Passagier mit Teflonseele - Alfred Lambeck - E-Book

Passagier mit Teflonseele E-Book

Alfred Lambeck

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Beschreibung

Das Meer mit dem faszinierenden Wechsel seiner Stimmungen, interessante Städte mit ihrer kulturellen Vielfalt, weite, sonnige Badestrände und das abwechslungsreiche Leben an Bord des Kreuzfahrtschiffes mit dem fiktiven Namen „European Star“ bilden die farben- und facettenreiche Kulisse für diesen Wirtschaftskrimi. Ihre Kreuzfahrt führt Juliane und Florian Gerber auf ihrer Hochzeitsreise vom spätherbstlichen Montreal in den sonnigen Süden der Bermudas und Floridas. Spannung und Würze erfährt diese Reise durch einen dritten Mitreisenden: Dr. Gernot Laurentius, Vorstand eines skandinavischen Elektrokonzerns, der auf dieser Erholungsreise seine schwierige Scheidung vergessen und sich in kurzlebigen Sexaffären austoben will. Die geplante Lustreise gerät zum Desaster: Laurentius ist in illegale Börsengeschäfte verwickelt. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Laurentius durch ein Telefonat von seinem Vorstandsvorsitzenden Walderström erfährt, dass sich ein wichtiger Kunde ein Unternehmen aus der Windkraftbranche, an dem Laurentius sich selbst maßgeblich beteiligt hat, in einer akuten Schieflage befindet. Statt im Sinne des Unternehmens tätig zu werden, wahrt er ausschließlich seine persönlichen Interessen. Auf jeder Station der Reise wird er tiefer in den Sog seiner kommerziellen Gier verstrickt, unterbrochen von gleichermaßen gierigen Sexabenteuern. Zweimal hat er Insiderwissen benutzt, um sein Vermögen zu mehren. Beim zweiten Mal gerät er in die Fänge der Finanzaufsicht. Dass Gernot Laurentius am Ende nicht verhaftet wird, verdankt er der Strategie seines „Kollegen“ Florian Gerber. Dem ist das möglichst unbeschädigte Image des Elektrokonzerns letztlich wichtiger als eine gerechte Strafe. Die Auseinandersetzung zwischen Vorstand Laurentius und Kommunikationschef Gerber gewährt Einblicke in das Wesen großer Unternehmen, ihre Denk- und Handlungsweisen. Zugleich kommt die attraktive Atmosphäre einer luxuriösen Kreuzfahrt nicht zu kurz. So entsteht eine ungewöhnliche Kombination aus gesellschaftlichem Glanz und persönlicher Tragödie mit einem überraschenden Schluss.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Hamburg

Montreal

Quebec

Prince Edward Island

Auf See – Kurs Neuenglandstaaten

Auf See – Kurs Boston

Boston

Newport

New York

Auf See – Kurs Südsüdost

Auf See – Kurs Bermuda

Hamilton, Bermuda

Auf See – Kurs Florida

Auf See – Kurs Fort Lauderdale

Fort Lauderdale

Transatlantik Route

Hamburg

St. Helier, Jersey

Glossar

Personen und Charaktere

1 Hamburg

Am Morgen scheint die Sonne. »Scheint« ist übertrieben. Sie blinzelt blass durch den dünnen Wolkenschleier, der den blauen Himmel ahnen lässt. Noch in der Nacht hatte es geregnet. Und all die Tage vorher. Die Straßen sind nass, die Dächer, die Wege im Park voller Pfützen. Durch die Nadelwälder im Norden ziehen die Nebelschwaden langsam nach Osten. Die Bürgersteige der Stadt beginnen zu trocknen. Der Tag soll schön werden, haben sie im Radio gesagt, »ein strahlend schöner Frühherbsttag.«

»Wenn Engel reisen«, denkt Laurentius und muss lachen, während er sich sorgfältig rasiert, Vaters Stimme im Ohr, der streng gesagt hatte: »Ein ordentlicher Mann sitzt nicht unrasiert am Frühstückstisch.« Das war vor dreißig Jahren. Er ist mit seinem Konterfei, ist mit sich selbst zufrieden an diesem Morgen. Er reckt sich. »Ich werde alle Fesseln abstreifen, ich werde auf große Reise gehen, ich will zu mir selbst finden, obwohl ich nicht weiß, was ich da finden werde – vielleicht ist es diese Hoffnung, die mich diesen unsäglichen Scheidungsprozess hat durchstehen lassen.« Ein ungewohntes Gefühl großer Freiheit durchströmt Dr. Gernot Laurentius.

Eine Stunde später steht er in der Senator Lounge im Obergeschoss des Flughafenterminals. Blauer Blazer, graue Hose, blau gestreiftes Oberhemd, dezente Krawatte. Tickets und Senatorkarte in der Handtasche. Laurentius steht dieser sehr schlanken, maliziös lächelnden Anfang Fünfzigerin mit dem verführerisch langen blond-grauen Haar aus frühen Stewardessentagen gegenüber, nennt seinen Namen, weiß im gleichen Augenblick, dass er den ersten Zug in diesem Spiel verloren hat. »Herr Magnussen hat mich bei Ihnen avisiert.«

»Ich weiß, Herr Dr. Laurentius, ich würde Sie sehr gern upgraden, die Kollegen in Frankfurt haben mir gesagt, dass die First Class auf dem Flug Frankfurt – Montreal bis auf den letzten Platz ausgebucht, ist, leider. Lauter Vollzahler. Was ich Ihnen anbieten kann, ist ein bequemer Platz in der Business Class, Reihe 1, Fensterplatz, mit viel Beinfreiheit. Wenn Sie Glück haben, bleibt der Mittelplatz frei. Ich habe ihn blockiert.«

Enttäuscht bleibt Dr. Laurentius trotzdem, noch mehr, als er in Frankfurt in die Transatlantikmaschine steigt, Boeing 747; zur First Class geht es über diese steile Treppe zum Oberdeck. Nicht für ihn, Urlaubsstart zweiter Klasse. Na gut. Er will sich nicht ärgern, heute nicht: »Von diesen verdammten Statussymbolen bin ich schon viel zu abhängig – genau wie meine Kollegen im Management. Außerdem, heute reise ich privat.« Der Flug ist ruhig und angenehm, muss er sich eingestehen, das Menü wie immer bei diesem Carrier langweilig, der Wein ist nicht so gut wie in der First Class, klar, weiß man ja. Der Jumbojet landet pünktlich. Der Flughafen liegt weit außerhalb der Stadt, mit dem Taxi geht es zum Hafen von Montreal am großen Sankt-Lorenz-Strom. Der Fahrer nimmt einen einträglichen Umweg zum Schiff. Laurentius scheint es nicht zu bemerken.

»Man muss sich manchmal selbst belohnen.« Laurentius erschrickt über sich selbst, was ihm nur selten passiert. Beim Betreten seiner Kabine hat er laut gesprochen. Suite nennen sie die Kabinen auf der European Star, Verandasuite. Maritim klingt das nicht.

Was tut ein Passagier, wenn er so eine Kabine betritt, sich kurz umschaut, die Einrichtung sympathisch modern, vielleicht sogar einladend findet, schließlich den Begrüßungschampagner und den Obstteller nebst Visitenkarte wahrgenommen hat?

Dr. Laurentius öffnet die Tür und tritt auf die Veranda hinaus. Im späten Abendsonnenschein, der selbst kantig aufgestapelte Betonkisten gnädig vergoldet, liegt Habitat, das olympische Dorf von Montreal in einiger Entfernung hinter dem anderen Ufer des Hafenbeckens in seinem Blickfeld. Er fühlt sich belohnt, noch bevor die Reise begonnen hat, sagt noch einmal und nun sehr bewusst: »Man muss sich selbst belohnen, macht ja sonst keiner«, und denkt, dass die Scheidungsgeschichte hart genug gewesen sei. Und teuer. Und keineswegs so leicht zu verdauen, wie er gedacht hatte, als er die Scheidungsklage gelesen hatte. Das war vor gut einem Jahr gewesen.

Schiffe und Schafe

»Vom Indian Summer zur Sonnenküste Floridas« hatte der Reiseprospekt romantisch versprochen. Für Juliane und Florian Gerber hat die Reise mit dem Vorprogramm in Montreal schon einen Tag vor der Einschiffung begonnen. Vom Indian Summer ist auf der Busfahrt vom Flughafen zum Hotel nicht viel zu sehen. Ein paar herbstlich bunte Waldstücke liegen weit entfernt. Sie sind sich einig: Schleswig-Holstein hat mehr zu bieten. Aber das liegt ja vor der Haustür.

Beim ersten Stadtbummel schneit es in sehr feinen Flocken, wie sie nur fallen, wenn es klirrend kalt ist. Ihrer Entdeckerfreude tut das keinen Abbruch. Juliane setzt sich auf die kalte Bank neben das fröhliche lebensgroße Liebespaar aus Bronze. Florian drückt auf den Auslöser seiner Kamera: »Muss ich für unser Album haben.« »Jetzt aber auch ein Bild von dir«, sagt Juliane. Er setzt sich auf der anderen Seite der Bronzebank neben das Mädchen und legte den Arm um seine Schulter.

Der Hotelportier hatte ihnen geraten: »Schauen Sie sich unsere Stadt unter der Erde an, eine Einkaufspassage geht in die nächste über, die brauchen wir in unseren langen, strengen Wintern. Sonst käme niemand mehr zum Einkaufen in die City.« Florian sagt: »Imponierend, der Mann hat nicht übertrieben, diese direkte Verbindung zwischen U-Bahn und Shoppingcenter und diese tollen Glasdächer, mit denen die Passagen zum Tageslicht durchdringen.«

Juliane und Florian gehören zu den ersten, die am Nachmittag an Bord der »European Star« gehen. Das Schiff liegt blendend weiß im dunklen Hafenwasser vor alten Braunsteinspeichern, ein altmodisches Schiff mit harmonischen Formen, nicht so ein moderner schwimmender Kristallpalast mit zehn oder zwölf Wohndecks übereinander. »Schön, mit einem Hauch von Nostalgie«, freute sich Florian. »Die modernen amerikanischen Kreuzfahrtschiffe erinnern mich immer an die australischen Schaftransportschiffe mit ihren Boxen für Tausende von Schafen.«

»Die Schafboxen sind aber viel kleiner als die Kabinen bei den Mega-Cruisern.«

Vielleicht ist der Unterschied, was die Bewohner angeht, nicht so groß, hier bin ich jedenfalls lieber.«

Sie werden zu ihrer Suite geführt. Ihr Gepäck steht schon an der Wand vor dem begehbaren Kleiderschrank.« So toll habe ich mir eine Schiffskabine nicht vorgestellt, hier ist ja richtig viel Platz, hast du das Bad schon gesehen? Alles in Marmor, sehr einladend, jetzt ein heißes Duschbad – das wäre doch was.«

»Finde ich auch.«

»Nichts hindert uns.«

»Doch, dein Anzug.«

»Und dein Kleid.«

Florian hilft Juliane beim Auskleiden.

Später, als die Scheiben der Schiebetür zur Veranda nicht mehr beschlagen sind, schauen sie hinaus in den abendlichen Himmel.

»Es wird langsam Zeit, dass wir uns anziehen und zum Abendessen gehen«, sagt Juliane.

»Schade, ich könnte dich immerfort so anschauen.«

2 Montreal

Dr. Gernot Laurentius fällt ein, was Magnussen, der beflissene Leiter der Reiseabteilung, ihm geraten hatte, als er Tickets und Voucher in sein Büro gebracht hatte. »Wenn Sie Ihre Kabine bezogen und das Gepäck entgegengenommen haben, sollten Sie gleich zur Restaurantmanagerin Darssow gehen, tüchtige Ostfrau, Kathrin mit Vornamen, kenn ich. Geben Sie Ihr meine Karte, das hilft, zwanzig Dollar dazu, das hilft noch mehr, Sie bekommen einen exzellenten Tisch.«

Laurentius fährt mit dem gläsernen Lift ins Hauptrestaurant, drei Decks tiefer. »Sie reisen allein? Wie wär’s mit dem Sechsertisch hinten rechts? Toller Blick auf das Kielwasser und Sie haben fast den ganzen Raum im Blickfeld«, grinst sie. Ob Magnussen sie instruiert hatte? Ist ihm zuzutrauen. »Wenn Ihnen die Leute am Tisch nicht zusagen, kein Problem, kontaktieren Sie mich, ich regele das umgehend«, sagt Frau Darssow.

An seinem Tisch hat Laurentius Gefallen gefunden, an Kathrin Darssow auch, aber die ist tabu, ist ihm klar. Schade.

Zum Informal Dinner kommt Gernot Laurentius als Letzter an den Tisch, schaut sich vorsichtig um, ist erleichtert, niemand in seinem Blickfeld zu sehen, den er kennt. »Kleidung leger« stand im Programm. »Ärgerlich«, hatte er gedacht, »ich hätte lieber mein Dinnerjackett getragen.« Natürlich, auch so ist er untadelig gekleidet. Darauf hat er seit den frühen Tagen seiner Karriere im Management Wert gelegt, er trägt englische oder italienische Schuhe, seine Anzüge, dreiteilig, stammen vom Maßschneider. Gelegentlich erzählt er seinem alten Studienfreund mit leichter Ironie in der Stimme: »Ich habe mich dem Erscheinungsbild der Business Class in der Hansestadt unauffällig angepasst, nur den Regenschirm habe ich weggelassen. Auf ein anderes hanseatisches Attribut, einen Jaguar als Dienstwagen, hat er nur ungern verzichten müssen. »In Deutschland geben wir uns deutsch«, hat ihm Leif Kungsten damals auf Deutsch erklärt, das noch immer miserabel ist, obwohl er schon seit zehn Jahren in Deutschland arbeitet.

An Laurentius’ Tisch sitzt links neben ihm eine allein reisende Dame, ja, doch, Dame, viel gereist, wiederholt auf der European Star gefahren, zurückhaltend, freundlich, gebildet, arglos, sogleich als zu alt taxiert. Die Dame braucht seine Konversation nicht, wird lebhaft unterhalten von einem Herrn, ganz Gentleman, straff, gepflegt, Einstecktuch, dezente Krawatte, umweht von einem dezenten Herrenduft.

Laurentius taxiert: Mag Anfang 60 sein, kennt sich in der Literatur aus, ist weltläufig. Offizier gewesen? Witwer? Er balanciert gekonnt zwischen Vertrautheit und Distanz.

»Ein Social Host«, hatte ihm die Managerin Kathrin am Nachmittag verraten. Es gibt ein halbes Dutzend davon an Bord, nur soignierte Herren, erste Garnitur, exzellente Tänzer. Die allein reisenden älteren Damen goutieren ihre Anwesenheit. »Sie werden sehen, wie sie strahlen, wenn sie zum Walzer aufgefordert werden«, hatte Frau Darssow gesagt. »Die meisten der Damen sind – kleine Untertreibung – wohlhabend, geben das Geld der verstorbenen Gatten aus oder was sie bei der Scheidung ergattert haben.«

Der Platz rechts neben Laurentius bleibt frei, ist auch nicht eingedeckt. Laurentius gegenüber sitzt ein Ehepaar, vielleicht kurz vor der Goldhochzeit. Er Bauunternehmer, wie er schon während der ersten Plauderei erzählt. »Zu seinem kantigen Gesicht«, denkt Laurentius, »passt die preußisch aufrechte Haltung gut. Er spricht kultiviert, der leichte ostpreußische Akzent ist sympathisch. Andererseits, der alte Herr weiß, was er will. Vielleicht hat er sich nach 1945 eine neue, gänzlich andere Existenz aufbauen müssen.« Der alte Mann hört schlecht. Seine Frau muss alles zweimal sagen, tut das mit Geduld. »Wenn ich meinen Mann bloß dazu bringen könnte, ein Hörgerät zu tragen«, entschuldigt sie sich. Laurentius ist verständnisvoll: »Aber, ich bitte Sie.«

»Scheußliche Lärmverstärker«, knurrt der alte Herr lauter als nötig. Laurentius nickt zustimmend, sagt sich: »Der Mann hat ja so recht. Wir produzieren die Dinger in der Health Care Division unserer Firma. Sie werfen eine sagenhafte Rendite ab, dafür taugen sie weniger als die Werbung verspricht. Immerhin sind sie besser als die der Konkurrenz. »

»Gepflegte Langeweile«, konstatiert Gernot Laurentius. Der Sessel neben ihm bleibt während des ganzen Abends frei. Er stellt Mutmaßungen über Kathrin Darssows Absichten an. Sie gehen ins Leere. Bauunternehmer Steinke und die geduldige Gattin verabschieden sich nach dem Dessert: »Der lange Flug, wissen Sie, wir sind ja nicht mehr die Jüngsten.« Die Gelegenheit ist günstig. Laurentius beugt sich höflich zu seiner Tischnachbarin und ihrem unermüdlichen Social Host hinüber. »Sie werden mich nicht vermissen. Ich gehe noch auf einen Planter’s Punch in die Bar, dann bin ich auch bettreif.« Die beiden nicken verständnisvoll.

Laurentius schlendert über weiche Teppiche durch das Pacific Deck, bleibt vor den wirkungsvoll beleuchteten Auslagen des internationalen Juweliers stehen, kommt dann in den Ballsaal, wo die Kreuzfahrtdirektorin die nächste Nummer der Abendshow ankündigt als wäre sie ein berühmter Weltstar. Es ist die angejahrte Lia Lundström. Nach wenigen Augenblicken weiß er: zu schrill, zu laut.

Im Bellevue Club wird getanzt, lateinamerikanisch, die Tanzfläche ist voll. Laurentius geht den breiten Gang zurück, die allein reisende Dame kommt ihm am Arm ihres Social Host entgegen. Man nickt einander zu wie gute alte Bekannte. Die beiden streben zum Bellevue Club.

Eher zufällig schaut Laurentius in die cool gestylte Mayfair Bar schräg gegenüber von H. Stern Jewellery. Sie ist nahezu leer, nur an wenigen der kleinen Tische sitzen Paare und plauderen angeregt miteinander oder langweilen sich schon am ersten Abend. Niemand tanzt.

»Arme Kreaturen«, denkt Laurentius. »Haben die große Reise noch gar nicht recht begonnen und langweilen sich schon.« Sie erinneren ihn an Theresa. Wenn er ehrlich ist, musst er zugeben, mit Theresa hätte er genauso dagesessen. Das ist Vergangenheit.

Die Combo spielt so, wie eine Combo in einer leeren Bar spielt, nein, eigentlich besser. Er bestellt seinen Planter’s Punch. Ordentlich gemixt, genügend Rum drin, stellte er befriedigt fest. Keine bemerkenswerte Lady in Sicht. Als er das zweite Mal verstohlen gähnt, lässt Laurentius die Rechnung kommen, zeichnet sie ab, legt einen Tip in das vornehme Lederetui, fährt zum Conqueror’s Deck hoch, denkt, »Eigentlich müsste ich hier richtig sein, mal sehen, ob der Name hält, was er verspricht.«

Der erste Abend ist eher enttäuschend. Laurentius öffnet die Tür zu seiner Suite, hebt das Tagesprogramm für den kommenden Reisetag auf, das die Stewardesse durch den Postschlitz geschoben hat. Er liest:

7.00 Uhr Anlegen in Quebec an der Promenade de la Pointe

7.30 bis 10.30 Frühstück

9.00 Uhr Stadtrundfahrt

12.30 Uhr Lunch

So geht es weiter, bis Mitternacht. »Wer will, ist ständig beschäftigt«, sagt er sich. »Ich will nicht. Ich habe auch keinen Landausflug gebucht. Für die Altstadt von Quebec brauche ich keinen Guide.«

Das Eis im Kübel mit dem Begrüßungstrunk ist geschmolzen. Kalt genug ist der Champagner trotzdem noch. Auf dem Schreibtisch liegt eine dicke samtblaue Infomappe. Die üblichen Prospekte, die Vorschau auf das Ausflugsprogramm für die kommenden Tage. »Vieles kann ich mir schenken«, stellt Laurentius fest. »Mit dem Taxi sehe ich mehr als auf diesen Bustouren mit ihren schlecht bezahlten Fremdenführern, die meistens ein miserables Deutsch sprechen.« Obenauf liegt ein Buch in marineblauem Leineneinband, »Literarisches Diarium«, unten rechts der Name in Goldbuchstaben: Dr. Gernot Laurentius. Der hübsche Band lädt zum Blättern ein, er liest den einen oder anderen kurzen Text, sagt sich, »Mit viel Liebe gemacht«, findet hinten leere Seiten, »Your Personal Diary«. »Wäre gar nicht so dumm, mal wieder Tagebuch zu führen«, überlegt er, »habe ich bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gemacht, zuletzt während meiner ersten Liebe, naiv, voller Poesie, na gut, ich war gerade mal fünfzehn.«

Er legt das Tagebuch griffbereit auf den Schreibtisch, samt schwarzem Kuli, Mont-Blanc-Imitat, denkt, »Solchen Mist würde unsere Firma nicht verschenken«, findet weitere Papiere in der Mappe: Städtebeschreibungen, Aufsätze zur Historie, zur Kultur, zur Wirtschaft der zu besuchenden Länder und Städte. Alles sehr interessant.

Trotzdem, das viele Papier findet er zu dieser Stunde eher lästig. Ganz zuunterst liegt die Passagierliste. Auf Seite →, ziemlich in der Mitte, findet er seinen Namen: Dr. Gernot Laurentius, Vorstandsmitglied der Nordic Electronics Deutschland Company, Vorsitzender des Vorstandes der IGK, denkt, »Hört sich gut an.« Er beginnt sich für die Liste zu interessieren, blättert, sucht nach allein reisenden Damen, nach Namen von Passagieren, die er möglicherweise kennt, stößt schließlich auf einen, der seine leise Müdigkeit augenblicklich verfliegen lässt: Florian Gerber, Kommunikationsdirektor, und Frau Juliane. Der? Auf diesem Schiff? Ausgerechnet der engste Vertraute des Vorstandsvorsitzenden. Muss das sein? Das hat ihm der schleimige Magnussen verschwiegen, infam so was. Der wird Freude kriegen, sobald er wieder in Hamburg ist. Er hat den ganzen Kram mal vergessen wollen, hat allein sein wollen, mit sich allein, völlig unbeobachtet. Gut, vielleicht noch mit der einen oder anderen Eroberung zum One-Night-Stand. Und jetzt dies.

Er atmet tief durch, trinkt noch ein Glas Champagner, findet, dass er schon zu warm geworden ist und fad schmeckt. Er beginnt in seinem Gedächtnis zu suchen: Frau Juliane? Juliane Gerber? Kennt er die? Muss er die kennen? Er hat mal ein Fräulein Juliane gekannt, ganz früh, ganz seriös, par Distance. Der Name sagt ihm etwas, er hat mal in den Papierwerken Gottfried Bogener, Eichenbergen, gearbeitet, als junger Assistent, gleich nach dem Studium. Der hatte eine Tochter Juliane, die war damals für ihn unerreichbar gewesen, völlig außer Reichweite.

Sollte der Gerber die gekriegt haben? Unglaublich. Cleverer Bursche, wenn das stimmt. Jetzt kann er sich auch denken, wieso der sich diese Reise leisten kann. Morgen wird er das genau wissen. Er hat schon gedacht, Gerber habe seine Reisekasse mit seinem damals brandheißen Insidertipp, IGK-Aktien zu kaufen, aufgebessert. So etwas hat der anscheinend nicht nötig.

Schade. Nützliche Leute durch milde, nicht ganz legale Gaben in perfide Abhängigkeiten zu manövrieren, gehört zu seinen besonderen Fähigkeiten. Mitwisserschaft – ein fabelhafter Leim.

Die Müdigkeit meldet sich wieder. Beim Zähneputzen vor dem Spiegel betrachtet Laurentius seinen Bauch. Er muss abnehmen, schleunigst abnehmen, Laufen, Fitnessstudio, FdH. Die Verpflegung auf der European Star ist kontraproduktiv. »Fitnessstudio«, sagt er noch einmal, »und gleich morgen früh ist Laufen angesagt.«

Fernweh

Die European Star legt sanft und wie es scheint mühelos ab. Nur das Rauschen des Bugstrahlruders ist kräftig. Florian Gerber lässt sich das Manöver nicht entgehen, das Schiff gleitet langsam an der Silhouette der dunklen Speicher am Hafen entlang, nimmt im freien Wasser Fahrt auf.

»Jetzt wird es aber wirklich Zeit«, mahnt Juliane als er zurückkommt. Vater Bogener hatte den Tisch für Tochter und Schwiegersohn schon in seinem Reisebüro ausgewählt – den gleichen, den er und seine Frau zwei Jahre vorher auch gehabt hatten. Juliane und Florian finden eine fröhliche Gesellschaft jüngerer Leute, eines der beiden Paare stammt, wie sich rasch herausstellt, aus dem Bergischen Land. Sie kommen miteinander in ein anregendes Gespräch.

Das Hauptrestaurant hat sich bereits nahezu geleert, als die jungen Gerbers die Treppen hinauf zu ihrer Suite gehen. »Einen Champagner müssen wir aber noch trinken«, meint Florian. Während Juliane im Bad ist, füllt er die erste Seite im Reisetagebuch. Was er schreibt, klingt euphorisch; Juliane schaut ihm über die Schulter, sagt: »Das hätte ich Wort für Wort genauso schreiben mögen.« Sie küssen sich und trinken den Champagner aus langstieligen Gläsern.

Florians Tagebuch

Unsere große Reise, die Erste unseres gemeinsamen Lebens, hat begonnen, ich habe das sichere Gefühl, sie wird wunderbar. Montreal bei Sonnenschnee und klirrender Kälte, mit spiegelnden Fassaden und faszinierender Unterwelt. Das Olympische Dorf lag im Abendsonnenschein. Spektakuläre Siebzigerjahre- Architektur. Darin wohnen möchten wir beide nicht. Das Schiff: viel stilvoller als erwartet. Vor zwei Stunden hat es abgelegt, das Schiffstyphon brummt sonor, weckt Fernweh, wir fahren auf dem nächtlichen St.-Lorenz- Strom, trinken Champagner – Hoch-Zeit(s)-Reise.

3 Quebec

Slippery

Florian Gerber hat den Wecker auf 6.30 Uhr gestellt, will das Anlegemanöver in Quebec nicht verpassen. Er steht auf der Veranda der Kabine an Steuerbord, fröstelt in der kalten Morgenluft, sieht zwischen Kai und Bordwand noch zwanzig, dreißig Meter dunkles, fast schwarzes, schnell strömendes Wasser, denkt, dass es der Kapitän hier nicht leicht haben wird, sein Schiff an der Promenade de la Pointe sanft anzulegen.

Unter ihm, auf dem Atlantic Deck, auf dem man das ganze Schiff umrunden kann, sieht er einen nicht sehr großen Mann im Sportdress mit weißen Laufschuhen, Pudelmütze auf dem Kopf, denkt, »Mensch, der sieht aus wie Laurentius«, verwirft den Gedanken sogleich wieder. »Jetzt geht dir selbst auf deiner Hochzeitsreise die Firma nicht aus dem Kopf. Du spinnst.« Während der Mann unter ihm zu laufen beginnt, zuerst langsam, vorsichtig, als würde er Halt suchen, geht Florian fröstelnd in die Kabine, blättert rasch in der Passagierliste, sagt: »Rat mal, Juliane, wer hier an Bord ist.«

»Wie soll ich das raten? Ich kenn doch hier niemanden.«

»Doch, doch, den kennst du auch – Laurentius, Dr. Gernot Laurentius. Du weißt, unser seltsamer Vogel im Vorstand.«

»Oh Gott, der? Muss das sein?«

Florian geht wieder hinaus auf den Balkon, will sich vergewissern, erkennt, das Laurentius mehr schlittert als läuft, sieht ihn das Gleichgewicht verlieren und aufs Deck fallen, auf dem höllisch glatten Teakdeck entlangrutschen, bis er gegen die Reling saust und liegen bkeibt. »Du, ich muss ihm helfen, er ist gestürzt, ich glaube, er hat sich verletzt.«

Gerber wartet den Lift nicht ab, rennt die Treppen hinunter, erreicht den Ausgang zum offenen Deck, sieht das Schild

ATTENTION SLIPPERY DECK

Laurentius muss es ignoriert haben. Florian denkt: »Das sieht dem ähnlich, ist über das dünne Eis geschlittert, das sich bei der nächtlichen Fahrt auf dem mächtigen Strom von Montreal nach Quebec gebildet hat.« Florian Gerber findet Laurentius, der dabei ist, sich mühsam an der Reling hochzuziehen. Gerber hilft ihm, stützt ihn.

»Das übersteigt meine Phantasie, ausgerechnet Sie als barmherziger Samariter, der mir beispringt. Ich weiß, ich war ein Idiot, auf dem spiegelglatten Deck laufen zu wollen, ich hatte es mir in den Kopf gesetzt.«

»Legen Sie bitte ihren Arm um meine Schulter«, sagt Gerber, »treten Sie ganz vorsichtig auf, ich bringe Sie ins Schiffshospital und verständige den Arzt, Sie müssen sicher sein, dass nichts gebrochen ist.«

»Mensch Gerber, ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Sie so fürsorglich sind, danke, Sie helfen mir sehr.«

Der Arzt, ein kleiner, rundlicher Mann, ist erstaunlich schnell da, stellt sich auf Englisch mit einem harten Akzent vor, fügt entschuldigend hinzu: »Ich komme aus Russland, aus St. Petersburg, heißt Gott sei Dank nicht länger Leningrad. Ich habe als Chefarzt der Chirurgie gearbeitet, bin sehr froh, jetzt hier arbeiten zu dürfen.« Er untersucht das rechte Bein des Gestützten, bewegt seine Gelenke vorsichtig hin und her, sagt: »Wir können das röntgen, haben wir alles an Bord, muss aber nicht sein, ich bin sicher, nichts ist gebrochen. Sie haben Glück gehabt. Ich lege Ihnen einen Salbenverband an, in drei Tagen ist die Geschichte vergessen. Bitte, kommen Sie in meine Sprechstunde zur Nachschau.«

Laurentius humpelt vorsichtig zurück in seine Kabine, kleidet sich mit etlichen Umständen langsam um, sagt halblaut zu sich selbst: »Na gut, Quebec kennst du, ein Wiedersehen wäre schön gewesen. Macht nichts, es entgeht dir nicht so viel, und es gibt ja die Börse, es gibt das Internet, und es gibt Gott sei Dank diese wunderbare leere und ruhige Mayfair Bar, und wenn es in den nächsten Tagen wärmer wird, kannst du alter Junge an Deck oder am Pool sitzen und lesen.«

Das hat Laurentius sich ohnehin vorgenommen. Aus seinem Aktenkoffer holt er »Schmidt« von Louis Begley hervor, sagt sich: »Passt gut zu meiner Gemütslage. Theresa ist zwar nicht tot wie Schmidts Frau, für mich ist sie trotzdem tot, toter als tot. Und eine willige Liebste, die werde ich hier an Bord schon finden, genau wie Schmidt.«

Als Laurentius gerade zum Frühstück humpeln will, öffnet sich im gleichen Augenblick die Tür der Nachbarsuite. Ein wohlbeleibter, um nicht zu sagen fetter Mann sagt leicht übertrieben höflich: »Guten Morgen«, sieht seinen Suitenachbarn humpeln, fragt: »Was ist Ihnen passiert?« Laurentius erzählt ihm sein Missgeschick. Der Wohlbeleibte nickt bedenkenvoll mit dem Kopf, sagt: »Sie müssen Ansprüche geltend machen, ich würde an Ihrer Stelle unbedingt Ansprüche geltend machen.«

»Es war meine Dummheit, ich habe das Warnschild »Slippery Deck« ignoriert.«

»›Slippery Deck‹? Müssen Sie das als Deutscher lesen können? Die Schiffsführung ist verantwortlich, sie hat die Passagiere vor Schaden zu bewahren. Sagen Sie bloß nicht, dass es eine Dummheit gewesen sei. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er überreicht seine Karte: Michael Michelsen, Motor- und Reisejournalist. Im gleichen Augenblick weiß Laurentius, warum er die schönste Suite des Schiffes nicht bekommen hat. Die ist seit Langem reserviert, hatte man ihm erklärt, ein wichtiger Gast der Reederei. Selbst Magnussen konnte da nichts ausrichten.

Taubenschlag

Beim Frühstück haben Juliane und Florian das Märchenschloss Frontenac im Blickfeld. »Das hat die kanadische Eisenbahngesellschaft auf den Felsen über der Stadt gestellt. Die haben überall in Kanada solche Zuckerbäckerschlösser und dazu passende Bahnhöfe gebaut. Ihre Reisenden sollten sich wie Könige fühlen, habe ich in den Reiseunterlagen gelesen«, sagt Florian. Über den Dächern, Türmen und Türmchen von Frontenac spannte sich ein tiefblauer Indian-Summer-Himmel. »Das wird ein toller Tag«, sagt Juliane. »Komm, wir ziehen los, wir brauchen nur über die Gangway zu gehen, dann sind wir gleich in der Altstadt.« Sie klettern den Schlossberg hinauf, genießen den weiten Blick von der großzügigen, wie ein Schiffsdeck mit Teakholz beplankten Terrasse auf Altstadt und Strom. »Sieh mal, da unten liegt unser Schiff«, sagt Juliane. »Sieht von hier aus ziemlich klein aus.«

»Ja, ja, und da unten auf dem schönen Schiff, da sitzt jetzt der Laurentius auf seinem Sessel in der Bar und reibt sein anschwellendes Schienbein. Der kommt uns heute jedenfalls nicht in die Quere. Trotzdem, das war ein richtiger Schreck in der Morgenstunde.«

Über die Terrasse vor dem Zuckerbäckerschloss fegt ein kühler Herbstwind hinweg, wirbelt das Papier aus den Papierkörben herum, pustet die beiden ordentlich durch. Sie suchen Wärme im Schloss Frontenac, das als Luxushotel gilt, sind erschrocken über den Touristenrummel. Florian kann am Zeitungskiosk im Hotel nicht vorbeigehen, findet ihn gut bestückt, kauft die FAZ vom Vortag.

»In diesem Taubenschlag möchte ich nicht wohnen«, sagt Juliane, »da kann ich ja mein Bett gleich auf dem Marktplatz aufschlagen.«

»Au fein, ich komme dazu, und dann verlangen wir Eintritt.«

Kichernd und lachend spazieren sie durch die Altstadt, die verwinkelten Gassen bieten Schutz gegen den Wind. In den Antiquariaten gibt es viel zu stöbern, alte französische Bücher vor allem. In den Andenkenläden liegt viel nutzloser Schnickschnack aus. In einem besonders schönen alten Eckhaus finden sie eine Ausnahme, den gediegenen Laden von Darlington. Juliane und Florian kaufen wärmende Wollschals in leuchtendem Rot, entdecken danach immer neue romantische Winkel, schöne alte Kirchen, einladende Teestuben.

Sonnenuntergang

Auf dem Abendprogramm, Beginn 18.30 Uhr, stehen »Kapitänsempfang und Welcome Dinner«. »Das wird eine lange Geschichte«, sagt sich Laurentius. Bevor das Stehen in der Warteschlange losgeht, will er lieber noch einmal über das jetzt menschenleere Deck humpeln. Die märchenhafte Silhouette von Quebec, die wie ein Schattenriss in den Himmel aufsteigt, der gen Norden unwirklich hell ist, zieht ihn in seinen Bann.

Am Bug trifft er Gerber, der den Sonnenuntergang über dem Strom fotografiert.

»So ähnlich stelle ich mir auch Sonnenuntergänge über der Wüste oder über dem Toten Meer vor, biblische Sonnenuntergänge. Dieses intensive Orange unter den dramatisch dunklen Wolken und der letzte Widerschein auf dem fast schwarzen Wasser. Wenn es gut wird, lasse ich einen Abzug für Sie machen, wenn Sie mögen«, sagt Gerber und drückt, nun mit einer anderen Belichtungszeit, noch einmal auf den Auslöser. »Ich mache immer zwei Negative, gehe auf Nummer sicher, das habe ich mir zu meiner Zeitungszeit angewöhnt, macht man nur eines, ist es garantiert verkratzt.«

»Das Bild hätte ich gern«, sagte Laurentius. »Das Motiv hat eine unglaubliche Stimmung. Übrigens, wenn Sie Zeit und Lust haben, können wir mal zusammen einen Whisky trinken, wir haben zwei Seetage vor uns.« Florian Gerber dankt, will nun rasch zurück zu Juliane, wünscht einen interessanten Abend.

Es wird Zeit, zum Empfang zu gehen, je später man kommt, umso länger dauert die Polonaise der Eitelkeit, jeder will mit dem Kapitän reden, egal wie belanglos der Small Talk sein wird, ein Foto muss schließlich auch sein. Dreißig Sekunden pro Paar, kalkuliert Laurentius, Geschwätzige nicht mitgerechnet, bei 300 Passagierpaaren sind das fast drei Stunden. Er weiß, er muss da durch oder an der Schlange vorbei und zum Abendessen gehen. Aber dann wird er ganz allein am Tisch sitzen, nur die alten Steinkes, die werden schon da sitzen, die tun sich die Prozedur bestimmt nicht an.

Night Cup

Die Gäste sind in festlicher Stimmung, die älteren Damen schwärmen vom Charme des Kapitäns, das üppige Dinner zieht sich hin. Juliane und Florian verspüren Lust auf einen Night Cup, schlenderen durch den Mittelgang, finden im Lift einen kleinen Hinweis auf den Club Polaris auf dem Sportdeck, ganz hinten, wo man durch große Fenster einen phantastischen Blick auf das magisch leuchtende Kielwasser hat.

Die beiden bleiben minutenlang stehen, bevor sie einen Platz mit Blick auf die schimmernde Spur im Strom finden. »Du, das könnte unser Lieblingsplatz vor dem Schlafengehen werden«, sagt Florian.

Ihre Lust auf Neues beschränkt sich nicht auf den Club. Die Stewardess empfiehlt ihnen einen »Salto Mortale«. »Der hat es in sich«, sagt Florian. Danach trinken sie einen trockenen Sherry, am liebsten einen Tio Pepe. Langsam füllt sich der Nachtclub, eine chilenische Sängerin verführt zum Träumen.

Florians Tagebuch

Schreck in der Morgenstunde: Dr. Gernot Laurentius an Bord, Nordic Vorstand mit Pokerface und großem Ego, gibt den Playboy. Sein früher Sturz auf dem vereisten Deck macht ihn menschlicher. Quebec: kalt, aber romantisch, Bouquinisten ganz wie in Frankreich, Kapitänsempfang, Damen, aufgetakelt wie Fregatten.

Muss ein schrecklicher Job für den Kapitän sein, all den Aufgeregten und Aufgeputzten die Hände zu schütteln und für jeden und jede ein freundliches Wort zu haben. Er weiß: Die Leute wollen das so. Entdeckung am späten Abend: Club Polaris, da gehen wir wieder hin. Ich soll mit Laurentius Whisky trinken, muss ich wohl machen. Morgen? Übermorgen? Nicht so bald.

4 Prince Edward Island

Schau dir das Foto an, typisch Laurentius, steht da wie der Schiffseigner, der seinem Kapitän erklärt, wo es lang geht.«

Juliane lacht: »Man merkt immer wieder, dass du Journalist bist.«

Auf dem Gang zum Frühstück haben sie den kleinen Umweg zur Bildergalerie gewählt und schauen nun gemeinsam die großen Tafeln im Foyer des Atlantic Decks an, auf denen die Bilder vom Kapitänsempfang und vom Welcome Dinner vom Vorabend ausgestellt sind, finden sich gleich dreimal und bestellen die Fotos auf dem grauen Bestellblock, der an jeder Tafel steckt. »Die kommen ins Album«, sind sich beide einig.

Fitness

Über dem St.-Lorenz-Strom liegt ein leichter Dunstschleier, der Himmel ist wolkenlos. Er verspricht einen schönen Tag. Gernot Laurentius hat sich gezwungen, vor dem Frühstück ins Fitnessstudio zu gehen, öffnet die verglaste Schwingtür, schiebt den weißen Vorhang zur Seite, wird mit einem fröhlichen »Hallo« begrüßt. Die Stimme gehört zu einer jungen Frau. Er schaut um die Ecke, sieht in das lachende, gebräunte Gesicht einer sportlich-straffen Gestalt Mitte, Ende Dreißig, blond mit langer Mähne, mit grünen Augen, langen, schlanken Beinen ohne Makel. Er hört sie mit leisem Spott in der Stimme sagen: »Na, noch nicht ganz ausgeschlafen?«

»Doch, doch, wenn ich Sie anschaue, bin ich augenblicklich hellwach.« Das scheint ihr zu gefallen.

An den Geräten hat Laurentius an diesem Morgen Schwierigkeiten, sein Schienbein schmerzt. Er nimmt sich zusammen, so gut es geht. Sie schaut herüber. »Sieht ja schlimm aus, dieser Verband. Was haben Sie angestellt?« Er erzählt, was ihm gestern früh auf dem vereisten Deck passiert ist.

»Und jetzt soll ich Mitleid haben? Lassen Sie mal sehen.« Sie kommt herüber, betastet das Schienbein fachkundig. »Darf ich das mal auswickeln?«

Der Patient wider Willen nickt ergeben, denkt, »ein schöner Weg zum Körperkontakt.« Sie sieht den großen dunklen Salbenklecks auf seinem Schienbein, fragt: »Wer hat Ihnen denn diese komische Schmiere darauf gepappt?«

»Der Schiffsarzt, dieser sehr freundliche, kugelrunde russische Professor.«

»Soso, ist alles halb so wild, ich bringe Ihnen nachher ein kühlendes Gel mit und ein Stück Pflaster. Morgen können Sie wieder tanzen.«

»Mit Ihnen?«

Fröhlich klingt es zurück: »Warum nicht?«

Laurentius erfährt noch, dass sie zu Hause ein Fitnesscenter betreibt, natürlich viel größer als das hier an Bord. Dann steht sie auf dem Laufband und absolviert ihren Törn. Eine halbe Stunde später kommt Laurentius zum Frühstück an seinen Tisch. Auf seinem Platz liegt eine Tube mit dem versprochenen Gel mit einer schwungvoll geschriebenen Karte: »Auf Wiedersehen.«

»Die Reise beginnt, interessant zu werden«, sagt er sich. »Merkwürdig, meinen Schmerz spüre ich schon kaum noch.«

Je weiter die European Star den Strom hinab fährt, umso rauer wird das Wasser. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, zugleich ist es kälter geworden, am Himmel jagen dunkle Wolkenfetzen ostwärts. An der Reling stehen nur noch ein paar Unentwegte im Ostfriesennerz.

Im Vormittagsprogramm hat Laurentius ein Thema gefunden, das ihn interessiert. Ein Privatbankier aus Zürich veranstaltet ein Anlegerseminar, spricht mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, über Anlageformen und Möglichkeiten, die deutsche Kapitalertragssteuer zu vermeiden, über Depots in der Schweiz und über den Anlegerschutz, den sie genießen würden. Nach einer halben Stunde beginnt Herr Hurtigmann, private Anlagegespräche in seiner Kabine anzubieten, während seine etwas knochige Gattin die Folien seines Vortrags in einem Vorordner wieder in die richtige Reihenfolge bringt. Laurentius hat genug, denkt: »Lauter alte Hüte, die Knackpunkte hat er sauber umschifft.« Beim Hinausgehen sieht er, dass die Nachfrage beträchtlich ist. Auch die Steinkes stehen geduldig in der Warteschlange. In seiner Kabine holt Laurentius die aktuellen Börsenkurse auf den Bildschirm, stellt fest: »Ich kann, ohne den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens befriedigt und entspannt zum Lunch gehen.« Warum auch nicht? Seine Operationen sind wasserdicht; da ist er sicher.

Anlegemanöver

Florian Gerber geht um diese Zeit einer seiner liebsten Beschäftigungen auf dieser Reise nach. Er steht im weißen Windbreaker mit Kapuze gegen den heftigen Sturm geschützt an der Backbordreling und beobachtet das Anlegemanöver. Die See schäumt, Brecher krachen gegen die Kaimauer, Böen peitschen den Regen über das Schiff, über das öde Gelände und die alten Lagerhallen. Irgendwo scheppert Wellblech. Der Kapitän hat erhebliche Schwierigkeiten, die European Star längsseits zu legen, ohne eine Beule im Rumpf zu riskieren. Die Festmacher sind völlig durchnässt, als das Schiff endlich vertäut ist und die Gangway ausgefahren werden kann.

Florian schaut auf die Uhr. Eine gute Stunde hat das Manöver gedauert. Auf dem nass glänzenden Asphalt stehen hinter riesigen Pfützen, auf denen der Sturm seine Wellenmuster zeichnet, drei große graue Busse für den Landausflug. Den haben Juliane und Florian nicht gebucht. Florian sieht, wie Laurentius mit hochgeschlagenem Mantelkragen und großen Schritten (soweit es sein schmerzendes Schienbein zulässt) zum Bus läuft, zum Ersten natürlich. Eine Dame stemmte sich gegen den Sturm, folgte ihm langbeinig und behände.

Juliane und Florian haben im Tagesprogramm einen Zeichenkurs entdeckt. In einem kleinen Salon hat Mrs. Jennifer Pelcock ihre Utensilien, Zeichenblöcke und weiche Bleistifte für die Teilnehmer ausgebreitet. Mehr als die Hälfte räumt sie unauffällig wieder weg. Mrs. Pelcock, »Please, call me Jennifer«, macht ihre Sache gründlich, bringt ihren Schülern in einem Oxfordenglisch, das allein die Teilnahme am Kurs wert wäre, gleich zu Beginn die Grundlagen der Bildkomposition bei. Lässt alle ein wenig nach Lust und Laune zeichnen, schaut ihren Schülern über die Schulter, korrigiert hier, ermutigt dort.

»Das ist richtig toll hier, so hätte ich gern auf meiner Schule zeichnen gelernt«, sagt Juliane.

Jeder darf seinen Zeichenblock mitnehmen. »Es schadet nicht, wenn Sie bis morgen Nachmittag noch ein wenig die Handgelenke lockern und Kurven zeichnen«, ermuntert Mrs. Pelcock ihre Schülerinnen und Schülern.

Mr. Pelcock steht neben ihr und verabschiedet die Teilnehmer mit artigem Kopfnicken. Florian fragt ihn: »Sie haben doch sicherlich auch einen künstlerischen Beruf?« Mr. Pelcock lacht: »No, no, I am the go to – ich bin nur der Laufbursche.«

Juliane und Florian zieht es zum Nachmittagstee in die Royal Promenade an der Steuerbordseite des großen Ballsaals. Das ist ein ruhiger Platz, man sitzt separiert. Der Tee wird lautlos mit britischer Höflichkeit serviert, die beiden inspizieren den Teewagen mit seiner verlockenden Kuchenauswahl, entscheiden sich für ein kleines Stück Obstkuchen ohne Sahne.

Florian liest die Bordzeitung, Juliane die Bordausgabe der Tageszeitung im Kleinformat, die täglich zum Schiff gefunkt wird. Florian schaut plötzlich auf: »Wir sitzen hier wie ein altes englisches Ehepaar. Eigentlich hätte ich Lust, in die Kabine zu gehen.«

Juliane lacht: »Ich glaube, dazu hast du immer Lust.«

»Du etwa nicht? Wir haben auch noch Champagner.«

Törtelmann

Florian Gerber und seine junge Frau sind gerade dabei, den Nachmittagstee zu beenden und ihren bequemen Platz aufzugeben, als sie Laurentius mit raschen Schritten auf sie zukommen sehen. Er stellt den beiden »Frau Elvira Bird« vor. Gerber machte das ungleiche Paar mit seiner Frau bekannt.

Sofort dominiert Laurentius das Gespräch: »Als junger Berufsanfänger habe ich bei Ihrem Herrn Vater mit großem Gewinn für mein Wissen volontieren dürfen.« Er spürt, dass Juliane für Schmeicheleien dieser Art nicht sonderlich empfänglich ist, wechselt das Thema, versichert den beiden, dass sie an diesem Nachmittag ohne Zweifel den besseren Teil gewählt hätten.

»Wieso?«, fragt Juliane Gerber. »Die Fahrt ging doch zum Haus einer Dichterin, das muss doch interessant gewesen sein?« Elvira antwortet für Laurentius: »Ja, ja, das war so eine Dichterin, seit hundert Jahren tot, die keiner kennt, wissen Sie, jedenfalls nicht über diese gottverlassene Insel hinaus, über die wir stundenlang im strömenden Regen in Omnibussen mit beschlagenen Scheiben gefahren worden sind, um am Ende einen bescheidenen Schreibtisch, ein paar Bücherborde und Autographen unter Glas zu sehen. Das alles in dicht gedrängten, viel zu großen Gruppen.«

Laurentius nickt Zustimmung, sagt: »Der einzige Lichtblick warst eigentlich du.« Dabei schaut er Elvira an.

»In Sprüchen bist du gut«, sagt sie. Florian würde das gern bestätigen, bleibt aber stumm.

»Ich habe genau gesehen, was Du gedacht hast«, sagt Juliane später.

Gerber erfährt Neuigkeiten von Laurentius: »Wissen Sie denn auch, dass wir einen wichtigen Reisejournalisten an Bord haben, Herrn Michael Michelsen? Er hat die schönste Suite auf dem Schiff, wohnt mit mir Tür an Tür. Kennen Sie den?«

»Der gilt als der größte Schnorrer der ganzen Branche, der ist hemmungslos im Abzocken bei Hotels, Reiseveranstaltern und Schifffahrtsgesellschaften. Auch die Automobilbranche liebt ihn. Der hier an Bord? Für Kapitän und Kreuzfahrtdirektor muss das der reine Horror sein, Mann o Mann. Unser Törtelmann ist dagegen der reinste Waisenknabe.«

»Feiner Nachbar.«

»Da kann ich Ihnen nicht wiedersprechen.«

»Herr Michelsen hat mich zum Drink in der Mayfair Bar eingeladen, ganz generös, ganz Gentleman.«