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Mit dem Mega-Grusel-Brief fing alles an. Mad und Ru wussten sofort, da stimmt was nicht. Nie und nimmer hätte Dad so einen pupsnormalen Brief geschrieben. Ru ist felsenfest davon überzeugt, dass es eine verschlüsselte Nachricht ist. Mad glaubt zwar nicht an einen Code, aber dass ihr Vater offenbar verrückt geworden ist, findet sie auch nicht gerade beruhigend. Jedenfalls sitzen sie jetzt im Flugzeug, zusammen mit Mum und ihrem neuen Begleiter Ken-Neth (würg), und sind auf dem Weg nach La Lava, um ihren Vater zu suchen. Dort finden die Schwestern nicht nur ihn und das grünste Wellness-Paradies der Welt, sondern auch noch eine Vogelfeder. Und die führt sie direkt in ein mysteriöses Dschungelabenteuer …
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Veröffentlichungsjahr: 2013
CARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag© der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013 © der amerikanischen Originalausgabe by Delacorte Press, an Imprint of Random House Children’s Books, Inc., New York 2012 © Helen Phillips, 2012 The author has asserted her moral rights. All rights reserved. Originaltitel: Here Where The Sunbeams Are Green Umschlagbild: Getty Images, Darrell Gulin Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Vivien Heinz Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss Lektorat: Regine Teufel Vignetten: © Seamartini Graphics – Fotolia.com Layout: Satz · Zeichen · Buch, Hamburg Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Lithografie: Margit Dittes Media ISBN 978-3-646-92385-8 Alle Bücher im Internet unter:www.carlsen.dewww.chickenhouse.de
Für meine Schwester Alice, mutig und kühn
Da sitzen wir also, in einem wackligen kleinen Flugzeug hoch über dem Urwald, was irgendwie unheimlich ist. Auf unserem ersten Flug saß Ru die ganze Zeit am Fenster, und deshalb wollte sie, dass ich auf dem zweiten Flug den Fensterplatz bekomme, was ich sehr rücksichtsvoll von ihr finde, denn schließlich ist sie erst neun. Aber eigentlich müsste ich ihr auch diesmal den Fensterplatz überlassen. Ich bin zwar drei Jahre älter als meine Schwester, aber sie ist die Mutigere von uns beiden, die gern fliegt und andere gefährliche Sachen macht. Ich dagegen bin in letzter Zeit noch ängstlicher als sonst, seit das Unheimliche in unser Leben gekommen ist. Der tolle Blick aus dem Fenster ist an mich sowieso verschwendet, weil ich den holprigen Flug nur überstehe, wenn ich meine Stirn fest an die Scheibe drücke und mir einrede, dass der Dschungel unter uns ein riesiges grünes Trampolin ist, auf dem wir weich landen, selbst wenn das Flugzeug vom Himmel fällt.
Ich will mich gerade ermahnen: Stell dich nicht so an, Madeline Flynn Wade, und komm wieder runter, da sehe ich ihn.
»Da ist er ja«, murmle ich.
»Was? Was?«, quiekt Ru. »Wo ist was?«
»Der Lava-Bird-Vulkan. Da ist er.« Ich drücke mich tiefer in meinen Sitz, damit sie aus dem Fenster sehen kann. Von Dad wissen wir, dass nicht jeder Vulkan die klassische Vulkanform hat. Aber der hier schon. Er ist groß und blau und absolut perfekt.
»Volcán Pájaro de Lava«, wiederholt Ru in richtig gutem Spanisch, und ich frage mich, woher sie diese tolle Aussprache hat. Viel besser als ich, obwohl ich schon seit drei Jahren Spanisch lerne und Ru erst seit einem. Genau in dem Moment, als wir den Vulkan überfliegen, springen zwei gekreuzte Regenbogen über dem Urwald auf. Ja, wirklich, sie kreuzen sich! Ru löst ihren Gurt, um sich enger an mich zu drücken und die Regenbogen zu bewundern, und wir rufen beide »Ooooh, zwei Regenbogen!« und sind plötzlich sehr gespannt, was uns an diesem Nachmittag noch alles erwartet. Na ja, Ru platzt ja schon die ganze Zeit vor Aufregung und Abenteuerlust, so wie immer. Die Ängstliche von uns beiden bin ich.
Jedenfalls ziehen Ru und ich die Luft ein und quieken vor Freude, bis wir zu Mom auf der anderen Gangseite schauen, um ihr die Regenbogen zu zeigen. Denn was sehen wir da? Ken-Neth, der sich über sie beugt und ihr etwas ins Ohr flüstert. Ehrlich, das dreht mir den Magen um. Dad hätte Ken-Neth nie zu uns ins Haus gebracht, wenn er das gewusst hätte. Ich meine, dass Ken-Neth mit Dads Familie im Flieger sitzt, als sei es seine eigene, und mit Dads Frau tuschelt.
Dabei mochte ich Ken-Neth anfangs sogar. Dad brachte ihn eines Abends im letzten Dezember zum Essen mit und stellte ihn als Kenneth Candy vor (das ist kein Witz, er heißt wirklich Candy!). Kenneth Candy sei ein erfahrener Umwelt-Projektleiter und frischgebackener Freund von ihm, verkündete er.
»Frischgebacken«, kicherte Ru, während Mom seufzend ein weiteres Gedeck auflegte. »Gibt es das Wort wirklich?«
»Ken arbeitet für das faszinierende Öko-Erschließungsprojekt in Mittelamerika, das vor einiger Zeit ins Leben gerufen wurde«, sagte Dad zu Mom und kniff sie in die Taille, wie immer, wenn er sie zum Lachen bringen will. »Du weißt schon, Via, ich hab dir doch davon erzählt. Die Anlage wurde zwei Jahre hintereinander als ›grünste Wellness-Oase‹ der Welt prämiert. Was da auf dem Gebiet der Umweltentwicklung geleistet wird, ist absolut neu und bahnbrechend. Und der Standort ist atemberaubend – praktisch unberührter Regenwald an den Hängen eines Vulkans. Der Traum aller Ornithologen!« Dad hielt einen Augenblick inne, und die Begeisterung in seiner Stimme war erloschen, als er hinzufügte: »Na ja, vor ein paar Jahren natürlich noch viel mehr, als der Lavakehlchen-Troglon noch nicht als ausgestorben galt.«
Das Artensterben ist Dads rotes Tuch. Und er liebt mittelamerikanische Vögel.
»Der verborgenste Vogel der Welt«, fuhr Dad verträumt fort, als wir uns zum Essen hinsetzten, »und zwar lange, bevor er vom Aussterben bedroht war. Prächtiges Gefieder, aber unglaublich scheu – kaum jemand hat es geschafft, nahe genug an ihn heranzukommen, um ihn genauer zu studieren. Besonders die Weibchen sind unauffindbar und nisten irgendwo im tiefsten Dschungel. Und die wenigen Männchen, die je gesichtet wurden, haben das Versteck ihrer Weibchen mit keinerlei Hinweis verraten. Lavakehlchen-Troglone sind monogam und bleiben ein Leben lang mit ihrem Partner zusammen.«
»Monogam, ein Leben lang, monogam, ein Leben lang«, sang Ru fröhlich vor sich hin und zwirbelte eine Ladung Spaghetti auf ihre Gabel.
Mom schaute Dad kopfschüttelnd an. »Also wirklich, das ist doch ein Skandal – eine Wellness-Anlage mitten im Lebensraum eines so seltenen Vogels!«
»Im einstigen Lebensraum«, verbesserte Ken Candy und stopfte sich eine Riesenportion Spinatsalat in den Mund. »Ausgestorben …«, mampf, mampf, »ist nun mal …«, mampf, »ausgestorben«, fuhr er traurig fort (sofern man beim Kauen traurig klingen kann), als wäre jemand in seiner eigenen Familie gestorben. Oder nein, in Dads Familie, weil Dad ein weltberühmter Ornithologe ist, der auch »Bird Guy« – Vogelmensch – genannt wird.
»Wie heißt dieses Spa noch mal?«, fragte Mom. »The Magma?«
»La Lava«, erwiderte Ken Candy grinsend und bleckte seine spinatgrünen Zähne. »La-Lava-Wellness-Anlage.«
»Ich finde Lava toll«, verkündete Ru. »Das ist wie heiße Karamellsauce, die direkt aus der Erde kommt.«
»Und was genau machen Sie bei La Lava?«, wollte Mom von Ken Candy wissen.
»Ach, im Wesentlichen arbeite ich bei der Umweltentwicklung mit, in beratender Funktion, und solche Sachen«, sagte Ken Candy und strahlte Mom an. »Ich fliege mehrmals im Jahr dorthin.«
»Wir brauchen viel mehr Leute, die sich für solche Projekte engagieren«, warf Dad ein.
»Na ja, ich weiß nicht, aber ich liebe meine Arbeit«, sagte Ken Candy bescheiden, obwohl er in Wahrheit vor Stolz fast platzte. »Und ich will nicht beim Essen übers Geschäftliche reden«, fuhr er fort, »aber das La Lava sucht einen erfahrenen Ornithologen, der für uns die heimischen Vogelarten aufspürt und katalogisiert. Das wäre nicht nur eine tolle Attraktion für unsere Gäste – also jedenfalls die Wissbegierigeren unter ihnen –, sondern käme auch unseren grünen Zielen zugute. Das traurige Schicksal des Lavakehlchen-Troglons darf sich nicht wiederholen.«
Ken Candy schaute Dad an. Dad schaute Mom an. Und Mom schaute Ken Candy an.
»Interessant«, sagte Mom. »Wirklich.«
»Wir haben eine atemberaubende Bandbreite von Vogelarten dort, wenn ich das mal sagen darf«, fügte Ken Candy hinzu.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Mom.
Nach dem Essen zog Ken Candy ein paar Schokoriegel aus seinen Taschen und schenkte sie Ru und mir. Ganz zufällig hatte er Mini-Snickers dabei (meine Lieblingssorte) und Mini-Mars (die Ru liebt). Er war ein netter Typ und eigentlich ganz süß, sogar mit dem Spinat zwischen den Zähnen, was mich fast ein bisschen befangen machte. Aber jetzt wäre ich froh, wenn Dad ihm nie begegnet wäre.
Denn was ist das Ergebnis? Dass wir gerade mit Ken-Neth im Flugzeug sitzen statt mit Dad. Ich könnte ihn ohrfeigen, wie er da aus dem Flugzeugfenster auf die Regenbogen zeigt und sich viel zu dicht über Mom beugt, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Wenn das kein gutes Omen ist, Sylvia, dann weiß ich auch nicht!«
»Hm-mhm«, macht Mom abwesend, weil sie in Gedanken bei Dad ist, da bin ich mir sicher.
Im Februar tauchte Ken-Neth das zweite Mal bei uns auf. Mom hatte ihn angerufen, weil Dads Aufenthalt im La Lava stillschweigend verlängert worden war (zum ersten Mal), und bei diesem Besuch wollte er, dass wir Ken zu ihm sagen und nicht Mr Candy.
»Wie Ken und Barbie?«, sagte Ru und spähte durch das Geländer unserer Holztreppe auf ihn hinunter. Ich stand hinter ihr und schaute auch auf ihn hinunter.
»Kann ich Neth statt Ken zu Ihnen sagen?«, fragte ich, was ziemlich gemein von mir war, aber ich konnte nicht anders – ich war so sauer wegen Dad und brauchte einen Sündenbock.
Ken war aber nicht beleidigt, sondern begeistert. Anscheinend glaubte er, dass es nett gemeint war.
»Ja, natürlich, gern«, sagte er und schaute zu uns beiden hoch. »Neth ist super, wirklich – so hat mich noch niemand genannt.« Er freute sich, als hätte ich ihm den nettesten Spitznamen der Welt gegeben. Deshalb sage ich nie Neth zu ihm. Oder Ken. Sondern gar nichts. Nur in Gedanken nenne ich ihn Ken-Neth.
Ru kann wieder mal nicht still sitzen. Sie greift über den schmalen Gang hinüber, stupst Mom am Arm und fragt viel zu laut: »Was ist das, ein Omen? He, Mom, sag, was ist ein Omen?«
»¡Señorita! ¡Señorita!«, krächzt eine Stimme aus dem Lautsprecher und überschüttet uns mit einem spanischen Wortschwall. Dann noch einmal: »¡Señorita!«
»Hey, Ru-by, die reden mit dir!«, sagt Ken-Neth und reißt sich endlich von Moms Ohr los.
Das dritte Mal tauchte Ken-Neth im März bei uns auf, als Dad seine Reise zum zweiten Mal verlängert hatte. An diesem Tag sagte er »Ru« zu meiner Schwester, und ich musste ihn zurechtweisen und ihm klarmachen, dass nur drei Menschen auf der Welt Ru so nennen dürfen. Es ist mein Spitzname für Ru. Ich habe ihn erfunden, als Ru drei war und ich sechs, also kann ich auch darüber bestimmen. Seither ist Ken vorsichtiger geworden. Und ich triumphiere innerlich, wenn er sie Ruby nennt. Ich muss jedes Mal grinsen, wenn er mit »Ruuuu« anfängt und dann schnell ein »by« dazuquetscht. Und natürlich traut er sich auch nicht, »Mad« zu mir zu sagen, dafür habe ich gesorgt, weil mich so nur jemand nennen darf, dem ich es ausdrücklich erlaubt habe.
»Häh?«, sagt Ru jetzt.
»Die reden mit dir, señorita!«, erklärt Ken-Neth. Er kann als Einziger von uns richtig Spanisch, und ich war schon am Flughafen tierisch genervt, wie Mom ihn dauernd anschleimte: »Oh, Ken, was hat er gesagt?« oder »Oh, Ken, können Sie uns bitte die Speisekarte übersetzen?«
Die Stimme aus dem Lautsprecher wird immer gereizter, und die Stewardess, die vorne an dem kurzen Gang steht, funkelt Ru an. »Du sollst dich anschnallen, heißt das«, übersetzt Ken-Neth.
»Ach du liebe Güte, Ru – wieso bist du noch nicht angeschnallt?«, schreit Mom. »Jetzt mach schon – schnall dich an! Los, schnell, schnell! Schnall dich an! Hilf ihr doch, Mad. Schnell, anschnallen!«
Mom hat noch viel mehr Angst in dieser kleinen Maschine als ich. Nur Ru fürchtet sich nicht. Ru hat vor gar nichts Angst. Nicht mal vor dem Mega-Grusel-Gänsehaut-Brief, den sie jetzt aus ihrem kleinen Rucksack hervorzieht, nachdem ich sie angeschnallt habe. Der unheimlichste Brief der Welt. Und davon will ich jetzt echt nichts hören, weil mich noch nie im Leben etwas so in Panik versetzt hat wie dieser Brief, den wir im April bekommen haben. Es ist Dads letzter Brief aus dem La Lava, bevor der Kontakt abbrach, und deshalb nenne ich ihn den »Mega-Grusel-Gänsehaut-Brief«. Damals fing das Unheimliche an. Und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört – kein einziges Lebenszeichen, weder Anrufe noch E-Mails oder sonst was.
Mom gab nicht auf, sondern versuchte es immer wieder, schickte Mails und hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des La Lava. Ich schrieb weiter Briefe und Ru schickt immer noch verschlüsselte Botschaften an Dad, klar. Aber von ihm kam nichts, nur die Geschäftsführerin des La Lava rief an und sagte uns, dass Dad momentan im tiefsten Dschungel stecke und nicht erreichbar sei. Er sei mit einem wichtigen Projekt beschäftigt, das ihn voll und ganz in Anspruch nehme. Aber mit dem Herzen sei er immer bei uns und werde sich melden, sobald es ihm möglich sei. Und wir sollten nicht böse sein, dass er seinen Aufenthalt noch einmal verlängern musste.
»Mit dem Herzen bei uns?«, wiederholte Mom misstrauisch.
»Ja, richtig«, bestätigte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die so unglaublich ruhig und melodisch war. Ich weiß es, weil Ru und ich die Treppe hinaufgeschlichen waren und das Gespräch vom Telefon im Elternschlafzimmer belauscht hatten. Wir wollten unbedingt wissen, was hinter dem Unheimlichen steckte. Ru sagte, dass ich langsam wie ein Detektiv denke. Na und?, hab ich geantwortet. Du doch auch, und Ru musste zugeben, dass ich Recht hatte.
Die Frau am Telefon sprach mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Die Stimme hatte etwas Eisiges, auch wenn sie noch so schön und ruhig klang. Und ihre Worte waren erst recht verdächtig, denn Dad hätte nie gesagt, dass er »mit dem Herzen immer bei uns sei«. Sondern höchstens: »Ich liebe euch wie Gummibärchen« oder »Ich vermisse euch wahnsinnig – wie ein Esstisch seine Stühle«. Aber nie und nimmer so was Kitschiges wie »mit dem Herzen« oder so.
»Das sind natürlich meine Worte«, sagte die Stimme in ihrer kühlen, glatten Art und fügte hinzu: »Dr. Wade bedauert es unendlich, dass er seine Grüße nicht persönlicher halten kann.«
Im Prinzip war es für uns nichts Neues, dass Dad plötzlich mitten im Niemandsland verschwand, um irgendwelche seltenen Vögel aufzuspüren, die er beobachten und untersuchen wollte. Dann dauerte es eine Weile, bis er eine Möglichkeit fand, uns anzurufen oder zu mailen oder Briefe aufzugeben. Wir vermissten ihn, aber es war okay, denn Dad war nun mal der »Bird Guy«, und das gehörte zu ihm, und wir liebten ihn dafür, wie Mom immer sagte.
Aber diesmal war es anders. Dad war noch nie sieben Monate an einem Stück von zu Hause weggeblieben und drei davon ohne jeden Kontakt zu uns. Das Unheimliche gab es früher nicht. Dad ließ uns nie länger als einen Monat warten, und das war kein Problem für uns. Einen Monat konnten wir gut aushalten. Deshalb fanden wir auch nichts dabei, als Dad uns sagte, dass er einen Monat lang weg sein würde, bevor er ins La Lava flog.
Aber jetzt könnte ich mich ohrfeigen, dass ich so dumm war. Dass wir einfach Tschüss sagten und Dad gehen ließen, ohne uns die geringsten Sorgen zu machen.
Und als Ru jetzt den Mega-Grusel-Brief auf ihrem Klapptischchen glatt streicht, wende ich den Blick ab. Ich will nicht die ungeschickt gezeichneten Blüten und Ranken sehen, mit denen er die Ränder verziert hat wie ein kleines Mädchen (Ru und ich können es tausendmal besser). Und schon gar nicht das verrückte Gedicht, das absolut keinen Sinn ergibt. Ich will überhaupt nicht daran denken und genau das mache ich. Nicht dran denken.
Ru streichelt den Brief und beißt sich auf die Zungenspitze, die aus ihrem Mundwinkel hervorschaut, wie immer, wenn sie sich konzentriert, dann schlägt sie ihr Geheimcode-Notizbuch auf und schreibt etwas hinein. Seit wir den Brief bekommen haben, arbeitet sie daran, den Code zu knacken.
Und dabei gibt es gar keinen Code, würde ich sie am liebsten anschreien. Das ist der Knackpunkt. Und dass Dad total, hundertprozentig, absolut, durch und durch (Dads Worte) VERRÜCKT geworden sein muss. Übergeschnappt. Okay?
Ich gebe zu, dass ich immer ein bisschen neidisch auf diese Geheimcode-Leidenschaft von Ru und Dad war. Ru konnte noch kaum lesen, da fing sie schon an, Geheimcodes zu entwickeln. Dad hat ihr mehrere Bücher darüber gekauft, zum Beispiel Das Große Buch der Geheimcodes für kleine Leser oder Geheimcodes, Zahlenrätsel und verschlüsselte Warnungen und Top secret: Das Handbuch der Geheimcodes.
Im Gegensatz zu Ru kann ich nichts mit diesem Geheimcode-Kram anfangen. Ich lese lieber. Bücher mit Geschichten, wie Mom sie aus der Bibliothek mitbringt, in der sie arbeitet. Aber Ru teilt diesen Geheimcode-Tick mit Dad, genauso wie das Vogelbeobachten, und Dad hat ihr von jeder seiner Reisen verschlüsselte Briefe geschickt, die Ru knacken musste. Anfangs war es nicht besonders schwierig – zum Beispiel das Alphabet umkehren, also Z statt A schreiben und Y statt B oder etwas in der Art –, aber mit der Zeit wurde es immer komplizierter, bis ich nicht mehr mitkam, und das gab mir einen Stich, weil ich mich ausgeschlossen fühlte. He, und wo bleibe ich?, hätte ich am liebsten gefragt.
Als Dad im Januar ins La Lava flog – vor dem großen Unheimlichen –, schaffte Ru es noch locker, seine Codes zu knacken. Und die ersten Briefe waren total spannend. Er beschrieb uns die vielen Mitbringsel aus dem Regenwald, die er für uns aufgestöbert hatte – seltene supersaftige Nüsse und Rohschokoladenstangen oder niedliche kleine Tiere, die aus Urwaldholz geschnitzt waren. Er schrieb: Liebe Madpie & Kängu-Ru & Mama Bär: Ich habe eine tolle Nachricht für euch! Aber es ist ein großes Geheimnis, ihr müsst also noch Geduld haben. »Kängu-Ru und »Madpie«, das sind natürlich Ru und ich. Und »Madpie« kommt von »Magpie«, was »Elster« heißt – ich bin also Dads »verrückte Elster«. Aber daran darf ich auch nicht denken, sonst kommen mir die Tränen. Auf jeden Fall bin ich jetzt nicht mehr neidisch auf Ru, sondern heilfroh, dass ich nicht die ganze Zeit auf diesen Grusel-Brief von Dad fixiert bin so wie sie.
Ich ziehe mein Gedichte-Notizbuch heraus, das ich immer dabeihabe, seit ich an Silvester den guten Vorsatz gefasst habe, jeden Tag ein Gedicht zu schreiben. Aber ich merke schnell, dass ich nicht in die richtige Stimmung komme, solange ich direkt neben dem Mega-Grusel-Brief sitze. Das lenkt mich einfach zu sehr ab. Ich lege das Notizbuch weg und schließe ein paar Minuten die Augen.
»Hey, Ru«, ruft Ken-Neth über den Gang herüber. Ich öffne die Augen, funkle ihn an und er fügt schnell »...by« hinzu. »Du musst deinen Tisch hochklappen, wir landen gleich. Also, Mädchen, hört gut zu, was die Stewardess über den Lautsprecher verkündet – vielleicht sind ja doch ein paar Brocken aus dem Spanischkurs in eurem Gedächtnis hängen geblieben. Gracias, das versteht ihr doch, oder?«
Würg. Was bildet der Idiot sich ein? So wie der redet, halten ihn die Leute womöglich noch für unseren Dad. Und »gracias« kennt doch jedes Kind – dazu braucht man keinen Spanischkurs.
Aber Ru scheint das nicht zu ärgern. Sie faltet den Grusel-Brief zusammen, lässt ihn in den Umschlag zurückgleiten, drückt einen Kuss darauf und klappt ihren Tisch hoch.
Die Maschine beginnt jetzt mit dem Landeanflug und bei jedem Holperer hebt es mir den Magen.
»Ju-huuu!«, ruft Ru jedes Mal, wenn das Flugzeug in ein Luftloch absackt. Mom dagegen klammert sich vor Angst an Ken-Neths Arm (würg), und trotzdem landet das kleine Flugzeug, ohne dass jemand zu Schaden kommt.
»Hey«, flüstert Ru mir zu, als die Maschine abbremst, und ihr Atem riecht nach Orangen-TicTacs. »Meinst du, Dad hat ’ne Überraschung für uns, wenn wir zu ihm kommen?«
Plötzlich bildet sich ein dicker Knoten in meiner Kehle. Ich kann es kaum noch erwarten, bis wir endlich bei ihm sind. Sieben Monate lang haben wir ihn nicht gesehen. Unvorstellbar.
»Eine Überraschung?«, wiederhole ich. »Was denn zum Beispiel?«
»Na ja …« Ru hält inne und überlegt. »Vielleicht ein Lied, das er extra für uns geschrieben hat. Oder einen Kuchen mit unseren Namen drauf.«
Manchmal fühle ich mich uralt im Vergleich zu Ru.
»Woher soll ich das wissen?«, fauche ich sie an. »Vielleicht arbeitet er gerade an … was Wichtigem.«
Ru soll nicht wissen, dass mir das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlägt. Meine Sehnsucht nach Dad macht mir beinahe Angst. Weil ich abergläubisch bin – als müsste alles schiefgehen, wenn ich mich so aufrege. Dad würde mir sagen, dass ich tief Luft holen soll, wenn er jetzt da wäre. Ganz ruhig, Madpie. Immer schön eins nach dem anderen, heißt das Zauberwort.
Aber das ist leicht gesagt, denn endlich sind wir hier, und jetzt wird sich zeigen, was mit Dad ist. Ru und ich haben Mom seit März angebettelt, dass sie mit uns in den Regenwald fliegen soll.
»Und es ist mir ganz egal, ob er mitten im Dschungel ist«, hat Ru einmal geschrien und ihre Gabel in den Kartoffelbrei gerammt. »Oder mitten im tiefsten Vulkankrater. Ich will ihn sehen, verstehst du? Ich – will – meinen – Dad!«
»Aber ich kann dich doch nicht einfach von der Schule wegbleiben lassen«, sagte Mom. »Noch dazu, wo ihr gerade das Sonnensystem durchnehmt.«
»Das Sonnensystem kann mich mal«, sagte Ru.
»Das ist eine Geschäftsreise, Ru«, erklärte Mom ruhig. »Dad ist nicht im Urlaub, er arbeitet. Und er ist sehr beschäftigt. Er hätte gar keine Zeit für dich. Außerdem ist es dort zu gefährlich für Kinder.«
Ich schaute Ru über den Tisch hinweg an. Mom war genauso wild darauf, zu Dad zu fliegen, wie wir. Merkte Ru das denn nicht? Aber wahrscheinlich war sie zu jung dafür.
»Zu gefährlich für Kinder? Wieso das denn?«, wollte sie wissen.
»Ru«, sagte Mom, die plötzlich sehr erschöpft aussah, »bitte!«
Wenn Ru außer Hörweite oder bei einer Freundin war, sagte Mom manchmal zu mir: »Mad, was meinst du? Sollen wir wirklich ins Flugzeug steigen und …« Dann verstummte sie jedes Mal, weil sie das Ende des Satzes nicht über die Lippen brachte: »… und nachsehen, was mit Dad los ist?«
»Ja, ja, ja«, sagte ich dann, und einmal setzten wir uns tatsächlich hin und wollten einen Flug im Internet aussuchen, als plötzlich Ken-Neth anrief und fragte, ob er uns ein Ratatouille vorbeibringen dürfe, das er gerade gekocht hatte. Er habe versehentlich die doppelte Menge gemacht.
Und so ging es weiter. Die La-Lava-Managerin mit der schönen, kühlen Stimme rief wieder an und erzählte Mom, dass Dad an einem bahnbrechenden Projekt mitten im Urwald arbeitete und dass es ihm gut ging. Leider könne er sich nicht persönlich mit uns in Verbindung setzen, aber seine Frau und seine beiden Töchter müssten ja am besten wissen, wie wichtig ihm seine Arbeit sei. Mom legte auf und sagte: »Wir haben überreagiert, Kinder. Alles okay.«
Oder Ken-Neth tauchte mit einem Schokoladenkuchen und drei Karten für den Cirque du Soleil auf. »Das ist das Mindeste, was wir tun können«, sagte er, »wenn man bedenkt, wie Dr. Wade sich für uns engagiert. Wir sind euch sehr dankbar, dass ihr uns euren Dad … und Mann«, fügte er mit einem Augenzwinkern zu Mom hinzu, »schon so lange ausgeliehen habt.« Ich hätte ihn am liebsten angefaucht: Hal-lo, wir haben euch unseren Dad nicht ausgeliehen; wir wurden ja gar nicht gefragt, und außerdem hatten wir keine Ahnung, dass es so lange dauern würde.
Eines Abends kontrollierte Mom ihre Kontoauszüge und schnappte laut nach Luft. Ein paar Sekunden lang brachte sie kein Wort heraus, dann sagte sie: »Keine Angst, Mad, ich war nur einen Augenblick überrascht, wie großzügig die La-Lava-Leute sind, das ist alles.«
So vergingen Wochen und Monate, ohne dass wir die Flugtickets buchten. Wenn Ru davon anfing, sagte Mom, dass Dad jetzt jeden Moment zurückkommen könne. Es sei nichts Ungewöhnliches, dass eine Geschäftsreise länger dauere als geplant, und wir müssten Geduld haben – »so ist Dad nun mal, und wir lieben ihn dafür, oder nicht?«. Außerdem wolle sie uns nicht mitten im Halbjahr von der Schule nehmen oder ihren Bibliotheksposten im Stich lassen, sagte sie, und Dad wäre bestimmt wütend, wenn er wüsste, was wir vorhatten.
Erst im Mai rang sich Mom zu dem Entschluss durch, in den Regenwald zu reisen. Ken-Neth kam jetzt regelmäßig einmal pro Woche zum Essen zu uns, was mir total auf die Nerven ging. Er saß auch mit uns am Tisch, als Mom verkündete, dass sie jetzt die Flugtickets buchen würde.
Ken-Neth bestand darauf, die Tickets für uns zu besorgen.
»Wirklich?«, fragte Mom zögernd, obwohl sie insgeheim froh war, dass er ihr die Arbeit abnahm, das konnte ich sehen. »Aber ich will Ihnen wirklich nicht zur Last fallen.«
»Aber ich bitte Sie, Sylvia«, sagte Ken-Neth auf seine treuherzige Art, »das ist doch keine Last für mich, sondern eine Ehre.«
Mom verdrehte leicht die Augen, aber Ken-Neth merkte es nicht.
»Und nicht nur das«, fuhr er fort, »meine Kontaktpersonen im La Lava haben mir heute zufällig mitgeteilt, dass Sie zur großen Investoren-Gala Anfang Juli eingeladen sind.«
»Zur was?«, fragte Mom.
»Zum Jahrestreffen aller Investoren des La-Lava-Projekts, bei dem unsere ›Genies‹ geehrt werden, die am Erfolg der Organisation im vergangenen Jahr beteiligt waren. Das ist eine tolle Party. Ihr werdet begeistert sein, da bin ich mir sicher«, fügte er zu uns gewandt hinzu.
»Oh!«, quiekte Ru mit blitzenden Augen. »Ich liebe Partys. Wann ist Juli?«
»Ru«, sagte Mom streng. »Du weißt ganz genau, wann Juli ist.«
»Mai, Juni, Juli«, leierte Ru herunter. »Nein, halt, das ist aber nicht bald.«
»Die Zeit vergeht wie im Flug, du wirst schon sehen«, sagte Ken-Neth grinsend. »Das ist nur ein guter Monat, mehr nicht.«
»Juli ist gut«, sagte Mom. »Dann können wir alle das Schuljahr noch zu Ende machen. Und bis dahin ist James vielleicht längst zurück.«
»Ja, vielleicht«, stimmte Ken-Neth zu. »Gut möglich.«
Und seitdem läuft alles nur nach seinem Kopf. Ken hat die Tickets gebucht, und er hat bestimmt, dass wir am Sonntag vor der Gala hinfliegen und etwas Besonderes zum Anziehen für die Party mitnehmen sollten. Ken dies und Ken das. Nur noch Ken, Ken, Ken.
Und Tag für Tag erzählte Mom uns: »Ihr werdet schon sehen, bald sind wir bei Dad, und dann ist alles wieder normal.«
Aber ich weiß es besser. In Wahrheit ist Mom gekränkt, wütend, verwirrt und einsam. Ich habe nämlich gehört, wie sie zu Tante Sarah sagte: »Ich hab James nicht geheiratet, um als allein erziehende Mutter zu enden. Ich meine, was denkt der sich eigentlich? Meine beiden Mädchen haben seit Monaten keinen Vater mehr.«
»Okay, okay, okay«, sagt Ru, als das Flugzeug auf der Rollbahn zum Halten kommt. Sie zuckt die Schultern und tritt leicht gegen die Sitze vor uns, weil sie immer noch beleidigt ist, dass ich sie wegen Dad angefaucht habe. »Ich hab doch nur überlegt, ob Dad sich genauso freut wie wir, dass wir bald wieder bei ihm sind.«
Und das frage ich mich ehrlich gesagt auch.
Der Flughafen ist winzig, der kleinste, den ich je gesehen habe. Wir steigen aus der Maschine direkt auf den Boden hinunter, statt eine bewegliche Gangway zu durchqueren. Als ich auf die kleine Treppe hinaustrete, erschlägt mich die feucht-schwüle Luft. Ich werfe einen Blick auf Ru, deren Gesicht schon glänzt vor Feuchtigkeit.
»Uff«, stöhnt sie. »Was ist das denn für eine Luft hier?«
»Willkommen in den feuchten Tropen, Ru«, erwidert Mom mit überschwänglichem Lachen, vor lauter Freude, dass wir den Flug heil überstanden haben. Und dass wir Dad bald wiedersehen werden.
Die Luft hier kommt mir irgendwie grün vor. Also nicht wirklich grün, aber mit einem stickig-grünen Beigeschmack, wie von Urwaldpflanzen ausgeatmet. Was vermutlich auch stimmt, obwohl ich mich nicht mehr so genau erinnere, wie die Photosynthese abläuft. Es ist schon eine Weile her, dass Dad mir das erklärt hat.
Wir warten, bis die Stewardess und der Co-Pilot das Gepäck der Passagiere neben dem Flugzeug aufgestapelt haben, und noch ehe sie fertig sind, angelt Ken-Neth seinen Koffer heraus, dann den von Mom und den roten Rollkoffer von Ru und mir.
»Aber das ist doch nicht nötig«, protestiert Mom. »Wir können auch was tragen.«
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