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Seit ein paar Wochen wohnt Paula nun schon mit ihrer Familie auf der Pferdeinsel Seaney. Während sie jeden Tag heimlich ihren Freund Gustav im sagenumwobenen Regenbogental besucht, das von allen nur als Mythos betrachtet wird, nehmen ungeahnte Rätsel und auftauchende Probleme immer mehr zu. Paula und Gustav müssen sich mit ihren Pferden auf eine Reise voller Gefahren begeben, um das Regenbogental zu retten...
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2020
Elisa Schön
Paula und die Pferde
Teil 2
Magische Reise
© 2020 Copyright Elisa Schön
Umschlaggestaltung, Illustration: Elisa Schön
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-17832-8
Hardcover: 978-3-347-17833-5
e-Book: 978-3-347-17834-2
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Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek: Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publiktion in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Mädchen aus dem Reitclub
Emily: Emily ist ein Mädchen mit blonden, langen Haaren, die tierlieb ist und schnell neue Freunde findet.
Luna: Luna ist ein kleines, neugieriges Mädchen, was Witze liebt und kurze, blonde Haare mit braunen Strähnen hat.
Jana: Jana ist unsympathisch, hat schwarze, lange Haare, trägt gerne schwarz und ist meistens schlecht gelaunt und verschlossen.
Charlotte: Charlotte ist ein großes Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und immer hilfsbereit und abenteuerlustig.
Milly: Milly ist schnell reizbar, hat schwarze Haare, die ihr bis zu den Schultern reichen und ist ängstlich.
Jamie: Jamie hat hellblonde Haare, die sie an den Spitzen blau gefärbt hat. Sie ist nett und offen für alles, kann aber auch sehr verrückt sein.
Miriel: Miriel ist die große Schwester von Emily. Sie hat dunkelblonde Haare und ist sehr geduldig. Sie kann allerdings auch sehr streng werden, wenn jemand nicht auf sie hört.
Kapitel 1
„Beeil dich, Paula! Du musst gleich los, sonst schaffst du es nicht mehr rechtzeitig zum Bus!“, drang die Stimme ihrer Mutter Sadie durch die geschlossene Badezimmertür zu Paula.
Aufgeschreckt glitt Paulas Blick zu einer kleinen Standuhr auf der Ablage vom Waschbecken. 6: 22 Uhr leuchtete dort in gelben Ziffern. „Verdammt!“, fluchte Paula.
Ihr blieben genau acht Minuten zum Haare trocknen, Zähne putzen, Frühstücken und zur Bushaltestelle gehen, dann würde der Bus ohne sie zur Schule fahren. Es war Mittwoch, drei Tage, nachdem Lena wieder von ihrem Überraschungsbesuch bei Paula zu sich nach Hause, in die Großstadt Toffeyground, gefahren war. Vor wenigen Wochen war Toffeyground auch Paulas Zuhause gewesen, bis sie aufgrund der zu teuren Miete umziehen mussten und seitdem auf der Insel Seaney wohnten. Eine große Umstellung für alle, da die Insel mehrere 100 Kilometer von Toffeyground entfernt lag und das komplette Gegenteil zur Großstadt war: Wenig Bebautes, viel Natur, wenig Verkehr, unbekannte Gebiete, Legenden und – das Beste am Leben hier – jede Menge Tiere. Es passierte nicht selten, dass Paula Mäusen, herumstromernden Katzen und Waldtieren begegnete. Doch am meisten gab es hier Pferde, was kein Wunder war, da Seaney auch als Pferdeinsel bekannt war. Hier hatte sich Paulas größter Wunsch erfüllt: Sie durfte Reitunterricht nehmen und be saß sogar ein eigenes Pferd. Sie liebte ihre weiße Isländerstute Lilly über alles. Am Nachmittag, sobald sie um 15 Uhr von der Schule zurückkommen würde, würde sie zu ihr in den Stall gehen und mit ihr Gustav besuchen. Gustav war mit der Zeit ein sehr guter Freund von Paula geworden. Anfangs war Paula nur zu ihm ins geheime Regenbogental gekommen, da beide mit Lilly und Gustavs Wildpferdfreund Silver auserwählt waren, einen Pegasus zu retten. Daher konnten sie vier Scherben sehen, die alle verschiedene magische Kräfte hatten und zusammen ein Amulett ergaben, mit dem man den Pegasus befreien sollte. Kein anderes Lebewesen konnte diese sehen, soweit sie wussten. Paula und Gustav hatten ihre Scherben bereits gefunden, Lillys und Silvers waren noch verschollen. Je mehr sie also zusammen Zeit verbracht haben, umso mehr sah Paula in ihm nicht mehr nur den schnell reizbaren, alleinlebenden Jungen, sondern einen Freund und Verbündeten. Bevor Paula vollends in ihre Gedanken versinken konnte, schreckte sie auf. Sie putzte sich in Windeseile die Zähne, verzichtete aufs Haaretrocknen und nahm ihr Frühstücksbrot mit auf den Weg zum Bus. Da es Sommer war, war es nicht schlimm, dass ihre Haare noch komplett durchnässt vom Duschen waren. Atemlos kam Paula an der Bushaltestelle nahe am Reiterhof Sonnengrün, oder von allen nur Emilys Hof genannt, an. Dort warteten schon ihre Freundinnen Charlotte und Jamie auf sie, die ihr fragende Blicke zuwarfen. Paula wurde kurzzeitig um eine Antwort erleichtert, da in dem Moment der Bus kam und sie einstiegen. Doch sobald Paula sich zu Jamie und Charlotte gesetzt hatte, fragte Charlotte mit einem verschmitzten Grinsen: „Hi Paula, hast du etwa verschlafen, oder warum kamst du mal wieder total außer Atem und mit nassen Haaren hier an?“
Mit einem tiefen Seufzen ließ Paula ihre Busfahrkarte in ihren Schulrucksack rutschen, bevor sie antwortete: „Nein, ich habe nicht verschlafen. Ich bin sogar genau pünktlich aufgestanden! Aber ich habe wohl ein paar Minuten zu lange geduscht und dann hatte ich noch acht Minuten übrig. Aber hey, ich habe es noch rechtzeitig zum Bus geschafft!“
„Ja, das hast du wohl gerade so. Aber du bist es ja schon gewohnt, dass du dich beeilen musst“, kicherte Jamie: „Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte Paula und verschränkte empört die Arme.
„Lass mich mal nachdenken“, startete Charlotte ihre Überlegungen, „Du gehst jetzt seit… genau zwei Wochen und drei Tagen auf diese Schule. Das wären dann insgesamt 17 Tage. Und von diesen 17 Tagen bist du an, soweit ich weiß, 8 Tagen fast zu spät gekommen. Das ist fast die Hälfte deiner Schulzeit hier!“
„Na gut, das stimmt schon“, lenkte Paula ein, „aber ich bessere mich. Gestern zum Beispiel war ich relativ pünktlich.“
„Stimmt. Dann lassen wir das mal so stehen. Mal schauen, wie das morgen ist“, schmunzelte Charlotte.
Den Rest der Fahrt verbrachten die drei schweigend, während jeder für sich Musik hörte. Sobald der Bus an der Schule angekommen war, waren Paulas Haare trocknen, wie sie gehofft hatte. In den ersten beiden Schulstunden würden sie und ihre Klasse Physik haben. Es war zwar nicht gerade ihr Lieblingsfach, aber dafür war ihr Lehrer Herr Letum sehr offen und nett, weshalb sich Paula immer auf den Unterricht bei ihm freute. Kaum hatte sie den Physikraum betreten, winkte Julie, eine gute Freundin von Paula, ihr zu. Lächelnd winkte Paula zurück und setzte sich auf ihren Platz zwischen Julie und Charlotte in der letzten Reihe.
„Hi Paula, hi Charlotte!“, begrüßte Julie ihre Freundinnen, sobald sie am Platz angekommen waren.
„Hey“, erwiderte Paula, setzte sich hin und begann, ihre Sachen auszupacken.
Gerade rechtzeitig lag alles auf dem Tisch, da betrat Herr Letum schon den Raum. Seine schwarzen Haare passten perfekt zu seiner schwarzen, runden Brille, die seine freundlich blickenden, grünen Augen größer aussehen ließ. Sobald er seine Tasche auf den Tisch gelegt hatte und alles Wichtige auf den Lehrertisch abgelegt hatte, verstummten alle Gespräche. „Guten Morgen zusammen! Ich schlage vor, wir beginnen direkt mit dem Vergleichen der Hausaufgaben, schließlich seid ihr, wie ich euch kenne, noch zu müde, um richtigen Unterricht mitzumachen. Und womit vertreibt man Müdigkeit besser als mit Hausaufgaben, um langsam wieder in das Thema zu kommen? Also dann, schlagt mal auf, was ihr Zuhause gemacht habt!“
„Oh Gott, es gab Hausaufgaben?!“, flüsterte Charlotte, die sonst immer jede Hausaufgabe hatte, entsetzt, und auch Paula hatte keine Ahnung, wovon Herr Letum redete.
Paula blickte sich im Raum um. Julie neben ihr kramte hektisch in ihrer Mappe und die anderen Schüler unterhielten sich verwirrt. „Na, hat etwa keiner von euch die Hausaufgaben gemacht? Kein Wunder, es gab nämlich gar keine! Aber zumindest seid ihr jetzt durch diesen kleinen Schreck wach genug, um dem Unterricht zu folgen, korrekt? Na dann, schlagt bitte das Buch auf Seite 25 auf“, lachte Herr Letum amüsiert.
Durch die Klasse ging ein kollektives Aufatmen der Erleichterung, bevor sie ihre Bücher aufschlugen und mit dem Unterricht begannen.
Kapitel 2
Der Schultag zog sich wie Kaugummi in die Länge. Das Gefühl hatte zumindest Paula, was einerseits daran lag, dass sie die Unterrichtsfächer nicht mochte, aber auch daran, dass sie nur auf das Ende der Schule wartete, um dann zu Gustav reiten zu können. Als nach der neunten Stunde endlich die Schulglocke läutete, packte Paula erleichtert ihre Bücher und Hefte wieder in ihren Rucksack, verabschiedete sich von Julie und ging mit Charlotte zur Bushaltestelle, an der nach der neunten Stunde immer nur wenig los war. Im Bus fragte Charlotte: „Was machst du heute noch so?“
„Nicht viel, außer Hausaufgaben. Warum fragst du?“, log Paula beiläufig, da sie ja niemandem erzählen durfte, dass das Regenbogental existierte, geschweige denn dass die fast täglich dort hineinritt.
„Weil du ständig während des Unterrichts auf die Uhr geschaut hast! So, als würdest du darauf warten, dass die Schule zu Ende ist, um dann etwas Tolles zu machen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich so auf die Hausaufgaben freust“, erwiderte Charlotte, die sich mal wieder nicht so einfach täuschen ließ.
„Naja, tue ich auch nicht. Aber irgendwie kam mir der Schultag heute viel länger vor als sonst“, versuchte Paula innerlich aufseufzend, die Situation zu retten.
„Ah ja. Na wenn du meinst“, gab Charlotte zögerlich nach.
Zuhause angekommen setzte sich Paula allerdings natürlich nicht an die Hausaufgaben, wie Charlotte glaubte, sondern ging zu ihrer Mutter Sadie und fragte: „Ich gehe ein bisschen mit Lilly ausreiten. Ich bin dann wahrscheinlich gegen 18 Uhr wieder zurück, passt das?“
„Hast du denn Hausaufgaben auf, Schatz?“, stellte Sadie die Gegenfrage, während sie damit beschäftigt war, die Spülmaschine auszuräumen.
„Ja schon, aber die kann ich auch morgen noch machen. Und es ist auch nicht viel“, beruhigte Paula ihre Mutter: „Okay, du musst es ja wissen. Ich kann das schließlich schlecht beurteilen. Aber sei wirklich pünktlich um 18 Uhr wieder hier!“, erlaubte Sadie ihr den Ausflug.
„Werde ich, bis später“, rief Paula ihr noch zu, als sie schon die Haustür öffnete und das Haus verließ.
Zum Stall brauchte sie nur knapp fünf Minuten, und da Lilly mittlerweile Paula gehörte, konnte sie immer dort hingehen, ganz egal wann. Sobald sie angekommen war und die große Stalltür geöffnet hatte, sahen ihr direkt ein paar Pferdeköpfe entgegen. Viele waren es nicht, da bei diesem guten Wetter viele auf der Weide standen. Paula blickte sich im Stall um und ging zu Lilly`s Box, die sich fast genau neben der Tür befand. Sie lag jedoch verlassen da. Also verließ Paula den Stall wieder und ging zur Koppel, auf der sie auch direkt Lilly entdeckte. Ihr weißes Fell schimmerte in der Sonne, während die Isländerstute genüsslich neben Luisa, einer Füchsin, graste. Auch einige Pferde, die Paula vom Reitunterricht kannte, wie Diamondstar, Donner und Sternchen, standen auf der Koppel, genauso wie noch ein paar andere Pferde, die sie nicht kannte. Paula schnalzte einmal, woraufhin Lilly sofort ihren Kopf hob und sich umsah. Als sie Paula entdeckte, wieherte sie freudig und galoppierte an den Koppelzaun. „Na meine Süße? Freust du dich schon auf unseren kleinen Ausritt zu Gustav?“, begrüßte Paula sie lächelnd und streichelte ihr über das warme, flauschige Fell.
Wie zur Bestätigung warf Lilly den Kopf in den Nacken und schnaubte bereit. „Wusste ich es doch“, grinste Paula, gab Lilly eine Karotte, band ihr einen Führstrick um und führte sie auf den Hof zu einer Anbindestange, um sie zu putzen und ihr ein Zaumzeug umzumachen.
Auf den Sattel und die Satteldecke verzichtete sie, da sie von Gustav gelernt hatte, wie man ohne Ausrüstung ritt und es eindeutig zu warm war für eine Decke. Sie wollte lieber nicht wissen, was passierte, wenn Miriel sie mit nichts weiter als einem Zaumzeug sah, denn ihre Reitlehrerin fand das sicher nicht allzu gut. Sobald Lilly bereit war, stieg Paula auf und sagte zufrieden: „Dann wollen wir mal.“
Durch einen sanften Schenkeldruck setzte sich Lilly langsam in Bewegung, und sie ritten zum Eingang des Regenbogentals, der versteckt hinter dem Seaberg am Wasser lag. Paula liebte diesen Ort. Er war genauso unentdeckt wie das Regenbogental und war somit umgeben von Moos und Ranken, die den Blick in die dunkle Höhle, die ins Regenbogental führte, schmückten. Es roch nach Meer, alten Steinen, Pflanzen und Natur und strahlte eine beruhigende Wirkung aus. Paula holte die magische Scherbe, die bei ihrem ersten Besuch im Regenbogental gefunden hatte, aus ihrer Hosentasche. Sofort brachte die Nachmittagssonne die blaue Scherbe zum Leuchten. Diese war mit einem goldenen Rand und Pferdekopf verziert, welche in dem Sonnenlicht besonders strahlten. Die Scherbe würde Paula und Lilly den richtigen Weg durch das Labyrinth der Höhle weisen. Nach einem weiteren, kurzen Blick auf die idyllische Landschaft vor der Höhle, ritt Paula mit Lilly in die dunkle Höhle. An jeder Abzweigung wies die Scherbe ihnen den Weg, indem sie an den Abzweigungen, die ins Regenbogental führten, aufleuchtete. So standen die beiden nach einer Weile auf dem frischen Gras des Regenbogentals zwischen Apfel- und Birnbäumen. Entspannt trottete Lilly zwischen den Bäumen durch, bis zu der Schlucht, die zu Gustavs Hütte führte. Gustav saß vor seiner Hütte auf einer der vier kleinen Holzbänke, die um ein erloschenes Lagerfeuer herumstanden, und spielte Flöte. Lilly blieb stehen und Paula lauschte einen Moment der wunderschönen Melodie, bis Gustav sie entdeckte, aufhörte zu spielen und empört fragte: „He, Paula! Beobachtest du mich etwa? Wie lange steht ihr da schon?“
„Nicht lange, aber du spielst so schön. Da muss man doch zuhören“, verteidigte sich Paula.
„Ach, und das gibt dir das Recht, mich heimlich zu beobachten, ohne dass ich davon weiß?“, schnaubte Gustav und legte seine Flöte weg.
„Wenn ich direkt auf mich aufmerksam gemacht hätte, hättest du doch sofort aufgehört. Also ja“, konterte Paula grinsend und ließ sich von Lillys Rücken gleiten.
„Vielleicht sollte ich mir doch ein oder zwei dieser komischen Überwachungskameras aus eurer Welt anschaffen, damit du dich nicht mehr wie ein Spion anschleichen kannst“, murmelte Gustav vor sich hin und wechselte dann das Thema, „Die Wildpferde kommen gleich. Du kannst doch sicher mit deiner Wasserkraft den Wassertrog am Eingang der Schlucht füllen, damit sie was zu Trinken haben, oder?“
„Wir leben also in verschiedenen Welten, ja? Aber klar, kann ich machen! Das ist auf jeden Fall einfacher als wieder so viele, schwere Wassereimer zu schleppen“, antwortete Paula grinsend.
Endlich würde sie wieder ihre magische Kraft einsetzen können. In den letzten Tagen war sie nicht dazu gekommen, da erst all ihre Gedanken um Lena gekreist waren, und am Wochenende Lena dann bei ihr zu Besuch gewesen war. Nun würde sie ihre Kraft zum zweiten Mal einsetzen. Ein bisschen mulmig war ihr schon zu Mute, da es sehr… gewöhnungsbedürftig und unnormal war. Mit Gustav und Lilly im Schlepptau ging sie zum Anfang der Schlucht, stellte sich vor den Wassertrog und legte ihre Scherbe in ihre offene Hand. Gustav und Lilly gingen sicherheitshalber ein paar Schritte zurück und beobachteten aus ein paar Metern Entfernung, was passierte. Paula schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können und stellte sich vor, wie der Wassertrog bis zum Rand mit Wasser gefüllt vor ihr liegen würde. Sobald sie sich es komplett vorgestellt hatte, ertönte ein Donnern über ihr, das aber zum Glück nicht so laut wie beim ersten Mal war. Paula öffnete die Augen und machte sich auf den blauen Blitz gefasst, der im nächsten Moment in die Scherbe einschlug. Dieses Mal ließ Paula sie nicht vor Schreck fallen, sondern zuckte nur ein paar Zentimeter zurück. Die Scherbe fing an, immer heller zu Leuchten und blauer Nebel, durch den man nichts erkennen konnte, zog auf und umkreiste Paula und den Wassertrog. Als die Scherbe so hell leuchtete, dass Paula nicht mehr hinschauen konnte, kniff sie die Augen zusammen und wartete ab. Ein paar Sekunden später lichtete sich der Nebel und die Scherbe wurde wieder dunkler, bis ihr Leuchten ganz erlosch. Der Wassertrog vor Paula war voll, genauso wie sie es sich vorgestellt hatte. Gustav und Lilly kamen wieder näher. „Super, danke Paula! Zum Glück war dieser Donner dieses Mal leiser. Sonst wären die Wildpferde vielleicht doch nicht gekommen. Vielleicht ist das nur beim ersten Mal so laut?“, mutmaßte Gustav.
„Das kann sein“, stimmte Paula zu.
Bevor sie jedoch weiter über die Vermutung nachdenken konnte, vernahm sie das schnell nähernde Geräusch von Hufen. Also gingen Lilly, Paula und Gustav ein paar Meter vom Wassertrog weg, um die Wildpferde erstmal ungestört ankommen zu lassen. In dem Moment kam die Herde, geführt von dem kräftigen, wunderschönen Rappen Wolke, dem Herdenführer, am Eingang der Schlucht an. Sie bremsten ab und Wolke sah sich kurz um. Dabei glitt sein Blick nicht nur über die Herde, um zu schauen, ob alle da waren, sondern auch über Paula, Lilly und Gustav. Er schwenkte kurz seinen Kopf, was wie eine kleine Begrüßung wirkte und wieherte dann seiner Herde zu, woraufhin sie sich entspannt verteilten und grasten oder tranken. Paula entdeckte zwischen den muskulösen Pferden das kleine Fohlen Blatt, das sich bei ihrer ersten Begegnung mit Lilly angefreundet hatte. Es wieherte Lilly freudig zu, woraufhin Lilly zurückwieherte und zu Blatt galoppierte. Ein paar Sekunden später tobten die beiden zusammen über die Wiese. Aus der Menge grasender Pferde hob plötzlich ein Apfelschimmel mit seidig glänzender Mähne den Kopf und fixierte Gustav und Paula. Es war Silver, der vierte Auserwählte, und Gustavs Lieblingspferd unter den Wildpferden. „Komm, wir gehen zu Silver. Er sieht so aus, als würde er uns erwarten“, schlug Gustav vor und so folgte Paula ihm zwischen den Pferden entlang zu Silver.
„Hey, mein Großer. Wie geht’s dir?“, fragte Gustav fürsorglich und streichelte durch Silvers Mähne.
Der Apfelschimmel schnaubte als Antwort glücklich. Gustav reichte ihm einen Apfel und wandte sich dann an Paula: „Lust auf einen Ausritt?“
„Gerne. Vielleicht finden wir ja unterwegs auch eine weitere Scherbe“, willigte Paula ein, rief Lilly zu sich und kletterte auf ihren Rücken.
Gustav stieg auf Silver und die beiden Pferde setzten sich langsam in Bewegung. „Wo hast du eigentlich deine Scherbe gefunden?“, fragte Gustav unvermittelt.
„In dieser Schlucht, in der Charlotte und ich Jamie wiedergefunden hatten, nachdem die Wildpferde an uns vorbeigedonnert sind. Da kommt man nach einer Weile an ein Waldstück, in dem die Scherbe jenseits des Weges im Gebüsch lag“, antwortete Paula, während sie bei der Erinnerung an diesen kühlen, dunklen, unbekannten Ort fröstelte.
Schnell verdrängte sie den Gedanken daran, dass sie fast nicht mehr zurückgefunden hatte und fragte: „Wo hast du denn eigentlich deine gefunden? Das weiß ich auch noch nicht.“
„Meine Scherbe hing hoch oben in den Ästen eines Apfelbaumes, die da vorne am Ausgang des Regenbogentals stehen. Als ich dich an dem Tag, an dem ich dich hier erwischt habe, zum Ausgang begleitet habe, wollte ich mir noch schnell ein paar Äpfel pflücken. Also bin ich den Baum ein Stück hochgeklettert und habe ein paar gesammelt. Und weil dann die Sonne so auf die Scherbe schien, dass sie mich geblendet hat, habe ich sie hoch oben im Baum hängen gesehen. Und glaub mir, es war gar nicht leicht, bis in die Baumkrone zu klettern, ohne abzustürzen oder die Scherbe aus den Augen zu verlieren“, erzählte Gustav.
„Ich hatte es auch nicht gerade leicht, schließlich hätte ich mich fast verlaufen. Meinst du, das hat auch was damit zu tun?“, überlegte Paula.
„Was hat was damit zu tun? Dass wir es nicht leicht hatten, an die Scherben dranzukommen?“, fragte Gustav verwirrt nach.
„Ja, überleg doch mal! Ich brauchte guten Orientierungssinn, um wieder zurückzufinden. Du brauchtest Koordination zum Klettern. Vielleicht ist es gewollt, dass man für die Scherben seine Fähigkeiten beweisen muss. Wie so ein kleiner Test. Könnte doch sein, oder?“, dachte Paula laut nach.
„Hört sich gar nicht mal so dumm an“, sagte Gustav. „Na, dankeschön. Wundert dich das etwa?“, fragte Paula forschend und hob eine Augenbraue.
„Nein, nein, du bist schließlich nicht dumm“, lenkte Gustav ein, „aber einen Haken gibt es an der Theorie.“
„Der wäre?“
„Das Amulett ist doch aus sehr großer Höhe auf einen Stein gefallen, nachdem ein Mensch das Band mit einem Pfeil durchschossen hatte, und ist dort in vier Scherben zerbrochen. Die Teile sind einfach irgendwo hingefallen, das wurde ja nicht beeinflusst. Wenn es beabsichtigt gewesen wäre, unsere Fähigkeiten zu beweisen, dann hätte ja jemand die Scherben genau an die Orte legen müssen. Und so war das ja nicht. Bestimmt war das nur Zufall. Wer weiß, wo die anderen beiden Scherben liegen. Vielleicht stolpern wir irgendwann drüber, weil sie hier im Gras liegen“, erklärte Gustav.
„Aber wie hoch muss denn dieser Stein gelegen haben, dass die Scherben so weit fliegen? Ich meine, die Apfelbäume sind doch am komplett anderen Ende des Regenbogentals. Soweit fliegen Scherben doch bei Weitem nicht, wenn etwas zerbricht“, hielt Paula dagegen.
„Aber genauso steht es in der Legende. Das Amulett ist auf einen spitzen Stein gefallen und zerbrochen“, beharrte Gustav.
Plötzlich wieherte Lilly und blieb stehen. Verwundert beugte sich Paula sich vor, sodass ihr Kopf neben Lillys Kopf war. „Was ist denn, Süße?“, fragte sie die Stute. Lilly sah Paula geradewegs in die Augen und plötzlich zuckte ein Gedanke durch Paulas Kopf: Vielleicht fehlt ein Teil der Legende. Irritiert sah Paula Lilly an. Es war schonmal vorgekommen, dass Lilly Paula in die Augen gesehen hatte und Paula plötzlich etwas dachte, worauf sie nicht gekommen wäre. Damals hatte sie sich gefragt, was mit Blacky, Miriels Friesen, los war, der traurig in der Ecke gestanden hatte. Und als Lilly ihr in die Augen gesehen hatte, hatte sie es gewusst. Konnte es sein, dass sie irgendwie Gedanken übertragen konnten? „Was ist denn? Du schaust so verwirrt“, fragte Gustav, als er Paulas Blick bemerkte, die sich wieder aufgerichtet hatte.
„Alles gut. Ich habe nur gerade überlegt, ob nicht vielleicht ein Teil der Legende fehlt. Das könnte sein, oder? Schließlich macht das mit den Scherben sonst keinen Sinn“, antwortete Paula.
Sie nahm sich vor, erstmal mehr darüber herauszufinden, bevor sie Gustav vor noch ein Rätsel stellen würde. Darüber nachzudenken, ob Lilly und Paula vielleicht Gedanken übertragen konnten und warum, konnte sie auch später noch. Aber jetzt hatte erstmal die Legende Priorität. Gustavs Augen weiteten sich und er fragte erstaunt: „Du meinst, das was in dem Buch steht, ist nicht vollständig? Es gibt noch etwas, was wir nicht wissen?“
„Möglich ist es. Schließlich passen die einzelnen Teile, die wir haben, nicht wirklich zusammen. Wie bei einem Puzzle. Uns fehlen noch Teile, um es vollständig zu haben“, überlegte Paula.
„Aber warum sollte denn etwas fehlen? Und selbst wenn Teile fehlen, wie sollen wir die bekommen?“, fragte Gustav.
„Weiß ich doch auch nicht. Ist ja auch nur eine Vermutung“, gab Paula achselzuckend nach.
„Wir sollten unseren Fokus jetzt erstmal darauf legen, alle Scherben zu finden. Mit der Legende können wir uns dann immer noch beschäftigen“, bestimmte Gustav. Da Paula wusste, dass eine Diskussion eh aussichtslos war, sobald Gustav sie als abgeschlossen betrachtete, erwiderte sie darauf nichts und nickte nur. Sie nahm sich jedoch vor, trotzdem mehr über die Legende zu erfahren.
Kapitel 3
Nach dem Abendessen ging Paula an den Computer im Arbeitszimmer ihres Vaters und startete das Internet. Sie hatte Hoffnung, dort etwas über die Legende des Pegasus zu erfahren und vielleicht auch den fehlenden Teil zu finden. Auch, wenn es sehr unwahrscheinlich war, da Paula und Gustav die Legende schließlich auch nur aus dem Buch im Regenbogental kannten. Aber schaden konnte es ja nicht, mal im Internet nachzuschauen. Da war schließlich irgendwie alles zu finden. Paula tippte ‚Die Legende des Pegasus‘ in die Suchleiste ein und bekam direkt eine Menge an Ergebnissen. Hoffnungsvoll überflog sie die Suchergebnisse. Doch ihre Hoffnung schrumpfte immer weiter, da sie nichts Brauchbares fand. Hauptsächlich wurden ihr Kinderbücher, in denen es um einen Pegasus ging, Kaufartikel oder Definitionen für den Begriff „Pegasus“ vorgeschlagen. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben. Also ging sie zurück und suchte nach Regenbogental Seaney, wo sie jedoch nur die normale Insellegende fand und hier und da Spekulationen über das Regenbogental, die jedoch natürlich alle nicht bewiesen waren, da eigentlich niemand den Eingang kannte. Daraufhin versuchte Paula es mit einigen, weiteren Suchbegriffen, wurde jedoch trotzdem nicht fündig. Resigniert beendete sie nach einiger Zeit ihre erfolglose Suche und schaltete den Computer aus. Ein Blick auf die Uhr ließ sie aufschrecken. Es war bereits weit nach 22 Uhr und sie musste morgen zur Schule wieder um 6: 30 Uhr aufstehen – dabei kam sie morgens eh schon furchtbar schlecht aus dem Bett. Schnell knipste sie das Licht des Arbeitszimmers aus und huschte die Treppe hinauf, um sich bettfertig zu machen. Als sie dann endlich im Bett lag, war es schon fast 23 Uhr. Paula hörte die Schritte ihrer Mutter, die die Treppe hochkam, schaltete schnell das Licht aus und stellte sich schlafend, da sie hoffte, ihre Eltern hätten nicht bemerkt, dass sie so lange am Computer gesessen hatte. Sadie betrat das Zimmer ihrer Tochter und leuchtete mit der Taschenlampe zu Paula. Kurz befürchtete diese, ihre Mutter würde merken, dass sie noch wach war. Dann jedoch glitt der Taschenlampenschein von ihr weg und kurz darauf schloss sich die Tür hinter ihrer Mutter. Erleichtert atmete Paula aus, kuschelte sich in ihr Kissen und versuchte zu schlafen, was ihr nicht sofort gelang, da sich in ihrem Kopf die Gedanken um die Legende drehten und nicht zur Ruhe kamen. Doch nach einer Weile drifteten ihre Gedanken ab und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen war sie natürlich total übermüdet, als ihr Wecker klingelte. Kurz blieb sie noch liegen, dann quälte sie sich aus dem Bett ins Bad und einige Zeit später die Treppe runter in Küche. Sie setzte sich an den Tisch, versuchte krampfhaft, ihre Augen offenzuhalten und aß ihr Frühstücksbrot. „Guten Morgen, Paula. Na, war wohl gestern ein bisschen spät, oder?“, fragte Sadie, die sich zu ihr setzte, und hob vielsagend eine Augenbraue, während sie Paula betrachtete.
Verlegen nickte sie und fühlte sich ertappt. War ja klar, dass sie ihre Mutter nicht hatte täuschen können. Sie kam immer dahinter, wenn Paula etwas vor ihr verheimlichen wollte. Das machte ihr mal wieder klar, dass sie unbedingt vorsichtig sein musste, wenn sie Ausflüge ins Regenbogental unternahm. „Was hast du denn bitte über drei Stunden lang am Computer gemacht?“, fragte Sadie kopfschüttelnd.
„Ich habe etwas recherchiert“, antwortete Paula einsilbig.
„Und was genau hast du recherchiert, wofür du drei Stunden gebraucht hast?“, ließ Sadie nicht locker.
Warum war sie nur immer so hartnäckig? „Etwas für die Schule, für einen Vortrag in Deutsch. Ich habe es halt sehr sorgfältig gemacht und dabei dann die Zeit vergessen“, log Paula.
Sie hatte gehofft, sie müsste nicht lügen, aber Sadie ließ ihr keine Wahl, wenn sie nicht in Bedrängnis kommen wollte, erklären zu müssen, warum sie so viel über das Regenbogental gesucht hatte. „Du hast doch heute Deutsch, nicht wahr? Dann sag mir doch heute Nachmittag, wie es gelaufen ist und ob sich die drei Stunden Recherche und der Schlafmangel gelohnt hat“, bat Sadie und räumte Paulas und ihren Teller in den Geschirrspüler. „Klar, mach ich“, antwortete Paula und war froh, dass sie nun zum Bus gehen musste und dieser Unterhaltung somit entfliehen konnte.
Ihr war klar, dass sie ihrer Mutter heute Mittag berichten musste, wie der imaginäre Vortrag gelaufen war, aber das würde sie schon schaffen. Alles war Paula lieber, als erklären zu müssen, warum sie so viele Begriffe über Pegasusgeschichten und das Regenbogental gesucht hatte.
In der Schule musste Paula ihre ganze Konzentration verwenden, um nicht mitten im Unterricht einzuschlafen. Das hatte allerdings zur Folge, dass sie überhaupt nichts vom Unterricht mitbekam. Sie nahm sich fest vor, heute überpünktlich ins Bett zu gehen. Als sie gerade in der Mathestunde saß und zum wiederholten Male mit den Gedanken abgedriftet war, spürte sie plötzlich Charlottes Ellenbogen in ihrer Seite. Sofort schreckte sie auf und wandte sich flüsternd an Charlotte. „Was ist passiert? Habe ich geschlafen?“
Kopfschüttelnd flüsterte Charlotte nach einem kurzen Blick auf ihren Lehrer, der gerade an der Tafel irgendwelche Aufgaben anschrieb, und flüsterte zurück: „Nein, aber du warst ganz knapp davor. Warum bist du so müde? Bis wann warst du gestern wach?“
„Bis 23 Uhr oder sowas in der Art“, murmelte Paula und unterdrückte ein Gähnen.
„Was zum Teufel hast du denn so spät noch gemacht?“, fragte Charlotte entgeistert, da sie nur zu gut wusste, dass Paula auch so morgens nicht aus dem Bett kam.
„Für den Deutschvortrag so ein paar Sachen recherchiert“, sagte Paula, ohne richtig darüber nachzudenken, was sie sagte.
Charlotte blickte ihre Freundin verwirrt an und fragte: „Von was für einem Vortrag sprichst du? Wir sollten doch überhaupt keinen Vortrag in Deutsch vorbereiten.“ In dem Moment wurde Paula klar, dass sie Charlotte die Vortragslüge aufgetischt hatte, die sie selbstverständlich nicht ernst nahm – schließlich waren die beiden in der gleichen Klasse und Charlotte wusste immer, was für Hausaufgaben sie aufhatten und was nicht. Innerlich schlug sich Paula die Hand gegen die Stirn. Das konnte heiter werden, wenn sie nicht mal ihre Freundin und ihre Mutter auseinanderhalten konnte. „Oh, stimmt ja. Ich meinte natürlich nicht Deutsch, sondern… Religion. Genau, Religion. Da sollten wir einen Vortrag halten. Genau, ja, in Religion“, ließ sich Paula schnell was einfallen. Da es mehrere Religionskurse im Jahrgang gab, waren alle in unterschiedlichen Kursen und nicht klassenweise eingeteilt. Paula war in einem anderen als Charlotte, was ihr dadurch die Möglichkeit gab, sich so rauszureden.
„Ah ja. Wenn du meinst“, gab Charlotte nach einem letzten skeptischen Blick nach und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Matheunterricht. Erleichtert atmete Paula aus. Sie musste unbedingt besser aufpassen, wem sie welche Lüge erzählte. Oder ich passe auf, gar nicht in die Situation zu kommen, lügen zu müssen, dachte Paula verärgert über sich selbst und versuchte danach krampfhaft, wenigstens das Wesentliche von den Rechnungen und Formeln an der Tafel mitzubekommen.
Als Paula nach der Schule nach Hause kam und Sadie die Tür öffnete, nachdem Paula geklingelt hatte, fragte ihre Mutter direkt: „Na Schatz, wie lief der Vortrag in Deutsch?“
„Ganz gut, denke ich“, erwiderte Paula, während sie sich ihre Schuhe auszog.
„Das ist doch schön. Dann ist der verlorene Schlaf immerhin nicht umsonst geopfert worden“, bemerkte ihre Mutter mit einem leichten Lächeln in der Stimme.
„Ja, das stimmt wohl. Du Mama, kann ich nachher mit Lilly ausreiten?“, wechselte Paula dann lieber das Thema. Sie hatte vor, trotz ihrer Müdigkeit zu Gustav zu reiten. Sicher würde sie durch etwas Reiten und frische Sommerluft wacher werden. „Kannst du machen. Du solltest heute aber noch Lena anrufen, für den Fall, dass du das vergessen hast. Und Schule solltest du auch nicht vernachlässigen, schließlich schreibt ihr bald die letzten Arbeiten vor den Ferien. Für die solltest du noch lernen“, erinnerte Sadie ihre Tochter.
„Mach ich, keine Sorge!“, beruhigte Paula ihre Mutter. Nach dem Mittagessen würde sie ihre Hausaufgaben machen, dann ausreiten und Lena später anrufen – und lernen konnte sie auch wann anders noch. Schließlich hatte sie noch eine Woche Zeit, bis die ganzen Arbeiten anstanden.
So wie gedacht klappte es dann aber doch nicht. Als Paula nach dem Mittagessen ihren Hausaufgabenplaner hervorholte und die ganzen noch nicht erledigten Hausaufgaben betrachtete, verlor sie direkt ihr winziges bisschen Motivation, das ihr noch geblieben war. „Ich kann ja schonmal Latein und Englisch machen, das ist ja beides bis morgen. Der Rest kann noch warten“, beschloss Paula und kramte ihre Lateinsachen heraus.
Nachdem sie die beiden kleinen Texte übersetzt hatte und sich Englisch widmen wollte, fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war bereits 15 Uhr und bis Paula im Regenbogental sein würde, würde es auch noch ein Weilchen dauern, da sie ja erstmal zum Stall und dann zum Tal musste. Wenn sie also etwas länger dableiben wollte, musste sie jetzt los. Unsicher warf sie einen Blick auf ihre Englischhausaufgaben. Es waren nur drei kleine Grammatikübungen, die würde sie auch nachher noch machen können. Wie um sich selbst davon zu überzeugen, nickte sie und legte das Heft wieder zur Seite. Dann zog sie sich schnell ihre Reitklamotten an, rannte die Treppe hinab, zog sich ihre Schuhe an und rief ihrer Mutter zu: „Ich gehe jetzt ausreiten! Um 18 Uhr bin ich zurück“
Als daraufhin eine bestätigende Antwort von Sadie erklang, öffnete Paula die Haustür und trat in die Sommersonne.
Kapitel 4
Im Regenbogental angekommen, wurden Lilly und Paula von Gustav begrüßt, der gerade nicht bei seiner Hütte war, sondern in dem kleinen Apfelbaumwäldchen am Eingang der Höhle, die aus dem geheimen Tal auch wieder hinausführte: „Hallo Paula! Hi Lilly!“
Gustav war gerade dabei, hoch oben in den Ästen eines Apfelbaumes einige rote, saftige Äpfel zu pflücken und diese in einen Korb, der nahe am Stamm stand, fallen zu lassen. „Habt ihr Hunger?“, fragte Gustav und ohne eine Antwort abzuwarten warf er Paula zwei Äpfel zu, die sie fing und einen Lilly gab.
„Oh, gut gefangen!“, grinste Gustav und landete mit einem sicheren Sprung auf dem Boden.
„Danke! Du hast auch gar nicht mal so schlecht geworfen“, lachte Paula.
„Das nennst du gar nicht mal so schlecht? Das war perfekt!“, widersprach Gustav und klopfte sich rühmend auf die Brust.
„So kann man es natürlich auch ausdrücken“, gab Paula grinsend nach.
„Sehr schön. Hilfst du mir, den Korb hier mit zu meinem Haus zu nehmen? Der ist nämlich viel zu schwer für eine Person“, bat Gustav.
„Klar, ich helfe dir“, sagte Paula und bot nach einem Blick auf den überfüllten Apfelkorb an: „Wie wäre es, wenn wir den Korb auf Lillys Rücken stellen und von den Seiten mit anfassen?“
„Super Idee! Das machen wir“, freute sich Gustav.
Zusammen mit Paula hievte er den Korb auf Lillys Rücken, die ruhig stehen blieb. „Okay Lilly. Geh langsam los“, forderte Paula ihre Stute auf, die daraufhin in einen gemütlichen Schritt verfiel.
Paula ging links und Gustav rechts von Lilly, damit der Korb nicht herunterfiel. An Gustavs Hütte angekommen stellten sie den Korb am Rand auf den Boden und Lilly schnaubte befreit, als das Gewicht von ihrem Rücken genommen wurde. Danach füllte Paula wieder den Wassertrog auf und als die Wildpferde kamen und sich ausgeruht hatten, ging Gustav zu Silver und sie ritten mit Paula und Lilly aus. Während sie ritten, redeten sie und achteten nicht wirklich darauf, wohin. Erst, als Lilly und Silver am Anfang der Schlucht, in der Paula in dem dunklen Waldstück ihre Scherbe gefunden hatte, stoppte, bemerkte sie, wie weit sie geritten waren. Schließlich war es das entgegengesetzte Ende des Regenbogentals. Paula schauderte beim Anblick dieses Ortes, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie ihre Scherbe dort gefunden hatte. Gustav, der ihren Blick auf die Schlucht bemerkt hatte, fragte vorsichtig: „Paula, was ist los?“
„Das ist der Eingang zu der Schlucht, in der ich meine Scherbe gefunden habe. Und ich hatte da echt Angst, weil ich dachte, ich hatte mich verirrt. Daran musste ich gerade denken, aber alles ist gut“, gestand Paula.
Nach einem prüfenden Blick auf die steilen Felswände, die sich hoch in den Himmel streckten, antwortete Gustav: „Oh, das muss echt schlimm gewesen sein. Ich war hier tatsächlich noch nie. Also, hier schon, aber nicht in der Schlucht. Und ich habe keine Ahnung, wo sie hinführt, aber sie endet wahrscheinlich eh in einer Sackgasse – wie jede Schlucht hier.“
„Wahrscheinlich schon. Denkst du, da könnten Silvers oder Lillys Scherbe versteckt sein?“, überlegte Paula. „Ich denke nicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Scherben an den beiden entgegengesetzten Enden des Regenbogentals liegen und eine weitere ganz nah an deiner? Aber wenn du willst, können wir gerne nachschauen. Nach dir“, bot Gustav an und machte eine einladende Handbewegung in die Schlucht.
„Das meinst du doch nicht etwa ernst?! Da kriegen mich keine 10 Pferde nochmal rein. Du hast wahrscheinlich recht und Lillys und Silvers Scherbe liegen ganz woanders“, gab Paula schnell nach.
„Habe ich nicht immer recht?“, grinste Gustav.
„Du und recht haben? Das sind zwei verschiedene Welten“, neckte Paula ihn.
„Pff, ich kann dir beweisen, dass ich Recht habe. Du musst wie immer um 18 Uhr zu Hause sein und wenn ich dich jetzt dran erinnere, dass die Sonne schon so tief steht, dass es bald 18 Uhr sein muss, sagst du mir, dass du wieder komplett die Zeit vergessen hast“, konterte Gustav und hob abwartend seine Augenbraue.
Als Paula daraufhin prüfend in den Himmel sah und merkte, dass es langsam echt 18 Uhr sein musste, stöhnte sie und rief: „Oh, ich habe komplett die Zeit vergessen!“ Als Gustavs Grinsen sich vertiefte, wurde Paula klar, dass sie gerade tatsächlich das gesagt hatte, was Gustav vorausgesagt hatte – und das nicht mal mit Absicht. „Irgendwann musst du ja auch mal recht haben“, versuchte Paula, die Situation zu retten und wurde leicht rot.
„Jaja, träum weiter. Na komm, wer zuletzt beim Ausgang ist, ist ein langweiliger Stein!“, forderte Gustav Paula heraus und Silver rannte, ohne eine Antwort abzuwarten, dicht gefolgt von Lilly los.
Am Eingang zur Höhle, die aus dem Regenbogental führte, angekommen, stoppte Lilly so scharf, dass Paula fast hinabfiel. „Hey Lilly! Vorsicht!“, rief Paula erschrocken und drehte sich zu Gustav um, als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Der kam mit Silver hinter ihr zum Stehen und kicherte. „Na du langweiliger Stein?“
„Irgendwann musst du ja auch mal schneller sein“, äffte Gustav Paula nach und lächelte, bevor er hinzufügte: „Kommst du morgen wieder?“
Paula tätschelte Lillys Hals, der ganz verschwitzt vom Galopp war, und antwortete: „Ja, müsste gehen. Ich komme dann wahrscheinlich wieder so zur gleichen Zeit wie heute.“
„Wunderbar, ich werde auf dich warten. Dann bis morgen!“, verabschiedete sich Gustav und ritt mit Silver zurück zu seiner Hütte, während Paula und Lilly mithilfe der magischen Scherbe den Weg zurückritten.
Auf Reiterhof Sommergrün, oder auch Emilys Hof genannt, angekommen, putzte Paula Lilly ausgiebig, brachte die Stute in ihre Box und gab ihr noch einen Apfel zum Abschied. Lilly blickte in Paulas Augen und plötzlich hörte Paula eine Frage in ihrem Kopf: Hast du etwas über die Legende erfahren? Verwirrt blickte sie Lilly an. Hatte sie gerade, so wie schon zweimal, Lillys Gedanken gehört beziehungsweise gedacht? „Lilly?“, fragte Paula zögernd, „hast du mich gerade gefragt, ob ich etwas über die Legende erfahren habe?“
Gleichzeitig kam Paula sich ganz schön irre vor und hoffte, dass nicht zufällig ihre Reitlehrerin Miriel in den Stall kommen würde und hören würde, wie Paula allen Ernstes ein Pferd fragte, ob es ihr eine Frage gestellt hatte. Das könnte sie Miriel nur schlecht erklären, ohne sich lächerlich zu machen. Lilly wieherte und warf ihren Kopf zurück, was Paula als klares Ja abstempelte. „Nein, habe ich nicht. Ich habe gestern drei Stunden im Internet gesucht, ob ich vielleicht was dazu herausfinde, aber es gab keine Treffer. Ich kann ja sonst morgen mal die Schulbibliothek durchforsten. Meine Schule ist zwar nicht auf Seaney, sondern auf dem Festland, aber vielleicht finde ich dort ja trotzdem etwas“, beantwortete Paula Lilly die Frage, da es ja schließlich nicht schaden konnte, sie zu informieren. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Kann es sein, dass ich deine Gedanken... denken kann? Okay warte, das hört sich komisch an. Kann es sein, dass du mir zeigen kannst, was du denkst?“
Das hörte sich zwar immer noch merkwürdig an, jedoch traf es das, was Paula sagen wollte. Lilly schnaubte und wandte sich einem Leckstein an der Boxenwand zu. Daraus schloss Paula: „Du weißt es wohl auch nicht, oder? Aber wenn ja, wäre das echt cool – und echt schräg. Aber selbst, wenn wir das wirklich können, wirft das ja voll viele Fragen auf. Warum können wir das? Wie ist das möglich? Hängt das mit der Legende zusammen? Können wir.“
Als Lilly sich kurzerhand Heu schnappte und es über Paula fallen ließ, unterbrach sich Paula und sagte lachend: „Ist ja gut, Lilly! Du hast ja recht, das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir finden das schon noch raus. Ich muss jetzt eh nach Hause, sonst bekomme ich noch Ärger. Mach’s gut, ich komme morgen wieder.“
Mit diesen Worten wandte sich Paula ab und ging aus dem Stall nach Hause.
Auf dem Weg fuhren Paulas Gedanken Achterbahn. Mindestens 100 Fragen schwirrten durch ihren Kopf und egal, wie oft sie überlegte, warum sie Lillys Gedanken manchmal hören konnte, sie fand keine schlüssige Antwort. Außerdem war sie sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Einerseits war es schon cool, andererseits aber echt verrückt. Sie musste unbedingt aufpassen, dass sie nicht aus Versehen jemandem davon erzählte. Gedankenverloren klingelte sie an der Haustür, als sie angekommen war und zuckte zusammen, als ihre Mutter die Tür öffnete und losschimpfte: „Wo warst du so lange, Paula? Du wolltest um 18 Uhr zurück sein, hast du überhaupt eine Ahnung, wie spät es ist?“
Paula setzte zu einer Antwort an, doch Sadie redete direkt weiter: „Es ist fast 19 Uhr! Du kannst doch nicht eine Stunde später als abgemacht wegbleiben, ich habe mir Sorgen gemacht, dass dir sonst was passiert ist. So lasse ich dich nicht nochmal aus dem Haus, wenn ich nicht genau weiß, wo du bist.“
„Tut mir leid, ich habe einfach die Zeit vergessen und stand noch länger bei Lilly im Stall. Nächstes Mal bin ich pünktlich wieder da, tut mir leid“, entschuldigte sich Paula zähneknirschend.
„Morgen wirst du einfach mal nicht ausreiten gehen, sondern für die Arbeiten lernen. Und am Wochenende hast du eh Reitunterricht, sodass du danach nicht noch extra ausreiten musst. Montag können wir dann weitersehen“, bestimmte Sadie.
„Aber…“, fing Paula an, wurde jedoch sofort unterbrochen: „Kein aber, und jetzt komm rein. Dein Essen ist schon kalt, aber du kannst es dir in der Mikrowelle aufwärmen.“
Da Widerspruch keinen Sinn hatte, folgte Paula ihrer Mutter mit eingezogenem Kopf ins Haus und wärmte dann ihren kalten Nudelauflauf auf. Ihr Vater Kersten, der noch am Esstisch saß, blickte Paula einen Moment einfach nur an und fragte dann: „Wo warst du so lange? Wir haben uns Sorgen gemacht.“
„Ich war ausreiten und habe die Zeit vergessen. Kommt nicht wieder vor, versprochen“, entschuldigte sich Paula nochmals und war froh, als Kersten nur „Das will ich hoffen“ antwortete, sich einem Prospekt zuwandte und Paula daher keine ungemütlichen Fragen stellte.
Kapitel 5
Am nächsten Morgen fühlte sich Paula viel ausgeschlafener als gestern. Sie war extra früh ins Bett gegangen, nachdem sie noch schnell ihre Englischhausaufgaben erledigt hatte und ein paar Minuten mit Lena telefoniert hatte. Der Schlaf hatte ihr gut getan und sie hatte tatsächlich nicht mehr lange wachgelegen, obwohl ihre Gedanken sich immer noch nicht beruhigt hatten. Die Müdigkeit hatte hinterher aber trotzdem Oberhand genommen. Als sie nach der Schule nach Hause kam, freute sie sich schon darauf, zu Gustav zu reiten. Also ging sie nach dem Mittagessen zur Haustür, stoppte jedoch, als hinter ihr die Frage erklang: „Wo willst du denn hin?“
Paula drehte sich wie in Zeitlupe um und nahm ihre Hand wieder von der Türklinke und als sie den Blick ihrer Mutter sah, fiel es ihr wieder ein: Sie hatte bis mindestens Montag Ausreitverbot. „Oh, stimmt, ich darf ja nicht ausreiten. Hatte ich vergessen, tut mir leid“, antwortete Paula geknickt, zog ihre Schuhe wieder aus und ging in ihr Zimmer.
Es frustrierte sie, dass sie nicht zu Gustav reiten konnte, zumal er glaubte, sie würde kommen. Und sie konnte ihm schlecht Bescheid sagen, schließlich hatte er weder ein Handy, noch ein Telefon, noch sonst irgendwas. Paula selbst hatte zwar ein Handy, benutzte es jedoch kaum, da Lena keines hatte und sie daher ihres nie in Lenas Gegenwart benutzt hatte. Das hatte dann dazu geführt, dass Paula selbst es auch nur wenig verwendete, da es nichts Wichtiges auf ihrem Handy gab. Sie nahm sich jedoch fest vor, Gustav zum Geburtstag ein Handy zu schenken – oder irgendwas anderes, um ihm Bescheid geben zu können, wenn sie nicht kommen konnte. Sie hoffte innig, dass er nicht die ganze Zeit auf Paula warten würde. Da sie eh nichts ändern konnte, beschloss sie, dass es nichts bringen würde, weiter darüber nachzudenken, und suchte ihre Schulsachen heraus. Sie musste noch jede Menge Hausaufgaben erledigen, die sie vor sich hergeschoben hatte und musste langsam mal mit Lernen anfangen, da sie die erste Arbeit in fünf Tagen schreiben würden und alle anderen direkt darauffolgten. Seufzend wandte Paula sich den Aufgaben zu, die sie bis Montag erledigen musste. Das waren Erdkunde, Deutsch und Geschichte. Sie entschied sich, mit Erdkunde anzufangen und legte los. Doch schon nach einer Weile konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Stöhnend legte sie ihren Stift zur Seite, nachdem sie schon zum dritten Mal die falsche Aufgabe angefangen hatte. So würde das jetzt eh nichts mehr werden. Paula holte ihre Scherbe aus ihrer Hosentasche. Wenn sie schon aufgrund mangelnder Konzentration nicht Hausaufgaben machen konnte und nicht zu Gustav konnte, wollte sie wenigstens anders produktiv sein. Sie entschied sich, ein bisschen ihre magische Kraft zu trainieren. Sie ging in die Küche und schnappte sich ein leeres Glas aus dem Schrank. Damit huschte sie wieder in ihr Zimmer und war froh, dabei nicht ihrer Mutter zu begegnen, da sie wohl schlecht erklären konnte, warum sie ein leeres Glas brauchte. Paula stellte es auf den Boden in der Mitte ihres Zimmers und trat ein paar Schritte zurück. Sie umklammerte die Scherbe, schloss die Augen und stellte sich das Glas randvoll vor. Sobald sie es sich genau vorgestellt hatte, ertönte über ihr ein Donner, der jedoch noch leiser war als letztes Mal, als sie ihre Kraft eingesetzt hatte. Danach schlug wie üblich der kleine, leuchtend blaue Blitz in die Scherbe ein und brachte dieses zum Leuchten, während blauer Nebel um Paula aufzog, sodass sie innerhalb von ein paar Sekunden nicht mal mehr die Wände ihres Zimmers erkennen konnte. Sie kniff die Augen zusammen, als die Scherbe immer heller wurde. Als sie merkte, dass die Scherbe wieder dunkler wurde, öffnete sie langsam die Augen. Der blaue Nebel löste sich langsam auf, sodass nur noch einzelne Nebelschwaden in Paulas Zimmer herumwaberten. Plötzlich fühlte Paula etwas Nasses an ihren Füßen und blickte hinab. Das Glas war nach wie vor leer, dafür war der Boden um das Glas herum komplett durchnässt, samt Paulas Füßen. Paula stöhnte auf und murmelte: „Das sollte ich wohl nochmal üben.“
Sie legte die Scherbe auf ihren Schreibtisch und um ihren Boden zu trocknen, lief sie ins Bad und schnappte sich ein Handtuch. Als sie gerade wieder auf dem Weg in ihr Zimmer war, kam ihre Mutter ihr entgegen, die gerade die Treppe hochkam. Sie fragte besorgt: „Paula, alles okay?“ „Äh, klar, was sollte denn nicht okay sein?“, fragte Paula möglichst unschuldig und hoffte inständig, dass Sadie nichts von ihrem kleinen Versuch mitbekommen hatte. Da würde sie sich wohl schlecht rausreden können.
„Ich habe irgendein Geräusch gehört, so, als wäre etwas runtergefallen“, erklärte Sadie und Paula atmete unhörbar aus.
Ihre Mutter hatte lediglich den Donner gehört, aber da er dieses Mal viel leiser gewesen war, hatte sie es für etwas Runtergefallenes gehalten. Erleichtert antwortete Paula: „Alles gut, mir ist nur aus Versehen meine Stehlampe umgefallen, weil ich gegen gestoßen bin. Aber es ist nichts schlimmes passiert.“
„Und was tust du dann mit dem Handtuch?“, fragte Sadie skeptisch.
„Nun ja, die Lampe ist leider auf mein Wasserglas, was ich mir mitgenommen habe, gefallen und deshalb ist das Wasser ausgelaufen“, meinte Paula und fand, dass sich das sehr überzeugend anhörte, da ihre Stehlampe auch genau neben dem Schreibtisch stand.
„Sind deine Schulsachen jetzt überschwemmt?“, fragte ihre Mutter erschrocken.
„Nein nein, das Wasser ist daneben umgekippt und auf den Boden gelaufen“, beruhigte Paula sie.
Erleichtert seufzte Sadie und beendete das Gespräch mit den Worten: „Gut, das ist ja nicht so schlimm. Dann geh mal und wisch das auf, ich will dich mal nicht weiter stören.“
Froh, nicht weiter von ihrer Mutter durchlöchert zu werden, setzte Paula ihren Weg in ihr Zimmer fort und schloss die Tür hinter sich. Während die den Boden trocken rubbelte, dachte sie an ihren missglückten Versuch. Der Donner war wieder leiser gewesen. Konnte es sein, dass er