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Nancy ist eine junge Dame, welche versucht ihr Leben nach einer schweren Kindheit zu meistern. Sie lebt in einer Welt, in der sämtliche Verschwörungstheorien wahr geworden sind. Eines Tages wird sie von einem Auto angefahren und lernt den charmanten Alex kennen. Obwohl Nancy Atheistin ist, Alex jedoch abergläubisch und religiös, verlieben sie sich ineinander. Beide haben denselben Arbeitgeber, Nolem. Er ist Erfinder und arbeitet an mehreren Projekten. Nolem gehört einem Geheimbund an. Sie halten vier Gesellen gefangen, welche das Geheimnis des ewigen Lebens in sich tragen. Mit dem Geld der reichen Menschen, welche ein Serum mit deren Genom erhalten, finanziert der Geheimbund eine geheime Polarstation. Nachdem sich die Menschen auf den sozialen Netzwerken vermehrt gegen die Konzerne richten, welche von diesem Geheimbund gelenkt werden, sucht Nolem einen anderen Weg die Menschen zu kontrollieren. Eine Abteilung erzeugt künstliche Viren, welche er absichtlich freisetzt, eine andere Abteilung erzeugt einen Impfstoff mit Nanochips, welche das Immunsystem ausschalten können. Während sich langsam eine Pandemie auf der Erde ausbreitet, entdeckt ein Freund aus der religiösen Glaubensgruppe, dass ein Asteroid auf die Erde zusteuert. Alex wird zunehmend radikaler und bösartiger. Getrieben von seinem zunehmenden Fanatismus ergreift Nancy die Flucht und findet Zuflucht bei ihrem Arbeitskollegen. Beiden wird von ihrem Arbeitgeber angeboten, in einer unterirdischen Polarstation zu arbeiten und dabei den Asteroideneinschlag zu entgehen. Eine Gruppe von Anhängern der flachen Erde, dessen Anführer Carlos ist, haben ebenfalls die Koordinaten der Station. An der Südspitze von Chile treffen sie die Gruppe von Carlos. Obwohl sie sich grundsätzlich in ihrem Charakter unterscheiden, verfolgen sie dasselbe Ziel. Nancy und ihr Freund Eli finden unter der Polarstation ein kleines Paradies vor. Doch der Frieden hält nicht lange.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Parallele Realitäten - Wenn Verschwörungstheorien wahr werden
Kapitel 1: Die Sonne scheint
Kapitel 2: Wolken ziehen auf
Kapitel 3: Ein Sturm kommt auf
Kapitel 4: Es beginnt zu regnen
Science und Fiction:
Vorschau:
Autor:
Impressum
Und er hatte doch recht! Es gab ein Paradies. Sie war gekommen, um ihn zu empfangen. Es schien, als würde sie von einem Hügel herabblicken, weit weg, aber nah genug, um die Details von ihrem Gesicht erkennen zu können. Alex sah in ihre leuchtend smaragdgrünen Augen. Dann schweifte sein Blick zu ihrer kleinen Narbe an der rechten Wange. Er fand diese erotisch, schön. Nancy mochte sie gar nicht. Sie hasste diesen kleinen Schnitt. Zu tief waren die Schmerzen, welche sie verursacht hatten.
Alex hörte kaum noch den Feuerregen, welcher auf die Erde niederprasselte, die ohrenbetäubenden Explosionen und der Geruch nach verbrannter Erde. Er spürte auch die Schmerzen in seinen Füßen nicht mehr, welche kaum noch als solche erkennbar waren. Zu groß war der Einfluss der körpereigenen Drogen, sodass er nur mehr ein Bild sah: ihr Gesicht in einem rot leuchtenden Schein. So wunderschön wie an dem Tag, als er sie das erste Mal sah. In seinen Gedanken spielte es La Luna von Belinda Carlisle.
Es war genau vor zwei Jahren, als er die Liebe seines Lebens traf. Es war genau vor einem Jahr und sechs Monaten, als er sie heiratete. Die Ehe verlief fabelhaft, wenn nicht sechs Monate und sechs Tage nach ihrer Hochzeit diese verflixte schwarze Katze seinen Weg gekreuzt hätte - und dies auch noch von links nach rechts. Wenn nicht sechs Sekunden nachdem er über dieses verflixte kratzende Ding stolperte, das Telefon aufhörte zu klingeln und er nur mehr das eintönige Summen aus dem Hörer vernahm.
***
Alex verließ erschöpft die Fabrik und ging zu seinem Auto. Er hatte diese Nacht schlecht geschlafen und es fielen ihn ständig die Augen zu. Heute freute er sich besonders endlich die Heimfahrt antreten zu können. Jeden Tag kontrollierte er sorgfältig hunderte von Kugellagern. Meist waren sie dieselben, nur manchmal bekam er besondere Exemplare von der Forschungsabteilung. Das war dann meistens auch schon das Highlight der Woche. Er quetschte seinen langen, dünnen Körper in sein rotes Auto. Nicht, dass das Auto so klein wäre, aber der Sitz ließ sich oft nicht verstellen. Es war doch schon etwas in die Jahre gekommen. Alex hatte einen technischen Beruf und ein Haus, doch war handwerklich nicht besonders begabt, um den dämlichen Autositz zu reparieren. Zum Glück war Alex noch junge, dreißig Jahre und gelenkig. Wenn er es in das Auto geschafft hatte, war die Sitzposition allerdings ganz gemütlich. Man gewöhnte sich an alles. Am Rückspiegel baumelte ein kleines Kreuz herab und daneben hing ein nach Vanille duftendes, gelbes Bäumchen. Wie nach jedem Arbeitstag richtete er sein braunes Haar zurecht und startete danach den Wagen.
Die eintönige Straße führte nahezu schnurgerade von Nolems Fabrik, vorbei an einem kleinen Dorf namens Norten bis nach Hampten, einer Stadt mit einhunderttausend Einwohnern. Er mochte die schmutzige Kleinstadt nicht und war froh, dass sein Haus genau zwischen Norten und Hampten, an einer ruhigen, nach der Seite abbiegenden Straße lag. Der Weg bis zum Dorf, lud ein, verschlafen immer geradeaus zufahren. Fast wie in Trance schwebte er über den Straßenasphalt, den Fuß immer mit dem gleichen Druck am Gaspedal, immer das gleiche Motorengeräusch in seinen Ohren. Im Radio waren die ersten Takte von Bonnie Tyler - Total Eclipse of the Heart zu hören. Doch etwas am Straßenrand weckte seinen verschlafenen Blick.
Eine schwarze Katze wollte seinen Weg von links nach rechts kreuzen, das musste nicht unbedingt sein. Er stieg etwas fester auf das Gaspedal, um an der Katze vorbeizufahren, welche langsam am Straßenrand vorbei schlenderte. Sein Blick war so auf die Katze fixiert, dass er fast die junge Frau übersah, welche den vor ihm liegenden Zebrastreifen von der rechten Seite überqueren wollte. Im letzten Moment konnte er noch eine Vollbremsung durchführen. Die Reifen quietschten und mit einem leichten Ruck blieb das rote Fahrzeug stehen. Es war ein sanftes "Dock" zu hören. Der Oberkörper der Dame neigte sich über die Kühlerhaube und ihr Kopf schlug leicht mit dem Gesicht nach vorne auf. Ihr blondes Haar wirbelte wild vor seiner Windschutzscheibe. Vor Schreck starrte er die Dame an, sodass er nicht die Schwanzspitze der Katze in dem Café verschwinden sah, welches sich auf der rechten Seite der Straße befand. Der Kopf der Dame erhob sich und sie starrten sich beide, wenige Zentimeter voneinander durch eine Glasscheibe getrennt, an. Sie war vom Schock des Aufpralles weiß im Gesicht und hatte einen kleinen Schnitt an der Lippe. Ihre langen blonden Haare hingen wirr nach allen Seiten herunter. Ein einzelner Blutstropfen schlängelte sich vom Kinn über den Hals, glitt fast erotisch ihrem rechten Busen entlang und verschwand in ihrem Ausschnitt. Alex' Blick richtete sich wieder aufwärts zu ihrem Gesicht, zu ihren smaragdgrünen Augen, welche ihn noch immer anstarrten. Die letzten Verse von Bonnie Tyler - Total Eclipse of the Heart erklangen aus seinem Radio. Diese Sekunden kamen ihm wie eine Ewigkeit vor und sollten sich für die Ewigkeit in seinem Gehirn einbrennen. Endlich fand er Worte.
"Oh mein Gott, ist alles in Ordnung?", fragte er.
Obwohl ihm die Frage natürlich dumm vorkam. Sie hatte einen Schnitt an ihrer Lippe und eventuell gebrochene Kniescheiben. Er stieg aus dem Auto aus. Sie stand aufrecht in ihrem weißen Kleid vor ihm. Sie war schlank, aber nicht besonders groß. Gott sei Dank! Ihre Beine schienen in Ordnung zu sein.
"Ja, ähm, ja, ich denke schon.", stammelte sie etwas verwirrt.
"Kommen Sie.", sagte er besorgt.
Er stützte sie am Arm und setze sie auf den Randstein, damit sie sich etwas erholen konnte.
Hektisch fragte er: "Vielleicht sollten wir uns ein Glas Wasser von dem Café an der Ecke holen. Was halten Sie von dieser Idee?"
Die junge Dame antwortete sehr verwirrt: "Oh, ähm - ja."
Alex: "Warten Sie, ich parke mein Auto."
Parkplätze gab es in diesem Dorf genug. Die meisten Menschen waren in die Stadt gezogen. Die Straße war nur mehr eine Durchzugsstraße, an der ab und zu Fabriksarbeiter hielten, um sich einen kleinen Drink zu genehmigen, bevor sie in die stinkende Stadt mussten. Alex liebte sein Leben in seinem Haus vor den Toren der Stadt. Er mochte das hektische Treiben der Menschen nicht und sie mochten Alex' strenggläubige Ansichten nicht. Vielleicht war er etwas komisch. Er besaß kein Mobiltelefon, um nicht abgehört werden zu können. Er kannte jeden Aberglauben von Ost bis West. Aber ist nicht jeder irgendwie abergläubisch? Vielleicht war es bei ihm ein bisschen zu viel? Vielleicht mochten es andere übertrieben finden, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, zu beten, aber hatte das nicht nahezu die gesamten Generationen vor uns getan? Keinen Sex vor der Ehe hat ihm wahrscheinlich einige Chancen vertan, aber er wusste, eines Tages wird die Richtige kommen, die Geduld und Gefühl mitbringt. Dann wird er eine richtige Familie aufbauen. Er war eben dreißig Jahre alt geworden, langsam war es an der Zeit, eine Partnerin zu finden.
Er parkte das Auto und ging zu der jungen Dame, die mittlerweile aufgestanden war.
"Mein Gott. Es tut mir so, so leid! Da war diese Katze und ich, ich… ."
"Schon gut.", erwiderte sie und fuhr fort: "Ich denke, ich habe nur einen kleinen Schock. Es ist ja alles gut ausgegangen."
"Kommen Sie, das Café hat zum Glück offen. Ein Glas kaltes Wasser wird Ihnen guttun."
Sie betraten das Café. Es befanden sich nur vier Tische darin. Das Mobiliar war schon in die Jahre gekommen. Doch wirkte es sehr sauber. Kaum hatten sie sich zum ersten Tisch gesetzt, tauchte auch schon die Kellnerin auf. Sie hatte schulterlange rote Haare, war kleiner Statur und sah etwas überarbeitet aus. Sie war der Typ Frau, der man ansah, dass sie den Job schon ewig machen würde. Sie zeigte ein kurzes berufliches Lächeln, folgend mit einer freundlichen Begrüßung. Auf ihrem Namensschild war Nelly zu lesen.
"Zwei Gläser kaltes Wasser bitte.", sagte Alex.
"Zu essen?", wollte die Kellnerin wissen.
"Nichts, danke.", sagte Nancy.
Zwei Gläser Wasser und nichts zu essen. Nelly ging misslaunig hinter die Theke. Sie hatte ohnehin seit Tagen keine gute Laune mehr, seit sie diesen dummen Reizhusten bekommen hatte. Das Geschäft ging immer schlechter. Sie konnte kaum noch mit den billigen Preisen der großen Fastfoodketten mithalten. Wenn sie nicht mit Fieber arbeiten gehen würde, konnte sie die Bude gleich verkaufen. Kaum freute man sich, dass ein Gast die Tür öffnete, wäre man schon wieder froh, wenn diese nichts-konsumierenden Kreaturen wieder verschwinden würden. Zwei Gläser kaltes Wasser und sonst nichts. Was für ein bescheuerter Tag.
Genau wie vor einigen Tagen, als dieser verdammte Penner ihr Café betrat. Bleich im Gesicht, wie diese Dame und einen leeren Blick. Hustete das gesamte Lokal voll und stammelte: "Ein Glas kaltes Wasser." Kaum kam sie von der Theke hervor, brach er vor ihr zusammen. Sie wusste noch von ihrem Erste-Hilfe-Kurs, was zu tun war. Herzmassage, Mund zu Mund Beatmung. Nichts half. Was für ein blöder Penner. Kommt in ihr Café und stirbt einfach. Zumindest gab es einmal Abwechslung und vielleicht würden die Rettungsmänner und die Polizei ja einmal wieder vorbeikommen, wenn sie etwas im Dorf zu tun hatten.
"Hier, zwei Gläser kaltes Wasser.", sagte Nelly.
Sie stellte diese auf den Tisch und verschwand hinter der Theke, um die Nachrichten auf ihrem Handy zum fünften Mal zu lesen.
"Ich heiße Nancy.", sagte die angefahrene Frau und trank das Glas Wasser halb leer.
"Hi. Mein Name ist Alex."
Er versuchte ein kleines Lächeln zu erzwingen. Nancys Gesicht nahm plötzlich eine ernste Miene an und ihre Augen zeigten einen Blick aus Panik.
"Entschuldige mich einen Moment.", sagte sie schnell.
Plötzlich fühlte sie ein drückendes Gefühl in ihrem Magen. Ein Gefühl, welches sie gerne loswerden wollte. Sie stand auf und versuchte schleunigst den Weg zur Toilette zu nehmen. Ihre Kotzgeräusche waren nicht an Nelly vorbeigegangen. Sie murmelte: Was ist in diesem verdammten Dorf eigentlich los? War diese Dame die nächste, welche in ihrem Café kollabieren würde? Dann würde zumindest Polizei und Rettung kommen und sie konnte zwei zusätzliche Getränke verkaufen. Nelly verdrehte die Augen. Als die Toilettentür aufging, sah sie prüfend Richtung ihres Gastes. Nancy kam zurück, sie hatte nun etwas mehr Farbe im Gesicht und setzte sich zu Alex. Nelly dachte, zumindest ist diese Göre noch am Leben.
Nancy sagte zu Alex: "Tut mir leid. Das war etwas viel für mich, aber ich fühle mich etwas besser. Ehrlich gesagt könnte ich sogar etwas zu essen vertragen."
Nellys Ohren wurden spitz. Konnte sie endlich die Burger verkaufen? Klar waren sie schon etwas alt, aber zumindest verkaufte sie nicht täglich kaputte Ware, so wie die Fastfoodketten, die ihre Gewinne maximierten, indem sie ständig die schimmligen Brötchen verkauften. Wie sollte sie denn überleben, wenn sie nicht die günstigen Maxipackungen kaufte, die dann lang über ihr Ablaufdatum gebraucht wurden. Zumindest spuckte sie den Kunden nicht in den Burger wie die jungen Studenten, welche zu einem Hungerlohn bei den großen Burgerbuden schuften mussten. Sollte das ihre Zukunft sein? Nein. Da arbeitete sie lieber Tag und Nacht in ihrem kleinen Café, bevor sie die Gesellschaft mit fetten, verschimmelten Burgern vergiftete, damit sich die großen Konzernbosse ihren Hintern mit Geld abwischen konnten, Champagner schlurften und Kaviar hinunterschlangen. Bei Nellys Café gab es zumindest meist frische Ware. Sie musste kein schlechtes Gewissen haben.
Nelly trat hervor und fragte: "Darf es noch etwas sein? Heute hätten wir unseren Tagesburger im Angebot."
Natürlich war er im Angebot, so wie immer. Leute liebten es einfach, wenn etwas im Angebot war. Angebot war das Zauberwort. Die Kunden sahen Dollarzeichen in ihren Augen, weil sie günstig eingekauft hatten und der Verkäufer sah die Dollarzeichen in seinen Augen, weil der Kunde zu dem ohnehin normalen Preis gekauft hat. Beide Seiten kannten dieses Spiel, trotzdem funktionierte es noch immer. Nelly setzte wieder ihr Berufslächeln auf, während sie auf die essenswünsche wartete.
Alex sagte: "Ja, warum nicht? Ich könnte etwas Essen vertragen."
Nancy fragte:" Hätten Sie etwas Gemüse? Ich bin Veganerin."
Nelly antwortete: "Ja, ich kann Ihnen etwas Gemüse anbraten. Außerdem kann ich Ihnen Salat anbieten."
Besser ein Burger als kein Burger, dachte Nelly. Salat und frisches Gemüse hatte sie ohnehin immer - aber als Hauptspeise? Reis wäre auch noch da gewesen, aber den müsste sie extra zubereiten und wozu? Sie hatte ohnehin schon zu gebratenem Gemüse ja gesagt. Zumindest wird das Bleichgesicht dem Gesundheitssystem nicht so viel zur Last fallen, so wie der restliche Teil der Bevölkerung - mit zu hohen Blutzuckerwerten und Fettablagerungen in den Blutgefäßen, bis sie barsten oder ein Blutgerinnsel verursachten. Das Gesundheitssystem war ohnehin schon überlastet und wenn sie einmal etwas von einem Arzt benötigte, musste sie den Laden für einen ganzen Tag zusperren, weil sie stundenlang in irgendeinem überfüllten Wartesaal sitzen musste. Zumindest hatte sie eine Krankenversicherung. Dies war nicht so selbstverständlich in den USA.
Sie bestellten das Essen und Alex musste wieder der Zeichnung des Blutstropfens folgen. Dem Hals entlang bis zu ihrem Busen. Sie war hübsch, sehr hübsch sogar. Sein Blick wanderte wieder zu ihren grün schimmernden Augen, die ihn geradewegs ansahen. Er fühlte sich ertappt, dass er auf ihren Busen gestarrt hatte. Sie lächelte.
"Ähm, du hast einen kleinen Blutfleck auf deinem Kleid.", sagte er etwas verlegen.
Was dieses Lächeln wohl zu bedeuten hatte? Es war keine Sünde einer Dame auf ihr Dekolleté zu sehen, vor allem nicht, wenn sich dort ein Fleck befand. Frauen möchten ja bewundert werden. Wozu haben sie Ausschnitte, die einen so tiefe Einblicke gewährten? Wozu all die Schminke? Klar möchten sie bewundert werden und ihr Lächeln heißt wahrscheinlich, dass auch er ihr sympathisch sein könnte. Vielleicht hatte er endlich jemanden gefunden, der ihn so akzeptieren konnte, wie er war.
Nancy musste lächeln. Sie versuchte sich stets auf die Basics zu konzentrieren - Atmen und Essen. Dies zog sich wie ein Mantra durch ihr Leben. Wo sollte sie das nächste Mahl herbekommen, nachdem sie ihre Miete bezahlt hatte? Sie musste jeden Cent genau kalkulieren. Warum sollte sie sich nicht einladen lassen von dem Mann, der ihr fast den Atem genommen hätte? Natürlich konnte sie sich einladen lassen. Veganes Essen ist zumindest auch nicht teuer. Sie hatte sich immer gewundert, wie Restaurants so günstig Fleisch anbieten konnten. Wahrscheinlich mussten diese armen Viecher leiden, wie sie. Und wenn schon. Wenn sich jemand ein dämliches Auto leisten konnte, konnte er auch für ihr Essen bezahlen. Sie sollte Schmerzen vortäuschen und ihn verklagen. Das Leben schuldete ihr einen Scheck. Sie musste sich immer durch das Leben stehlen. Wie hätte sie es denn sonst anstellen sollen, nachdem sie mit achtzehn von zu Hause weggelaufen war. Sie hatte sich nie von Männern einladen lassen und hatte nur ein Laster: die Lotterie. Jeden Sonntag füllte sie ein Los aus, in der Hoffnung, den großen Gewinn zu machen. Sie setzte dies fort, was ihr Vater ihr gezeigt hatte. Schließlich war es reine Statistik, dass man in der Lotterie gewinnt. Ihr Vater hatte seinen halben Lohn in Glücksspiele investiert und hätte wahrscheinlich in der Lotterie gewonnen, wenn er nicht die andere Hälfte in Alkohol und Zigaretten investiert und ihn der Krebs nicht vorher aufgefressen hätte. Jetzt war es an ihr in der Lotterie zu gewinnen.
Ihr Vater starb zu ihrem siebzehnten Geburtstag und ihre Mutter hatte dort fortgesetzt, wo ihr Mann aufgehört hatte - mit dem Trinken und Rauchen. Nancy brach die Schule ab, verdiente sich mit Babysitten ihr Geld fürs Essen und wenn es nicht ausreichte, mussten kleine Diebstähle das Minus füllen. Sie wohnte einige Jahre bei einer Freundin, bis sie beschloss, ein paar Korrekturen in ihrem Lebenslauf vorzunehmen, um sich eine kleine Mietwohnung zu leisten. Sie war jetzt fünfundzwanzig Jahre. Da ist ein Abschluss als Bachelor nicht übertrieben. Sie studierte einige Chemiebücher, um sich auf das Bewerbungsgespräch vorzubereiten. Es funktionierte. Als Chemikerin bekam sie eine Stelle in der Fabrik des verrückten Milliardärs. Jetzt war sie am Zug. Das Leben sollte ihr endlich geben, was ihr bis jetzt verwehrt war.
Nelly kam aus der Küche, hustete zwei Mal und servierte das Essen.
"Ich hoffe, es schmeckt unserem netten Pärchen.", sagte sie und ging wieder nach hinten.
"Danke!", sagten beide und mussten schmunzeln.
"Du siehst besser aus, Nancy.", sagte Alex charmant.
"Der Schock scheint zu weichen, allerdings kommen jetzt die Schmerzen. Ich fühle meine Lippe, meine Beine. Ich denke, ich habe doch einige blaue Flecken abbekommen.", sagte Nancy mit seufzender Stimme.
"Ich kann dich nach dem Essen nach Hause bringen. Wohnst du hier im Dorf?", fragte Alex.
"Nein, ich habe eine kleine Wohnung in der Stadt. Ich arbeite in der Fabrik von Nolem und war am Weg nach Hause. Ich habe mein Fahrrad neben diesem Café abgestellt und wollte noch etwas Luft schnappen, bevor ich wieder in die Stadt muss."
"Ich arbeite ebenfalls in der Fabrik. In welchem Gebäude arbeitest du? Die Fabrik ist eine halbe Stadt und die halbe Stadt arbeitet auch dort.", sagte Alex.
"Ich bin Chemikerin und arbeite an einer Impfung im Gebäude C.", erwiderte sie.
"Das ist am anderen Ende. Ich arbeite im Gebäude E am Hyperballprojekt.", sagte Alex.
Es war dasselbe Projekt, an dem ihr Vater gearbeitet und ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Ob sie sich gekannt hatten? Nein. Wahrscheinlich nicht. Der Tod ihres Vaters war nun doch schon einige Jahre her und so alt schien Alex auch nicht zu sein. Trotzdem war ihr bei dem Gedanken an ihren Vater wieder übel.
"Wohnst du hier im Dorf?", fragte Nancy.
Alex antwortete: "Nun ja, offiziell gehört mein Haus noch dazu, aber genau genommen wohne ich zwischen Norten und Hampten. Mein Haus ist etwas abgelegen mitten in der Natur. Hinter meinem Haus beginnt ein kleiner Wald."
Nancy: "Wow, das hört sich nett an. Ich fahre oft mit meinem Fahrrad ins Grüne. Die Stadt ist praktisch, aber ich bin sehr naturverbunden."
Alex: "Ich ebenso. Erst vor einigen Tagen habe ich eine Eule wieder freigelassen. Ich fand sie hilflos am Waldrand liegen. Ich hatte kaum noch geschlafen. Ständig musste ich sie füttern. Aber letztendlich haben wir es beide geschafft."
Nancy sagte: "Oh nein! Wie süß, dass du sie gesund gepflegt hast."
Nancy war entzückt. Alex musste ein großes Herz haben, dachte sie. Ein Eulenbaby großziehen. Wie viele Menschen kannte sie, die so etwas machen würden? Na ja, wie viele Menschen kannte sie überhaupt? Sie war eher eine Einzelgängerin und genoss die Natur und dann war da Susan, ihre ehemalige Unterkunftsgeberin, als sie von zu Hause weglief.
Als sie fertig gegessen hatten, fragte Alex, ob sie noch etwas wünschte. Doch Nancy verneinte. Es war genug für den heutigen Tag. Sie freute sich auf zu Hause.
Alex rief: "Zahlen bitte!"
Nelly brachte die Rechnung und legte sie auf den Tisch.
Alex nahm die Rechnung und ließ ihr eine Extraportion Trinkgeld. Ende gut, alles gut, dachte Nelly. Hatte sie doch nach dem ersten Auftreten nicht mit so einem großzügigen Trinkgeld gerechnet. Es war harte Arbeit, das Café zu führen, seit ihre Mutter nach Europa gezogen war. Doch freute sie sich über jeden unerwarteten Geldsegen, auch wenn er noch so klein war. Ihre Mutter stemmte das Geschäft mit Leichtigkeit. Sie hatte einen guten Riecher und war voller Energie. Kaum in Wien angekommen, eröffnete sie eine Bar im zwanzigsten Bezirk und kurze Zeit später eine im sechzehnten Bezirk in der Redtenbachergasse. Nelly hatte ein Bild, mit einem wunderschönen Ausblick von der Bar in der Redtenbachergasse direkt auf das Schloss Wilhelminenberg, an der Theke hängen. Einige Monate später verkaufte Nellys Mutter die Bar mit sattem Gewinn und kaufte zwei Cafés. Nachdem sie sich in einen Urlaubsgast verliebt hatte, zog sie mit ihm nach Valencia, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Sie telefonierte oft mit ihrer Mutter und war stolz auf ihren Mut und ihr Geschick.
Nelly bedankte sich, wünschte ihnen einen schönen Abend und begab sich nach hinten in die Küche, wo sie ihre Katze fütterte. Eigentlich war es die Katze ihres Ex-Freundes Carlos. Er hatte ebenfalls für Nolem gearbeitet. Da er allerdings Chilene war und Nolem ein Projekt in Chile und in der Antarktis geplant hatte, entschied sich Carlos wegen dem großen Gehalt dem Projekt beizutreten und verließ sie. Waren sie doch alle gleich, diese dämlichen Männer, dachte sie.
"Wollen wir?", fragte Nancy.
Alex nickte und verließ mit ihr das Café. Sie luden das Fahrrad ein. Danach hielt er ihr die Autotür auf und ging auf die Fahrerseite. Während Alex den Wagen startete und Richtung Hampton fuhr, musterte sie genau seine Gestiken. Er hatte ein nettes Gesicht. Nach einer Weile fuhren sie an Alex' Haus vorbei.
"Da wohne ich.", sagte er beiläufig und deutete auf sein Haus.
Es stand auf einer leichten Anhöhe umgeben von einigen Bäumen und dahinter befand sich ein richtig grüner Nadelwald. Sie liebte nichts mehr als den Duft, der von Nadelbäumen abgesondert wurde. Es war so ein erfrischender Duft, erzeugt durch kleine Moleküle, welche Terpene genannt werden. Dies hatte sie für ihre "Bachelorprüfung" gelernt. Die Terpene sollten eine gesundheitsfördernde Wirkung haben. Aber wozu brauchten diese die Menschen heutzutage noch? Hatte man Kopfweh, warf man eine Pille ein. Fühlte man sich traurig, warf man eine Pille ein. Hatte man zu viel Cholesterin, warf man eine Pille ein. Wozu sollte man etwas Gesundes für seinen Körper tun, wenn es ohnehin für alles eine Pille gab? Zumindest bis zu dem Punkt, wo der Körper an den Pillen kollabierte.
Sie nickte gedankenversunken, obwohl sie längst bei dem Haus vorbei waren. Alex schien charmant zu sein und besaß ein Haus. Wenn man sein ganzes Leben um seine Grundbedürfnisse wie Atmen und Essen kämpfen musste, könnte man Alex als einen Lotteriegewinn bewerten, aber sind da auch Gefühle oder spricht da nur der Überlebensgeist? Interessant war er auf alle Fälle, süß ebenfalls. Er hatte etwas Ehrliches und keinen Ring an seinem Finger. Die Autofahrt über sprachen sie wenig. Sie hielten vor ihrer Wohnung und luden das Fahrrad aus. Alex nahm einen Stift und schrieb seine Telefonnummer auf ein Stück Papier, welches er im Handschuhfach fand.
"Hier. Vielleicht kann ich mich revanchieren. Tut mir leid. Normalerweise fahre ich extrem vorsichtig, aber da war eine Katze am Straßenrand und …"
Nancy lächelte: "Schon gut. Es waren nur ein paar blaue Flecken und ein kleiner Schnitt."
Nancy kramte in ihrem Rucksack nach einem Zettel, schrieb ihre Telefonnummer ebenfalls auf und reichte sie ihm.
"Vielleicht sehen wir uns eines Tages nach der Arbeit - auf ein Glas Wasser.", sagte sie lächelnd und sie zwinkerte ihm mit einem Auge zu.
Sie winkten sich einander zu, während Alex umdrehte und wieder in die Richtung seines Hauses fuhr. Seine Gedanken drehten sich nur um Nancy. Wow. Sie zwinkerte ihm zu. Sein Puls beschleunigte sich. Ihm wurde fast schwindelig, wenn er an ihr liebliches Gesicht dachte, an ihre Gesten und Mimik, vom Aufprall bis zum Augenzwinkern. Er drehte das Autoradio lauter und sang mit. Es war eines seiner Lieblingslieder von Bryan Adams - Heaven.
***
Am nächsten Tag war Nancy bei der Arbeit geistig etwas abwesend. Immer wieder kreisten ihre Gedanken zurück zu Alex. Was war er für ein Typ? Er war sehr zuvorkommend, doch irgendetwas war sonderbar. Irgendetwas gab ihr ein merkwürdiges Gefühl. Ein Gefühl des Unbehagens, aber sie konnte sich nicht erklären, was es war. Vielleicht lebte sie schon zu lange allein. Es war an der Zeit, etwas Neues zu beginnen. Nicht, dass es besonders auffiel, wenn sie nicht so aufmerksam war. Sie arbeitete ohnehin allein in ihrem kleinen Kämmerchen und die Arbeit war sehr eintönig. Man kontrollierte stichprobenartig mit einem Laser, ob der Nanochip mit der RNA verbunden war, was nahezu immer der Fall war. Sie stellte nicht viele Fragen, was ihrem Supervisor sehr entgegenkam. Hätte sie etwas mehr chemisches Wissen gehabt als nur die Grundkenntnisse, wäre es ihr eventuell merkwürdig erschienen, Nanochips an RNA-Stückchen zu koppeln. Warum sollte man Impfstoffe mit RNA-Nanochips entwickeln? Sie hatte sich vor ihrem Vorstellungsgespräch gut vorbereitet. Als Nichtchemikerin musste sie eine gute Show abliefern - und das tat sie. Sie lernte über Deoxyribonucleic acid, DNA und Ribonucleic acid, RNA. Sie lernte, dass es DNA-Impfstoffe gab, dass es RNA-Impfstoffe, Tot- und Lebendimpfstoffe gab. Sie wusste, dass DNA mit DNA nicht reagierte und schon gar nicht RNA mit DNA, weil hier noch eine Zellmembran dazwischen lag. Sie wusste alles über Impfungen, dass man kein Mutant werden würde, wenn man einen Impfstoff auf DNA- oder RNA-Basis erhalten würde. Aber RNA-Nanochips? Dies war einige Stufen über ihrem Level gewesen. Dies wurde sie im Bewerbungsgespräch auch nicht gefragt - nur die Basics über Impfungen und ob sie mit vertraulichen Informationen umgehen konnte. Sie hatte auch unterschrieben, keine Informationen an irgendeine dritte Person weiterzugeben. Schließlich hätte es ihr Boss nicht gerne gehabt, wenn jemand erfahren hätte, dass dieser neue Impfstoff existiert. Vor allem nicht, dass er die Fähigkeit besaß, sich mithilfe des Nanochips sehr wohl an die DNA zu haften und das Immunsystem eines ganzen Menschen auf Knopfdruck herunterzufahren. So, wie der Notausknopf an einer Maschine angebracht war, um das Leben eines Menschen nicht zu gefährden, war es hier der Notausknopf, um nicht den alten göttlichen Bund zu gefährden.
***
Ein Bund, viel mächtiger und älter als die Freimaurer. Ein Bund, dem nur wenige, nur die ganz großen Köpfe angehörten. Köpfe, wie viele Milliardäre und Könige, oder Menschen mit unersättlichem Erfindergeist, wie eben Nolem einer war. Der alte Bund kontrollierte Wissenschaft und Politik, und damit die gesamte Menschheit. Sie arbeiteten ähnlich dem alten Spruch, bei dem der König zum Priester sagte: "Ich halte sie arm, du hältst sie dumm!".
Das Glaubenskonzept des Bundes wurde schon in der Informationsentstehung eingesetzt. So wie bei einem Samenkorn, aus dem ein mächtiger Stamm wachsen sollte. Sämtliche Studien und Ansichten wurden von Grund auf manipuliert. Mediziner und Lehrer waren für die bereits manipulierte Informationsweitergabe zuständig, ohne zu wissen, wie falsch sie lagen. Egal ob Big Bang Theorie oder eine kugelförmige Erde - war der Glaube über Jahrzehnte eingepflanzt worden, glaubten die Menschen ihn.
So wie das heliozentrische Weltbild lange Zeit keinen Platz in der Kirche hatte, hatten zum Beispiel Telepathie, eine flache Erde oder Aliens keinen Platz im Glauben des Bundes - auch wenn man schon lange vom Gegenteil wusste. Sollte ein Wissenschaftler seine Arbeit gegen ihr Glaubenssystem publizieren, wurde er belächelt und in das Abseits befördert. Er hatte nie wieder die Möglichkeit, eine ernsthafte Karriere zu verfolgen.
Nolem war bekannt für seine Erfindungen und Projekte. Sie sprudelten förmlich aus seinem Gehirn heraus. Er war wie eine Maschine. Nachts träumte er von seinen Projekten und tagsüber versuchte er diese mit seinen Beratern zu verwirklichen. Sein Ideenreichtum zog zahlreiche Investoren an, Konzerne, Militär und Privatleute. Er startete mit einem Firmenstandort in Kalifornien, breitete sich danach in den USA aus und später an Orten der restlichen Welt.
Manche seiner Projekte wie die Erdkratzer, Wolkenkratzer, welche anstatt in den Himmel, in die Erde reichten, wurden von mehreren Architekten und Organisationen kopiert. Sie sollten vor allem in kalten und warmen Gegenden eine sparsame und umweltfreundliche Option zu den herkömmlichen Wohnungen sein. In der Tiefe herrschten angenehme Temperaturen, sodass man sich die teuren und stromfressenden Klimaanlagen sparen konnte. Der Hyperball sollte eine neue Art von unterirdischer Personenbeförderung werden. Kugeln, die durch eine Vakuumröhre geschossen werden sollten. Sein geheimstes Projekt diente dem ewigen Leben. Ein zusätzlicher DNA-Strang, der die Fehler in menschlicher DNA-Doppelhelix reparieren und Krankheiten wie Krebs auslöschen sollte.
Diesem alten Bund wurde eine uralte Macht weitergereicht. Die Macht des ewigen Lebens, gespeist in vier Menschen. Sie wurden weitergereicht, solange es den Bund gab, aber niemand wusste mehr, woher sie kamen. Die Übermittlung besagte, dass vier Brüder geboren als Vierlinge, beauftragt wurden, über die Menschheit zu wachen. Ein Notausknopf, sollte die Spezies Mensch aus dem Ruder laufen. Sie waren in ein Verlies gesperrt worden. Dort lebten sie schon seit hunderten, vielleicht sogar tausenden von Jahren und besaßen eine besondere Eigenschaft: Ihre DNA bestand aus einer Trippelhelix. Jeder Schaden konnte sofort repariert werden. Endlich hatte der alte göttliche Bund die Fähigkeiten entwickelt, sich die Trippelhelix zunutze zu machen. Sie extrahierten die Blutproben und führten Gentherapien an einigen zahlungskräftigen Kunden durch. Es funktionierte. Aber wenn man den besonderen, intelligenten und auserwählten Menschen ewiges Leben gewährt, wenn diese eventuell Nachkommen zeugen sollten, was sollte mit dem Rest der Menschheit geschehen?
Seit längerem machten sich Bedenken im alten göttlichen Bund breit. Lange Zeit konnte man sich am normalen Volk bereichern. Man konnte den Menschen alles verkaufen. Man musste nur die richtigen Studien bezahlen.
Obwohl jeder wusste, dass der Mensch sich Jahrtausende von Pflanzen ernährte und nicht täglich sein Glas Milch trank, um seine Zähne zu behalten, brauchte man nur gezielte Werbungen zu senden und schon wurde der Milchkonsum angekurbelt. Man konnte ihnen jeden Schwachsinn verkaufen. Tierisches Protein macht groß und stark, auch wenn man damit ungesundes Fett aufnahm. Sie brauchten nur die richtigen Suchtmacher - wie Zucker - am Markt zu etablieren. Zucker signalisierte tausende von Jahren dem Gehirn eine reife, gute Frucht. Einmal in einem Lebensmittel untergemischt, hoppelten die Menschen dem Produkt schon hinterher. Sie ließen sich fangen wie Ratten, die der Melodie des Rattenfängers blind hinterherliefen. Sollte Zucker und Fett etwas Schaden verursachen, gab es ohnehin für jedes Wehwehchen eine Pille. Die Gesellschaft sollte wachsen, nicht nur im Körperumfang, auch in ihrem Konsum. Ein SUV sollte schon ein Muss sein, auch wenn man weder in der Stadt noch am Land durch Sümpfe fahren musste, kann man damit doch einen attraktiven Partner finden. Dabei sollte man allerdings nicht auf ein bisschen Make-up vergessen, in der rechten Hand ein namhaftes Zuckergetränk und in der anderen eine Zigarette - beides mit Suchtmachern von denselben Konzernen versetzt.
Die Aktienkurse des alten göttlichen Bundes stiegen. Allerdings wurden Stimmen von einigen Skeptikern von Jahr zu Jahr lauter. Wie lange kann der Konsum noch wachsen?
Ihre eigenen Social Media Konzerne trugen diese Stimmen weiter und breiteten sich wie ein Krebsgeschwür aus. Zu Beginn waren es schöne Instrumente, um die Menschen zu kontrollieren, aber jetzt wandte sich das Blatt gegen sie. So sehr der alte göttliche Bund auch die Algorithmen zu ihren Gunsten manipulierten, irgendwo setzte sich doch die eine oder andere Nachricht gegen sie durch.
Der Alltag wurde zunehmend langweiliger und so liebten es die Menschen, sich Verschwörungstheorien anzunähern. Was, wenn die Flacherdengemeinschaft herausfand, dass der Südpol kein Pol war, sondern der Rand der Erde, an dem direkt neben dem Kap Horn eine geheime Forschungsstation entstand? Was, wenn die Menschheit herausfand, dass eine Therapie das unendliche Leben ermöglichte? Lange Zeit waren sie die Großspender an gemeinnützige Organisationen, verrückte Wissenschaftler, die den Hyperball, Flugautos, das Internet und unterirdische Wolkenkratzer entwickelten, um das Leben auf dem Planeten leichter, sicherer und besser zu machen. Langsam fragten sich manche Gruppen jedoch, wozu man ein weiteres Satellitennavigationssystem bräuchte. Um Nanochips zu aktivieren? RNA-Nanochips, die an menschliche DNA haften sollten, um ihr Immunsystem deaktivieren zu können? So weit reichte die Fantasie der meisten Menschen doch noch nicht. Aber wie lange noch, bis der große Aufstand kam? Lange war die CIA die böse Institution. War es vielleicht doch nicht die CIA, die an der Sprengung der Twin Towers beteiligt war? War es ein geheimer Bund, um die Aktien teuer zu verkaufen und wieder günstig einzukaufen?
Waren die Chemtrails ein erster Versuch, die Menschheit zu kontrollieren? Bisher glaubte man an freie - oder nicht so freie - Wahlen, aber was, wenn ein Geheimbund die Präsidenten und Diktatoren leitet? Immer mehr von solchen Annahmen waren in den sozialen Netzwerken zu lesen. Was, wenn diese Meinungen auf die Mehrheit überschwappt? Was, wenn ein einzelner Gedanke sich anfing zu verbreiten - wie ein Virus - und einen nach dem anderen infizierte, bis sie eine namhafte Anzahl an Gegner hatten, die sie versuchen würden zu lynchen?
Lange Zeit konnten sich die Mitglieder des Geheimbundes alles und jeden kaufen, vom kleinen Bauern bis zu den größten Staatsdienern. Was, wenn jemand ihr Spiel nicht spielen wollte - wenn der kleine Bauer ihr krebserregendes Pflanzenschutzmittel nicht auftragen wollte, die Staatsdiener ihre Ideen nicht unterstützten? Dann mussten sie eben beseitigt werden - vom kleinen Bauern bis zu J.F. Kennedy. Aber was, wenn die Menschen ihre Meinung als kollektiv änderten und den alten göttlichen Bund dafür verantwortlich machten? Die Menschen wetterten bereits gegen die Großkonzerne, welche die Umwelt verpesteten und sich mutierte Pflanzenarten patentierten. Die gesundheitsbewusste Gemeinschaft wuchs und wuchs, und wurde jeden Tag gefährlicher. Nun war es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Es musste eine neue Weltordnung geschaffen werden.
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Nancy aß wie üblich in der kleinen Gruppe der Kollegen der Impfstoffabteilung zu Mittag. Die einzelnen Tische waren durch Raumteiler mit Pflanzen getrennt.
Michael, ein Kollege so Mitte fünfunddreißig, sagte: "Hey Leute, wisst ihr schon das Neueste? In China haben sie eben ein Hotel in einem Erdloch gebaut. Die untersten Stockwerke sind mit Blick unter Wasser. Ich habe einige Bilder in einem Prospekt gesehen. Sieht echt cool aus. Scheint so, dass der alte Nolem Konkurrenz bekommen hat."
Karin meinte: "Na ja, wenn schon. Motivierter kann er nicht mehr werden. Der arbeitet ohnehin schon Tag und Nacht. Wer weiß, ob er nicht ohnehin schon zahlreiche Erdkratzer gebaut und sie sämtlichen Staaten als Geheimbunker verkauft hat. Ich frage mich, ob er eine Freundin hat. Ring hat er zumindest keinen."
Johanna meinte: "Wenn er eine Freundin hat, dann sicherlich als künstliche Intelligenz. Er würde ohnehin nie Zeit für sie haben."
Karin sagte: "Gut gekleidet ist er jedenfalls. Denkst du, dass dies eine künstliche Intelligenz auswählen kann? Den Geschmack einer Frau kann keine KI die Hand reichen."
Johanna meinte: "Diese Typen werden doch immer von irgendwelchen Modehäusern eingekleidet und verdienen dabei auch noch Geld, wenn sie diese tragen. Ich muss meine Kleidung teuer kaufen."
Nancy mochte ihre Kollegen. Es war unerwünscht, über die Arbeit zu sprechen, aber sie mochte den privaten Tratsch und Klatsch ohnehin lieber. Es sollte besser nicht auffallen, dass ihre Chemiekenntnisse sehr limitiert waren. Sie machte sich nicht viel aus Markenkleidung, obwohl sie gerne schöne Sachen trug. Es war nicht immer einfach schöne Sachen in den Secondhand Läden zu finden, aber etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Die Miete in der Stadt war teuer, zu teuer, und das Angebot war rar. Die Fabrik wuchs schneller als das Wohnungsangebot und die Preise schnellten in die Höhe. Ein paar wenige Bau-Mogule, welche beste Freunde von Nolem waren, verdienten sich goldene Nasen mit den Mieteinnahmen. Mit dem Gehalt der Fabrik konnte sie allerdings leben, atmen und essen. Das war, an das sie sich klammerte und ab und zu waren sogar schöne Klamotten möglich. Natürlich wäre es besser, sich mit einem Lebenspartner eine Wohnung zu teilen, so wie es ihre drei Kollegen taten. Dann bliebe bei weitem mehr Geld übrig, aber das blieb ihr bis jetzt verwehrt.
Eli, ein schüchterner Virologe, in ähnlichem Alter wie Nancy, ging mit einem breiten Lächeln an ihr vorbei. Er fand ihre Augen und ihr dezent geschminktes Gesicht umwerfend. Wenn sie lächelte, bildeten sich hübsche Grübchen an den Wangen. So gerne würde er sie ansprechen, aber er brachte kein Wort über seine Lippen.
"Oh!", flüsterte Karin. "Dein Verehrer geht eben vorbei.