein, du Penner.«

Eigentlich wollte ich seine Almosen zurückzuweisen, doch meine Hand steckte schon in der Tüte.

»Ich habe Danielle abgeschossen«, sagte er und kam damit auf den aktuellen Stand seiner Affäre zu sprechen, die mit vier Monaten Dauer seinen bisherigen Rekord von fünf Wochen geradezu pulverisiert hatte. Wie sich nun herausstellte, war aber auch das nur ein kurzes Strohfeuer gewesen. Seine Stimme klang berichtsmäßig, ohne hörbaren Anflug von Bedauern, so als lese er den Wetterbericht vor.

Mein Mund war zu voll, um nach dem Warum zu fragen, also runzelte ich die Stirn.

»Es ist unfassbar. Dieses dumme Huhn wollte mich ihren Eltern vorstellen.«

»Eine Frechheit«, schmatzte ich. »Was erlaubt die sich?« Mein Sarkasmus ärgerte ihn.

»Hundert-, ach was, tausendmal hab ich ihr gesagt, dass ich von diesem Beziehungsmist nichts wissen will. Und dann fällt der doch tatsächlich nichts Besseres ein, als mich für den kommenden Sonntag bei ihren Eltern anzukündigen …«

»Ist doch kein Grund, sich gleich zu trennen. Findest du das nicht etwas übertrieben?«

»Trennen? Jetzt fang du nicht auch noch an. Trennen kann man sich nur von jemandem, mit dem man zusammen war. Danielle und ich hatten nur ein bisschen Spaß, das war’s. Tss, ihren Alten vorstellen, so weit kommt’s noch.«

»Deswegen musst du doch nicht gleich an die Decke gehen.«

»So, findest du nicht? Du bist zu blauäugig, mein Lieber. Bei solchen Sachen muss man konsequent sein. Ich hatte keine andere Wahl, als sofort einen sauberen Schlussstrich zu ziehen. Willst du wissen, was passiert, wenn ich am Sonntag da auftauche?«

Natürlich wollte ich es nicht wissen. Seine Ansichten waren mir zur Genüge bekannt, und ich bereute bereits, mich überhaupt auf diese Diskussion eingelassen zu haben. Es war immer die gleiche Leier, eine Wiederholung in Endlosschleife.

In Erwartung des Unvermeidlichen zog ich ein weiteres Würstchen aus der Verpackung.

»Sobald sie mich jemandem vorstellt, zum Beispiel ihren Freunden, gelten wir bei denen als Paar, was zwangsläufig zur Folge hat, dass sie das genauso sieht. Der Schaden mit den Freunden ist mit etwas Geschick noch zu beheben. Sobald aber die Mama ins Spiel kommt, bist du geliefert. Lies es von meinen Lippen ab: GELIEFERT. Die schaut mich an, sieht einen jungen, gut aussehenden Banker und denkt sich, das wär doch ein toller Schwiegersohn. Davon überzeugt sie dann ihr Töchterchen, sofern in deren Kopf nicht sowieso schon die gleichen Vögel pfeifen. Kurz da­rauf erfährst du, dass sie versehentlich, weiß der Teufel wie, zufällig, irgendwie halt schwanger geworden ist. Ein paar Monate später schiebst du dann mit leerem Blick einen Kinderwagen durch die Gegend und nimmst eine Hypothek für ein Reihenhaus auf. Diese Einladung ist ein Komplott! Und darüber soll ich mich nicht aufregen? Lass dir eines gesagt sein: Bei den Frauen musst du ständig auf der Hut sein. So ein Balg trifft dich härter als jede Kugel.«

Mit meteorischem Worthagel verkündete er die Weisheiten, die er über die unergründliche Psyche der Frau in langen Stunden aufreibender Denkakrobatik ersonnen hatte. Er war sich durchaus bewusst, dass mir sein Gefasel auf den Senkel ging, und so nahm er es mir auch nicht übel, als ich während einer seiner Feuerpausen, die er nutzte, um Argumente und Standpunkte nachzuladen, die Flucht ergriff.

»Es sind nicht die Despoten oder korrupten Politiker, die uns mit ihren Gesetzen und ihrer Vetternwirtschaft knechten«, brüllte er mir nach, »sondern die Frauen, die uns um den Finger wickeln! Merk dir meine Worte! Und sag nie, ich hätte dich nicht gewarnt!« Ein Kondom segelte an meinem Kopf vorbei und prallte gegen die Wand, von wo es zu Boden fiel und liegen blieb. »Pass bloß auf, Louis!«

Er reihte Eroberung an Eroberung, verlor an seinen Gespielinnen aber meist schon nach kürzester Zeit das Interesse. Seine Abschleppkunst war meisterhaft. Dank bestechend gutem Aussehen und beeindruckender, maschinell abrufbarer Eloquenz kehrte er nie mit leeren Händen von seinen Beutezügen zurück. Neben ihm schrumpften die anderen Schönlinge zu läppischen Zieraffen. Er kultivierte sein Äußeres mit manischer Eitelkeit. Sobald er einen Fuß ins Freie setzte, warf er sich in Schale. Selbst wenn er im Park unermüdlich seine Runden drehte – viele Runden, denn er fraß wie ein Mähdrescher –, wirkte er wie einem Modekatalog entsprungen. In der Wäscherei, deren Umsatz er mit seinem Reinlichkeitsfimmel und seiner Angst vor Falten und Knittern in die Höhe trieb, hielt man ihn für den Messias höchstselbst. Die Stückzahlen seiner aus den hochwertigsten Materialien in allen Formen und Farben gearbeiteten Hemden, Hosen, Schuhe, Pullover, Gürtel, Jacken, Mäntel, Manschettenknöpfe, Krawatten, Bermudashorts, Sportsachen, T-Shirts, Taschen, Einstecktücher und was es sonst noch alles gab, gingen in die Hunderte. Er besaß sogar eine Kollektion von zwölf verschiedenfarbigen Panamahüten, die er sich aus einer Manufaktur in Ecuador, in der falschen Größe leider, hatte schicken lassen. Allein um Socken und Unterwäsche zu verstauen, bedurfte es einer Truhe vom Volumen einer handelsüblichen Badewanne. Der Umfang seiner Garderobe hatte solche Ausmaße angenommen, dass nicht einmal die drei zusätzlich aufgebauten Schränke auf dem Dachboden genug Platz boten, um alles aufzunehmen, so dass er dazu übergegangen war, die aussortierten Kleidungsstücke, von denen mindestens die Hälfte ungetragen blieb, in Müllsäcke zu stopfen und zwischen den Schränken zu Pyramiden zu stapeln, die bis unter den Firstbalken reichten.

Unsere Wohnung war Teil eines sechsgeschossigen Gebäudes, das einst das spanische Konsulat beherbergt hatte, bevor dieses sich der Ausbreitung schlecht beleumundeter Etablissements und dubioser Gestalten wegen in eine anständigere Gegend geflüchtet hatte. Jérômes Onkel, ein berüchtigter Immobilienhai namens Antoine Marceau, hatte sich das Gebäude daraufhin einverleibt und es unter Vermeidung sämtlicher nicht zwingend notwendiger Investitionen zu einem möblierten Mietshaus mit acht miefigen Wohnungen umfunktioniert. Die Betten und sogar Teile der sanitären Anlagen stammten aus einem seiner Hotels, das sich zeitgleich im Abbruch befunden hatte. Die restliche, vorwiegend aus abgegriffenen Flohmarktantiquitäten bestehende Einrichtung formte einen verwahrlost-bohemien’schen Stilmix, der mir in seiner Eigenartigkeit irgendwie gefiel.

Jérôme hatte sein Studium an der rechtswissenschaftlichen Fakultät als Jahrgangsbester abgeschlossen. Zur Belohnung spendierte ihm Antoine fünf Jahre mietfreies Wohnen, von denen inzwischen knapp die Hälfte ins Land gezogen waren. Danach sollte das Gebäude abgerissen und an gleicher Stelle ein Neubau mit Luxuswohnungen errichtet werden. Zu seinem endgültigen Wohnglück fehlte ihm nur noch ein passender Mitbewohner. Eine Frau zog er gar nicht erst in Erwägung, denn er war der unumstößlichen Überzeugung, dass ein friedliches Zusammenleben zwischen den Geschlechtern nur dann funktionierte, wenn der Mann sich dauerhaft verstellte. Und das mochte er nicht. Was er brauchte, war einen Mann, der in einer eindimensionalen Kommunikation gerne den passiven Part übernahm. Da er ebenfalls bei Tarbes arbeitete – allerdings am Hauptsitz in der Altstadt, wo er einem Kundenberater assistierte und begierig darauf hoffte, bald ein eigenes Portfolio reicher Privatkunden aufbauen und melken zu dürfen –, ergab es sich, dass mir eines Morgens in meiner zweiten Woche am Anschlagbrett beim Kaffeeautomaten eine goldgeränderte weiße Karte ins Auge sprang, auf der jemand mit den blumigsten Worten ein Zimmer in einer Zweier-Wohngemeinschaft anpries. Da ich schon seit Wochen vergeblich auf der Suche nach einer neuen Bleibe gewesen war, kam mir dieses Inserat sehr gelegen. Im Studentenwohnheim rechnete ich jederzeit mit dem Rausschmiss. Selbst diesen Faulpelzen von der Heimverwaltung würde mein neuer Status als Werktätiger irgendwann auffallen und dann säße ich auf der Straße. Dennoch war ich skeptisch; welcher Hornochse suchte schon bei der Arbeit nach einem Mitbewohner? Doch dann sah ich die Adresse, Rue de Neuchâtel, und meine Bedenken lösten sich umgehend in Luft auf. Die Straße lag mitten in meinem Lieblingsviertel, dem Pâquis, wo ich mir in meiner Studentenzeit regelmäßig die Nächte um die Ohren geschlagen hatte. Wenn ich schon nicht auf dem Meer sein konnte, dann war das genau die Gegend, in der ich leben wollte. Ich wählte die angegebene Nummer und vereinbarte noch für den gleichen Abend einen Besichtigungstermin. Jérôme und ich verstanden uns auf Anhieb. Zwar war mir schon da aufgefallen, dass er gerne monumentale Reden schwang, aber ich dachte mir, dass ich ihm ja nicht unbedingt zuhören musste. Ohne lange zu verhandeln, wurden wir uns noch an Ort und Stelle handelseinig. Schon am nächsten Tag machte ich im Heim Platz für einen echten Studenten und zog mit zwei vollgepackten Koffern, die meinen gesamten Besitz enthielten, in mein neues Zuhause.

So kam es, dass Jérôme nicht nur keine Miete bezahlte, sondern sogar selbst welche einstrich. Sie betrug für Genfer Verhältnisse angemessene eintausendfünfhundert. Das entsprach dem gleichen Betrag, den ich jeden Monat für mein Segelabenteuer beiseitelegte – Einnahmen, die er ohne Abstriche geradewegs in Klamotten investierte.

Jérômes Stimme verfolgte mich bis in mein Zimmer und verstummte erst, als ich die Tür hinter mir schloss.

Das einfallende Abendrot brach sich im Kristall des Leuchters und zauberte kaleidoskopische Muster an die mit verblichenen Ranken tapezierten Wände. Noch immer kroch heiße Luft aus dem Innenhof herauf. Es herrschte stickige Hitze. Die Einrichtung, von der kein einziges Stück mir gehörte, war noch abgenutzter als im Rest der Wohnung und verströmte den wehmütigen Charme eines Bahnhofshotels. Zwei Nachttische mit fleckigen Messinglampen flankierten das durchgehangene Bett, und an den klapprigen Vorhangschienen hingen die gleichen abgewetzten Tücher wie im Wohnzimmer. Ein Durchgang in der gegenüberliegenden Schrankwand führte zu einem Bad, dessen speckige Marmorplatten denselben Gelbstich aufwiesen wie die Hände eines jahrzehntelangen Rauchers. In der Ecke rechts vom Eingang verdeckte ein Stapel Schmutzwäsche eine Kirschholzkommode mit Schubladen, die so verkeilt waren, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Daneben, auf der anderen Seite der Tür, stand ein uralter Sekretär mit einer vorsintflutlichen Eisenlampe darauf, der so unverrückbar schwer war, dass ich fürchtete, er werde irgendwann durch den Boden brechen und alles mit sich fort in die Finsternis reißen. Ein abgetretener, mit goldenen Lilien verzierter nachtblauer Teppich, dessen Knüpfwerk sich in Auflösung befand, vollendete die Komposition. Praktischerweise verdeckte mein Lesestoff, der ohne Ordnung überall auf dem Fußboden herum­lag, den größten Teil davon. Ich verschlang alles, was in Richtung Abenteuerromane, Atlanten oder Seekarten ging, solange es nur meine Fantasie anregte oder mein Verständnis von Geografie oder Seemannschaft verbesserte. Wenn ich nicht gerade in heruntergekommenen Spelunken herumhing, lag ich oft stundenlang auf dem Bett und las wilde Geschichten über Tunichtgute und Abenteurer oder studierte die Welt. Es gab kaum eine bewohnbare Insel, die ich nicht kannte und deren Koordinaten ich nicht bis auf wenige Grad genau aus dem Stegreif anzugeben wusste, mochte sie noch so winzig sein.

Sieben Uhr, sagte mein Handy. Um elf war ich mit Paul im Palais Mascotte verabredet, was bedeutete, dass ich mir bis dahin irgendwie die Zeit vertreiben musste. Gegessen hatte ich gerade und nach Lesen war mir nicht. Damit hatte ich schon die letzten drei Abende verbracht. Ich brauchte einen Drink. Ja, ein Drink zum Aufwärmen. Am besten im Roi-Soleil.

Ich zog meine Arbeitsklamotten aus und sprang unter die Dusche. Beim Abtrocknen betrachtete ich mich im Spiegel und zwickte meinen Bauch, um mich zu vergewissern, dass ich kein Fett angesetzt hatte. Büroarbeit war heimtückisch, sie machte einen träge und unbeweglich. Dem wirkte ich mit einem disziplinierten Kräftigungsprogramm entgegen: jeden zweiten Morgen fünfzig Liegestütze und hundert Rumpfbeugen, manchmal auch mehr. Das und meine Jugend hielten mich schlank und kräftig, zumindest vorerst noch. Ich betrachtete mein Gesicht und entschied, dass keine Rasur nötig sei. Wie ich mich so ansah, kam mir die klapprige Madame Cottier, meine Lehrerin aus der vierten Klasse, in den Sinn. Hatte ich etwas ausgefressen, zog sie mich an den Ohren, denen das Läppchen fehlte, und schimpfte: »Du hast Verbrecherohren.« Von diesem kleinen Makel abgesehen, sah ich aus wie jedermann: einsdreiundachtzig, braune Augen und kurze braune Haare.

3 Das Pâquis

Die Rue de Neuchâtel war eine schmale Einbahnstraße, eine Nebenader des Pâquis, auf der die Anwohner beidseitig ihre Autos zu einer Blechkolonne aufreihten. Laut wurde es hier nur nachts, wenn im Yokohama, der Sushi-Bar nebenan, Hochbetrieb herrschte oder Betrunkene grölend durch die Straßen zogen, Fahrräder umstießen und Prügeleien anzettelten.

Ich bog nach rechts. Mein Ziel lag keine hundert Meter entfernt, gleich links um die nächste Ecke. Unterwegs begegnete ich einem Obdachlosen, der trotz der tropischen Temperaturen eine löchrige Wollmütze trug und mich ohne ersichtlichen Grund mit erhobenem Zeigefinger beschimpfte. Ich wich ihm aus. In seiner Manteltasche steckte eine geöffnete Bierdose, die unter seinen ruckartigen Bewegungen überschwappte. Noch ein Katzensprung und schon stand ich vor der cremefarbenen Fassade, auf der in verschnörkelten Goldlettern Roi-Soleil geschrieben stand. Sorgfältig gestutzte Tessiner Palmen reihten sich vor schwarzen undurchsichtigen Fensterscheiben. Ich zog an dem überdimensionalen Messinggriff und trat ein. Umhüllt von den Klängen Monteverdis saß an der Bar ein einsamer Gast auf einem Hocker und stierte gedankenverloren in sein Glas. Zari, die wortkarge, in ein gekürztes Barockkleid gehüllte tansanische Barfrau, wischte mit hypnotischen, kreisförmigen Bewegungen den Tresen. Ein nahezu zwanzig Meter breites weißes Holzregal mit goldfarbenen Verzierungen und einer Leiter wie in einer Bi­­bliothek reichte bis an die Decke. Es enthielt mehr Flaschen als alle Schnapsläden des Viertels zusammen.

Ich setzte mich in einen der schweren Polstersessel, die einander paarweise gegenüberstanden. Ein mannshohes Porträt zeigte Ludwig XIV. mit seiner lustigen Lockenperücke. Zu seinen Füßen, auf einer mit bebilderten Wandteppichen ausstaffierten Bühne und gekleidet im Stil von des Sonnenkönigs Mätressen, räkelten sich zwanzig Damen auf Chaiselongues und Kanapees und warteten auf Kundschaft. Bis diese eintraf – was meist erst nach Einbruch der Dunkelheit geschah –, tranken sie Champagner, sogen an überlangen Zigarettenspitzen und lachten über die derben Witze, die sie sich erzählten. In ihrer Mitte erhob sich, nach hinten versetzt, ein kleines Podest, das als Unterbau für einen üppig verzierten Thron diente. War der Laden voll, behielt der Hausherr gerne den Überblick und rückte eine Robe zurecht oder setzte mit einem gebieterischen Handzeichen seine Barfrau in Bewegung.

»Willkommen«, summte Zari mit ihrer weichen Stimme und stellte mir den üblichen Gin Tonic auf das vierbeinige Beistelltischchen.

Ich bedankte mich und schnupperte an meinem Getränk. Es mochte reihenweise teurere, exotischere und seltenere Gins geben, aber der samtene und vertraute Geschmack des Bombay Sapphire war mir der liebste.

Ich hauchte ein Prost ins Nichts und nahm genussvoll einen kräftigen Schluck.

Die Damen in ihren Roben waren bunt gemischt wie die Blumen auf einer wilden Wiese. Es gab sie blond und blass, rothaarig mit Sommersprossen, dunkelhäutig mit Kraushaar und brünett, grünäugig, groß und klein. Eines aber hatten sie, nebst ihren Roben, gemeinsam: eine gesunde Leibesfülle. Das Konzept schien aufzugehen. Trotz – oder vermutlich gerade wegen – ihrer Üppigkeit und der gehobenen Preisklasse fand sich am Ende des Abends meist für jede ein Sponsor, der die Korken knallen ließ. Das Roi-Soleil war kein billiger Puff, keine dieser traurigen Absteigen, sondern ein Bordell ersten Ranges, ein Hurenhaus für Könige, das seinen Besuchern jeden Wunsch erfüllte. Dennoch galt mein persönliches Interesse an diesem Etablissement nicht den angebotenen Dienstleistungen. Es war rein spiritueller Art. Ich erfreute mich an dem allgemeinen Schauspiel und sog genüsslich die Atmosphäre des Weltfremden in mich auf. Die Menschheit, insbesondere die männliche Hälfte, benötigt Fluchtburgen wie diese, deren undurchdringliche Mauern selbst der hartnäckigsten Wirklichkeit trotzen. Im Roi-Soleil