Paradiesische Zustände - Henri Maximilian Jakobs - E-Book

Paradiesische Zustände E-Book

Henri Maximilian Jakobs

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Beschreibung

Wie viele Hamster lassen sich mit einem handelsüblichen Staubsauger einsaugen? Gibt es ein wichtigeres Lebensmittel als Pommes? Was, wenn der eigene Körper ein Zuhause ist, in dem man eigentlich keine Sekunde zu viel verbringen möchte? Von einer Berliner Clubtoilette, in der er sturzbetrunken versucht, seinen Namen in die Rinne zu pinkeln, blickt Johann zurück und erzählt uns seine Geschichte. Eine Geschichte, die bei einem tiefen Unbehagen beginnt, das er, damals »sie«, mit sich herumträgt wie den Schneeanzug, die unzähligen Schichten Kleidung, unter denen er seinen Körper verschwinden lässt. Die Fassungslosigkeit und Ablehnung, mit denen er sich selbst und die Welt wahrnimmt, entspricht so ziemlich dem Unverständnis, mit dem ihm seine Mitmenschen begegnen. Und die »Zukunft«, die vor ihm liegt, bedeutet erstmal nichts anderes als die Herausforderung, diese irgendwie hinter sich zu bringen. Der Versuch, das anzugehen, führt ihn über eine Schauspielschule in der bayrischen Provinz und eine skurrile Hipster-Wurstbude in Berlin-Neukölln zu einer wichtigen Erkenntnis. Und schließlich in die Mühlen der Bürokratie – bevor er sich, nach einer Angleichung und unzähligen heiklen Gesprächen, zum ersten Mal seit vielen Jahren bewusst vor einen Spiegel stellen kann. Henri Maximilian Jakobs gelingt das große Kunstwerk, eine Geschichte, die an Leidensdruck und Tiefschlägen nicht unbedingt arm ist, federleicht, versponnen und mit einem überbordenden Humor zu erzählen.

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Seitenzahl: 414

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Henri Maximilian Jakobs

Paradiesische Zustände

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Henri Maximilian Jakobs

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Draußen ballert dumpf die ...

Teil I Das andere Leben

Mein Gott, du bist ...

Der Tag des Abflugs ...

Als ich viel zu ...

Louise sitzt im Bett, ...

Mit 19 hat man ...

Einen Monat später finde ...

An diesem komischen Ort ...

Nach aufreibenden Tagen hat ...

Ich schaffe es nicht, ...

Und jetzt? Was soll ...

Ich hocke im bayerischen ...

Ich telefoniere mit Louise ...

In der Provinz gibt ...

Wie in jedem Theaterstück ...

Das Jahr ist vorbei, ...

Teil II Sekt, Hamster, Stillstand

Und dann hocke ich ...

Die kommenden Wochen meide ...

Ein paar Tage später ...

Berlin taut ein bisschen ...

Louise und ich stehen ...

Die kommenden Tage werde ...

Es gibt kein besseres ...

Manchmal, wenn Dan dem ...

Bist du da drin? ...

Sam ist stiller als ...

An den kommenden Tagen ...

Die kommenden Monate arbeite ...

Nachts wache ich immer ...

Es ist Montag. Warum ...

Teil III Bestandsaufnahme

Es ist 22 Uhr und ...

Die Medikamente ragen weit ...

Die Tage schreiben voneinander ...

In der Psychiatrie geht ...

Ein bisschen zusammengeraffte Vergangenheit. ...

Nach einigen schwebenden Tagen ...

Ich werde entlassen, denn ...

Langsam wiege ich mich ...

Die Aussage, dass ein ...

Ich schlängle mich durch ...

Auf dem Beipackzettel meiner ...

Ich habe meine Entscheidung ...

Um körperlich ein Mann ...

Ein Pfeil im Auge? ...

Einmal im Monat gibt ...

Ich treffe Sam. Unscharf ...

Selbst wenn das Meer ...

Je klarer ich meine ...

Ich habe einen neuen ...

Louise und ich sind ...

Meine Kontakte zur Bodybuilderszene ...

Einmal pro Woche gehe ...

Wer bin ich eigentlich? ...

Ich habe so viel ...

Teil IV Metamorphosen

Ich stelle mich vor ...

Wie aufregend und adrenalinhaltig ...

Von außen sieht das ...

Ich stelle mich hinter ...

Das neueste Objekt meiner ...

Eine kleine Leidenschaft habe ...

Das Klackern der Tischtennisbälle ...

Ein paar Wochen sind ...

Ich finde heraus, dass ...

Ich bin in eine ...

Das Vorher und das ...

Ich bin in einen ...

Müdigkeit ist mein dritter ...

Ah, na schau, da ...

Die über Monate aufgezogene ...

Die aktuelle Durchschnittstemperatur liegt ...

Mein Gesicht ist sehr ...

Ich sitze nach dem ...

Was ist noch mal ...

In fünf Tagen gehe ...

Silvester hat sich eigenständig ...

Wir machen hier einen ...

Fünf Uhr fünfundzwanzig. Wie ...

Geschafft. Ich bin kein ...

O.k., da ist das ...

Nach Streitigkeiten die vergrabenen ...

Langsam stehe ich auf ...

Ewiger und maximaler Dank

Inhaltsverzeichnis

Draußen ballert dumpf die Musik. Die Dumpfen ballern nebenan. Schuld war nur der Algorithmus, denke ich und kichere. Wahnsinnig beschränkter Gag. Ich bin rabenvoll. Glaube ich. So richtig kapiert man das doch meistens erst einen Tag später. Ich stehe vor der dreckigen Kloschüssel in einer Kabine irgendeines Berliner Klubs und versuche, meinen Namen zu pinkeln. Eine heroische Tat. Heute Abend feiere ich. Alles und mich. Mich und alles. Ich verschreibe mich. Ich habe Johain statt Johann gepinkelt. An die Wände der Kabine sind beeindruckend viele Telefonnummern, Lebensweisheiten und Pimmel gemalt. Immer wenn die Tür zu den Klos aufgeht, wird die Musik lauter und klarer, das Dumpfe verschwindet für einen Moment. Sobald die Tür zufällt, breitet sich das Halblaut wieder aus. Klopfen an meiner Kabine.

»Kommst du auch mal wieder raus?«

Eine andere Stimme: »Genau, wir vermissen dich. Johann! Wir haben noch Sekt. Komm raus und trink mit uns.«

Lautes Gackern. Die Stimmen gehören Louise und Micha. Louise und ich sind zwei Leben lang befreundet. Mit Unterbrechung. Kleiner Aussetzer am Spalt, der meine beiden Leben verbindet. Micha ragt kurz über die Ränder meines neuen Lebens hinaus, unsere Freundschaft ist frisch, deshalb aber nicht weniger innig. Ganz draußen, weit weg von den Klos, vor dem Klub, ist Sommer. Alles knistert hormonell, ist erfasst von Unruhe und Blüte. Ich habe ein T-Shirt an und keinen Schneeanzug, obwohl ich das im Sommer immer so gemacht habe. Also, quasi. Wenn alle anderen besonders wenig anhatten, war ich in ein Zelt aus Kleidung und Selbsthass gewickelt. Dieser unfassbare Selbsthass. Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Nicht weil ich sterben wollte. Ich wollte nicht weiterleben, wie es war. Wie ich war. Das klingt alles total konfus, aber ich bekomme keinen klaren Gedanken zustande. Der Suff … O.k., von vorne.

Inhaltsverzeichnis

Teil IDas andere Leben

Mein Gott, du bist so groß geworden, lass dich hochheben, kleine Zwetschge.«

»Was?«

Ich mache die Augen auf und schaue direkt in die Sonne, die mein Blickfeld in Mosaiksteinchen zerfallen lässt.

»Sagen deine Großeltern das nicht zu dir? Bei mir kommt das jedes Mal. Und sie versuchen immer noch, mich hochzuheben. Meine Oma ist 1,50 m und komplett osteoporotisch. Trotzdem will sie mich in die Höhe wuchten. Sie wird irgendwann einfach in der Mitte zerbrechen.«

Es ist Sommer. Mai. Wir sitzen auf einer Wiese. Louise und ich. Es ist heiß. Mir sticht trockenes Gras in den Hintern. Das Sitzen auf Wiesen wird generell überschätzt. Finde ich. Irgendwas zwickt immer. Vielleicht ist das Sitzen auf einer Wiese eine sehr gute Metapher für das Leben. Es sieht aus der Ferne hübsch aus, aber bei genauerer Betrachtung und längerem Verweilen fängt es an zu piksen und zu jucken.

»Glaubst du, hier sind viele Zecken? Ich habe keine Lust, direkt nach dem Abi Borreliose zu bekommen, die ich dann verschleppe, weil sie niemand erkennt. Um am Ende, wütend auf die blinde und dumme Welt, in U-Bahn-Stationen herumzuschreien und mit meinem Schicksal zu hadern.«

Ich hasse Zecken. Wer hat sich Zecken ausgedacht und warum? Louise blinzelt die ungewohnt freie Zeit weg und sieht mich an.

»Keine Ahnung, ob hier Zecken sind. Wahrscheinlich. In Bayern sind überall Zecken.«

Louise ist wenig beeindruckt von meiner Zeckenpanik, baut eine Käferautobahn und denkt an ihre quasi halbierte Oma. Alles, was vor uns liegt, ist umwölkt und nimmt erst Anlauf. Ich fand immer, dass Schule eine schreckliche Erfindung ist, und war nicht imstande, meine Verachtung für sie meiner Lebensplanung unterzuordnen, was dazu geführt hat, dass ich mein Abi mit 3,0 bestanden habe, Louise ihres mit 1,2. Egal. Zukunft. Keine Schule. Handflächengroße Freiheit, während wir auf der Wiese sitzen.

»Ist dir nicht heiß? Du siehst aus, als wäre tiefster Winter. Ist das ein Schneeanzug?«, fragt Louise.

Den Sommer mag ich noch weniger als Schule. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass ich ihn hasse. Weil ich ihn persönlich nehme. Sommer heißt wenig Kleidung. Sommer heißt Geruch von anderen. Sommer heißt Geruch von sich selbst.

»Nein, das ist kein Schneeanzug. Es ist ein Flanellhemd und das sind Arbeitshosen. Die sind atmungsaktiv.«

»Wer auch immer zum Atmen unter deiner Hose sitzt, dürfte mittlerweile einem Hitzschlag erlegen sein.«

»Mich werden keine Zecken erwischen.«

»Stimmt. Aber was wird dann aus deinem Lebensplan, verrückt in U-Bahnen zu schreien?«

»Keine Ahnung.«

Ich stecke meine Hose in die Socken. Burgmauer gegen die Zecken.

»Freust du dich auf unseren Urlaub?«, fragt Louise.

Urlaub. Dieses komische Furunkel des Kapitalismus. Ewiges Buckeln, um sich dann zwei Wochen im Jahr zu freuen, dass man existiert, während man halbtrunken unter einer Pinie liegt und findet, dass das das wahre Leben ist. Grandezza! Vielleicht hasse ich die Vorstellung von Urlaub auch, weil sie für mich die auf die Spitze getriebene Idee des Sommers ist.

»Hm, klar. Aufs Meer freue ich mich.«

Kleine, weiße Lüge, weil ich Louises Vorfreude nicht kaputt treten will. Manchmal frage ich mich, ob Louise eine reinkarnierte Eiche ist. Sie ist solide und rustikal, nichts an ihr flattert. Sie weiß, was sie studieren will, wie sie sich und ihr Dasein gestalten wird. Als wäre es vor ihr in die Luft gemalt und sie müsste alles nur noch auf Papier kopieren. Easy. Ich hingegen habe keinen Lebensplan, geschweige denn die leiseste Ahnung. Was will ich? Irgendwas mit Kunst machen? Borreliosepatient sein? Meine Ruhe? Louise knufft mich.

»Komm schon, freu dich. Ich freue mich, obwohl wir fliegen müssen. Das wird toll.«

»Auf Kommando freuen, o.k.! URLAUB! In Großbuchstaben!«

 

Noch 6 Jahre, 8 Monate und 21 Tage

Der Tag des Abflugs ist da. Wir lungern am Flughafen herum und ich decke mich mit Essen ein. Louises Snacks bestehen in erster Linie aus zwei Packungen Tavor, die sie wegen ihrer Flugangst in der Jackentasche gebunkert hat. Die Eiche rustikal wirkt angesägt.

»Wann nehme ich die Tablette? Soll ich sie nehmen? Was ist, wenn das Flugzeug abstürzt? Wenn ich die Tablette jetzt nehme, schlafe ich vielleicht während des Securitychecks ein und im Flugzeug wirkt sie nicht mehr.«

Louise ist schon vor dem Absturz ein Wrack. Ich erkenne sie kaum wieder.

»Dann nimmst du noch eine. Außerdem lässt die Wirkung nicht so schnell nach. Es wird alles o.k. sein. Wirklich. Das Flugzeug wird nicht abstürzen.«

»Und wenn doch? Warum sollte es denn nicht abstürzen. Du erbst meine Bücher.«

»Ich sitze doch mit dir im Flugzeug. Wieso sollten wir denn abstürzen?«

»Du glaubst also auch, dass wir abstürzen werden.«

»Nein, tue ich nicht. Und das habe ich auch nicht gesagt. In knapp fünf Stunden hängen wir am Strand rum und trinken Sekt. Das Schlimmste, was uns passieren kann, sind zu viele andere Touristen. Aber bestimmt kein Flugzeugabsturz.«

Das Einzige, was Louise von meiner Ansprache wahrnimmt, ist das Wort Flugzeugabsturz. Nach dem Securitycheck nimmt sie drei Tavor auf einmal und verschläft den kompletten Flug nach Gran Canaria sowie die scheinbar endlose Busfahrt zum Hotel. Bei unserer Ankunft stellen wir fest, dass das Hotel deutscher ist als Bratwürstchen und der völkische Flügel der AfD. Ein kleines Sparschwein am Empfang weist darauf hin, dass Trinkgeld gut fürs Karma ist. Alle Schilder sind auf Deutsch. Die Abendunterhaltung ist auf Deutsch. Es gibt einen deutschen Arzt im Haus, eine deutsche Apotheke und bestimmt wird irgendwo die Leiche von Franz Josef Strauß aufbewahrt. Die Speisekarten sind auf Deutsch. Es finden spanische Themenwochen statt. Auf Deutsch. All das erklärt uns der Mann am Empfang sehr begeistert. Dieses Hotel ist Deutschlandkonzentrat. So deutsch, dass der Atlantik jodeln würde, wenn man es darin auflöste. Wir fahren mit dem Aufzug zu unserem Zimmer, der Suite Bismarck. Suite Bismarck?

»Alter … wo sind wir hier gelandet?«

Louise ist wieder in ihrer ursprünglichen Eiche-rustikal-Form. Wir stehen in unserem Zimmer, der Suite, und betrachten den Kunstdruck des Alpenpanoramas, der über dem Bett hängt.

»Ist das da ein nackter Engel, der auf einem Bären reitet? In den Alpen?«

»Er sieht ein bisschen aus wie Chuck Norris.«

»Was macht Chuck Norris in den Alpen? Auf einem Bären?«

»Die Erde unterjochen? Extrem männlich sein? Urlaub?«

»Als Engel?«

»Keine Ahnung.«

Sie öffnet den Nachtschrank und holt eine Bibel heraus. Also doch Kolonialismus.

»Preiset den Herrn.«

Ich gehe durch das Zimmer, die Suite Bismarck. Suite … für wen? Eine Ameisenfamilie? Zwei erwachsene Menschen könnten sich immer noch umarmen, wenn sie an den gegenüberliegenden Wänden des Zimmers stehen. Suite Bismarck …

Die Balkontür klemmt, ich zerre sie auf. Die Luft ist weich und riecht nach einer Mischung aus Chlor und entferntem Meer. Und Fett. Unser Balkon ist genau neben dem Dunstabzug der Küche platziert.

»Hast du Lust, wie eine Pommes zu riechen? Dann komm raus und setz dich neben mich.«

»Ich liebe Pommes.«

Louise kommt auf den Balkon. Sie hat sich ihr Urlaubsoutfit angezogen. Einen Strohhut, der die Größe eines Kontinents hat, Shorts und ein T-Shirt, auf dem steht: »Ich wär’ gern eine Ananas«.

»Ich wär’ gern eine Ananas? Was soll das heißen? Und warum?«

»Ich weiß es nicht, aber das Gelb ist schön. Und Ananas-Positivity ist auch nicht schlecht. Es gibt viel schlimmere Dinge, die man sein wollen könnte. Unternehmensberater zum Beispiel. Oder ein Apfel. Stell dir das mal vor!«

Sie setzt sich neben mich und rückt ihren Strohhut zurecht. Den Kontinent auf ihrem Kopf.

»Das ist ein sehr großer Strohhut. Ich habe Hunger. Ich will Pommes.«

»Dann müssen wir Pommes essen! Lass uns an den Strand gehen. Da gibt es bestimmt Pommes. Und Sand. Das ist beides super.«

»Und Typen in zu kleinen Badehosen. Herrlich.«

»Die auch, los, komm.«

Wir gehen raus, an den Hotelkomplexen vorbei. Komplex beschreibt die Architektur am besten. Sie sehen aus wie der verzweifelte Schrei eines Architekten nach Kinderspielzeug. In Grau. Und gelegentlich Gelb. Gestapelt und deplatziert inmitten von Natur, die sich nichts sehnlicher wünscht als Ruhe vor all dem Geplärre der Menschen. Ihrem Dreck, ihrer Lautstärke, ihrem Ich-Ich-Ich.

Vor den Hotels stehen Typen, die Flyer für Abendveranstaltungen verteilen. Disco Night, Samba Forever, Latin Fever, der Namensgenerator hat mit 80er-Klischees um sich gespuckt. Die Flyer werden ausnahmslos an Frauen verteilt. Männer gibt es anscheinend zur Genüge. Als wir an den Flyerverteilern vorbeigehen, werden wir ignoriert. Ein kurzer Blick, ein Abwenden und Weitersuchen. Auch Louise fällt es auf.

»Wir sind offenbar nicht die Zielgruppe.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Grund zur Freude ist oder nicht.«

»Ich will aber aus Prinzip gefragt werden, um Nein sagen zu können. Du weißt schon. Wie sich zu wünschen, dass die Exbeziehung schreibt und man nicht antwortet. Damit man sagen kann, dass man nicht geantwortet hat.«

»Natürlich. Sollen wir noch mal an ihnen vorbeigehen?«

»Absolut.«

Wir drehen um und schlendern wieder an den Flyerverteilern vorbei. Nichts. Wir sind Hologramme, in einem zu hellen Raum. Sie sehen uns nicht.

»Pff. Idioten. Wir gehen an den Strand, komm. Und feiern später im Hotel. Da gibt es Bowle. Das ist eh besser.«

Louise ist sauer. Ich bin eher froh. Wie kann man sich nach der Gunst von flyerverteilenden Prolls sehnen?

Wir passieren Buden und Verkaufsstände, an denen man alles kaufen kann, was man nicht braucht. Wirklich alles. Ich wundere mich, dass keine Ponys und Flüge zum Mond angeboten werden. Menschen tummeln sich. Kinder quieken. Familien machen gut sichtbar auf Familie. Einige übergewichtige Vögel mampfen Pommes, die auf dem Boden herumliegen. Dann stolzieren sie zusammen weiter und hacken in ihr stumpfes Gefieder. Ein wenig aufhübschen, wenn man schon gemeinsam essen geht.

Die Bäume sind ein auslaufender Wasserfarbenpinselstrich, der den Strand in Grün rahmt. Der Wind trägt Fetzen aus Alltag und Vergnügen mit sich herum. Das Meer streckt sich und hat kein Ende. Sein Anfang ist sanft und vorsichtig. Die Luft ist behutsam und salzig. Wir ziehen unsere Schuhe aus und betreten den Sand. Fiebrig heiß schmiegt er sich an unsere Füße. Wir gehen schnell, damit wir nicht verbrennen.

Ich trage eine Hose, die bis kurz über die Knie geht, ein T-Shirt, eine Jacke und ein Cap. Darunter einen Badeanzug, den ich verachte. Ein unförmiges Etwas, das sich nicht entscheiden kann, ob es Bademode aus diesem Jahrhundert oder eine Art Basislagerzelt ist. Meine Beine ragen wie weiße Fäden aus der Hose. Als wäre ich mit ihrer Hilfe am Boden befestigt, um nicht weggeweht zu werden. So wenig hatte ich nicht an, seit ich sieben war. Warum wollen sich alle immer ausziehen, sobald sie die Möglichkeit dazu haben?

Als wir einen Platz im Schatten gefunden haben, breiten wir unsere Handtücher aus und setzen uns. Louise trägt eine Wand aus Sunblocker auf ihren Körper auf. Ein Stück Talkum und ein Wollknäuel im Schneeanzug auf Reisen.

»Willst du Sonnencreme? Oder Mückenspray? Ich habe beides.«

»Nein, ich habe mich im Hotel eingeschmiert, alles gut.«

Ich bleibe sitzen, verschränke die Arme vor mir, verschlossener Bahnübergang für alles Gefühlte, das vorbeiwill, und blicke aufs Meer. Wie schön es ist. Links von uns toben fünf junge Männer. Sie jagen hinter einem Ball her, als wäre er das ewige Leben. Sie sind laut, lästig und: Ich beneide sie. Weil sie Spaß und Leichtigkeit haben. Im Gegensatz zu mir. Ich bin immer schwer und grau und sitze unförmig im Schneeanzug am Meer. Seit ich denken kann. Sie sind glücklich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie sind einfach. Schlafen, stehen auf, manchmal getrübt durch das Leben, aber nicht aufgrund ihrer selbst. Sie sprinten ins Wasser, ziehen sich gegenseitig mit, tauchen unter. Stoßen wieder durch den Wasserspiegel nach oben. Rufen einander. Verbunden durch Präsenz. Wer weiß, was sein wird. Wen interessiert es schon. Ihre Zärtlichkeit ist das Raufen. Umarmungen, sportlich, männlich. Sie sind das Meer. Niemals ruhig, immer auf und ab.

Kurz habe ich Baggerseeflashbacks, fühle mich ekelhaft und fett. Erinnere die ersten Lieben. Von anderen. Ich unbeteiligt im Schneeanzug am Ufer. Hauptsache, keine Haut. Warum muss ich so ein fetter Koloss sein. Rechts von uns sammeln sich Teenager, spannen die Muskeln an und verstärken gemeinsam die Wirkung der Hormone, die sich bei ihnen gerade erst breitgemacht haben. Sie sind noch Kinder, die sich ins Erwachsensein hangeln. Ohne den ganzen beschwerlichen Unfug wie Bürokratie und Ernst. Ihre Körper sind vorausgelaufen, ihr Denken tapst hinterher. Sie sind so leicht, so unbeschwert, dass sie quasi ins Leben fliegen, während sie sich jagen und mit ungebändigtem Verlangen um sich werfen. Alles scheinbar zum Greifen nah, aber ganz egal wie sehr ich mich strecke, es gibt kein Durchkommen zum Toben der anderen. Weder zu den Männern noch zu den Jugendlichen. Ich würde gerne ins Meer, traue mich aber nicht an ihnen vorbei. Sehen alle anderen auch, wie sonderbar, fett und falsch ich bin? Ein wandelnder Rechtschreibfehler, der jeden noch so wunderbaren Text zerstört.

»Wolltest du nicht ins Meer? Was ist los? Grübelst du?«, fragt Louise.

»Hm, nein, Quatsch. Ich warte nur noch etwas. Ein bisschen Aufwärmen.«

Ich male mit meinen Zehen Abstraktes in den Sand. Dann vergrabe ich meine Beine, damit ich mich weniger unwohl fühle. Sollen die Krabben und Muscheln über meine komischen Beinfäden lachen. Und so sitzen wir kurz vor dem Meer. Das Stück Talkum und ein halb eingegrabener Meter Unglück, der aussieht wie ein Wolpertinger.

 

Zurück im Hotel empfängt uns der Portier. Auf Deutsch. Natürlich. Bestimmt hat er ein Alphorn hinter dem Tresen versteckt.

»Hallo, die Damen! Na? Wie war der Playa? Ein bisschen Sonne getankt?«

Wie wir vor ihm stehen, sind wir von damenhafter Eleganz so weit entfernt wie ein Cheeseburger von Liza Minelli. Was seinen hölzernen Flirt mit uns nicht unterbricht. Zugegeben, er orientiert sich eher an Louise als an mir, trotzdem bin ich genervt. Louise murmelt irgendwas von Hautkrebs, ich sage nichts und betrachte angestrengt die Tafel, die das Abendprogramm ankündigt.

»Travestie-Abend mit Cora Zon und Pauli Paulinchen. Erleben Sie die besten Dragqueens von Gran Canaria heute Abend live bei uns!«

Auf den Fotos sind die Köpfe der beiden zu sehen. Als wären sie mit einem Küchenbeil direkt aus einem Auftritt gehackt und dann auf das Plakat geklebt worden. Hat hier jemand mit geschlossenen Augen zum ersten Mal Microsoft Paint ausprobiert?

»Louise, hast du gesehen? Cora Zon und Pauli Paulinchen. Gehen wir hin?«

»Oh! Natürlich gehen wir da hin. Großartig. Wann fängt es an?«, fragt sie.

»In einer halben Stunde.«

»Das schaffen wir. Komm.«

Wir bringen unser Strandgepäck nach oben, hetzen wieder nach unten und betreten den Innenhof, in dem die Show stattfindet. Show klingt vielleicht etwas zu sehr nach Löwen und Las Vegas. An Plastiktischen sitzen vereinzelt Paare um die 60. Ausnahmslos Deutsche. Und niemand gibt sich große Mühe, es zu verbergen. Die Bühne hat die Größe und den Charme eines tristen umgekippten Schuhkartons, in dessen Mitte ein Tischchen mit Laptop steht. Eingerahmt ist alles von Bambus und Schilf. Aha, Urlaub, beinahe vergessen! Wir bestellen den Cocktail mit dem lustigsten Namen und warten auf den Beginn des Programms. Währenddessen bemerken wir, dass sich neben der Bühne zwei Stückchen Verblühtes versammelt haben. Cora Zon und Pauli Paulinchen. Die Dragqueens. Queens scheint allerdings etwas hoch gegriffen. Cora Zon simuliert Feurigkeit. Das erkennt man an ihren roten Haaren und der spärlichen Kleidung. Pauli Paulinchen ist die Dröge der beiden. Zu erkennen an einem biederen, verblasst blonden Kurzhaarschnitt und »viel« Kleidung. Wobei dieses Viel an Kleidung einer Klosterschwester immer noch das Gebetbuch vor die Augen zaubern würde. Sie rauchen beide. Und wirken nicht allzu erfreut darüber, dass sie gleich ihr Programm starten müssen. Unsere Getränke kommen. Zwei Päckchen Zucker in Erdbeerirgendwas mit Wodka. Viel Wodka. Ich nehme einen Schluck und bin betrunken. Louise hustet und kichert. Musik setzt ein. Cora Zon entert die Bühne. Sie stakst in die Mitte, stellt sich vor das Mikro und schmettert los. Sie singt nicht. Sie schreit. Als wollte sie Wände durchbrechen. Hangelt und kämpft sich über Tonleitern, deren Sprossen zu weit entfernt für sie sind. Die Töne fallen. Cora Zon ist das egal. Der Innenhof ist komplett mit ihr ausgefüllt. Ich bin fasziniert und entsetzt. Es ist furchtbar und großartig. Das Lied geht zu Ende. Kein Glas ist zerbrochen. Vereinzeltes Klatschen ist zu hören. Zeit für die ersten Gags. Kein einziger zündet. Das Lustigste an Cora Zon sind die Haare. Das Frivolste ebenso. Ich nippe an meinem Getränk. Auftritt Pauli Paulinchen. Sie singt nicht selbst, sondern mimt zum Playback, als hinge ihr Leben davon ab. Viel hilft viel. Alte Bühnenregel. Kein Zentimeter des Schuhkartons bleibt ungenutzt. Hauptsache, Bewegung! Ein Großteil davon innerhalb ihres Gesichts. Louise schunkelt. Die erste Stunde vergeht wie im Flug. Die beiden zeigen keinerlei Ermüdungserscheinungen und ballern ihr Programm durch. Wir sind bei der vierten Runde Cocktails. Völlig ohne Ankündigung oder dramaturgischer Logik beginnt Cora Zon nach Stunde drei auf einmal damit, sich auf der Bühne auszuziehen. Erst die Kleidung, die Schminke und dann die Perücke. Oho! Kaum ist sie ausgezogen, geht sie von der Bühne, zündet sich eine Kippe an und setzt sich an einen Tisch. Pauli Paulinchen torkelt neben sie. Das war es. Ende. Eine Eintagsfliege würde sich ausgiebiger verabschieden. Louise und ich sehen uns an. Besoffen und verstört.

»War es das jetzt?«, fragt sie.

»Keine Ahnung«, antworte ich.

Die beiden hocken rauchend an einem der Tische. Ein bisschen sehen sie aus wie die garstigen Schwestern von Marge aus den Simpsons. Nur in Drag. Und noch frustrierter. Unser Rausch hat zu viel Fahrt aufgenommen, als dass wir ihn von jetzt auf gleich abbremsen könnten.

»Ich kann nach diesem Spektakel nicht sofort schlafen gehen. Wir müssen weitertrinken, damit ich verstehen kann, was ich gerade gesehen habe.«

»Komm, wir setzen uns zu den beiden. Sie können nicht singen, aber trinken und rauchen scheinen sie zu beherrschen. Das ist mir sehr sympathisch.«

»Louise, halt, wir kennen sie doch gar nicht …«

Louise hört mir schon nicht mehr zu und ist auf dem Weg zum Tisch von Cora Zon und Pauli Paulinchen. Warum verspüren Menschen diesen unbändigen Drang, mit anderen, fremden Menschen Kontakt aufzunehmen? Ich wollte mich eigentlich nur in Ruhe mit Louise betrinken. Sie baut sich neben den beiden auf und plappert. Dann schauen alle drei in meine Richtung. Cora Zon und Pauli Paulinchen nicken gnädig, anscheinend gestatten sie eine Audienz. Louise winkt mich zu ihnen. Durch das unkoordinierte Wedeln ihrer Hand wirkt es allerdings eher, als wollte sie die Luft streifenfrei polieren. Ich trotte zu ihnen. Als ich direkt vor dem Tisch stehe, sehe ich, wie stark die beiden geschminkt sind. Ihr Make-up ist so üppig aufgetragen, man könnte aus Cora Zons Gesicht eine Wand formen, um daraus ein Haus zu bauen. Ob sie manchmal Nägel in ihr Gesicht schlägt, einfach weil sie es kann?

»Na, hallöchen. Nicht so schüchtern. Deine Freundin hat uns schon gewarnt, dass du ein bisschen zurückhaltend bist. Keine Sorge, wir beißen nicht. Außer man bittet uns darum.«

Dazu macht Cora Zon eine Schnappbewegung mit ihrem Mund und lacht laut über ihren eigenen Scherz. Auf dem Tisch stehen zwei Karaffen Wasser und zwei Gläser. Ich wundere mich, dass die beiden so asketisch sind. Vielleicht haben wir ihre Trinkfestigkeit falsch eingeschätzt und sie sind wirklich übergute Showgrößen, die ihren Mangel an Talent nur simuliert haben. Louise setzt sich und zieht mich auf den anderen freien Stuhl.

»Wollt ihr ein Schlückchen?«, fragt Pauli Paulinchen.

»Klar, Wasser ist gut, wir haben schon ein bisschen viel getrunken heute Abend.«

Pauli Paulinchen kichert. Ich verstehe nicht ganz, warum, was daran liegen mag, dass vier Drinks durch mich schwappen. Sie schenkt uns beiden je ein Glas ein. Macht es bis oben hin voll. Da ich tatsächlich durstig bin, nehme ich das Glas und trinke es in einem Zug aus. Um danach zu merken, dass ich soeben ein großes Glas Wodka geext habe. Cora Zon und Pauli Paulinchen trinken kein Wasser, sondern Wodka aus Karaffen. Diese plötzliche Zusatzdosis Rausch reißt den Abend in zwei Hälften. In ein Davor und ein Danach. In ein unter zwei Promille und ein über zwei Promille. Meine Erinnerungen sind kleine Klötze, die aufeinandergestapelt einen wackeligen Turm ergeben.

Klotz: Louise und ich tanzen auf einem Tisch.

Klotz: Cora Zon, Pauli Paulinchen und wir trinken auf lebenslange Freundschaft.

Klotz: Cora Zon zeigt uns ein Tattoo auf ihrem Hintern. Eine Mischung aus Delfin und Penis.

Klotz: Gläser auffüllen und leer trinken. Wasser …

Klotz: Wir üben Hebefiguren zu »Schöner, fremder Mann« oder irgendeinem Lied von Deichkind, ich habe keine Ahnung mehr.

Klotz: Cora Zon sagt, dass wir so ein schönes Paar sind und sie Lesben liebt. Wir antworten, dass wir kein Paar und zudem nicht lesbisch sind, soweit wir das beurteilen können. Cora Zon bleibt bei ihrer Aussage.

Klotz: Gläser auffüllen und leer trinken. Wasser …

Klotz: Pauli Paulinchen sieht schief aus. Wie ein Regal von Ikea, das man ohne Hilfe zusammengebaut hat.

Klotz: Pauli Paulinchen, die mich ansieht und sagt:

»Du bist ein sehr schöner Mann, weißt du! Sehr, sehr schön. Nicht wahr, Cora?«

Cora Zon tanzt, stolpert und fällt auf ihr Wandgesicht.

»Ich bin kein Mann«, antworte ich.

»Was? Doch, doch. Für mich bist du ein sehr schöner Mann.«

»O.k., klar.«

Klotz: Gläser auffüllen und leer trinken. Wasser …

Wir sind so unglaublich besoffen. Sie hätte mir genauso gut sagen können, dass ich ein schöner Wandschrank bin, ich hätte es ihr geglaubt. Lesbe, Mann, Karaffenwodka, alles o.k. Irgendwann, als es bereits dämmert und die Kellner beginnen, für das deutsche Frühstücksbuffet einzudecken, fallen wir in unsere Betten und umschiffen die drohende Alkoholvergiftung mittels Schlaf. Ich träume von Karaffen, Perücken und irgendwas mit Männern.

Als ich viel zu früh aufwache, fühle ich mich wie ein Baum ohne Blätter im Hochsommer. Marode und zerstört. Mein Kopf ist ein verwüsteter Kontinent. Cora Zon, Pauli Paulinchen, Wodka aus der Karaffe. Es braucht etwas, bis ich in der Gegenwart ankomme. Mir ist übel. Und was war das zum Schluss? Die Sache mit dem schönen Mann? Was hat Pauli Paulinchen damit gemeint? Louise schnarcht laut. Ich gehe auf den Balkon. Die Luft verspricht, was der Tag nicht halten wird. Für Umtriebigkeit ist mir zu schlecht. Die Hitze stapelt sich. Über dem Meer flimmert es. Unten auf der Straße werden die letzten Menschen und der Müll der vergangenen Nacht zusammengekehrt. Der Morgen knackt mit den Gelenken, ein paar Hotelgäste eilen an den Pool, um die Handtücher, die sie dem Hotel klauen werden, auf die Liegen zu schmeißen.

Ich will Louise nicht aufwecken und stehle mich leise aus dem Zimmer, um den gestrigen Abend oder vielmehr die Klötze noch mal übereinanderzustapeln. Außerdem hoffe ich, dass sich an der frischen Luft mein Kopfschmerz mitsamt der Übelkeit verabschiedet.

Auf der Bühne, die am Vorabend von Cora Zon und Pauli Paulinchen bespielt wurde, gibt es Frühsport. Die Musik ist viel zu laut. Mein Kopf scheppert. Außer mir sind noch ein paar andere Frühaufsteher unterwegs. Unter anderem zwei Teenager um die 16. Die Pubertät hat ihnen dünne Striche über die Oberlippen gemalt. Ich lege mich unweit von ihnen auf einen Stuhl. Aufrecht sitzen ist aktuell noch keine Option. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass ihre Köpfe zusammendocken, als wären sie magnetisch, und tuscheln. Dann rufen sie etwas in meine Richtung. Durch viel Watte und Restrausch dringen Fetzen zu mir durch.

»Hallo. Entschuldige, steh mal auf, bitte.«

Sie sind reine Lautstärke, ihre Stimmen brechen in der Mitte entzwei und ihre Gesichter halten der Schönheit die Augen zu. Sie sind flirrende Sägespäne, die sich überall breitmachen. Sie scheinen von ihrer aufdringlichen Lästigkeit nichts zu wissen und haben sich ein müdes und verkatertes Opfer gesucht. Mich. Ich blicke zu ihnen rüber.

»Was? Wieso?«

Mir fällt kein kesser Spruch ein. Das geschieht immer zeitverzögert. Meine sedierte Schlagfertigkeit ist beeindruckend. Bestimmt habe ich immer noch zwei Promille.

»Komm, steh mal auf. Wir wollen nur was prüfen, echt.«

Möglicherweise geben sie mir einfach meine Ruhe wieder, wenn ich aufstehe. Mehr will ich eigentlich gar nicht. In diesem Augenblick zumindest. Vielleicht ist es mit einem Aufstehen getan. Langsam stelle ich mich hin und richte mich einigermaßen gerade auf. Ich trage eine Jogginghose und dazu ein weites rotes T-Shirt.

»Ich habe es dir gesagt! Schau hin! Es hat Titten! Es ist eine Frau. Eine Zwitterfrau!«

Sie sind außer sich vor Freude. Wie leicht das geht. Riesengag. Lautes Lachen. Applaus, der dem Bühnenprogramm gilt, den sie aber ganz für sich beanspruchen. Ich setze mich wieder. Warum sage ich nichts? Mir ist schlecht und ich habe keine Lust und Kraft, mich mit idiotischen Teenagern auseinanderzusetzen. Mir doch egal, was sie sagen. Sie feixen und jauchzen weiterhin. Komischerweise spüre ich Tränen in mir aufsteigen. Das ist deswegen seltsam, weil die Situation nicht wirklich neu ist. »Was bist du?« »Zwitter!«, »Junge oder Mädchen?«, tausendmal gehört, wirklich keine große Überraschung. Ich merke, wie sich ein Stausee in meinem Kopf bildet. Nicht weinen. Lieber die Tränen sammeln und irgendwann damit trockene Landstriche in Thüringen bewässern oder in Meere abfließen lassen. Ich neige den Kopf ein wenig zurück und kneife die Augen zusammen. Nur so weit, dass keine Träne zufällig herauskullert. Der Knoten in meinem Magen zuckt im Takt von Coco Jambo, das aus den Lautsprechern scheppert. Von wegen Komik ist Tragik in Spiegelschrift. Tragik ist komische Musik zur falschen Zeit, zu der alle tanzen. Warum bin ich nicht im Bett geblieben.

Zeit für den Klubtanz. Das große Frühsportfinale. Der Trainer hüpft um sein Leben.

Leise stehe ich auf und stehle mich davon. Ich manövriere mich durch die Gassen des Klubhotels und hoffe, dass die beiden mir nirgends auflauern werden, um ihrem Vergnügen ein Dach aufzusetzen. Ich bin eine krakelige Linie, wo alle anderen klar gezeichnete Striche von einem Punkt zum anderen sind und wahnsinnig viel Sinn ergeben. Das Rumoren in mir ist derart laut, dass die Vögel erschrecken, als ich an ihnen vorbeigehe. Louise schläft bestimmt noch. Ich werde ihr nichts von diesem Zwischenfall erzählen, weil ich mich schäme, und setze mich laut leise ans Meer, das mich freundlicherweise sein lässt, wie ich bin.

 

Noch 6 Jahre, 8 Monate und 20 Tage

Louise sitzt im Bett, sieht zerwühlter aus als die Laken und das überdimensionierte Kuscheltier, das sie mitgenommen hat, und sieht mich vorwurfsvoll an.

»Ist alles o.k.? Du siehst etwas mitgenommen aus, dabei ist es noch so früh. Die Sonne scheint. Ein neuer Tag, an dem wir Pommes essen können.«

»Ich bleibe hier. Mein Kopf tut weh, mir ist irre schlecht und die Leute nerven mich.«

»Welche Leute denn? Ist irgendwas passiert?«

Louise hat mich auswendig gelernt. Wir kennen uns, seit wir im Kindergarten mit den Köpfen aneinandergestoßen sind und beide genäht werden mussten. Manchmal überlegen wir, ob dabei kleine Teile unseres Gehirns ins jeweils andere hineingefallen sein könnten, weil wir uns so nah sind und uns so wortlos verstehen.

»Nein, was soll passiert sein? Es passiert doch nie irgendwas. Alles ist immer gleich. Tendenziell gleich scheiße.«

»O.k., wow. Sonnenschein. Dann nicht.«

Louise pendelt zwischen Groll und so was wie Ratlosigkeit. Oder schlicht Müdigkeit und Kater. Warum schieße ich auf Louise, wenn ich doch am liebsten die beiden Halbstarken oder mich selber verprügeln würde. Louise dreht ihre Haare um die Finger und schaut den Chuck-Norris-Engel auf dem Alpenpanoramabild über dem Bett an. Die Luft zwischen uns ist zugleich zäh und aufgeweicht. Vorsichtig setze ich an, um sie zu zerschneiden und mich zu entschuldigen.

»Hm, Louise, tut mir leid, das war doof. Magst du Pommes? Ich habe noch eine in meiner Tasche.«

Sie sieht mich an, wie man komische Werbeplakate ansieht. Etwas ratlos und nach dem höheren Sinn suchend. Vielleicht findet sie es auch nur zu früh für Pommes. Andererseits kann Louise zu jeder Tages- und Nachtzeit Pommes essen. Ich hole die Pommes aus meiner Tasche und halte sie Louise unter die Nase. Sie nimmt sie.

»O.k., Pommes gehen immer. Und … falls du doch reden magst … selbst wenn mein Mund voller Pommes ist, stehe ich zur Verfügung. Und jetzt komm, wir frühstücken, von Pommes bekomme ich immer Hunger.«

»Louise, wenn du irgendwas sein dürftest, was würdest du sein wollen?«

»Egal was?«

»Genau, was immer du magst.«

»O.k., hm, vielleicht Autokratin in einem Land, wo alle immer extrem gute Laune haben müssten und Pommes lieben. Und du?«

Soll ich ihr erzählen, was passiert ist? Soll ich mit ihr über das reden, was Pauli Paulinchen gestern Abend gesagt hat und mir noch im Kopf rumgeistert? Vielleicht erinnert sie sich gar nicht. Nein. Stattdessen sage ich, maximal geistreich:

»Käse. Ich wäre gerne Käse.«

»Warum? Wieso willst du Käse sein?«

»Weil alle mich dann lieben würden. Jeder liebt Käse.«

»Interessant. Allerdings glaube ich, die Leute mögen dich auch so, selbst wenn du kein Käse bist.«

»Aber nicht so sehr wie Käse.«

 

An unserem letzten Abend sitzen wir weinschwer und träge vom Schleppen all des Tands auf unserem Pommesluftbalkon und breiten die zusammengefaltete Zukunft vor uns aus. Louise ist vorfreudig und aufgeregt, sie findet, dass das Unbekannte flimmert. Dass das Leben schön und aufgeladen ist und man die Möglichkeiten nur pflücken muss, die kommen werden. Oder längst da sind und von uns nur noch nicht gesehen werden, weil sie zu hoch hängen. Meine Vorfreude kauert in der Hocke und hat Arthrose in den Knien. Ich hätte gerne einen genauen Plan. Aber den gibt es nicht. Zukunft scheint eine Mixtur aus Zufall, Glück und reichen Eltern. Am ehesten habe ich von diesen drei Dingen den Zufall auf meiner Seite. Wird aus Zufall eine Karriere? Wenn Louise über das, was sein kann, redet, wird sie leicht und glüht. Sie heizt sich auf und entzündet sich an den kleinsten Funken. Wenn ich über die Zukunft rede, fängt es irgendwo an zu regnen.

»Hast du keine Angst davor, was alles passieren kann?«, frage ich sie.

»Wieso denn? Das wäre doch, als würde ich jedes Mal, wenn ich über die Straße gehe, erwarten, dass ich über den Haufen gefahren werde.«

»Klar, möglich.«

»Quatsch. Man muss einfach springen und darauf vertrauen, dass einen jemand auffängt. Du denkst, dass du mit Sicherheit auf die Fresse fällst. Ist aber nicht so.«

Der Wein hat ihren Optimismus auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. »Was willst du jetzt nach dem Abi machen, weißt du inzwischen schon was? Borreliose ist raus, das ist klar.«

Unten auf der Straße üben die Massen Vergnügtheit. Sie saufen ihr Bier, als hätte sie jemand von innen angezündet und sie müssten sich löschen. Frohsinn scheint nicht in leise zu existieren. Die ganze Welt muss mitbekommen, dass die ganze Welt gut gelaunt ist. Morgen wird es kein Gestern geben. Deswegen kommt man hierher. Um die Zeit zu überwinden und nicht den jämmerlichen Alltag vor sich herzutragen. Kurz, nur ganz kurz, nicht immer man selbst sein.

»Also … sag.«

Louise schenkt sich mehr Wein ein und inhaliert die Pommesluft. Ihre Bronchien dürften mittlerweile die Patina einer Wurstbude haben.

»Ach, keine Ahnung, Kunst oder so? Schauspiel? Da muss man nicht andauernd man selbst sein. Das stelle ich mir ganz gut vor.«

»Schauspiel? Seit wann interessierst du dich für Theater?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich will nicht andauernd ich selbst sein.«

»Dann geh in die Politik.«

»Haha.«

»Na, wenn du Lust auf Schauspiel hast, dann mach das.«

»Das klingt, als würdest du sagen: Wenn du Bock hast, auf einem Delfin durch die Sahara zu reiten, dann los.«

»Auch toll! Vielleicht werde ich irgendwann Expertin für Zitrusfrüchte und Import/Export, ist doch alles o.k. Hauptsache man hat nicht so ein tristes Büroleben. Wenn du auf die Schauspielschule willst, dann mach das.«

Es stimmt, was sie sagt. Und weil ich leicht angeschickert bin und kurz von etwas Mut gestreift werde, werfe ich keine Steine auf meine Idee von der Zukunft, sondern spüre so was wie freudige Zuversicht.

»O.k., ich glaube, das mache ich. Auf die Kunst, Prost.«

»Auf die Kunst. Auf alles, die Zitrusfrüchte und das ganze Theater!«

Wir verschmelzen kurz mit dem Frieden und der Vergnügtheit unter unserem Balkon. Nichts stört, nichts trübt die Aussicht. Alles ist gut, weil alles klar und entschieden ist.

Nicht gemurmelt, sondern deutlich gesagt. Die Zukunft ist nicht morgen, sondern jetzt in unseren ahnungslosen Köpfen.

 

Noch 6 Jahre, 8 Monate und 10 Tage

Mit 19 hat man irgendwie die Vorstellung, sehr viel Zeit zu haben. Man denkt, sie stünde einem fässerweise zur Verfügung und man könne unendlich von ihr trinken.

Deshalb trifft man zweifelhafte Entscheidungen, lebt ein Jahr in einer Hundehütte, lernt alles über einen Alltag mit Microdosing oder bewirbt sich an einer privaten Schauspielschule. Anscheinend gehe auch ich davon aus, wahnsinnig viel Zeit zu haben. Und so reise ich nach Oberbayern, um mich an einer dubiosen Schauspielschule zu bewerben, die mir von irgendwem, der irgendwen kannte, der irgendwen kannte, der was mit Theater und Gulasch macht, empfohlen wurde. Der Weg alleine hätte mich stutzig machen müssen. Nach einer zweistündigen Zugfahrt durch Orte mit Namen, die sicherlich nicht einmal die Bewohner richtig aussprechen können, komme ich an. In einer Kleinstadt, irgendwo in der bayerischen Provinz. Sie teilt sich auf in die Neustadt, die vom Tourismus ignoriert wird, und eine Altstadt, die alle wahnsinnig romantisch finden. Direkt daneben ein dampfendes Chemiewerk, das in den Broschüren über dieses Kleinod erstaunlich selten erwähnt wird.

Der Bahnhof ist eine Endstation. Auf sehr vielen Ebenen. Ich bin zu früh da. Deswegen stromere ich langsam entlang der Hauptstraße Richtung Aufnahmeprüfung, die kurioserweise in einer Burg stattfinden soll.

Als ich nach einer halben Stunde bei besagter Burg ankomme, sehe ich aufgeregte Grüppchen, die vor dem Eingang zusammenstehen. Mehr Frauen als Männer. Alles flattert und ist nervös. Was einander ausgiebig mitgeteilt wird. Ich bin ebenfalls ein verschwommenes Bild meiner selbst und zittrig, will aber mit niemandem darüber reden. Deshalb hangle ich mich fliegengleich am Rand der Gespräche entlang und bleibe alleine stehen. Nach einiger Zeit geht die Tür auf und alle werden hereingebeten.

Ein kleiner Fluss junger ahnungsloser Menschen mäandert ins Innere.

Die Frauen sprechen alle für Schauspiel vor. Die anwesenden Männer sehen aus, als wären sie von einem Laster gefallen, und haben die Absicht, Regie zu studieren. Frauen machen Schauspiel und Männer sagen ihnen, wie das geht. Gut zu wissen. Ich bin mir nicht sicher, was ich hier eigentlich mache. Eine der Frauen berichtet unter Schnappatmung, dass sie bereits alle Aufnahmeprüfungen der staatlichen Schauspielschulen durchhat und das hier ihre letzte Hoffnung sei. Als wäre diese Schule das transplantierte Herz, das ihren darbenden Körper retten könnte.

»Schauspiel bedeutet mir alles. Wenn das hier nicht klappt, dann, ich weiß auch nicht, aber ich glaube, dann bringe ich mich um.«

Wieso erzählt sie mir das? Ich schaue sie an.

»Glaubst du nicht, dass das etwas drastisch wäre?«

»Äh, wieso?«

»Du hast gerade gesagt, du bringst dich um, wenn du an keiner Schule genommen wirst. Vielleicht ein bisschen krass?«

Sie sieht mich an, als hätte ich sie gefragt, ob sie aus der inzestuösen Beziehung zweier Steinadler stamme.

Sehr ausdrucksstark treten ihr Tränen in die Augen. Hat sie das geübt? Hat sie ihre Tränen dressiert? Sie macht ein Foto von sich, während sie weint.

Dann beginnen die Prüfungen und sie stoppt ihr Weinen ohne Bremsweg. Um eine demokratische Atmosphäre zu etablieren oder damit niemand heimlich etwas aus der Burg klaut, sind alle während des Vorspielens im gleichen Raum. Was folgt, sind mehrere Stunden intensiver Gefühle. Aus einem mir nicht bekannten Grund ist es wichtig, viel zu schreien, zu weinen, zu spucken, auf dem Boden zu kriechen, an seinen Kleidern zu reißen und Nacktheit anzudeuten. Ich habe starken Durst. Einer der Typen neben mir vertilgt mit offenem Mund eine Schinken-Käse-Breze und säuft Spezi.

Dann bin ich dran. Ich habe einen Monolog von Sartre und ein Lied vorbereitet. Weder bin ich nackt, noch schreie oder weine ich. Meine Darstellung ist, wenn man wohlwollend sein möchte, als puristisch zu bezeichnen. Die anwesenden Frauen sind irritiert. Auch weil ich kein Kleid trage. Als ich fertig bin, wird zaghaft geklatscht und die nächste Person betritt den Ring.

Nach ein paar Stunden dürfen wir den Raum verlassen und stehen wieder vor der Burg. Über uns krächzen ein paar Vögel. Wahrscheinlich lachen sie uns aus. Ein paar der Frauen weinen einfach weiter. Sie weinen das komplette Wochenende durch. Ich weine nicht. Nach der Prüfung gehe ich in die Jugendherberge, in der ich mir ein Zimmer gebucht habe, verderbe mir den Magen an einer lokalen Spezialität und lese zum Einschlafen Comics. Den größten Teil der Nacht verbringe ich mit Kotzen. Das hätte ich in mein Vorsprechen einbauen sollen.

 

Am nächsten Morgen stehe ich bleich und wackelig vor der Burg. Zwischen den anderen wurden bereits zarte Minutenfreundschaften gewebt. Die Anspannung wird weggelacht und in Scherze gesteckt. Mir ist immer noch flau.

Der Leiter der Schule, ehemals kettenrauchende Regiegröße, jetzt Impresario der Laiendarsteller, tritt vor das Gebäude, also die Burg. Er sieht aus wie ein gegerbter Schlumpf. Seine Haut schimmert graublau. Seine Haare sind schlohweiß und umwölken sein Gesicht. Wenn er hustet, klingt es, als würde ein Kiesellaster in seiner Brust ausgekippt werden.

»So, meine Lieben. Das war schon mal sehr gut, ne? Das Komitee wird sich jetzt beraten. In zwei Wochen bekommen Sie Bescheid, wie unsere Entscheidung ausgefallen ist. Tschüss, tschüss.«

Er macht kehrt und wankt auf seinen Stock gestützt zurück ins Haus, nein, die Burg. Ich bin ratlos, was ich von alldem halten soll, mache mich auf den Heimweg und schaue die folgenden zwei Wochen zusammen mit Louise sehr viele Talkshows, um mein Gefühlslevel stabil zu halten. Nach 14 Tagen kommt ein Brief. Das Prüfungskomitee fand meine Ahnungslosigkeit scheinbar originell und authentisch, deshalb werde ich aufgenommen. Man könnte sagen, dass die Aufnahme an einer privaten Schauspielschule ungefähr so schwierig ist wie das Trinken von Mineralwasser. Aber da ich weder einen Plan B noch einen Plan A habe, sage ich zu. Louise kauft Rotkäppchensekt und wir stoßen auf meinen Triumph an.

 

Noch 6 Jahre, 4 Monate und 2 Tage

Einen Monat später finde ich mich an einer Schauspielschule in der bayerischen Provinz wieder, deren Führungsriege aus ehemaligen Theaterstars aus dem Ostblock, einem Sportlehrer, der in der DDR des Dopings bezichtigt wurde, einer Performancedozentin, die sich von Licht und Zigaretten ernährt, und versprengten Gestalten der Unterwelt besteht. Ich wohne in einem Zimmer am Rande der Neustadt zwischen Säufern und Verrückten und frage mich unentwegt, was ich an diesem schrecklichen Ort soll, ohne je eine Antwort zu erhalten.

Louise hat mir geholfen, meinen schmalen Besitz umzuziehen und diese Handvoll Leben in meine neue Existenz zu verfrachten. Ich habe eine Matratze, einen Fernseher, der so groß ist wie ein Daumennagel, eine Gitarre und Kleidung, in erster Linie sehr viele Mützen. Als bräuchte ich für jeden einzelnen Gedanken in meinem Kopf eine Kopfbedeckung. Wir hocken auf dem Teppich, der nach Leichen und Styropor riecht, und essen wahnsinnig schlechte Pizza aus dem Karton. Wobei es gar nicht so einfach ist, sich geschmacklich zu orientieren, wo der Karton anfängt und die Pizza aufhört. Zwischen uns steht, wie so oft, Rotkäppchensekt, den wir aus der Flasche trinken, weil ich keine Gläser habe. Über unseren Köpfen ist es bewölkt. Louise reist morgen ab und bereitet ihren Umzug nach Berlin vor. Wenigstens sie nimmt das mit der großen, weiten Welt und dem jugendlichen Esprit ernst. Es wird ungewohnt sein, sie nicht um mich zu haben. Das erste Mal, seit wir mit unseren Gehirnen aneinandergestoßen sind.

»Wieso hast du so viele Mützen? Hast du Köpfe, von denen ich nichts weiß? Es ist nicht logisch, so viele Mützen zu besitzen.«

»Louise, seit wann hat Kleidung denn mit Logik zu tun? Mode ist niemals logisch.«

»Alles klar, Lagerfeld. Ich wusste nicht, dass du seit Neuestem Modezar bist. Freust du dich auf morgen? Dass es losgeht und so?«

»Keine Ahnung. Ich hoffe, dass die Leute o.k. sind.«

Neue Menschen kennenlernen. Neue Orte abstecken. Neue Wege erlaufen. Ich weiß, dass Louise so was liebt. Dass sie so tief einatmet, wie sie kann, weil sie alles aufnehmen möchte. Nicht nur erahnen, sondern komplett einschnaufen und in sich verteilen. Und ich? Fürchte mich. Fürchte mich vor jeder schnellen Wolke, jedem Schatten, jedem Geräusch, das sich hinter einer Ecke verstecken könnte. Grüble, was andere über mich denken.

»Na klar werden sie o.k. sein. Du darfst nicht immer davon ausgehen, dass alle scheiße sind. Es gibt wirklich auch nette Menschen. Sieh mich an. Ich bin nett.«

»Gut zu wissen! Aber vielleicht bist du die große Ausnahme.«

»Unfug. Es wird total o.k. sein. Besuchst du mich in Berlin? Wir können uns wie lästige Touristen aufführen und von allen gehasst werden.«

»Klingt verlockend. Klar, mache ich. Gehasst werden ist ein schöner Plan.«

Wir stoßen an mit unserem billigen Sekt.

 

Noch 6 Jahre, 3 Monate und 21 Tage

An diesem komischen Ort in der Provinz scheint immer Abend zu sein. Alles fühlt sich ständig an, als sei es kurz vor Ladenschluss. Verschlafen, träge und auf nahe Sicht gebaut. Wie unter Wasser. Ich verbringe den Großteil meiner Zeit in muffigen Burgräumen und schaue aus kleinen Fenstern von oben auf die Altstadt. Imaginiere mich als Kapitän der Unterwasserwelt, die sich im Tal ausbreitet. Manchmal kommt mir das verheißungsvoll, meistens aber einsam vor.

Mein Jahrgang besteht aus fünf Frauen, darunter die Tränenfotografin, einem Mann, drei Regisseuren und mir. Die Speerspitze der Kultur hat sich versammelt. Wir sehen aus wie die nachkolorierte Addams Family auf schlechtem Speed, die sich in Kunst versucht. Unser Rollenstudium beruht darauf, dem dauergeilen Schauspielcoach bei seiner Balz zuzuschauen. Er dreht beinahe durch, ob der großen Auswahl an Studentinnen. Ich werde bei seinem Werben nicht berücksichtigt. Nicht so wild, ich habe genug damit zu tun, mich fehl am Platz zu fühlen.

Das Problematische an einem Jahrgang, der nur aus Frauen besteht, ist, dass nahezu alle Theaterstücke dieser Welt in erster Linie aus Männerrollen bestehen. Das Kollegium wird aufgrund dieser Tatsache an seine Grenzen gebracht. Stücke, die ausschließlich weibliche Hauptrollen haben? Wie soll das gehen? Soll man eine Küche auf die Bühne stellen? Stücke werden gewälzt, als gehe es um die Entdeckung eines neuen Planeten. Da niemand darauf aus ist, an wackeligen Geschlechterrollen zu rütteln, wird der Regiejahrgang, der, Überraschung, rein männlich besetzt ist, zum Schauspielen verdonnert.

Als die Entscheidung verkündet wird, herrscht eine Stimmung, als wäre gesagt worden, dass die Produktion von Schinken-Käse-Brezen eingestellt wurde.

Einer der Boys aus der Runde schnauft. Er ist aus Waldkraiburg, fährt einen tiefergelegten Opel, sieht aus wie die Schurken aus allen Disneyfilmen und liest während des Unterrichts gerne den Playboy.

Nummer zwei ist angetrunken und findet die Idee, mit sehr vielen Girls zusammenzuarbeiten, anregend. Er leckt sich deshalb oft die Lippen. Der Dritte im Bunde wird das komplette Studium über nie seinen Mantel ausziehen und sieht aus wie ein sehr erschrockener Igel. Die Tränenfotografin macht ein Foto von sich, wie sie nachdenkt. Vielleicht will sie damit der Außenwelt beweisen, dass sie ein Gehirn hat.

Die anderen Frauen heißen Sarah, Birgit, Ophelia und Joana. Ophelia sieht sich als sehr spirituelles Wesen und fragt vor jeder ihrer Entscheidungen den Kosmos um Rat. Birgit hatte ursprünglich mit einer Karriere in der Verwaltung geliebäugelt, sich aber dann in einem Akt der Befreiung von was auch immer für ein Schauspielstudium entschieden. Sarah ist fünf Jahre älter als wir und wird nicht müde zu betonen, dass sie sich sehr viel jünger fühlt. Da sie den Zigaretten und dem Suff sehr zugetan ist, ist ihr Aussehen anderer Meinung. Die Einzige von ihnen, die ich von der ersten Sekunde an in mein klammes Herz geschlossen habe, ist Joana. Sie ist schlau, cool und lagert die Weisheit des Universums in ihren Augen. Wie auch immer sie das anstellt. Wir verstehen uns auf Anhieb. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie die anderen genauso bekloppt findet wie ich.

 

Noch 6 Jahre, 1 Monat und 2 Tage

Nach aufreibenden Tagen hat das Kollegium ein Stück ausgegraben. Es handelt von verzweifelten Prinzessinnen, spielt im Spanien des 15. Jahrhunderts und ist durch und durch Schmonzette. Offiziell läuft es unter Tragikomödie. Es ist die Vorabendserie unter den Theaterstücken. Männer sind Ritter, die verzweifelte, an Hysterie und Selbstmord grenzende Prinzessinnen anschmachten und im Zweifelsfall retten wollen. Manchmal sind sie ein bisschen dumm und tollpatschig dabei, grundsätzlich aber sehr männlich. Die Frauen sind Frauen. Punkt. Dauerschrill und aufgeregt, wahrscheinlich haben sie ihre Tage. Ich habe keine Ahnung, was oder wer den dauergeilen Dozenten reitet, aber er gibt mir die Hauptrolle. Mir. Die weibliche Hauptrolle. Als er seine Entscheidung verkündet, donnern die Gesichter meiner Kommilitoninnen mit 180 km/h auf die Tische vor ihnen, zerspringen und bröseln auf die Schuhe des Dozenten. Das soll die Prinzessin sein? Was? Die Hauptrolle. Prinzessin.

Will der dauergeile Dozent meine gehemmte Weiblichkeit entfesseln und aus mir eine sinnlich wabernde Sophia Loren machen? Ich hatte damit geliebäugelt, einen freundlichen Esel zu spielen und noch vor dem ersten Vorhang sturzbetrunken zu sein. Und jetzt? Bin ich Prinzessin wider Willen.

Um die Wucht seiner Verlautbarung noch etwas nachwirken zu lassen, beendet der Dozent die Stunde vorzeitig. Alle gehen nach draußen. Ich schleiche hinter ihnen her und binde mir intensiv die Schnürsenkel, weil mir nicht danach ist, über seine Entscheidung und meine Prinzessinnenrolle zu diskutieren.

Vor der Tür scheint die Sonne. Ich will nach Hause in mein Zimmer im Säuferloch. Neben mir türmt sich die Burgmauer auf. Sie ist genau einen Kilometer lang, was anscheinend sehr besonders ist. Die Stadt rühmt sich ständig dafür.