Patientin unter schwerem Verdacht - Britta Winckler - E-Book

Patientin unter schwerem Verdacht E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Das anhaltende Klingeln beendete die letzte Unterrichtsstunde dieser Woche in der Schule von Auefelden. Markus Hollmann, der bei den Schülern und Schülerinnen ebenso wie bei den Eltern der Kinder sehr beliebte Lehrer, atmete auf. Die vergangenen drei Tage waren doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, daß ihm das Unterrichten Schwierigkeiten bereitet hätte, nein, aber seit eben diesen drei Tagen hatte er die doppelte Anzahl von Kindern in seiner Klasse, und zwar Jungen und Mädchen. Die Zusammenlegung war notwendig geworden, weil seine Kollegin Gerda Wehlert, die bisher die Mädchen unterrichtet hatte, ganz plötzlich vor vier Tagen in die Klinik am See eingelegt worden war. Sie erwartete ein Baby, und anscheinend war es da zu irgendwelchen Komplikationen gekommen. »Also Kinder, verbringt ein schönes Wochenende«, rief er den Jungen und Mädchen zu, während er seine Bücher in seiner Tasche verstaute. »Wir sehen uns am Montag wieder.« Er mußte leise lachen, als er sah, wie schnell sich das Klassenzimmer unter lautem Hallo leerte. Eine Minute später war er allein. Wer nun geglaubt hätte, daß der sympathische Lehrer, der wie ein durchtrainierter Sportsmann aussah und gar nichts an sich hatte, das auf einen Pauker schließen ließ, ein geruhsames Wochenende vor sich hatte, der irrte sich. Markus Hollmann, mit seinen vierunddreißig Jahren immer noch unverheiratet – und das nicht zuletzt zum leichten Mißvergnügen der Auefeldener, die gern einen verheirateten Lehrer an ihrer Schule gehabt hätten –, hatte noch eine längere Fahrt vor sich. Er mußte seine alte Tante, die Schwester seines verstorbenen Vaters, die in einem kleinen Ort im

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Die Klinik am See – 15–

Patientin unter schwerem Verdacht

Warum will Julia nicht gesund werden?

B. Winckler

Das anhaltende Klingeln beendete die letzte Unterrichtsstunde dieser Woche in der Schule von Auefelden. Markus Hollmann, der bei den Schülern und Schülerinnen ebenso wie bei den Eltern der Kinder sehr beliebte Lehrer, atmete auf. Die vergangenen drei Tage waren doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, daß ihm das Unterrichten Schwierigkeiten bereitet hätte, nein, aber seit eben diesen drei Tagen hatte er die doppelte Anzahl von Kindern in seiner Klasse, und zwar Jungen und Mädchen. Die Zusammenlegung war notwendig geworden, weil seine Kollegin Gerda Wehlert, die bisher die Mädchen unterrichtet hatte, ganz plötzlich vor vier Tagen in die Klinik am See eingelegt worden war. Sie erwartete ein Baby, und anscheinend war es da zu irgendwelchen Komplikationen gekommen.

»Also Kinder, verbringt ein schönes Wochenende«, rief er den Jungen und Mädchen zu, während er seine Bücher in seiner Tasche verstaute. »Wir sehen uns am Montag wieder.« Er mußte leise lachen, als er sah, wie schnell sich das Klassenzimmer unter lautem Hallo leerte. Eine Minute später war er allein.

Wer nun geglaubt hätte, daß der sympathische Lehrer, der wie ein durchtrainierter Sportsmann aussah und gar nichts an sich hatte, das auf einen Pauker schließen ließ, ein geruhsames Wochenende vor sich hatte, der irrte sich. Markus Hollmann, mit seinen vierunddreißig Jahren immer noch unverheiratet – und das nicht zuletzt zum leichten Mißvergnügen der Auefeldener, die gern einen verheirateten Lehrer an ihrer Schule gehabt hätten –, hatte noch eine längere Fahrt vor sich. Er mußte seine alte Tante, die Schwester seines verstorbenen Vaters, die in einem kleinen Ort im Werdenfelser Land lebte, abholen und in die Klinik am See bringen. Mit dem Chefarzt Dr. Lindau hatte er schon darüber gesprochen. Die Tante litt allem Anschein nach an einer Entzündung des Nierenbeckens, die eine klinische Behandlung erforderlich machte. Daß diese in der Klinik am See vorgenommen werden sollte, war der ausdrückliche Wunsch der Tante, die nur Gutes von Dr. Lindau gehört hatte und deshalb in keine andere Klinik wollte.

Diese Tante sollte oder wollte er heute noch abholen. Mit der Tasche in der Hand verließ Markus Hollmann Minuten später das Fachwerkhaus, in dem die Schule untergebracht war. Es wirkte jetzt, nachdem die Kinder sich in alle Richtungen verstreut hatten, still und ruhig. Nur der Schuldiener war noch da. Markus Hollmann wünschte dem schon älteren Mann, einem Invaliden des letzten Krieges, ein angenehmes Wochenende und stieg dann in seinen Wagen.

Die Fahrt ging über Rottach-Egern, vorbei an der Südspitze des Tegernsees und weiter über Kreuth in Richtung Mittenwald. Es hatte inzwischen etwas zu regnen begonnen, so daß sich Markus Hollmann gezwungen sah, etwas vom Gas herunterzugehen. Obgleich auf dieser kurvenreichen Straße nur ein sehr schwacher Verkehr herrschte, war besondere Aufmerksamkeit doch angebracht.

Markus Hollmanns Aufmerksamkeit wurde dann etliche Kilometer hinter dem Wildbad Kreuth besonders geweckt – durch einen weißen Fiat, der am rechten Straßenrand stand und dessen rechtes Hinterrad ein wenig in den Straßengraben abgerutscht war. Dann aber erblickte er auch die junge Frau, die irgendwie hilflos vor der hochgeklappten Motorhaube stand und das Innenleben des Autos zu betrachten schien. Sie war so in diese Betrachtung vertieft – der Regen störte sie anscheinend gar nicht –, daß sie nicht einmal wahrnahm, daß er seinen Wagen ausrollen ließ und wenige Meter hinter dem Fiat zum Halten brachte. Markus Hollmann vermutete, daß die Frau eine Panne hatte und nun anscheinend nicht wußte, was sie tun sollte.

»Tja, dann wollen wir mal sehen, ob man der jungen Dame aus der Klemme helfen kann«, murmelte Markus Hollmann, stieg aus und ging nach vorn. Den feinen Nieselregen beachtete er gar nicht.

*

Verzweifelt starrte Julia Weithold das Innenleben ihres Autos an. Ausgerechnet jetzt mußte der Motor streiken, ohne daß sie den Grund dafür wußte. Sie war zwar eine ganz gute Autofahrerin, aber von der Mechanik ihres Fahrzeuges hatte sie nicht die geringste Ahnung.

Als sie heute gegen Mittag aus München abgefahren war, da war noch alles in Ordnung gewesen. Mit dem Wagen jedenfalls. Mit ihr war es dagegen ganz anders. Eine Flucht war es, die sie angetreten hatte. Ihr Ziel war Innsbruck. Dort lebte ihre beste Freundin. Bei ihr wollte sie zunächst einmal unterkommen und abwarten. Auf jeden Fall wollte sie so schnell wie möglich über die deutsch-österreichische Grenze kommen, bevor man sie noch innerhalb der Bundesrepublik aufgriff. In ihren Zügen war ein gehetzter Ausdruck. Sie wußte, daß man nach ihr suchte. Sogar die Morgenzeitungen hatten es auf der zweiten Seite gebracht. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre den beiden Kriminalbeamten in die Hände gefallen, die in dem Appartementhaus in München, in dem sie eine kleine Wohnung besaß, nach ihr gefragt und gesucht hatten. Es war ihr gerade noch gelungen, in aller Hast ein paar persönliche Sachen einzupacken und unbemerkt zu ihrem Fiat zu kommen und davonzufahren. Eine entsetzliche Angst war in ihr, festgenommen zu werden und in einer Gefängniszelle zu landen – für eine Tat, die sie gar nicht begangen hatte.

Es war ein Unfall gewesen. Das versuchte sie sich immer wieder einzureden. Doch ihre Angst wurde dadurch nicht geringer. Sie bereute den Tag, an dem sie Bernd Wolfert, den aalglatten Charmeur, seines Zeichens freischaffender Modefotograf, kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Jetzt war er tot. Erschossen, und wie die Polizei annahm, von ihr. Aber es war ein Unfall gewesen. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, Bernd zu töten, obwohl er sie, nachdem er ihre gesamten Ersparnisse aus ihrer Arbeit als Fotomodell an sich gebracht hatte, mit einer anderen Frau betrogen hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?« erklang es plötzlich hinter ihrem Rücken mit einer sonoren Stimme.

Erschreckt fuhr Julia herum. Richtiggehend verstört sah sie den Mann an, der unbemerkt an sie herangetreten war. »Was… was… wollen Sie?« kam es stockend über ihre Lippen. Hatte man sie doch schon gefunden?

»Ich fragte, ob ich Ihnen helfen kann«, antwortete Markus Hollmann. Verwundert über die eigenartige Reaktion dieser jungen Frau, die er auf Mitte bis Ende zwanzig schätzte, musterte er sie scharf. Sie war nicht häßlich, o nein. Ihr ein wenig herb wirkendes Gesicht war von einer Fülle dunkelblonder Haare umrahmt. Doch es war bleich und bildete einen seltsamen Kontrast zu den dunklen, fast schwarzen Augen. Markus Hollmann fiel bei dieser blitzschnellen Musterung aber auch auf, daß in diesen Augen Erschrecken und Angst stand. Das weckte sein Interesse. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß diese attraktive Unbekannte nicht nur Hilfe wegen ihres Autos nötig hatte, sondern – und das wahrscheinlich noch mehr – Zuspruch brauchte. Sie schien sich in einer Situation zu befinden, aus der sie keinen Ausweg wußte. Aber noch etwas stellte Markus Hollmann fest – nämlich daß ihm diese Frau außerordentlich gut gefiel. Innerhalb weniger Sekunden drängte sich in ihm der Wunsch auf, sie näher kennenzulernen. Ihr Anblick hatte plötzlich eine Saite in seinem Innern anschlagen lassen und ein warmes Gefühl in ihm ausgelöst.

Julia zwang sich zur Ruhe. Ihre vorherige Erregung klang zum großen Teil ab. Sie erkannte, daß dieser gutaussehende Fremde nichts von ihr wollte. Jedenfalls nicht das, was sie vor wenigen Sekunden noch befürchtet hatte. »Ach ja…«, stieß sie mit ein wenig brüchig klingender Stimme hervor, »… mein… mein… Motor will nicht mehr. Ich kenne mich nicht aus damit.«

»Tja, dann werde ich mal nachsehen, wenn Sie erlauben.« Markus Hollmann lächelte schwach und steckte den Kopf unter die Motorhaube.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann hatte er den wunden Punkt gefunden. Ein Kontakt an der Zündleitung hatte sich gelöst. Das sagte er auch der jungen Frau.

»Kann man das nicht wieder reparieren?« fragte Julia.

»Ich bin schon dabei, Verehrteste«, antwortete der Lehrer aus Auefelden und neigte sich wieder unter die Motorhaube. Es dauerte nur knapp drei Minuten, dann war der Schaden behoben. »So, jetzt muß es wieder funktionieren«, wandte er sich an Julia und drückte die Motorhaube herunter. »Versuchen Sie es einmal!«

Das ließ sich Julia nicht zweimal sagen. Sie setzte sich hinter das Steuer und drückte den Anlasser. Der Motor sprang auf Anhieb an. »Haben Sie vielen Dank, mein Herr«, rief sie Markus Hollmann durch das geöffnete Seitenfenster zu, legte sich den Sicherheitsgurt an, schaltete und gab Gas. Wie eine Rakete fast schoß der Wagen davon.

*

Eine ganze Weile mußte Julia Weithold noch an die Begegnung mit dem hilfsbereiten Mann denken, der ihr das Weiterfahren ermöglicht hatte. Es tat ihr jetzt fast leid, daß sie einfach so sang- und klanglos davongefahren war. In der nächsten Sekunde jedoch rechtfertigte sie ihr etwas unhöfliches Verhalten mit ihrer Eile. Ja, sie hatte es wirklich eilig, über die Grenze zu kommen. Bitterkeit überkam sie, wenn sie an die zurückliegenden Tage, Wochen und Monate dachte.

Es hatte so wunderbar begonnen, nachdem sie von der Modell-Agentur an Bernd vermittelt worden war. Bereits nach den ersten beiden Fototerminen war ihr bewußt geworden, daß sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte. Die Wochen und Monate danach waren ein ständiges Schweben auf Wolken gewesen. Viel zu spät hatte sie erkannt, daß Bernds Liebe zu ihr auf sehr schwachen Füßen stand, vielleicht sogar nur vorgetäuscht war. Heiraten hatte er sie wollen. So jedenfalls waren seine Worte gewesen, und sie hatte ihm geglaubt. Ihr Vertrauen zu seinen Versprechungen war so groß gewesen, daß sie ihm sogar ihre gesamten Ersparnisse anvertraut hatte, weil er eine eigene Agentur hatte eröffnen wollen und sie ihn dabei unterstützt hatte. Ein richtiger Schock hatte sie getroffen, als sie erst vor wenigen Tagen hatte feststellen müssen, daß er ihr Bankkonto bis auf ganz wenige Mark restlos geplündert hatte, ohne daß ihr erkenntlich geworden war, wohin das Geld gelangt war. Keinesfalls aber hatte er es für das gebraucht, was er ihr vorgegaukelt hatte – für die Errichtung einer eigenen Agentur. In den vergangenen vierzehn Tagen hatte sie vergeblich versucht, ihn zu sprechen. Nie war er zu erreichen gewesen. Bis vor einer Woche ihr durch einen Zufall bekannt wurde, daß er mit einer Rotblonden nicht nur seine Tage, sondern auch die Nächte in einer Pension am Starnberger See verbrachte. Das war genau an dem Tag, an dem ich zum erstenmal diese schneidenden Unterleibsschmerzen verspürt hatte. Schmerzen und Unwohlsein, von dem sie glaubte, daß es auf eine beginnende Schwangerschaft hindeutete.

Vor zwei Tagen begann dann die Tragödie, die sie nun zu einer von dem Gesetz Flüchtenden gemacht hatte. Julia erlebte im Geist noch einmal diese verflossenen Tage.

Es war ihr gelungen, den Namen der Pension am Starnberger See herauszubekommen. Entschlossen rief sie dort an und verlangte Bernd zu sprechen.

»Herr Wolfert ist mit seiner Frau heute morgen abgereist«, war die Antwort.

Sie brachte in Julia etwas zum Zerbrechen und löste einen von Verzweiflung durchsetzten Zorn in ihr aus. »Mit seiner Frau…«, flüsterte sie fassungslos. In ihrem Kopf drehte sich alles, und es dauerte eine Weile, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Doch dann überlegte sie nicht lange. Sie war entschlossen, Bernd zur Rede zu stellen. Wenn er sie schon mit einer anderen betrog, dann wollte sie zumindest ihr Geld zurückhaben. Kurz entschlossen fuhr sie zu seiner Atelierwohnung. Es war schon später Nachmittag. Auf ihr Läuten wurde aber nicht geöffnet. Da erinnerte sie sich, daß sie ja noch einen Wohnungsschlüssel aus früheren, glücklichen Tagen besaß. Sekunden später war sie in Bernds Wohnung. Niemand war da. Julia beschloß, auf Bernd zu warten. Irgendwann mußte er ja nach Hause kommen. Unruhig und nervös, aber auch bis zum Äußersten gereizt stellte sie sich auf ein längeres Warten ein. Einer plötzlichen Eingebung folgend stöberte sie in seinem Schreibtisch herum. Was oder wonach sie suchte, hätte sie auf Befragen gar nicht sagen können. Vielleicht hoffte sie, noch etwas von ihren Ersparnissen zu finden, die Bernd ihr abgenommen hatte? Oder Briefe, die seine Treulosigkeit bewiesen?

Julia fand aber nichts dergleichen. Nur etwas fiel ihr in die Hände, was sie früher nie bei ihm gesehen hatte – eine Waffe, einen Browning. Obwohl sie von solchen Waffen kaum etwas verstand, erkannte sie doch, daß diese geladen war. Nachdenklich nahm sie die Waffe in die Hand. Daß sie dabei unbewußt den Sicherungshebel zurückschob, merkte sie gar nicht.

Ein Gedanke meldete sich dann mit einemmal bei ihr. Zuerst ganz schwach, aber dann innerhalb weniger Sekunden größere und feste Formen annehmend.

Ich werde ihm Angst einjagen, dachte sie. Diese Waffe kam ihr jetzt gerade recht. Nicht, daß sie die Absicht hatte, Bernd zu erschießen, o nein, ein solcher Gedanke kam ihr gar nicht. Nur unter Druck setzen wollte sie ihn damit, damit er ihr das zurückgab, was sie ihm vertrauensvoll überlassen hatte. Mehr nicht. Ihn selbst wollte sie gar nicht mehr. Was früher leidenschaftliche Liebe gewesen war, hatte sich jetzt in Verzweiflung und Zorn, ja fast in Haß verwandelt.

Und dann plötzlich hörte sie Bernd kommen. Eine knappe halbe Stunde war seit ihrem Eintritt in die Wohnung vergangen. Hastig versteckte sie die Waffe hinter ihrem Rücken.

Bernd Wolfert stand wie erstarrt, als er Julia ansichtig wurde. »Du?« stieß er hervor. Man merkte ihm an, daß ihm diese Begegnung mehr als peinlich und mehr als unangenehm war.

»Ja, ich bin es, Bernd«, gab Julia mit belegter Stimme zurück. »War’s schön am Starnberger See?«

»Du… du… weißt…?«

Julia nickte.

»Gut, du weißt es.« Bernd Wolfert hatte sich wieder gefangen. Er kam näher. Dicht vor Julia blieb er stehen und sah sie an. Um seine Lippen kräuselte sich ein ironisches Lächeln. »Und was weiter?« fragte er. »Willst du nun versuchen, alte Kamellen aufzuwärmen?«

Julia erblaßte. Diese letzte Bemerkung Bernds wirkte wie ein Messerstich in ihrer Brust. »Nein, ich will nichts aufwärmen«, preßte sie hervor. »Ich möchte lediglich mein Geld zurück haben.«

»Dein Geld?« Bernd lachte leise und hämisch. »Du hast es mir doch geschenkt, also ist es meines.«

Julia zuckte zusammen. »Ich verschenke doch nicht etliche tausend Mark«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang heiser. »Dieses Geld habe ich dir anvertraut, um damit eine Basis für unser Zusammenleben zu schaffen. Also, wo ist es?« stieß sie fragend hervor. »Ich will es wiederhaben.«

»Wenn ich es dir aber nicht gebe?« fragte Bernd hart. »Was willst du tun? Ich habe nichts unterschrieben.«

Julia schluckte. In ihren Augen blitzte es zornig auf. »Dann werde ich dich dazu zwingen«, erwiderte sie leise.

»Wie denn?« Wieder huschte dieses zynische Lächeln um die Lippen des Modefotografen. In der gleichen Sekunde aber verschwand es. Dafür wurden Bernds Augen schreckhaft groß, als er die auf sich gerichtete Waffe erblickte.

Mit einer schnellen Bewegung hatte Julia sie hinter ihrem Rücken hervorgeholt. Ihre Hand zitterte ein wenig. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen mit einer Waffe bedroht. Sie fühlte auch, daß sie das nur noch wenige Sekunden durchhalten konnte. Sie wollte Bernd ja nur Angst einjagen. Nun aber schien sie diejenige zu sein, die von Angst gepackt wurde.

»Bist du verrückt?« keuchte Bernd. »Leg die Waffe weg!«

»Nein, nicht bevor…« Weiter kam Julia nicht, denn ganz plötzlich war Bernds Hand vorgeschnellt. Sie spürte den harten Griff an ihrem Handgelenk. Seine zweite Hand griff nach der Waffe, und mit einem Ruck wurde sie ihr entrissen. In Julias Kopf schien in diesem Augenblick etwas zu explodieren. Sie wußte gar nicht mehr, was sie tat. Sie stürzte vor, wollte nach der Waffe greifen, kämpfte mit dem Mann.

Nur ganz wenige Sekunden dauerte dieses Handgemenge. Und dann fiel der Schuß, den Bernd selbst durch eine unvorsichtige Bewegung ausgelöst hatte. Ein Ächzen kam über seine Lippen, und langsam sank er in sich zusammen. Aus einer Brustwunde auf der linken Seite sickerte Blut und färbte den hellen Teppich. Die Waffe entglitt seiner Hand und blieb neben ihm liegen. Ein letztes kurzes Aufbäumen noch, und dann hatte der Modefotograf Bernd Wolfert seinen letzten Atemzug getan.

Fassungslos starrte Julia auf den

leblosen Körper vor ihren Füßen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, was geschehen war. Gehetzt blickte sie sich um. Furchtbare Angst bemächtigte sich ihrer. »Oh, mein Gott«, kam es flüsternd über ihre Lippen. »Das… das… habe ich nicht gewollt.« Hinter ihrer Stirn rasten die Gedanken. Was sollte nun werden? Mit geradezu schmerzhafter Klarheit wurde ihr bewußt, daß man sie nun als Mörderin Bernd Wolferts betrachten und ins Gefängnis stecken würde. Aber sie hatte ihn doch nicht getötet. Ob man ihr das glauben würde?

Nur weg von hier, war ihr nächster Gedanke. Sie war außerstande, jetzt klare und vernünftige Überlegungen anzustellen. Ein abgrundtiefes Stöhnen entrang sich ihrem Mund, und wie eine Gehetzte lief sie aus der Wohnung. Auf der Treppe wäre sie beinahe mit einer Hausbewohnerin zusammengeprallt.

»Entschuldigung«, murmelte sie nur und eilte weiter, verfolgt von den verwunderten Blicken der Frau, die Julia von früheren Besuchen bei dem Modefotografen her kannte.

Den ganzen Nachmittag und auch den Abend, bis in die späte Nacht hinein, war Julia dann in der Stadt herumgeirrt, hatte da und dort einen Kaffee getrunken und war dann in ihr kleines Appartement zurückgefahren. Schlaf hatte sie nur wenig gefunden. Am Morgen hatte sie sich dann eine Zeitung geholt und gelesen, was geschehen war, aber auch, daß man sie dieser Tat verdächtigte. Durch die Hausbewohnerin war man sehr schnell auf sie gekommen. Als sie dann noch die beiden Männer entdeckte, denen man die Kripo-Beamten ansah, da war ihr Entschluß gefaßt.

Ungesehen von den beiden war es ihr gelungen, ins Haus zu kommen, und ungesehen war sie dann nur mit einer Reisetasche in der Hand durch einen anderen Ausgang zu ihrem glücklicherweise etwas weiter entfernt geparkten Wagen gelangt.