Pater Brown – Priester und Detektiv - Gilbert Keith Chesterton - E-Book

Pater Brown – Priester und Detektiv E-Book

Gilbert Keith Chesterton

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Beschreibung

Der unvergessene, etwas andere Detektiv …

In den Geschichten um den einfühlsamen Priester und scharfsinnigen Ermittler Pater Brown vereinen sich humorvolle Romantik mit kniffligen Rätseln. Chesterton zeichnet ein lebendiges Bild einer Welt voller moralischer Fragen, in der Gerechtigkeit auf unerwartete Weise siegt.

Dieser erste Band beinhaltet zwölf der zeitlosen Kriminalfälle (u. A. »Der geheime Garten«, »Der Unsichtbare« und »Die Sünden des Prinzen Saradin«), die den Geist bis heute herausfordern.

Intelligenz, Moral und Humor – Krimis, die begeistern!

nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT

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Seitenzahl: 384

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown –

Priester und Detektiv

Band 1

Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown – Priester und Detektiv

Band 1

ISBN/EAN: 978-3-95870-739-9

2. Auflage

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes

wurden behutsam angepasst.

Covergestaltung: nexx verlag, 2025

www.nexx-verlag.de

Vorwort des Verlegers

Gilbert Keith Chesterton war Schriftsteller, Kritiker und Theologe, und seine Werke zeichnen sich durch einen humorvollen, manchmal surrealen Stil aus, der komplexe moralische und gesellschaftliche Fragen auf zugängliche Weise behandelt. Er war ein Meister des Wortspiels und der Ironie, und seine Erzählungen sind geprägt von einer einzigartigen Mischung aus Liebe zum Detail, tiefer Menschlichkeit und einer kritischen Haltung gegenüber gesellschaftlichen Konventionen.

Besonders berühmt sind seine Geschichten um den unermüdlichen und philosophisch versierten Detektiv Pater Brown. Dieser charismatische Geistliche, der in der kleinen englischen Stadt Kemerton lebt, ist mehr als nur ein brillanter Ermittler – er ist ein moralischer Kompass, der durch sein Wissen und sein Einfühlungsvermögen selbst scheinbar unlösbare Fälle löst. Pater Brown zeichnet sich durch seine tiefgründige Menschlichkeit, seinen Glauben und seine Fähigkeit aus, das Böse im Menschen zu erkennen, oft auf eine Weise, die ebenso humorvoll wie tiefgründig ist.

Die Pater Brown-Geschichten sind mehr als nur Kriminalfälle; sie laden den Leser ein, über das Gute, das Böse und die moralischen Fragen des Lebens nachzudenken. Sie verbinden anspruchsvolle Detektivarbeit mit einer warmherzigen Philosophie, und ihr zeitloser Charme macht sie zu Klassikern der englischen Literatur, die auch heute noch begeistert und inspiriert.

Noch eine kurze Anmerkung: Auch wenn die deutsche Übersetzung »Pater Brown« nicht korrekt ist (die Figur ist kein Ordenspriester, sondern Pfarrer einer Gemeinde), sind auch wir bei dieser gängigen Bezeichnung geblieben.

Und nun viel Vergnügen beim Lesen!

Joachim FeserVerleger

Das blaue Kreuz

Zwischen dem Silberband des Morgens und dem grünen, glitzernden Band der See legte das Dampfboot in Harwich an und ließ einen Schwarm Menschen entweichen, aus dem der Mann, dem wir folgen wollen, keineswegs herausstach – oder dies zu tun wünschte. Außer einem leichten Gegensatz zwischen der feiertäglichen Lebhaftigkeit seiner Kleidung und dem offiziellen Ernst seines Gesichtes war nichts Bemerkenswertes an ihm. Zu seiner Kleidung gehörte eine leichte, hellgraue Jacke, eine weiße Weste und ein Silberstrohhut mit blaugrauem Band. Sein mageres Gesicht, das der Kontrast zum Hut dunkel erscheinen ließ, endete in einen kurzen, schwarzen Spitzbart, der spanisch aussah und einer Halskrause, wie man sie zu Elisabeths Zeiten trug. Mit dem Ernst eines Müßiggängers rauchte er eine Zigarette. Nichts an ihm deutete an, dass die graue Jacke einen geladenen Revolver, die weiße Weste einen Polizeipass und der Strohhut einen der scharfsinnigsten Köpfe Europas bedeckte. Denn es war Monsieur Valentin, das Haupt der Pariser Polizei und die berühmteste Spürnase der Welt – und er befand sich auf dem Weg von Brüssel nach London, um die bedeutendste Verhaftung des Jahrhunderts vorzunehmen.

Flambeau war in England. Die Polizei dreier Länder hatte endlich die Spuren des großen Verbrechers von Gent nach Brüssel und von Brüssel nach Hoek van Holland [Anm.: seit 1914 ein Stadtbezirk von Rotterdam] verfolgt. Man mutmaßte, er würde die günstige Gelegenheit des Durcheinanders und des Andranges beim Eucharistischen Kongress, der damals in London tagte, ausnützen. Wahrscheinlich würde er als irgendeine Art niederer Geistlicher oder Kongress-Sekretär reisen, aber das konnte Valentin natürlich nicht sicher wissen – bei Flambeau war nichts sicher.

Es sind jetzt viele Jahre her, seit dieser Verbrecher, der die Welt in Angst hielt, plötzlich verschwand, und – wie man dies auch nach dem Tod Rolands sagte – eine große Ruhe auf Erden entstand. Doch in seinen besten Tagen (ich meine natürlich seinen schlimmsten) war Flambeau eine ebenso überragende und internationale Gestalt wie der Kaiser. Nahezu jeden Morgen berichteten die Blätter, dass er sich den Folgen eines außergewöhnlichen Verbrechens dadurch entzogen habe, dass er ein neues beging. Flambeau war ein Gascogner von riesigem Wuchs und wahrer Tollkühnheit, und man erzählte sich die wildesten Dinge von den Ausbrüchen seines athletischen Temperamentes, z. B. wie er den Untersuchungsrichter auf den Kopf stellte, um ihn zu Verstand zu bringen, oder wie er mit je einem Polizisten unterm Arm die Rue de Rivoli hinab rannte. Um ihm gerecht zu werden, muss jedoch gesagt werden, dass er seine ungewöhnliche Körperkraft selten in solch unblutigen, wenn auch seiner Würde wenig förderlichen Auftritten zur Anwendung brachte. Seine Verbrechen bestanden hauptsächlich in geistvollen, erfindungsreichen Räubereien in großem Stil.

Jeder seiner Diebstähle bildete nahezu eine neue Art von Vergehen und würde für sich genommen schon eine besondere Geschichte erzählen. Er war es, der die große Tiroler Molkerei-Gesellschaft in London ins Leben rief – ohne Molkerei, ohne Kühe, ohne Karren, ohne Milch, jedoch mit einigen tausend Abnehmern. Diese belieferte er einfach dadurch, dass er die Milchkannen, die vor anderer Leute Türen standen, vor die seiner Kunden stellte. Einmal soll er in der Stille der Nacht alle Hausnummern einer Straße übermalt haben, nur um einen Reisenden in eine Falle zu locken. Er hat einen tragbaren Briefkasten erfunden, den er in ruhigen Vorstädten an den Ecken anbrachte, um Postanweisungen abzufangen. Man lernte ihn auch als geschickten Akrobaten kennen: trotz seiner mächtigen Gestalt konnte er wie eine Heuschrecke springen und wie ein Affe in den Baumkronen herumklettern. Daher war sich der große Valentin, als er sich anschickte, Flambeau zu finden, vollkommen bewusst, dass, wenn er ihn gefunden haben würde, seine Abenteuer damit nicht beendet wären.

Doch wie sollte er ihn finden? Darüber waren Valentins Gedanken noch zu keinem Schluss gekommen.

Etwas gab es, das Flambeau bei all seiner Geschicklichkeit im Verkleiden nicht verbergen konnte, und das war seine außergewöhnliche Größe. Wenn Valentins flinkes Auge eine hochgewachsene Apfelverkäuferin, einen großen Soldaten oder auch nur eine etwas große Herzogin entdecken würde, er würde sie auf der Stelle verhaften. Doch während der ganzen Fahrt war ihm niemand untergekommen, der ein verkappter Flambeau hätte sein können.

Bezüglich der Leute auf dem Dampfboot hatte er sich bereits dessen vergewissert, und diejenigen, die in Harwich zugestiegen waren, beschränkten sich auf sechs Personen: ein kurzer Eisenbahnbeamter, der bis London mitfuhr, dann drei ziemlich kurze Grünzeug-Händler, die zwei Stationen später hinzugekommen waren, eine sehr kurze Witwe aus gutem Hause aus einer kleinen Stadt in Essex und ein sehr kurzer römisch-katholischer Priester, aus einem kleinen Dorf in Essex. Bei Letzterem musste er beinahe lachen. Der kleine Priester war so sehr das Muster eines Einfaltspinsels aus dem Osten: er hatte ein Gesicht so rund und nichtssagend wie ein Norfolk-Pudding, er hatte Augen so leer wie die Nordsee, und er trug einige braune Papierpakete, die beisammenzuhalten er außerstande war. Der Eucharistische Kongress hatte anscheinend viele derartige Geschöpfe, blind und hilflos wie ausgegrabene Maulwürfe, aus ihrer örtlichen Trägheit aufgescheucht. Valentin war ein Skeptiker von strengem französischen Stil und hatte daher keine Vorliebe für Priester. Aber Mitleid konnte er für sie aufbringen, und dieser eine würde bei jedem ein solches erwecken. Er trug einen großen, schäbigen Regenschirm, der ihm fortwährend zu Boden fiel. Er schien nicht zu wissen, welches das richtige Ende seiner Rückfahrtkarte war. Er erklärte mit der Einfalt eines Mondkalbes jedermann im Wagen, er müsse vorsichtig sein, denn er trage in einem seiner braunen Papierpakete etwas aus echtem Silber »mit blauen Steinen«. Seine seltsame Mischung von Essex-Plattheit und frommer Einfachheit belustigte den Franzosen, bis der Priester mit all seinen Paketen in Stratford ausstieg und wegen seines Regenschirms zurückkehrte. Als er dies tat, besaß Valentin sogar die Zuvorkommenheit, ihn zu warnen, das Silber nicht dadurch zu beschützen, dass er jedermann davon erzähle. Doch mit wem Valentin auch immer sprach, stets hielt er sein Auge dabei offen. Ständig blickte er nach jemanden aus, reich oder arm, männlich oder weiblich, der gut sechs Fuß groß wäre, denn Flambeau war noch um vier Zoll größer.

In der Liverpool Street stieg er aus, sich vollkommen sicher, dass er den Verbrecher bislang nicht übersehen hatte. Dann begab er sich zu Scotland Yard, um seine Papiere in Ordnung zu bringen und für den Bedarfsfall Hilfe zu vereinbaren. Schließlich zündete er sich eine neue Zigarette an und machte sich auf zu einem langen Bummel in den Straßen Londons.

Als er in dem Viertel jenseits Victoria umherwanderte, hielt er plötzlich an und blieb stehen. Der Platz war altmodisch und ruhig, sehr typisch für London, und von zufälliger Stille. Die großen flachen Häuser sahen auf einmal wohlhabend und unbewohnt und das Sträucher-Viereck in der Mitte so einsam wie ein grünes Inselchen im Stillen Ozean aus. Eine der vier Seiten ragte wie ein Podium über die anderen empor und die Linie dieser Seite wurde von einer von Londons wunderbaren Zufälligkeiten unterbrochen – einem Restaurant, das aussah, als wenn es sich von Soho hierher verlaufen hätte. Es war ein anziehendes Ding mit Zwergpflanzen in Töpfen und mit langen, gestreiften Stabjalousien in Zitronengelb und Weiß, lag eigentümlich hoch über der Straße, und in der in London üblichen Patchwork-Kunst verliefen Stufen von der Straße zum Eingang hinauf, fast wie eine Rettungsleiter zu einem Fenster im ersten-Stock. Valentin stand rauchend gegenüber den gelb-weißen Jalousien und betrachtete sie lange.

Das Unglaublichste an Wundern ist, dass sie geschehen: Wolken am Himmel ballen sich zur auffallenden Form eines menschlichen Auges zusammen, auf einem Weg ragt plötzlich mitten in der Landschaft ein Baum in der Form eines Fragezeichens hervor. Ich habe diese beiden Dinge selbst in den letzten Tagen gesehen. Nelson stirbt im Augenblick des Sieges, und ein Mann namens Williams ermordet zufällig einen Mann namens Williamson; es klingt wie eine Art Kindsmord. Kurz, es gibt im Leben geisterhafte Zusammentreffen, die Leuten, die nur mit dem Prosaischen rechnen, ewig entgehen werden. Weisheit sollte sich, wie es in Edgar Allan Poes Paradoxen so schön heißt, auf das Unvorhergesehene verlassen.

Aristide Valentin war Franzose von reinstem Wasser und die französische Intelligenz ist eine Intelligenz ganz besonderer Art. Er war keine »denkende Maschine«, denn dies ist eine sinnlose Redensart des modernen Fatalismus und Materialismus. Eine Maschine ist nur deshalb eine Maschine, weil sie eben nicht denkt. Er aber war ein denkender und gleichzeitig ein schlichter Mensch. All seine wunderbaren Erfolge, die wie Zauberei aussahen, hatte er durch angestrengte Logik errungen, durch klares und hausbacken-französisches Denken. Die Franzosen elektrisieren die Welt nicht durch Aufstellung von Widersinnigkeiten, sie elektrisieren sie durch Ausführung von Gemeinplätzen. Und das trieben sie sogar bis – zur französischen Revolution. Aber eben weil Valentin die Vernunft kannte, kannte er auch deren Grenzen. Nur ein Mensch, der nichts von Motoren versteht, spricht vom Fahren ohne Benzin; nur ein Mensch, der nichts von Vernunft versteht, spricht vom Vernünftigsein ohne starke unbestreitbare Grundsätze. Hier hatte er keine starken Grundsätze. Flambeau war nach Harwich entwischt, und wenn er überhaupt in London war, dann konnte er irgendetwas sein – angefangen von einem übergroßen Vagabunden in Wimbledon Common bis zu einem übergroßen Moderator im Hotel »Metropole«. In diesem nackten Zustand des Nichtwissens hatte Valentin seine eigene Methode.

In derlei Fällen rechnete er mit dem Unvorhergesehenen. Wenn er den Weg des Vernünftigen nicht verfolgen konnte, verfolgte er kalt und sorgfältig den Weg des Unvernünftigen. Anstatt die richtigen Orte aufzusuchen – Banken, Polizeiwachen, Sammelpunkte –, suchte er systematisch die unrichtigen Plätze auf, klopfte an jedes leere Haus, lief jede Sackgasse entlang, rannte jede mit Schutt versperrte Gasse hinab, bog in jede Kurve ein, die ihn unnütz vom Weg abbrachte. Er verteidigte dieses verrückte Verfahren ganz logisch. Er behauptete, wenn sich jemand nach einem bestimmten Muster richte, sei dies der schlimmste Weg, wenn man jedoch jedes Muster beiseiteließ, sei dies das allerbeste, denn dabei habe man eben den Vorteil, dass irgendetwas Auffälliges, das das Auge des Verfolgers auf sich lenkt, dasselbe sein kann, was das Auge des Verfolgten auf sich gelenkt haben mag. Irgendwo musste der Mensch anfangen, und es sei besser, es dort zu tun, wo ein anderer aufhören würde. Irgendetwas an dieser Treppe hinauf zum Eingang, etwas an der Einsamkeit und Seltsamkeit dieses Restaurants weckte die dem Geheimpolizisten eigene Vorliebe für das Romantische und ließ ihn den Entschluss fassen, aufs Geratewohl loszugehen. Und so stieg er die Treppe hinauf, ließ sich an einem Tisch neben dem Fenster nieder und verlangte eine Tasse schwarzen Kaffee.

Der halbe Morgen lag schon hinter ihm und er hatte noch nicht gefrühstückt. Der Tisch wies die unauffälligen Spuren anderer Frühstücke auf und erinnerte ihn an seinen Hunger, und während er seiner Bestellung noch ein Spiegelei hinzufügte, machte er sich nachdenklich daran, etwas weißen Zucker in seinen Kaffee zu schütten, wobei sich all seine Gedanken mit Flambeau beschäftigten. Er hatte nicht vergessen, wie dieser einmal mit Hilfe einer Nagelschere und ein anderes Mal mit Hilfe eines brennenden Hauses entkommen war. Einmal, weil er für einen unfrankierten Brief Strafporto zu bezahlen hatte und ein anderes Mal, indem er die Leute durch ein Teleskop nach einem Kometen schauen ließ, der die Welt zerstören konnte. Valentin hielt sein Detektivgehirn für ebenso gut wie das des Verbrechers, und er hatte recht, doch war er sich seines Nachteiles vollkommen bewusst. »Der schaffende Künstler ist der Verbrecher, der Detektiv ist nur der Kritiker,« sagte er zu sich mit saurem Lächeln, wobei er seine Kaffeetasse langsam zum Mund führte – und sie sehr schnell wieder absetzte. Er hatte Salz hineingetan.

Er blickte auf das Gefäß, woraus er das weiße Pulver genommen hatte. Es war zweifellos eine Zuckerdose, und so unverkennbar für Zucker bestimmt, wie eine Champagner-Flasche für Champagner. Er fragte sich, weshalb man Salz hineingetan hatte. Dann blickte er um sich, ob es noch weitere Gefäße gäbe, und ja, es gab zwei vollgefüllte Salzgefäße. Er kostete, es war Zucker darin. Dann blickte er interessiert im Restaurant umher, um zu sehen, ob noch irgendwelche anderen Spuren dieses sonderbaren künstlerischen Geschmackes zu finden seien, der Zucker in Salzgefäßen und Salz in Zuckerdosen verwahrte. Außer einem eigentümlichen Flecken an einer der weißtapezierten Wände, der von irgendeiner dunklen Flüssigkeit herrührte, schien der ganze Raum reinlich, freundlich und gewöhnlich. Er klingelte nach dem Kellner.

Als der Kellner, notdürftig gekämmt und, zu so früher Stunde etwas triefäugig, herbeigeeilt kam, ersuchte ihn der Detektiv, – dem der Sinn für die einfacheren Formen des Humors nicht abging – er möge den Zucker kosten und sehen, ob dieser dem guten Ruf seines Hotels entspreche. Das Ergebnis war, dass der Kellner plötzlich gähnte und aufwachte.

»Erlauben Sie sich diesen feinen Scherz mit Ihren Gästen jeden Morgen?« fragte Valentin. »Und bekommen Sie den Spaß nie satt, Salz und Zucker miteinander zu vertauschen?«

Als dem Kellner diese Ironie einzuleuchten begann, versicherte er stammelnd, dass sein Etablissement gewiss keine derartigen Absichten habe; es müsse ein sehr eigentümlicher Irrtum vorliegen. Er schaute die Zuckerdose genau an, dann das Salzgefäß, wobei sein Gesicht immer verwirrter wurde. Schließlich entschuldigte er sich in abgerissenen Worten und davonstürzend kehrte er nach ein paar Sekunden mit dem Besitzer zurück. Dieser untersuchte ebenfalls die Zuckerdose, dann das Salzgefäß und auch er blickte verwirrt.

Plötzlich schien dem Kellner die Sprache wiedergewonnen zu haben, so sehr überstürzten sich seine Worte.

»Ich glaube,« stotterte er emsig, »ich meine, es waren die zwei Geistlichen.«

»Was für zwei Geistliche?«

»Die zwei Geistlichen,« erklärte der Kellner, »die die Suppe an die Wand schmissen.«

»Suppe an die Wand schmissen?« wiederholte Valentin, der sich sicher war, dass es sich dabei um irgendein italienisches Sprichwort handeln müsse.

»Ja, ja,« versicherte der Kellner erregt und deutete auf den dunklen Flecken auf der weißen Tapete, »… dort drüben.«

Valentin schaute den Besitzer mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an, so dass er ihm nun mit einem ausführlichen Bericht zu Hilfe kam.

»Ja, Sir.« sagte er. »Es stimmt, wenn ich auch nicht glaube, dass es etwas mit dem Zucker und Salz zu tun hat. Zwei Geistliche kamen herein und aßen sehr früh einen Teller Suppe, kaum, dass wir die Türen aufgemacht hatten. Sie waren beide sehr ruhige, anständige Leute; der eine von ihnen zahlte die Rechnung und ging hinaus, der andere, der überhaupt eine langsamere Kutsche zu fahren schien, brauchte einige Minuten länger, um seine Sachen zusammen zu klauben. Aber schließlich ging auch er. Aber in dem Augenblick, in dem er auf die Straße hinaustrat, ergriff er bedächtig seine Suppentasse, die nur halb geleert war, und schwupps, warf er die Suppe an die Wand. Der Kellner und ich waren im Hinterzimmer, und so konnte ich nur noch hinausspringen, um den Flecken an der Wand und das leere Zimmer vor zu finden. Es ist kein arger Schaden, aber es war niederträchtig und dreist von ihm, und ich versuchte, den Mann auf der Straße einzuholen. Aber beide waren schon zu weit weg; ich bemerkte nur, dass sie um die nächste Ecke in die Carstairs Street einbogen.«

Der Geheimpolizist war sofort auf den Füßen, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand. Er hatte bereits entschieden, dass er in dem allgemeinen Dunkel seines Überlegens nur dem ersten merkwürdigen Fingerzeig, der irgendwohin wies, folgen würde – und dieser Fingerzeig war weiß Gott merkwürdig genug. Seine Rechnung bezahlend und die Glastüren hinter sich zuwerfend, bog er um die Ecke, in die Carstairs Street. Es war ein Glück, dass sein Auge selbst in solchen Augenblicken flink blieb. Etwas in einem gegenüberliegenden Laden zog an ihm vorüber wie ein Blitz; dennoch ging er zurück, um danach zu sehen. Der Laden war der eines gewöhnlichen Gemüse- und Obsthändlers, und eine Reihe von Waren mit Schildern mit Namen und Preisen waren im Freien aufgestellt. In den beiden am meisten in die Augen fallenden Auslagen befanden sich zwei Haufen, einer aus Orangen und der andere aus Nüssen. Auf dem Haufen Nüsse lag ein Stück Pappe, worauf mit grellem Stift geschrieben stand: »Beste Tanger Orangen, zwei Stück 1 Penny«. Auf den Orangen war die ebenso klare und genaue Beschreibung: »Feinste Brasil-Nüsse, 4 Pence das Pfund«. Monsieur Valentin blickte auf diese beiden Schilder, und es schien ihm, als hätte er diese äußerst feinsinnige Art von Witz schon einmal irgendwo angetroffen, und zwar erst vor kurzem. Er lenkte die Aufmerksamkeit des krebsroten Obsthändlers, der ziemlich verdrießlich die Straße auf und ab blickte, auf die Ungenauigkeit seiner Schilder. Der Obsthändler sagte nichts, sondern brachte nur unwirsch jedes Schild an den richtigen Platz. Elegant auf seinen Spazierstock gestützt fuhr Valentin fort, den Laden zu prüfen. Schließlich sagte er:

»Entschuldigen Sie, bitte, guter Mann, wenn ich mich in anscheinend fremde Dinge einmische, aber ich möchte Ihnen gerne eine Frage in experimenteller Psychologie und Ideen-Assoziation stellen.«

Der krebsrote Händler betrachtete ihn drohenden Blickes, doch fuhr dieser seinen Stock schwingend munter fort:

»Weshalb,« fragte er, »sind in einem Gemüseladen zwei Schilder falsch aufgestellt? Oder, falls ich mich nicht klar ausdrücken sollte, welches ist die geheimnisvolle Assoziation, welche den Gedanken an als Orangen bezeichnete Nüsse mit dem Gedanken an zwei Geistliche, einen langen und einen kurzen, in Verbindung bringt?«

Die Augen des Händlers traten wie bei einer Schnecke aus seinem Kopf hervor und es sah wirklich einen Augenblick so aus, als wolle er sich auf den Fremden stürzen. Endlich stieß er zornig hervor:

»Ich weiß nicht, was Sie das angeht, aber wenn Sie einer von ihren Freunden sind, können Sie ihnen in meinem Namen sagen, dass ich ihnen, ob Pfarrer oder nicht, ihre armseligen Schädel einschlagen werde, wenn sie nochmals meine Äpfel über den Haufen werfen.«

»Wie?« fragte der Geheimpolizist mit großer Anteilnahme, »Sie haben Ihnen die Äpfel über den Haufen geworfen?«

»Ja, einer von ihnen,« erwiderte der erhitzte Krämer. »hat sie über die ganze Straße verstreut. Ich hätte den Hanswurst erwischt, wenn ich nicht die Äpfel hätte auflesen müssen.«

»Welchen Weg haben die Pfarrer eingeschlagen?« fragte Valentin.

»Die zweite Straße dort links und dann über den Platz,« erwiderte der andere prompt.

»Danke,« empfahl sich Valentin und verschwand. Auf der anderen Seite des zweiten Häuservierecks fand er einen Polizisten und sprach ihn an.

»Schutzmann, haben Sie zwei Geistliche in Schaufelhüten [Anm.: typischer flacher Hut anglikanischer Geistlicher des 18. und späten 19. Jahrhunderts] gesehen?«

Der Polizist begann heftig zu kichern.

»Habe ich, Sir, und wenn Sie es wissen wollen, einer von ihnen war betrunken. Er stand mitten auf der Straße und …«

»Welchen Weg hat er eingeschlagen?« schnauzte ihn Valentin an.

»Sie nahmen einen der gelben Omnibusse dort drüben, die nach Hampstead fahren.« antwortete der Mann.

Valentin zeigte seine Dienstmarke vor und sagte hastig:

»Rufen Sie zwei von Ihren Leuten, sie sollen mit mir kommen, um eine Verfolgung aufnehmen,« und er überquerte die Straße mit solch ansteckender Energie, dass sich der schwerfällige Polizist zu schnellem Gehorchen genötigt sah. In anderthalb Minuten war der französische Detektiv auf dem gegenüberliegenden Gehsteig von einem Inspektor und einem Wachmann in Zivil eingeholt.

»Well, Sir,« begann ersterer mit lächelnder Wichtigtuerei, »womit kann ich …«

Valentin deutete plötzlich mit dem Knopf seines Stockes. »Das werde ich Ihnen auf dem Oberdeck dieses Omnibusses sagen,« bemerkte er und wand sich durch das Gewirr des Straßenverkehrs. Als sich alle drei keuchend auf die Dachsitze des gelben Fahrzeuges setzten, meinte der Inspektor:

»Mit einem Taxi kämen wir viermal so schnell voran.«

»Richtig,« antwortete der Anführer ruhig, »wenn wir denn eine Ahnung hätten, wohin wir wollen.«

»Well, wohin wollen Sie denn?« fragte jener ihn anstarrend.

Valentin, die Stirn runzelnd, rauchte schweigend einige Sekunden, dann nahm er seine Zigarette in die Hand und sagte:

»Wenn Sie wissen, was ein Mensch tut, laufen Sie vor ihm her; wenn Sie aber wissen wollen, was er tut, halten Sie sich hinter ihm. Schlendern Sie, wenn er schlendert, bleiben Sie stehen, wenn er stehenbleibt, schreiten Sie voran so langsam, wie er es tut, dann können Sie sehen, was er sah, und können handeln, wie er gehandelt hat. Alles, was wir tun können, ist, unsere Augen nach etwas Verdächtigem offen zu halten.«

»Welche Art Verdächtiges meinen Sie?« fragte der Inspektor.

»Jede Art Verdächtiges,« antwortete Valentin und verfiel in hartnäckiges Schweigen.

Der gelbe Omnibus kroch die nach Norden hinausführenden Straßen entlang, was endlose Stunden zu dauern schien. Der große Detektiv wollte sich nicht weiter erklären und seine Gehilfen empfanden möglicherweise einen stillen und wachsenden Zweifel hinsichtlich seines Vorhabens. Vielleicht fühlten sie auch ein stilles und wachsendes Verlangen nach ihrem Lunch, denn die Stunden vergingen und die Mittagszeit war schon lange verstrichen, doch die langen Straßen der Nord-Londoner Vorstädte schienen sich auseinander zu schieben wie ein höllisches Teleskop. Es war eine jener Fahrten, bei denen der Mensch unaufhörlich das Gefühl hat, dass er jetzt endlich am Ende des Universums angekommen sein müsse, um dann festzustellen, dass er erst am Anfang von Tufnell Park ist. London verlor sich in schmutzigen Schenken und ödem Gestrüpp um dann wieder unerklärlich zu glänzenden Hauptstraßen und geräuschvollen Hotels zu werden. Es war, als wenn man durch dreizehn einzelne Städte fuhr, von denen eine an die andere stieß. Doch obwohl sich die Winterdämmerung bereits über die vor ihnen liegende Straße senkte, saß der Pariser Detektiv immer noch schweigsam und wachsam und musterte die Stirnseiten der Straßen, die zu beiden Seiten vorüberglitten. Als sie Camden Town hinter sich gelassen hatten, waren die Polizisten beinahe eingeschlafen, wenigstens machten sie einen Satz, als Valentin sich aufrichtete, beiden auf die Schulter klopfte und dem Fahrer des Omnibusses zurief, anzuhalten.

Sie taumelten die Treppe hinab auf die Straße, ohne zu wissen, weshalb sie ausgestiegen waren. Als sie sich um Erleuchtung suchend umblickten, sahen sie Valentin triumphierend mit dem Finger auf ein Fenster auf der linken Seite der Straße zeigen. Ein großes Fenster bildete einen Teil der langen Fassade eines glänzenden und palastartigen Gasthauses, eines, das für das bessere Publikum vorgesehenen war und über dem das Wort »Restaurant« prangte. Dieses Fenster war, wie alle anderen an der Stirnseite des Hotels, aus mit Mustern versehenem Milchglas; in seiner Mitte jedoch befand sich ein großer Sprung mit einem schwarzen Stern darin.

»Endlich, unsere Spur!« schrie Valentin, seinen Stock schwingend, »Das zerbrochene Fenster.«

»Welches Fenster? Welche Spur?« fragte der Wachmann in Zivil »Und wo ist der Beweis, dass dies irgendetwas mit unseren beiden Pfarrern zu tun hat?«

Valentin zerbrach beinahe seinen Bambusstock vor Zorn.

»Beweis!« schrie er. »Guter Gott, dieser Mann sucht nach einem Beweis! Ja nun, natürlich, die Chancen sind zwanzig zu eins, dass es nichts mit den Pfarrern zu tun hat. Aber was können wir sonst tun? Nun, wir können entweder einer Möglichkeit folgen oder nachhause gehen und uns zu Bett legen!«

Gefolgt von seinen beiden Gefährten bahnte er sich einen Weg in das Restaurant und bald saßen sie zu einem verspäteten Lunch an einem kleinen Tisch beisammen und betrachteten den Stern im zertrümmerten Glas von innen. Nicht, dass er von hier aus besonders aufschlussreich gewesen wäre!

»Jemand hat Ihr Fenster zerbrochen, wie ich sehe,« sagte Valentin zum Kellner, als er die Rechnung bezahlte.

»Ja, Sir,« antwortete der Kellner, wobei er sich geschäftig über das Wechselgeld beugte, dem Valentin schweigend ein erkleckliches Trinkgeld hinzugefügt hatte. Der Kellner richtete sich mit leichter, aber unverkennbarer Lebhaftigkeit auf. »Ja, Sir, sehr spaßiges Ding das, Sir.«

»Erzählen Sie uns davon,« bat der Detektiv mit sorgloser Neugierde.

»Well, zwei Gäste in Schwarz kamen herein,« begann der Kellner, »zwei von jenen fremden Pfarrern, wie sie hier jetzt herumlaufen. Sie haben in aller Ruhe eine billige Mahlzeit genommen und einer von ihnen bezahlte dafür und ging hinaus. Der andere war gerade dabei, sich anzuschließen, als ich nochmals auf mein Wechselgeld schaute und sah, dass er mir mehr als zweimal zu viel bezahlt hatte. ›Hallo,‹ rief ich dem Burschen zu, der schon fast draußen war, ›Sie haben zu viel bezahlt!‹ ›Oh,‹ sagt er sehr kühl, ›haben wir das?‹ Ja, sagte ich und griff nach der Rechnung, um sie ihm zu zeigen. Well, da war ich aber schnell entwaffnet.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der andere.

»Well, ich hätte einen Eid auf sieben Bibeln geschworen, dass ich vier Schillinge auf die Rechnung gesetzt hatte. Aber jetzt sah ich, dass ich vierzehn Schillinge geschrieben hatte, so deutlich wie gemalt.«

»Nun?« schrie Valentin, sich langsam, aber mit brennenden Augen entfernend. »Und dann?«

»Der Pfarrer an der Tür sagte ganz heiter: ›Bedauere, wenn ich Ihre Rechnung etwas durcheinanderbringe, aber ich will doch auch für das Fenster bezahlen.‹ ›Welches Fenster?‹ fragte ich. ›Das, welches ich einschlagen werde,‹ sagte er und zerschlug die Scheibe dort mit seinem Regenschirm.«

Alle drei Frager stießen einen Ausruf hervor und der Inspektor meinte mit stockendem Atem:

»Sind wir hinter ausgebrochenen Verrückten her?«

Der Kellner fuhr mit einem gewissen Wohlgefallen an der lächerlichen Geschichte fort:

»Ich war für einen Augenblick so verdutzt, dass ich zu nichts fähig war. Der Mann ging zur Tür hinaus und erreichte seinen Freund gerade an der Ecke. Dann gingen sie so schnell die Bullock Street hinauf, dass ich sie nicht einholen konnte.«

»Bullock Street,« rief der Detektiv und schoss unverzüglich diese Straße hinab, so schnell wie das sonderbare Paar, das er verfolgte.

Ihre Verfolgung führte sie jetzt zwischen kahlen Mauern hindurch, durch Tunnel und schlechtbeleuchtete Straßen. Straßen, die überall von den kahlen Rückwänden von Häusern begrenzt zu sein schienen. Die Dämmerung nahm zu und es war für die Londoner Polizisten nicht leicht, festzustellen, in welche Richtung sie gingen. Der Inspektor jedoch war ziemlich sicher, dass sie vermutlich auf einen Bereich der Hampstead-Heide stoßen würden. Unerwartet unterbrach ein hervortretendes, gasbeleuchtetes Fenster wie eine Blendlaterne die Dämmerung und Valentin blieb vor einem kleinen zierlichen Zuckerbäcker-Laden stehen. Nach einer Sekunde des Zögerns trat er ein. Inmitten der bunten Farben der Konditorei seinen vollen Ernst bewahrend, kaufte er mit einer gewissen Sorgfalt dreizehn Schokolade-Zigarren. Offensichtlich bereitete er eine Anrede vor, doch bedurfte es derselben nicht.

Eine steife ältliche Jungfer hatte ganz automatisch prüfend seine elegante Erscheinung betrachtet; als sie jedoch die blaue Uniform des Inspektors in der Tür sah, schienen ihre Augen aufzuwachen:

»Oh,« sagte sie, »wenn Sie wegen des Paketes gekommen sind, das habe ich schon verschickt.«

»Paket?« wiederholte Valentin, und nun war es an ihm, fragend zu schauen.

»Ich meine das Paket, das der Herr hiergelassen hat – der Geistliche.«

»Um Himmels willen!« rief Valentin und beugte sich vorwärts, zum ersten Mal mit echter Begierde auf dem Gesicht. »Um Himmels willen, sagen Sie uns genau, was passiert ist!«

»Nun,« erzählte die Frau etwas unsicher, »die Geistlichen kamen vor einer halben Stunde herein und kauften etwas Pfefferminz und plauderten ein wenig, dann gingen sie weg, Richtung Heide. Eine Sekunde später kam der eine von ihnen zurück und sagte: ›Habe ich ein Paket liegenlassen?‹ Well, ich sah überall nach und konnte keines finden. Dann sagte er: ›Es macht nichts, aber wenn es noch zum Vorschein kommen sollte, schicken Sie es bitte an diese Adresse‹ und er hinterließ mir die Adresse und einen Schilling für meine Mühe. Und tatsächlich, obwohl ich sicher war, überall nachgesehen zu haben, fand ich doch ein Paket aus braunem Papier, und so schickte ich es dorthin, wo er gesagt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an die Adresse, es war irgendwo in Westminster. Aber nachdem es so wichtig zu sein schien, dachte ich, vielleicht sei die Polizei deshalb gekommen.«

»Ist sie auch,« sagte Valentin kurz. »Ist die Hampstead-Heide weit von hier?«

»Geradeaus fünfzehn Minuten.« erwiderte die Frau.

Valentin sprang zum Laden hinaus und begann zu laufen und die anderen Polizisten folgten ihm in widerwilligem Trab.

Die Straße, durch die sie kamen, war so eng und in Schatten gehüllt, dass sie – als sie unerwartet unter den weiten Himmel hinaus ins Freie kamen – überrascht waren, den Abend noch so hell und klar vorzufinden. Eine vollendete Kuppel aus Pfauengrün senkte sich in Gold zwischen den schwärzlichen Bäumen und den dunkelvioletten Farnen hernieder. Die glühendgrüne Färbung war gerade tief genug, um einen oder zwei Sterne wie Kristallpunkte hervorzuheben. Alles, was vom Tageslicht übriggeblieben war, lag in einem goldenen Schimmer über dem Rand von Hampstead und jener volkstümlichen Mulde, die den Namen »Hampstead Heath« trägt. Die Sonntagsausflügler, die in dieser Gegend umherschweifen, hatten sich noch nicht ganz verlaufen; ungezwungen saßen einige Paare auf Bänken und hier und da kreischte in der Ferne auf einer der Schaukeln ein Mädchen. Rings um die erhabene Niedrigkeit des Menschen vertiefte und erhöhte sich die Pracht des Himmels und auf dem Abhang stehend und über das Tal hinwegblickend erspähte Valentin, was er suchte.

Unter den dunklen und sich verlierenden Menschen in der Ferne waren zwei besonders schwarz, zwei Gestalten in geistlicher Kleidung. Obwohl sie so klein schienen wie Insekten, konnte Valentin doch sehen, dass die eine viel kleiner als die andere war. Obwohl die andere die Haltung eines Etwas Studierenden und ein unauffälliges Benehmen zeigte, konnte er sehen, dass der Mann gut sechs Fuß groß war. Valentin presste die Zähne aufeinander und rannte, ungeduldig seinen Stock schwingend, weiter, während sich so die Entfernung erheblich verringert hatte und die beiden schwarzen Gestalten wie in einem umfangreichen Mikroskop an Größe zunahmen, hatte er etwas entdeckt, was ihn überraschte und was er dennoch irgendwie erwartet hatte. Wer immer der lange Priester sein mochte, bezüglich der Identität des kürzeren konnte kein Zweifel bestehen. Es war sein Freund aus dem Harwich-Zug, der untersetzte kleine katholische Pfarrer aus Essex, den er wegen seines braunen Papierpaketes gewarnt hatte.

Soweit also fügte sich alles ganz schlüssig zusammen. Valentin hatte durch seine Erkundigungen am Morgen erfahren, dass ein gewisser Pater Brown aus Essex ein silbernes Kreuz mit Saphiren, eine Reliquie von hohem Wert, bei sich hatte, um es einigen der anderen Geistlichen auf dem Kongress zu zeigen. Dies war unzweifelhaft das »Silber mit blauen Steinen«; und Pater Brown war zweifellos der kleine Grünschnabel aus dem Zug. Nun lag nichts Erstaunliches in der Tatsache, dass was Valentin herausgefunden hatte auch Flambeau herausfinden konnte. Es lag auch nichts Erstaunliches in der Tatsache, dass, wenn Flambeau von einem Saphirkreuz hörte, er es zu stehlen versuchen würde; das war vielmehr das Natürlichste von allen natürlichen Dingen. Und ebenso wenig lag etwas Erstaunliches in der Tatsache, dass Flambeau mit so einem einfältigen Schaf, wie es der Mann mit seinem Regenschirm und den Paketen war, seine eigenen Wege ging. Gehörte dieser doch zu jener Sorte, dass ihn der Nächstbeste an einem Bindfaden bis zum Nordpol schleppen könnte. Es lag also nichts Erstaunliches darin, dass ihn ein Schauspieler wie Flambeau in der Verkleidung eines Priesters zur Hampstead-Heide schleppen konnte. Soweit schien das Verbrechen klar, und während der Detektiv den Priester ob seiner Hilflosigkeit bemitleidete, empfand er so etwas wie Verachtung für Flambeau, dass dieser sich dazu herließ, sich ein so leicht zu täuschendes Opfer auszusuchen. Doch als Valentin alles überdachte, was sich inzwischen ereignet hatte, all das, was ihn zu seinem Triumph geführt hatte, spannte er sein Gehirn aufs äußerste an, um wenigstens ein ganz klein wenig Sinn oder Verstand zu finden. Was hatte es, wenn jemand einem Priester aus Essex ein Silberkreuz stahl, damit zu tun, dass man Suppe auf die Papiertapete an der Wand schüttete? Oder damit, dass man Nüsse Orangen nannte, oder Fenster zuerst bezahlte und sie dann einwarf? Gewiss, er war am Ende seiner Jagd angekommen, aber das Mittelstück hatte er verfehlt. Wenn er sich einmal täuschte (was selten vorkam), hatte er gewöhnlich den roten Faden erhascht, aber nichtsdestoweniger den Verbrecher verfehlt. Hier aber hatte er den Verbrecher erwischt, konnte aber den roten Faden nicht finden.

Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den mächtigen, grünen Umriss des Hügels. Sie waren sichtlich in ein Gespräch vertieft und möglicherweise achteten sie gar nicht darauf, wohin sie gingen, schritten aber auf die verwilderten und einsamen Höhen der Heide zu. Als sie näherkamen, musste Valentin sich zusammenkauern wie ein Indianer, sich hinter Baumgruppen verstecken und sogar lang ausgestreckt im tiefen Gras kriechen. Mittels dieser Täuschungen kamen die Jäger ihrem Wild nahe genug, um das Gemurmel ihrer Unterhaltung zu hören, doch ließ sich nichts verstehen als das Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und beinahe kindlichen Stimme wiederholt wurde. Einmal hinter einem steilen Abhang verloren die Verfolger die beiden Gestalten, denen sie folgten. Zehn angstvolle Minuten hindurch fanden sie die Spur nicht wieder und dann führte sie um den Vorsprung eines großen, kuppelartigen Hügels, von dem aus man eine Amphitheater-gleiche Sonnenuntergang-Szenerie überblickte. Unter einem Baum auf diesem beherrschenden, jedoch einsamen Platz stand eine alte, baufällige Bank und auf dieser Bank saßen die zwei Priester immer noch in ernstem Gespräch. Das prächtige Grün und Gold hing noch am dunklen Horizont, aber die Kuppel darüber ging langsam aus Pfauengrün in Pfauenblau über und die Sterne traten mehr und mehr wie Diamanten hervor. Es gelang Valentin, sich hinter den großen astreichen Baum zu schleichen, und völlig geräuschlos dort stehend verstand er zum ersten Mal die Worte der sonderbaren Priester.

Ein schlimmer Zweifel erfasste ihn, nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte. Vielleicht war die Tatsache, dass er zwei englische Polizisten in die Einöde der nächtlichen Heide zu einer Verfolgungsjagd mitgeschleppt hatte, nicht vernünftiger, als wollte man Feigen auf Disteln suchen. Denn die zwei Priester sprachen genau wie zwei Priester, fromm, gelehrt und gelassen über die größten Rätsel der Theologie. Der kleine Priester aus Essex, mit seinem runden Gesicht, zu den heller werdenden Sternen gewendet, sprach einfacher. Der andere hingegen sprach mit gebeugtem Kopf, als wäre er nicht einmal wert, zu den Sternen aufzublicken. Aber man hätte sich keine unschuldigere geistliche Unterhaltung denken können, weder in einem weißen italienischen Kloster noch in einer schwarzen spanischen Kathedrale.

Das erste, was er auffing, war der Schluss eines von Pater Browns Sätzen »... was man im Mittelalter wirklich unter den ›unbestechlichen Himmeln‹ verstand«.

Der größere Priester nickte mit dem gebeugten Kopf und sagte:

»Ah, ja, diese modernen Ungläubigen appellieren an ihre Vernunft, aber wer kann all diese Millionen von Welten betrachten, ohne das Gefühl zu haben, dass es sehr gut noch wunderbarere Welten über uns geben könnte, in denen die Vernunft etwas überaus Unvernünftiges ist?«

»Nein,« entgegnete der andere Priester, »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, im verlassenen Randgebiet der Dinge. Ich weiß, man wirft der Kirche oft vor, sie erniedrige die Vernunft, aber genau das Gegenteil trifft zu. Alleine die Kirche erhebt die Vernunft wirklich auf ihren Gipfel. Alleine die Kirche hält daran fest, dass Gott selbst an die Vernunft gebunden ist.«

Der andere Priester erhob sein strenges Gesicht zum flimmernden Himmel und meinte:

»Und dennoch, wer weiß, ob nicht in diesem unendlichen Universum …?«

»Nur physisch unendlich,« erwiderte der kleine Priester, sich rasch zur Seite wendend, »nicht unendlich in dem Sinne, dass es sich den Gesetzen der Wahrheit entziehen würde.«

Valentin kaute hinter seinem Baum in stummer Wut an seinen Fingernägeln. In seinen Ohren erklang schon das Gelächter der englischen Polizisten, die er auf eine herbeifantasierte Vermutung hin soweit mitgeschleppt hatte, nur um dem metaphysischen Geplauder zweier sanfter, alter Geistlichen zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die ebenso überlegte Antwort des großen Priesters, und als er wieder hinhörte, war es wieder Pater Brown, der sprach:

»Vernunft und Gerechtigkeit umfassen die fernsten und einsamsten Steine. Blicken Sie auf diese Steine. Sehen sie nicht aus, als wäre jeder ein Diamant oder Saphir? Gut, Sie können sich jede tolle Botanik oder Geologie, die Sie wollen, vorstellen. Denken Sie an Wälder aus Diamant mit Blättern aus Brillanten. Denken Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger, riesiger Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, dass all diese wahnsinnige Astronomie auch nur den kleinsten Unterschied für die Vernunft und Gerechtigkeit unseres Tuns ausmachen würde. Auf Ebenen aus Opal und unter aus Perlen geschnittenen Klippen würden sie immer noch eine Warntafel finden: Du sollst nicht stehlen.«

Valentin war eben im Begriff, sich aus seiner steifen und kauernden Lage zu erheben und so leise wie möglich wegzuschleichen, verärgert über diese eine große Torheit seines Lebens. Aber etwas in dem Schweigen des großen Priesters ließ ihn noch warten, bis dieser sprach. Und als er endlich sprach, sagte er einfach, den Kopf gebeugt und die Hände auf den Knien:

»Well, ich glaube nach wie vor, dass andere Welten vielleicht noch über unsere Vernunft hinausragen. Das Geheimnis des Himmels ist unergründlich und ich für mein Teil kann nur mein Haupt beugen.«

Dann, immer noch mit gesenkter Stirn und ohne im geringsten seine Haltung oder Stimme zu verändern, fügte er hinzu:

»Geben Sie mir einfach Ihr Saphirkreuz herüber, ja? Wir sind hier ganz alleine und ich könnte Sie niederschlagen wie eine Strohpuppe.«

Die völlig unveränderte Stimme und Haltung verliehen der unerwarteten Wendung des Gespräches etwas eigenartig Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie drehte nur den Kopf etwas. Er wendete noch immer sein etwas albernes Gesicht den Sternen zu. Vielleicht hatte er das Gesagte nicht begriffen, oder vielleicht hatte er es begriffen und war nun starr vor Schrecken.

»Ja,« sagte der große Priester mit derselben leisen Stimme und immer noch derselben Haltung, »ja, ich bin Flambeau.« Dann nach einer Pause fügte er hinzu: »Nun, wollen Sie mir das Kreuz herübergeben?«

»Nein,« erwiderte der andere und das Wort hatte einen eigenartigen Klang. Flambeau ließ plötzlich seine ganze priesterliche Maske fallen. Der Räuber lehnte sich auf seinem Sitz zurück und lachte leise, aber lange.

»Nein,« rief er, »Sie wollen es mir nicht geben, Sie kleiner zölibatärer Einfaltspinsel! Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie es mir nicht geben werden? Weil ich es schon in meiner Brusttasche habe.«

Der kleine Mann aus Essex wandte im Dämmerlicht sein wie es schien verdutztes Gesicht und meinte mit furchtsamer Neugierde:

»Sind – sind Sie sicher?«

Flambeau krähte vor Vergnügen.

»Wirklich, Sie sind so gut wie eine Dreiakter-Komödie,« rief er aus. »Ja, du Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich hatte die Idee, von dem Paket ein Duplikat zu machen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat und ich die Juwelen. Ein alter Trick, Pater Brown. ein sehr alter Trick.«

»Ja,« sagte Pater Brown und fuhr sich immer noch mit derselben eigentümlichen Weise mit der Hand durchs Haar.

»Ja, ich habe davon gehört.«

Der Verbrecher beugte sich mit einem plötzlich erwachten Interesse zu dem kleinen Landgeistlichen hinüber.

»Sie haben davon gehört?« fragte er. »Wo haben Sie davon gehört?«

»Well, ich darf Ihnen natürlich seinen Namen nicht nennen,« sagte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, Sie verstehen. Er hatte mit Erfolg an die zwanzig Jahre allein von Duplikaten brauner Papierpakete gelebt. Und als ich anfing, Verdacht zu schöpfen, dachte ich daran, wie es der arme Bursche gemacht hatte, und machte es ihm nach.«

»… begannen Verdacht zu schöpfen?« wiederholte der Geächtete mit vermehrter Spannung. »Hatten Sie wirklich die Grütze, Verdacht zu schöpfen, nur, weil ich Sie in diesen verlassenen Teil der Heide geführt habe?«

»Nein, nein,« sagte Brown in entschuldigendem Ton. »Sie kamen mir schon verdächtig vor, als ich Sie zum ersten Mal sah. Es ist jene kleine Anschwellung oben am Ärmel, wo ihr das Stachel-Armband tragt.«

»Wie, beim Tartarus,« schrie Flambeau, »haben Sie von dem Stachel-Armband gehört?«

»Oh, unsere Pfarrkinder, Sie verstehen,« sagte Pater Brown, seine Augenbrauen hochziehend. »Als ich Pfarrer in Hartlepool war, hatte ich drei von ihnen mit Stachel-Armbändern. Und da ich Sie somit von Anfang an in Verdacht hatte, sehen Sie, da sorgte ich dafür, dass das Kreuz auf alle Fälle in Sicherheit war. Unglücklicherweise habe ich Sie beobachtet, ja. Und so sah ich Sie schließlich die Pakete vertauschen. Dann, Sie verstehen, habe ich sie wieder zurückgetauscht. Und dann ließ ich das richtige zurück.«

»… ließen Sie das richtige zurück?« wiederholte Flambeau, und zum ersten Mal war ein anderer Ton in seiner Stimme außer dem des Triumphes.

»Well, ich habe das so gemacht:« sagte der kleine Priester in derselben ungekünstelten Weise. »Ich ging zu dem Zuckerbäcker-Laden zurück und fragte, ob ich nicht ein Paket liegen gelassen hätte, und gab eine Adresse an für den Fall, dass es gefunden würde. Well, ich hatte keines liegen gelassen, tat das aber, als ich wegging. Und anstatt mit dem wertvollen Paket hinter mir herzulaufen, haben sie es direkt an einen meiner Freunde in Westminster geschickt.« Dann fügte er etwas traurig hinzu: »Ich habe das auch von einem armen Burschen in Hartlepool gelernt. Er pflegte das mit Handtaschen zu tun, die er auf den Bahnhöfen stahl, aber er ist jetzt in einem Kloster. Nun, man erfährt das eben so,« fügte er hinzu, wobei er sich mit in einer Art verzweifelten Sichentschuldigens den Kopf rieb. »Wir können nichts dafür, wir sind nun einmal Priester. Die Leute kommen und sagen uns diese Dinge.«

Flambeau zog ein Paket mit braunem Packpapier aus seiner Tasche und riss es auf. Es war nichts als Papier und einige Bleistücke darin. Mit einer raumgreifenden Bewegung sprang er auf die Füße und schrie:

»Das glaube ich nicht! Ich glaube nicht, dass ein Bauerntölpel wie Sie so etwas zustande bringt. Ich glaube, Sie tragen das Kreuz noch bei sich – und wenn Sie es nicht herausgeben – nun, wir sind hier alleine und ich werde es mir mit Gewalt nehmen!«

»Nein,« sagte Pater Brown einfach und stand ebenfalls auf. »Sie werden es sich nicht mit Gewalt nehmen. Erstens weil ich es wirklich nicht bei mir habe, und zweitens, weil wir nicht alleine sind.«

Flambeau stockte in seiner Vorwärtsbewegung.

»Hinter diesem Baum,« sagte Pater Brown darauf deutend, »stehen zwei starke Polizisten und der bedeutendste lebende Geheimpolizist. Wie die hierherkommen, fragen Sie? Nun, ich brachte sie natürlich hierher! Wie ich das gemacht habe? Gut, ich will es Ihnen sagen, wenn Sie es wissen wollen! Mein Gott, wir müssen tausenderlei solcher Dinge wissen, wenn wir mit Verbrechern arbeiten! Also, ich war mir nicht sicher, ob Sie ein Dieb seien, und es ginge natürlich nicht an, einen Skandal gegen jemanden aus dem Klerus zu machen. Deshalb habe ich Sie geprüft, um zu sehen, ob irgendetwas Sie verraten würde. Üblicherweise macht ein Mensch eine Szene, wenn er Salz in seinem Kaffee findet. Wenn er es nicht tut, hat er einen Grund, sich ruhig zu verhalten: er will nicht auffallen. Ich tauschte das Salz und den Zucker aus und Sie blieben still. Gewöhnlich erhebt ein Mensch Einwendungen, wenn seine Rechnung viel zu hoch ist. Wenn er sie dennoch bezahlt, hat er einen Grund, unbeachtet bleiben zu wollen. Ich änderte die Rechnung und Sie bezahlten sie.«

Man würde nun erwarten, dass sich Flambeau wie ein Tiger auf den Pater stürze, aber er wurde wie durch einen Zauber zurückgehalten, seine ungeheure Neugierde betäubte ihn.

»Well,« fuhr Pater Brown mit schwerfälliger Deutlichkeit fort, »da Sie selbst partout keine Spur für die Polizei hinterlassen wollten, musste das natürlich jemand anderer übernehmen. Überall wo wir hinkamen, sorgte ich dafür, dass man mindestens für den Rest des Tages von uns reden würde. Ich habe nicht viel Schaden angerichtet, einen Flecken an der Wand, verschüttete Äpfel, ein zerbrochenes Fenster. Und ich brachte das Kreuz in Sicherheit, es ist jetzt in Westminster. Ich wundere mich einigermaßen, dass Sie es nicht mit der ›Eselspfeife‹ aufhielten.«

»Womit?« fragte Flambeau.

»Es freut mich, dass Sie nie davon gehört haben.« sagte der Priester. »Es ist eine üble Sache. Ich bin sicher, Sie sind dafür ein viel zu guter Mensch. Ich hätte es nicht einmal mit den ›Spots‹ mehr aufhalten können; ich bin nicht stark genug auf den Beinen.«

»Wovon in aller Welt sprechen Sie?« fragte der andere.

»Nun, Sie scheinen nicht zu wissen, was man unter den Spots versteht,« sagte Pater Brown angenehm überrascht. »Sie können doch nicht so tief gesunken sein.«

»Aber woher um Himmels willen wissen Sie denn von all diesen schrecklichen Dingen?« schrie Flambeau.

Der Schatten eines Lächelns huschte über das runde, einfache Gesicht seines geistlichen Gegenübers.

»Oh, weil ich ein zölibatärer Einfaltspinsel bin, vermute ich,« erwiderte er. »Ist es Ihnen niemals eingefallen, dass ein Mensch, der so gut wie nichts tut als anderer Leute Sünden anzuhören, in menschlicher Schlechtigkeit wahrscheinlich nicht ganz unerfahren ist? Übrigens, um die Wahrheit zu gestehen, eine andere Seite meines Berufes gab mir auch die Sicherheit, dass Sie kein Priester sind.«

»Was?« fragte der Dieb, beinahe starr vor Staunen.

»Sie griffen die Vernunft an.« sagte Pater Brown. »Das tut kein Theologe.«

Und eben als er sich zur Seite drehte, um sein Eigentum zusammenzuraffen, kamen die drei Polizisten unter den dunklen Bäumen hervor. Flambeau war Künstler und Sportsmann. Er trat einen Schritt zurück und machte vor Valentin eine tiefe Verbeugung.

»Nicht vor mir, mon ami,« wehrte Valentin mit aller Klarheit ab, »verbeugen wir uns beide vor unserem Meister.«

Und sie standen einen Augenblick unbedeckten Hauptes da, während der kleine Priester aus Essex nach seinem Regenschirm suchte.

Der geheimnisvolle Garten

Aristide Valentin, Chef der Pariser Polizei, hatte sich zu seinem Diner etwas verspätet und einige seiner Gäste waren schon vor ihm eingetroffen. Sie wurden von seinem treuen Diener Iwan, dem alten Mann mit der Narbe und einem Gesicht, das beinahe ebenso grau war wie sein Schnurrbart, in der Vorhalle empfangen – einer mit Waffen behängten Vorhalle.