Split - Elisa Schön - E-Book

Split E-Book

Elisa Schön

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Beschreibung

Nach ihrem gescheiterten Rettungsversuch ist Rachel fest entschlossen, jegliche Verbindung zur Welt der Seelen endgültig zu kappen und sich stattdessen endlich auf ihre Zukunft zu fokussieren. Doch schon bald stellt sich heraus, dass sich ihr Vorhaben nur schwerlich umsetzen lässt - nicht nur, weil sie gewissen Personen nicht ewig aus dem Weg gehen kann, sondern auch, weil sich ihr auf einmal die Seelen selbst aufzudrängen scheinen. Bald ist klar, dass sie einer Bedrohung von ungeheurem Ausmaß gegenübersteht, die sie nicht allein bewältigen kann. Tiefgreifende Kenntnisse und weitere Unterstützung sind dringend gefragt, um dem Problem, was tief in Luminaris rumort, entgegenzuwirken und die selbst heraufbeschworene Katastrophe zu verhindern, solange es noch möglich ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Split 2

In den Tiefen von Luminaris

Elisa Schön

© 2023 Elisa Schön

ISBN Softcover: 978-3-347-97488-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-97489-0

ISBN E-Book: 978-3-347-97490-6

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz- Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

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Prolog

Die regenschweren Wolken, die träge über den Himmel zogen, kündigten zweifellos ein Unwetter an. In wenigen Minuten würde die drückende Stille von laut prasselndem Wasser erfüllt sein, das sich auf der lockeren Erde in großen Pfützen sammeln sollte.

Gedankenverloren ließ der alte Mann seinen Blick über die Baumwipfel in der Ferne schweifen, die sich unter dem zunehmend stärker werdenden Wind bogen und schwankten. Stumm wanderte sein Blick tiefer, über die Reihe immergrüner Nadelbäume Richtung Boden, von dort aus bis zur Wasseroberfläche des Sees, die sich nur ein paar Meter, die auf die Distanz kaum ausmachbar waren, vor ihren Stämmen kräuselte. In ihm spiegelte sich das dunkle Grau des Himmels, schwappte darin umher, als gehöre die Farbe dem See selbst. Ebenso unruhig, wie dort das Wasser rumorte, ging es auch tief im Inneren des Mannes vor. Sicher war mehr als nur einfacher Regen zu erwarten. Ein heftiges Gewitter braute sich dort zusammen, die Zeichen kannte er mittlerweile genauer als alles andere. Er hatte oft genug aufziehende Gewitter beobachtet, minutenlang studiert, manchmal saß er fast eine Stunde still da, bis Donner und Blitz seine Beobachtungen abrupt beendeten. Man sollte meinen, nach all den Jahren hätte er seine Angst verloren, die Angst, die man unter normalen Umständen nur einem kleinen Kind zugeordnet hätte. Aber was waren schon normale Umstände? Was für ihn mittlerweile fast als normal galt, würde wohl nie darunterfallen. Und überhaupt, wer war schon in der Lage, seine Ängste zu beurteilen? Ein leises Rascheln zu seiner Linken holte ihn zurück ins geschützte Haus, zurück hinter die ihn von dem Gewitter trennende, leicht zerkratzte Glasscheibe mit den schweren Wollvorhängen davor, zurück zu dem einzigen atmenden Wesen, das er nicht abstieß. Er spürte ihren Blick auf seiner Haut, auch ohne sich vom schaurigen Schauspiel am Himmel abzuwenden. Nein, nicht mal sie war in der Lage, seine Ängste zu beurteilen. Dabei kannte sie sie alle – in- und auswendig, jede einzelne, nach Intensität, Ursprung, allem. Doch um ihren Normalitätsgrad zu beurteilen, brauchte es eben mehr als nur Kenntnis über sie selbst, sondern auch über ihren Maßstab. Und die besaß sie noch weniger als er selbst.

„Möchtest du wirklich wieder hinausschauen, bis es passiert?“, erklang ihre sanfte Stimme und stellte die leicht vorwurfsvolle Frage, auf die er gewartet hatte. Sie fragte ihn jedes einzelne Mal, dabei kannte sie die Antwort längst. Manchmal wunderte er sich, warum sie überhaupt noch fragte, aber jedes Mal sagte er sich selbst, dass sein Verhalten ebenso beständig und doch unbegreifbar für sie sein mochte. Außerdem hatte doch jeder irgendein Ritual, dem man nachging, ohne recht zu wissen, warum. Als eine erneute Windbö ausholte und heulend gegen das Fenster donnerte, hob er seinen Blick wieder zu den Baumwipfeln. „Es wird wohl ein heftiger Sturm werden. Wollen wir hoffen, dass die Pflanzen dem standhalten“, informierte er sie, ohne auf ihre Frage einzugehen. Dabei waren die Pflanzen dem gewachsen, sicherlich – mehr als er auf alle Fälle.

Sein Schweigen bezüglich der Frage war ohnehin Antwort genug. Am Rande seines Blickfeldes tauchte ihr Kopf auf, und er nahm wahr, wie sie diesen tadelnd schräglegte und dann ebenfalls nach draußen blickte.

„Das ist nicht der erste Sturm, den sie aushalten müssen“, gab sie zu bedenken, „ich bin mir sicher, so schlimm wird es nicht, dass sie diesem nicht auch trotzen.“

Es war lächerlich, wie sie sich über solch banale Dinge unterhielten, nur um dem eigentlichen Fokus auszuweichen.

Schweigen folgte ihrer Einschätzung. Minuten verstrichen, in denen sie nebeneinandersaßen und nur darauf zu warten schienen, dass das Gewitter in Fahrt kam.

„Lass uns die Vorhänge zuziehen“, bat sie schließlich leise.

Kaum merklich schüttelte er den Kopf. „Noch nicht.“

„Warum bist du nur so stur?“, fuhr sie ihn auf einmal an und sprang davon.

Damit schaffte sie es unerwarteterweise, seine Beobachtungen zu unterbrechen. Er drehte sich, die Stirn in Falten gelegt, ein Stück herum, um sie anzusehen. Unruhig rutschte sie auf der Tischplatte des alten, vernarbten Holztisches umher und schien gar nicht zu bemerken, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte.

„Was hast du?“, fragte er verwundert.

Endlich bemerkte sie seinen Blick und wirbelte herum, sodass sie ihn aus ihren funkelnden, schwarzen Augen besorgt anblickte. Dabei galt die Sorge kaum ihm.

Irgendwas beschäftigte sie. „Spuck schon aus“, grummelte der Mann und warf ihr einen aufmunternden Blick zu, der ein Versuch war, seine eigene Unsicherheit zu überdecken.

Sie haderte sichtlich mit sich. „Ich will dir keine Sorgen bereiten. Nicht noch mehr.“

„Wenn du nicht gleich mit der Sprache rausrückst, mache ich mir ohnehin genug Sorgen“, seufzte er und fuhr sich erschöpft über die Glatze, „wenn du unruhig bist, hat das normalerweise einen guten Grund.“

Als er das aussprach, drifteten seine Gedanken automatisch zu den Momenten, auf die er anspielte. Vor den zwei heftigsten Gewittern war sie genau so unruhig gewesen, ebenso wie als der unnatürlich starke Sturm vor Kurzem über das Land gefegt war.

„Irgendwas kommt auf uns zu“, gestand sie endlich und holte ihn damit in die Gegenwart zurück.

„Also wird das Gewitter doch sehr heftig“, schlussfolgerte er und konnte nicht verhindern, dass seine Augen sofort wieder zum Himmel drifteten.

„Nein, ich glaube, das hat nichts damit zu tun“, flüsterte sie sorgenvoll.

Ratlos sah er wieder zu ihr. Wie sie da saß, wirkte sie wie ein Häufchen Elend, als sei sie schuld an den schlechten Nachrichten.

„Wie meinst du das?“, hakte er verwirrt nach.

„Ich will dich nicht beunruhigen. Vielleicht ist es doch nicht so wild“, wiederholte sie, antwortete aber aufrichtig, „ich habe so ein Gefühl. Ich spüre, dass irgendwas auf uns zukommt, aber ich weiß nicht, was. Es ist aber groß, sehr groß.“

Sie sprang mit natürlicher Eleganz in die Höhe und hockte sich auf die Fensterbank, die Nase gegen das kalte Glas gerichtet.

Über ihre Worte nachdenkend folgte er ihrem Blick. Was konnte dieses Etwas sein? „Du meinst doch nicht etwa, es hat was mit…“, setzte er räuspernd an, zu verängstigt, um das Wort auch nur auszusprechen, an das er dachte. Wenn es nun etwas damit zu tun hatte?

Sie schluckte sichtbar und kniff unheilvoll die Augen zusammen. „Doch. Doch, ich glaube, genau damit hat es was zu tun. Irgendwas geht dort vor sich, und ich glaube, wir werden ganz bald herausfinden, was.“

Wie zur Untermalung ihrer Worte, bei denen sich alles im Inneren des Mannes zusammenzog und seine Augen sich entsetzt weiteten, knallte ein gewaltiger Donner am Himmel. Am liebsten wollte er ihre Worte abtun und sie als nicht mehr als leere Behauptungen anerkennen. Fast auf die Sekunde genau zerriss ein gigantischer Blitz den Himmel. Abrupt sprang er auf, als prasselnder Regen dem Startsignal des Unwetters folgte, riss die dicken Vorhänge zu und blieb mit ihr und seinen düsteren Vorahnungen im Dunklen zurück.

Kapitel 1

„Meine Güte, jetzt hab dich doch nicht so!“, tadelte Merle kopfschüttelnd und stemmte streng die Hände in die Hüften.

Für die Kritik meiner besten Freundin hatte ich aber gerade herzlich wenig Aufmerksamkeit, denn ich hatte alle Hände voll zu tun, und das im wahrsten Sinne des Wortes. „Ich hoffe, du meinst nicht mich, sondern diesen zappelnden Flohpelz“, keuchte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als besagter Flohpelz, eher bekannt als Yorkshire-Terrier Joey aus dem Tierheim, in dem Merle immer aushalf, zu einer erneuten Strampelattacke ansetzte und mir mit den kleinen Hinterpfötchen kräftig den Bauch bearbeitete.

„Natürlich mein ich dich! Halt Joey doch nicht so weit von dir, als wäre er ein bissiges Monster. Sonst musst du ihn adoptieren, weil mit solch einem Bild niemand anders auch nur auf die Idee kommt“, ordnete Merle erbarmungslos an.

Sie hatte gut reden, schließlich hatte sie bloß eine faustgroße Kamera in den Händen, die deutlich weniger strampelte. „Scheinbar gefällt es Joey aber, als bissiges Monster aufzutreten. In Kuschellaune scheint er jedenfalls nicht zu sein“, murrte ich und unternahm dennoch, Merle zuliebe, einen weiteren Versuch, Joey näher an meine Brust zu bringen. Dafür wurde ich mit weiteren Tritten belohnt.

„Wäre ich Joey, würde ich auch nicht mit jemandem kuscheln wollen, der mir so skeptisch gegenübersteht. Das spürt er“, stellte sich Merle allen Ernstes auf die Seite dieses unkooperativen Hundes.

„Von Solidarität deiner besten Freundin gegenüber hast du also auch noch nichts gehört, ja?“, klagte ich scherzhaft, nach wie vor bemüht, den quengelnden Joey irgendwie an mich zu bekommen.

„Hey, das sind wertvolle Ratschläge, die du hier von mir erhältst. Das ist Solidarität vom Feinsten.“

„Ich erinnere dich daran, wenn ich irgendwann am Zug bin“, drohte ich.

Joey begann zu fiepen und wand sich in meinen Händen, die Hinterpfoten entschieden in meinen Bauch gestemmt. „Lass ihn runter, dann machen wir eben Bilder auf dem Boden“, seufzte Merle theatralisch und ließ die Kamera sinken.

Zutiefst erleichtert leistete ich ihrem Befehl Folge und setzte Joey auf das kurze Gras des Hundeauslaufs, auf dem wir uns befanden. Ich könnte schwören, dass er mindestens genau so froh über die gewonnene Distanz war, denn er sauste direkt los und drehte hechelnd Kreise auf der Wiese.

Erleichtert blies ich die Luft aus meinen Lungen und entspannte meinen Bauch, der nun endlich von der Zwangsmassage befreit war. Joeys Tritte waren nicht fest gewesen, aber angenehm war etwas anderes. Allerdings konnte ich Merle dafür nicht verantwortlich machen. Sie war es zwar gewesen, die mich überzeugt hatte, heute mitzukommen, aber ich hatte mich bereitwillig darauf eingelassen, mit ihr eine Runde durch die Hundehallen zu spazieren und die Neuzugänge des Tierheims zu fotografieren. Die Bilder waren zum einen für die Homepage des Tierheims, zum anderen sollten zwei bis drei in der städtischen Zeitung landen, um schnell neue Besitzer für die Tiere zu finden. Aber als ich zugestimmt hatte, Merle zu helfen, war mir nicht bewusst gewesen, dass ich mich mit so stürmischen Hunden wie Joey rumschlagen musste, während Merle seelenruhig die Fotografin spielte. Jetzt stand sie mit vor der hellblauen Bluse verschränkten Armen da und folgte mit den Augen nachdenklich Joey, der nun begann, an einem Ast zu nagen. „Ich glaube, in Aktion macht sic1h Joey sowieso besser“, tröstete ich sie und fügte trocken hinzu, „auf dem Arm sieht er so aus wie ein Kuschelhündchen, und das ist der keineswegs.

Zumindest nicht bei mir.“

„Aber wir haben bisher jedes Bild auf dem Boden gemacht. Lino im Körbchen liegend, Fritz mit dem Ball im Maul, Josefa und Justus übereinanderrollend…“, zählte Merle auf und zog eine unzufriedene Schnute, „wir brauchen mal etwas Abwechslung von diesem ganzen Gras! Die Fotos müssen so individuell sein wie die Tiere selbst. Darin liegt doch die Kunst der Fotografie!“ Fotografie war eines der vielen Interessengebiete von Merle. Ihre Erfahrung und ihr geübter Umgang mit der Kamera waren wohl das Einzige, was mich davon abhielt, einen Rollentausch vorzuschlagen und selbst zu fotografieren, während sie die Hunde in Position brachte. Schulterzuckend antwortete ich: „Dann machen wir halt von einem anderen Hund ein Foto auf dem Arm.“

Merle blickte mich mit einem schelmischen Funkeln in ihren hellbraunen Augen an. „Klar, wenn du einen Hund auf dem Arm haben willst, der stehend halb so groß ist wie du selbst, bitte.“

„Oh nein, vergiss es“, kündigte ich vehement an und hob abwehrend die Hände, „haben wir etwa nur noch große Hunde in der Warteschlange?“

„Ja, die beiden Schäferhunde und Socke“, meinte Merle, nach wie vor grinsend.

Kopfschüttelnd fragte ich mich zum wiederholten Mal heute, wie der Rottweiler-Mix, der meiner Meinung nach aussah, als würde er dich gleich quer über die Wiese jagen wollen, zu dem Namen „Socke“ gekommen war. Socken und Fetzen waren es maximal, die durch die Gegend fliegen würden, würde er ein wenig Gas geben.

„Dann ist halt dieses Mal kein Hund auf dem Arm dabei“, beschloss ich, „davon geht die Welt auch nicht unter.

Außer, du möchtest dich mit Joey versuchen.“

Kurz schien sie das ernsthaft in Erwägung zu ziehen, obwohl der Terrier gerade über die Wiese fetzte und ausgelassen bellend Luftsprünge einbaute. Aber dann schien der realistische Teil in ihr den idealistischen zu überwiegen. Seufzend ergab sie sich: „Gut, dann lass uns versuchen, einen Schnappschuss beim Rennen hinzubekommen.“

Nach einigen Versuchen hatten wir tatsächlich ein paar schöne Momentaufnahmen von Renn-Joey ergattert und gaben uns damit zufrieden. Die letzten drei Hunde waren weniger stürmisch, sondern ziemlich gelassen, sodass wir mit diesen keine Probleme hatten. Nachdem alle drei nacheinander Model spielen durften, führten wir auch den letzten, Socke, zurück in seinen Zwinger.

Merle gab die Kamera im Büro ab und wir beschlossen aufgrund des strahlenden Sonnenscheins, Merles Liebling Rowsy, einen alten Bernhardiner, zu einem Spaziergang zu bewegen. Zwar herrschten winterliche Temperaturen im einstelligen Bereich, aber nach den letzten verregneten und durchgehend grauen Novembertagen waren wir uns einig, dass man die paar Sonnenstunden ausnutzen musste. Lange würden diese laut Wettervorhersage nämlich nicht bleiben.

Wir entschieden uns, unsere übliche Feldrunde einzuschlagen und schlenderten gemächlich nebeneinander her, im Einklang mit Rowsy, der entspannt zwischen uns trottete und immer mal die Schnauze in die Höhe reckte. „Hast du schon für Bio gelernt?“, fragte Merle fröhlich, um ein Gespräch zu beginnen.

„Och, hör mir auf mit Bio“, klagte ich mit theatralischem Seufzer, „da genießt man einmal das Wochenende und schon wird man so unsanft daran erinnert, dass die Klausurenphase vor der Tür steht.“

„Hey, du solltest mir danken. Ohne mich würdest du sicher keinen Gedanken daran verschwenden, bis du am Ende schwitzend und zitternd vor Angst im Unterricht sitzt, weil du nicht gelernt hast“, prophezeite Merle, dabei stimmte das nicht einmal.

Gekränkt verschränkte ich die Arme vor der Brust und erwiderte: „Das würdest du vielleicht tun. Aber wenn ich nicht lerne, dann stehe ich aufrecht dazu.“

„Ja, weil dir deine Noten völlig schnuppe sind“, rügte mich Merle kopfschüttelnd und blieb stehen, als Rowsys Aufmerksamkeit an einem Grashalm hängenblieb.

Ich zuckte mit den Schultern. Unrecht hatte sie nicht. Ehrlich gesagt hatte ich nie sonderlich großen Wert auf gute Noten gelegt. Solange ich durchkam, war mir alles weitestgehend recht. Und nach dem diesjährigen Sommer hatte sich das den Umständen entsprechend natürlich nicht gebessert. Meine Gedanken schweiften davon, zu den vielen Ereignissen der letzten Monate. Erst hatte ich durch den Tod meines Opas und meiner Eltern das Interesse an allem verloren, und dann zu allem Überfluss… mit einem heftigen Ruck zwang ich mich, meinen Gedankenfluss zu unterbrechen und mich wieder auf die Gegenwart zu fokussieren. „Tut mir leid, ich wollte dir damit nicht zu nahetreten“, entschuldigte sich Merle sofort, die meinen verzerrten Gesichtsausdruck scheinbar auf ihren Kommentar bezogen hatte, und trat einen Schritt auf mich zu.

Ich schüttelte schnell den Kopf und wich ihr aus: „Nein, nein, alles gut.“

„Sicher?“, hakte sie natürlich nach, und ich erwiderte eine Spur heftiger als geplant: „Ja, sagte ich doch.“ Etwas versöhnlicher fügte ich schnell hinzu: „Lass uns einfach über etwas anderes reden, ja?“

Schließlich war es unfair, die Wut, die mir selbst galt, an Merle auszulassen. Ich hatte mir strikt verboten, an diesen Abschnitt meines Lebens zu denken. Er lag hinter mir, und ich würde dafür sorgen, dass er das auch blieb. Nicht umsonst hatte ich unglaublich viel Mühe in die letzten zwei Wochen investiert, um mein Leben in einigermaßen normale Bahnen zu lenken. Nicht, dass ich behaupten würde, das schon geschafft zu haben, aber auf einem guten Weg war ich allemal: Meine Gedanken kreisten nicht mehr jeden Tag um immer dieselben Personen und Themen, sondern ich hatte wieder Zeit für normale Dinge – wie Zeit für Merle. Sie war sowieso wieder zu meiner allergrößten Stütze geworden, die ich ungewollt verdrängt hatte, und half mir mehr denn je. Sie sorgte dafür, dass ich regelmäßig rauskam und mit ihr Zeit verbrachte, schrieb mir stets Nachrichten und hatte mich schon drei Mal dazu gebracht, Schritte auf Oma Lieselotte zuzumachen, um endlich die kühle Wand zwischen uns zu durchbrechen. Damit hatten wir sogar schon kleine Erfolge erreicht: Mir fiel in den letzten Tagen immer mehr auf, wie sie öfter auf mich zuging und heute Morgen beim Frühstück hatte sie mich sogar leicht angelächelt. Ich war so perplex gewesen, dass ich mittlerweile nicht mal mehr wusste, was ich gesagt hatte, das sie zum Lächeln gebracht hatte. Aber es war definitiv ein Fortschritt, den es zu steigern galt. Ich war ehrlich stolz auf mich, behaupten zu können, dass ich insgesamt zufriedener war als in den letzten Monaten.

Bis auf einzelne Momente, die ich aber mit allem anderen in die Verbotene-Gedanken-Kiste gesperrt und fest verschlossen hatte, ging es mir solide. Ich konnte nicht behaupten, dass ich keine Verluste erlitten hatte. Im Gegenteil. Aber mich auf diese zu fixieren, hielt mich nur davon ab, endlich leben zu können. Und deshalb taten Merle und ich alles, was wir konnten, um diese Gedanken zu vermeiden. Wie ich mir gedacht hatte, war auch jetzt wieder auf Merle Verlass. Sie zögerte keine Sekunde und plauderte: „Klar. Aber glaub ja nicht, dass ich dich ohne Lernen davonkommen lasse, Fräulein. Ich habe mir schon einen Lernplan erstellt, an dem wirst du definitiv teilhaben. Wir können uns Kekse und Tee oder Kakao machen und uns dick eingemummelt zusammen auf mein Bett setzen. Apropos Tee, ich habe gestern beim Einkaufen drei neue Teesorten gefunden! Die musst du probieren.“

Während sie mir ausführlich darlegte, was für Teesorten sie gefunden hatte, hörte ich ihr schmunzelnd zu und genoss die Ablenkung. Die Klausurenphase würde sich bis Weihnachten erstrecken und würde sicherlich kein Zuckerschlecken werden, aber mit Merle an meiner Seite und so einer gemütlichen Umgebung würde ich da sicher irgendwie durchkommen.

Gegen das Rollo prasselnder Regen weckte mich am nächsten Morgen, noch bevor es mein Wecker tun konnte. Grummelnd drehte ich mich einmal um und warf einen blinzelnden Blick auf meine Uhr. In knapp einer Viertelstunde musste ich ohnehin aufstehen, also lohnte sich erneutes Einschlafen jetzt auch nicht mehr. Dennoch gönnte ich mir noch ein paar Minuten eingemummelt in meinem warmen, weichen Bett. Wie ich höchst erfreut feststellte, hatte ich gut geschlafen. Das bedeutete: Keine Albträume, kein Aufschrecken mitten in der Nacht, und auch keine anderen wirren Fantasien, die mich die letzten Wochen geplagt hatten. Seit ich mir verbot, an die Zeit zu denken, waren auch die Träume Stück für Stück weniger geworden, als zöge sich endlich dieser verdammte Teil aus meiner Seele zurück, zu der er ohnehin nicht richtig gehörte. Erst, als meine Finger meinen Brustkorb streiften, bemerkte ich, dass meine Hand ungewollt dahin gewandert war, wo stets meine Schmetterlingskette gehangen hatte. Doch bevor ich die Kontrolle über meine Gedanken gänzlich verlor, lenkte ich sie rasch vom Thema Seele weg – denn dachte ich an meine Identität als Seherin, kamen auch alle anderen Gedanken, und das galt es, um jeden Preis zu verhindern. Deshalb hatte ich die letzten Wochen auch damit verbracht, allerlei Bemühungen aufzubringen, mich von diesem Teil meiner selbst zu distanzieren und hatte schweren Herzens meine Kette abgenommen und sicher verstaut, auch wenn ich so viel Zeit investiert hatte, meine Kräfte zu trainieren. Aber sie gehörten nun ebenfalls der Vergangenheit an, wie ich mir immer wieder eindringlich sagte. „Jetzt mach dir nicht den Erfolg der guten Nacht kaputt, indem du jetzt daran denkst“, murmelte ich laut, um mich endlich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und schwang mich nun doch schon früher als nötig aus dem Bett. Auf leisen Sohlen, um meine Oma nicht zu wecken, schlich ich ins Bad, wo ich mir eine Handvoll frisches Wasser ins Gesicht spritzte und mich umzog.

Anschließend warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel, während ich mir meine langen, schwarzen Haare kämmte. Die beiden vorderen, pinken Strähnen hatten es irgendwie geschafft, sich völlig mit dem Rest zu verknoten, weshalb die ganze gewonnene Zeit dafür draufging, sie zu entwirren. Aber als ich letztendlich nochmal mein Spiegelbild betrachtete, war ich insgesamt zufrieden. Etwas müde sah ich vielleicht aus, aber hey – es war schließlich Montag. Als ich die Treppe hinuntertapste, konnte ich das leise Klirren von Tellern hören. Oma war scheinbar in der Zwischenzeit aufgestanden. Ich betrat die Küche und wünschte ihr einen guten Morgen, was sie mit noch verschlafener Stimme über die Schulter zurückwünschte. Tatsächlich war das mittlerweile eine Regelmäßigkeit geworden. Sie trug wie immer noch ihren rosa Morgenmantel, aber heute sogar noch ihre Schlafmaske auf ihren grauen, voluminösen Haaren. „Warum bist du schon auf?“, fragte ich beiläufig, während ich mir eine Scheibe Brot aus dem Brotkasten angelte.

„Der Regen“, antwortete Oma Lieselotte kurz angebunden, ohne mich anzusehen, und räumte fahrig im Geschirrspüler herum.

Stimmte ja. Während andere sich einfach auf die andere Seite drehten und weiterschliefen, insofern nicht wie bei mir die Schule nach ihnen rief, weckte das prasselnde Geräusch in meiner Oma ihre größte Angst. Die Angst vor Gewitter. Schließlich war mein Opa bei einem Unwetter durch einen Blitzschlag gestorben.

Nachdenklich strich ich Marmelade auf die Brotscheibe. Es war mir bis heute ein Rätsel, wie man solch ein Pech haben konnte, denn es war sogar sehr viel wahrscheinlicher, ein vierblättriges Kleeblatt zu finden - aber zu ändern war es nicht. Und mir selbst fehlte nach wie vor jegliche Erinnerung daran. Erst, als das Messer in meiner Hand über das Brett schabte, weil ich versehentlich so doll zugedrückt hatte, dass ich das Brot zerdrückt hatte, fiel mir auf, dass ich schon wieder die Kontrolle über meine Gedanken verlor. Verärgert legte ich das Messer beiseite. Was war denn heute nur los?

Die letzten Tage waren deutlich besser verlaufen, deutlich ungestörter. Ich griff nach meinem Handy, was ich neben dem Brett abgelegt hatte und öffnete meine Wetterapp. „Es soll bis nachmittags regnen, aber auch nur das. Und dann soll es wieder aufhören“, teilte ich Oma sanft mit, um sie zu beruhigen.

Wenn alles glatt lief, musste sie heute kein Gewitter ertragen. Ich wünschte es mir. Nicht nur für sie, sondern auch für unser Verhältnis, was immer wieder etwas einfror, wenn es ihr nicht gutging. Demnach reagierte sie jetzt auch nicht im Geringsten auf meinen Einwand. Ich schaltete mein Handy wieder aus und wandte mich meinem massakrierten Brot zu. Schmecken tat es immerhin trotz seines Aussehens, also verschlang ich es rasch und begab mich dann nochmal zum Zähneputzen ins Bad, bevor ich kurz darauf zum Bus ging.

Nach zwei ziemlich unspektakulären Stunden Mathe begleitete ich Merle in der Pause zum Kiosk, damit sie sich ein Käsebrötchen kaufen konnte. Tatsächlich hatte der Regen beschlossen, eine kurze Pause einzulegen, denn der Himmel war zwar verdammt düster, aber es war immerhin trocken. Also nutzten Merle und ich die Gelegenheit und gingen, bewaffnet mit dem gekauften Brötchen, auf den Hof, anstatt uns in die proppenvolle Aula zu quetschen und über den Lärmpegel der vielen Schüler anzuschreien. Wir hatten seit zwei Wochen eine neue Route, um zu verhindern, zufällig ihm über den Weg zu laufen. Die letzten Dienstage war ich stets krank und auf mysteriöse Weise am Mittwoch wieder topfit gewesen. Nur Merle wusste, warum ich mich wirklich dienstags nie blicken ließ, auch wenn sie es nicht guthieß. „Du kannst den Dienstag nicht auf Dauer einfach aus deinem Leben streichen, als existiere er nicht. Wenn du ein normales Leben anstrebst, musst du dich ihm früher oder später stellen“, hatte sie gemeint, aber ich hatte nur schwach gegrinst und erwidert:

„Irgendwann muss ja aber nicht diese Woche sein.“

Sie hatte nur geseufzt, denn ihr war bewusst, dass sie mich nicht umstimmen konnte. Und ich war ihr dankbar, dass sie meine Entscheidung trotz Meinungsverschiedenheiten respektierte. Umso überraschter war ich nun, als sie aus dem Nichts vorschlug: „Wie wäre es, wenn du heute zu mir kommst und wir gemeinsam unsere Politikvorträge für morgen perfektionieren?“

Perplex starrte ich sie an. „Morgen ist Dienstag.“

Kräftig nickte Merle, bevor sie meinte: „Jep, und morgen sollen die ersten Gruppen ihre Vorträge halten.“

Immer noch verwirrt erwiderte ich: „Na und? Dann stellen wir eben Donnerstag oder darauf die Woche vor. Wir beide haben unseren doch nicht mal angefangen.“

„Und genau das ist es! Als deine beste Freundin habe ich dafür zu sorgen, dass deine Faulheit nicht unserer guten Note im Weg steht“, argumentierte Merle bestimmt und biss in ihr Brötchen.

„Gut, meinetwegen können wir den Vortrag heute vorbereiten. Aber das klärt immer noch nicht, warum du ausgerechnet morgen vortragen willst“, grummelte ich stirnrunzelnd.

„Warum nicht?“, flötete Merle unschuldig und klimperte mit ihren Wimpern.

Mit einem tiefen Seufzer, um ruhig zu bleiben, blieb ich stehen, stemmte meine Hände in die Hüften und forderte: „Okay, raus mit der Sprache. Du weißt genau, dass ich morgen krank sein werde. Warum beharrst du auf einmal so auf morgen?“

Nun war es Merle, die seufzte und endlich mit der Sprache rausrückte, wenn auch kleinlaut: „Okay, tut mir leid. Ich weiß, dass du nicht kommen möchtest, aber möglicherweise hast du leider keine Wahl…“

„Warum nicht?“, fragte ich skeptisch. Die Richtung, die dieses Gespräch annahm, gefiel mir gar nicht.

Merle schien sich regelrecht zu winden, doch unter meinem drängenden Blick beichtete sie endlich: „Es könnte sein, dass Frau Johl mich ganz eventuell Donnerstag nach der Stunde gefragt hat, ob wir beide anfangen könnten, da sich das von der thematischen Reihenfolge her anbietet. Und es könnte sein, dass ich möglicherweise zugestimmt habe, weil ich nicht daran gedacht habe, dass du dienstags nicht kommst.“

Ich starrte sie an, sie blickte mit gequältem Gesichtsausdruck zurück. Dann zuckte ich mit den Schultern. „Dann muss sie eben doch eine andere Reihenfolge wählen. Kann schließlich passieren, dass jemand krank wird, damit muss sie rechnen.“

„Was?“, fragte Merle fassungslos, „nein, das kannst du nicht machen, Rachel! Es ist ihr vermutlich eh schon aufgefallen, dass du ausgerechnet die beiden letzten Dienstage nicht da warst und sonst schon. Das kannst du nicht nochmal bringen, ohne dass das ihre Aufmerksamkeit erregt.“

Ich wollte protestieren, doch Merle schob schnell ein langgezogenes „Außerdem“ hinterher, bevor sie weitersprach: „kennst du doch Frau Johl. Sie wird mich gnadenlos allein vorstellen lassen!“

Das war leider ein gutes Argument. Wenn unsere Politiklehrerin, so nett sie auch sonst war, etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde das erbarmungslos so umgesetzt. Um Worte ringend wedelte ich hilflos mit meinen Händen in der Luft herum und brachte schließlich zähneknirschend zustande: „Kannst du dann nicht allein vortragen? Ich verspreche dir, ich werde heute auch ganz viel dazu beitragen, dass der Vortrag gut wird, damit du nicht die meiste Arbeit hast. Bitte Merle…“

„Oh nein, vergiss es, Fräulein“, lehnte Merle direkt ab, „bei allem guten Willen, aber ich hasse Politik sowieso, da kannst du mich nicht im Stich lassen. Außerdem wird sie wie gesagt sicher skeptisch, wenn du einen dritten Dienstag in Folge fehlst. Früher oder später musst du dich dem Tag sowieso stellen.“

Den Rest der Pause verbrachte ich damit, Merle weiter voll zu jammern, aber scheinbar gab es keinen Weg drumherum, wenn ich keine schlechte Freundin sein wollte. Und das wollte ich nicht, während Merle alles für mich tat. Daher beugte ich mich meinem Schicksal und half dabei, den Vortrag vorzubereiten, auch wenn ich nach wie vor nicht begeistert war, ihn ausgerechnet am kommenden Tag halten zu müssen. Die Aussicht darauf verdarb mir den Tag über die Stimmung, was nicht unbemerkt blieb. Als Merle mich am Abend verabschiedete, drückte sie mich und meinte: „Tut mir wirklich leid. Aber ich weiß, dass du das schaffst, okay?“

„Schon okay, du hast das ja nicht mit Absicht gemacht“, tröstete ich sie zaghaft.

„Natürlich nicht, aber ich find’s dämlich, dass ich daran nicht gedacht habe und du nun nur wegen eines blöden Vortrags auf ihn treffen musst“, entschuldigte sich Merle ehrlich mitgenommen.

Bei ihren Worten begann mein Herz auf einmal, schneller zu schlagen – und zwar nicht, weil sie ihn erwähnt hatte, sondern weil mir eine Idee kam. Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein erleichtertes Grinsen auf meinem Gesicht ausbahnte, was über Merles Kopf beinahe sichtbare Fragezeichen entstehen ließ, so misstrauisch beäugte sie mich. „Aber das muss ich doch gar nicht“, warf ich in den Raum, immer noch dümmlich grinsend, „wer sagt denn, dass ich zu Physik gehen muss, nur weil ich bei Politik war?“

„Rachel, ich glaub, das ist keine gute Idee“, versuchte Merle noch, mich zu bremsen, aber die Idee war längst zu einem Plan geworden, der nur darauf wartete, umgesetzt zu werden.

Kapitel 2

Natürlich waren alle Versuche von Merle, mich doch noch „zur Vernunft zu bringen“, wie sie es nannte, zwecklos. Wir brachten den Vortrag am Dienstagmorgen direkt zu Beginn der Stunde hinter uns, und dem ersten Feedback nach zu urteilen, waren wir nicht schlecht gewesen. Am Ende der Stunde, als Frau Johl uns in die Pause entließ, gingen Merle und ich Richtung Forum.

„Bist du sicher, dass du es nicht versuchen möchtest? Rachel, das ist jetzt die Chance, dich deinen Ängsten zu stellen und ein Stück näher an ein normales Leben zu gelangen! Du musst ihn doch nicht mal anschauen, jetzt, wo ihr nicht mehr zusammenarbeitet“, brabbelte mich Merle ermutigend von der Seite zu, aber ich hob nur abwehrend die Hand.

„Ein andern Mal, okay? Ich bin noch nicht bereit dazu. Ich glaube, ihn jetzt zu sehen, würde mich nur völlig zurückwerfen, und das kann ich nicht riskieren“, erklärte ich und blickte Merle flehend an.

Natürlich brauchte ich ihre Zustimmung zum Schwänzen nicht, aber ich wollte ihr Verständnis, denn es bedeutete mir viel.

Endlich gab sie es auf: „Na schön. Ich vertraue darauf, dass du am besten weißt, was dir guttut und was nicht. Aber denk daran, dass du so nicht ewig weitermachen kannst.“

„Ich denk dran“, versprach ich ihr flüchtig, „danke.“ Kopfschüttelnd scheuchte Merle mich davon: „Na hopp, dann mach, dass du verschwindest. Nicht, dass du noch den Bus verpasst und doch noch hingehen musst. Ich sag dann nachher in der 5. Stunde, dass du dich nicht gut gefühlt und dich abholen lassen hast.“

Ich grinste meine beste Freundin an und drückte sie rasch. „Du bist die Beste, danke.“

Sie drückte mich zurück, dann wirbelte ich herum – und rannte beinahe in einen jungen Mann hinein. Gerade so bremste ich ab und hob meinen Kopf, um zu sehen, wer derjenige war, der mich um etwa einen Kopf überragte. Oh-oh. Mir stockte der Atem, als ich erkannte, wer mich da durch seine runde Brille ebenso überrumpelt beäugte. Mein Physiklehrer Herr Lanz fing sich zuerst, räusperte sich geschäftlich und grüßte mich: „Hallo, Rachel! Schön, dass Sie wieder genesen sind. Ich habe mir schon langsam Sorgen gemacht, nachdem Sie die ganzen letzten Stunden abwesend waren.“

Ich schluckte. Eigentlich mochte ich Herr Lanz wirklich und hätte mich unter normalen Umständen auch über seinen Kommentar gefreut, aber jetzt verfluchte ich ihn im Stillen dafür, dass er mir ausgerechnet jetzt begegnen musste. Völlig durcheinander murmelte ich: „Äh, ja, danke, ähm…“

Ich suchte noch gehetzt nach einem möglichst plausiblen Weg, ihm zu erklären, dass ich wieder fehlen würde, doch da unterbrach er bereits mein erbärmliches Gestotter und entschuldigte sich: „Ich muss noch fix ein paar Unterlagen kopieren, bitte entschuldigen Sie mich. Wir sehen uns ja gleich.“

Mit einem flüchtigen Lächeln drängte er sich zwischen mir und einer Schülergruppe hindurch und entfernte sich schnellen Schrittes in Richtung Lehrerzimmer. Von meiner Stimme im Stich gelassen blickte ich ihm hinterher. Dann wanderte mein Blick ein Stück nach rechts zu Merle, die mich bezeichnend ansah. Ein elendiges Heulen verließ meinen Mund und ich bat:

„Bitte sag, dass das gerade nicht passiert ist.“

„Das ist gerade nicht passiert“, leistete Merle scherzend meinem Befehl Folge, tröstete mich aber direkt, bevor ich sie dafür einen Kopf kürzer machen konnte, „vielleicht ist das jetzt wirklich deine Gelegenheit, ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einem normalen Leben zu beseitigen, Rachel. Manchmal müssen wir Dinge tun, die uns beängstigen, um daran wachsen zu können.“

Ein Haufen Gefühle bahnten sich den Weg zu mir, aber ich verdrängte sie entschlossen. Dann wimmerte ich:

„Ich kann das nicht. Was, wenn mich eine Begegnung mit ihm völlig zurückwirft? Allein schon der Gedanke an ihn reicht, um so viele Erinnerungen zu wecken, und ich werde 90 Minuten lang nur an ihn denken, wenn ich ihn vor mir sitzen sehe.“

„Jetzt hör mir mal gut zu“, befahl Merle und griff ruckartig nach meinen Schultern.

Ich verstummte.

„Du möchtest ein normales und fröhliches Leben, richtig?“

Ich nickte, doch als würde sie das nicht sehen, hakte sie nach: „Richtig???“

„Richtig“, stimmte ich leise zu.

„Und zwar eines, wo du dir keine Gedanken um ihn oder andere Idioten machen musst, richtig?“, fragte sie weiter.

„Richtig“, bejahte ich nochmals.

„Und in dem Leben soll er keinen Einfluss mehr auf dich haben und dir dein Glück versauen können, richtig?“

„Richtig“, meinte ich grimmig.

„Und dahin kommst du, indem du jetzt dahingehst, dich deiner Angst stellst und ihr und ihm zeigst, wer hier bestimmt, wo’s langgeht, richtig?!“

„Naja, stattdessen könnte ich ihm auch einfach weiter aus dem Weg gehen…“, wich ich von meinem Text ab und entlockte Merle damit ein frustriertes Knurren.

„Die Antwort wäre ‚richtig‘ gewesen, Fräulein“, berichtigte sie mich tadelnd.

Matt seufzte ich und bemerkte, wie sich die Schülerschaar um uns herum langsam in Bewegung setzte. Die Pause schien sich zum Ende zu neigen. Meine Panik setzte wieder ein, doch Merle gab mir einen entschlossenen Ruck und rief, als würde sie mich in eine Kampfarena schicken: „Und jetzt geh und mach ein für alle Mal klar, wer hier das Sagen hat!“

Ein paar Schüler drehten ihre Köpfe in unsere Richtung und warfen Merle eine Vielzahl an kritischen Blicken zu, doch ich konnte nicht anders, als meine energiegeladene Freundin lieb zu haben. Für den Moment fühlte ich tatsächlich einen Schub Mut in mir. Ich grinste ihr zu, sie erwiderte mein Grinsen, bevor sie sich umdrehte und in der Menge verschwand. Ich wandte mich ebenfalls um, kratzte entschlossen das Bündel Mut zusammen und stolzierte Richtung Physikraum. Merle hatte ja recht.

Früher oder später müsste ich mich ihm ohnehin stellen, und warum nicht jetzt? Ich würde mir damit beweisen, dass er rein gar keine Macht auf mich hatte, und dann würde ich einen weiteren belastenden Teil meiner Vergangenheit endlich los sein. Zielstrebig marschierte ich um die Ecke, sodass der Physikraum in Sicht kam.

Mein Herz pochte mir bis zum Hals, als ich mit den Augen die Köpfe der davor wartenden Schüler abscannte. Er war noch nicht hier. Glück gehabt. In mir regte sich die leise Hoffnung, dass er krank war. Dann würde ich eine Begegnung zwar nur weiter hinauszögern, aber ein kleiner – oder eher großer – Teil von mir stimmte nach wie vor beharrlich dafür.

Angespannt reihte ich mich in die Linie wartender Schüler ein und behielt meinen Blick wachsam auf den Gang gerichtet. Als ich irgendwann meinte, die Anspannung nicht mehr auszuhalten, tauchte Herr Lanz auf und kam federnden Schrittes auf uns zu. Die Hoffnung, er wäre krank, verdoppelte sich unmittelbar, während Herr Lanz den Raum aufschloss und uns hineinließ. Ich ließ mich auf meinen Platz ganz hinten fallen und registrierte freudig, dass der Platz ein paar Reihen weiter vorne freiblieb. Vielleicht meinte es das Schicksal doch gut mit mir. Ich begann gerade, mich zu entspannen, da schwang die angelehnte Tür auf und jemand eilte hinein – er. Sofort begann mein Herz, wieder zu rasen und ich keuchte erstickt auf. Genau heute vor zwei Wochen hatte ich ihn das letzte Mal gesehen. Genau zwei Wochen war es her, dass sich mein Leben erneut auf einen Schlag völlig geändert hatte. Ich kämpfte mühsam gegen die sich bei seinem Anblick aufdrängenden Erinnerungen an, während ich meinen Blick kaum von ihm losreißen konnte, und er einfach nur zu seinem Platz ging. Nico. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, wie er sich im Gehen ausatmend durch seine beinahe schwarzen Haare fuhr, konnte seine übliche, selbstbewusste Haltung ausmachen und sein attraktives Gesicht mit den wunderschönen, braunen Augen – die er nicht einen Wimpernschlag auf mich richtete.

Zielstrebig steuerte er seinen Platz an und setzte sich. Schade, dass ich mich nicht ebenso unbeeindruckt von seiner Präsenz zeigen konnte. Der mühsam aufgebaute Damm, hinter dem ich die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit sicher weggesperrt hatte, brach endgültig und tausende Erinnerungen fluteten auf mich ein. Ich konnte es nicht mehr verhindern, solch eine Macht hatte sein Anblick auf mich.

Die ersten Augenkontakte, als ich ihm auf dem Schulhof über den Weg gelaufen war, abgeschreckt von seinen tiefgehenden Blicken. Erst später hatte ich gelernt, dass sie durch seine Seherkräfte kamen, als er mich eingeweiht hatte, dass ich durch den Tod meiner Eltern im September ebenfalls zur Seherin geworden war.

Oh, und das war erst richtig der Beginn unserer gemeinsamen Zeit gewesen. Meine Gedanken flogen völlig haltlos zu den vielen gemeinsam verbrachten Nachmittagen, den vielen Scherzen und dem Lachen, Nicos schelmischen Blicken, aber auch die Zuneigung in seinen Augen… Mist, da war der Kuss.

Dieser verfluchte Kuss, bei dem ich wirklich geglaubt hatte, dass wir füreinander geschaffen waren und dass ich in ihm jemanden gefunden hatte, dem ich unbegrenzt vertrauen konnte und mit dem alles zweifellos gut werden würde.

Ich biss mir auf die Lippen, bis es schmerzte. Diese dämliche Vorstellung war in dem Moment in sich zusammengestürzt, als ich vor zwei Wochen in Merles Zimmer aufgewacht war und Nico mir gezeigt hatte, wie wenig er mich unterstützte. Verbittert dachte ich an diesen schicksalhaften Tag zurück. Nach Quicks‘ Verrat, dem erneuten Verlust meiner Eltern und meinem beinahe eingetretenen Tod in Luminaris, der Welt der Seelen, hatte ich alles andere gebraucht als jemanden, der mich noch mehr für das rügte, was ich getan hatte. An dem Tag hatte ich nicht nur die Hoffnung verloren, meine Eltern jemals zurückholen zu können, sondern auch meine zwei wichtigsten Stützen – Nico und Quicks. Ich hasste es, dass sie beide überhaupt so nah an mich rankamen, dass sie mir so viel bedeuteten, besonders Quicks, der zu allem Übel natürlich nun auch wieder in meinem Kopf geisterte. Der Luminosus hatte mich zwar regelmäßig mit seiner unbekümmerten Frechheit auf die Palme gebracht, aber trotzdem war er mir irgendwie ans Herz gewachsen – umso mehr ärgerte es mich, dass ich nicht durchschaut hatte, dass er mir in Wirklichkeit nie helfen hatte wollen. Er hatte mich an meinem Geburtstag durch eine List meiner Erinnerungen beraubt, nur um mich danach als Eintrittskarte für Luminaris zu missbrauchen, um sich selbst eine reine Seele besorgen zu können.

Endlich befreite mich die laute Begrüßung von Herr Lanz aus meinen schmerzvollen Erinnerungen. Völlig geschafft schreckte ich auf. Mein Herz raste, mein Kopf drehte sich förmlich und eine leichte Übelkeit mischte sich hinzu. Mein Blick ruhte immer noch auf Nicos Hinterkopf, bis es in meiner Hand knackte. Erschrocken lockerte ich meinen Griff um meinen Kugelschreiber, den ich unabsichtlich zerbrochen hatte. Großartig. So viel zum Thema „zeig, wie wenig Einfluss Nico hat". Das hier war eher „lass dich von ihm lächerlicherweise völlig fertig machen, obwohl er dich nicht mal wahrgenommen hat". Ich schluckte die Übelkeit herunter und widerstand dem Drang, aus dem Raum zu rennen. Nein, mein letztes bisschen Würde wollte ich bewahren. Also kratzte ich all meine Fassung zusammen und bemühte mich nach Kräften, Herrn Lanz zu folgen. Doch seit ich meinen Gedanken Raum gegeben hatte, kreisten sie unaufhörlich durch meinen Kopf wie eine nicht abreißende dissonante Melodie, und lenkten mich immer wieder ab. Ungewollt wanderte mein Blick immer wieder beharrlich zu Nico, der seinen Blick aufmerksam nach vorn gerichtet behielt. Berührte ihn unsere Vergangenheit denn gar nicht? War ich so unwichtig, dass er so schnell mit mir abschließen konnte? Hatte ich ihm je etwas bedeutet? Oder Quicks? Ich hatte wirklich den Eindruck gehabt, dass er mich trotz allem gemocht hatte, und als er mir damals Mut zugesprochen hatte, als ich mich hoffnungslos gefühlt hatte, hatte er ehrlich gewirkt. Besonders mit dem Versprechen, mich nicht im Stich zu lassen.

Die Doppelstunde zog sich schlimmer denn je und brachte mich an den Rand meiner Nerven. Immer wieder warf ich Blicke zur Wanduhr, betend, dass die Stunde bald vorüber wäre. Auf einmal meinte ich, eine Bewegung neben der Uhr wahrzunehmen. Meine Augen huschten erneut zur weißen Wand, die bläulich zu flimmern schien. Sofort erinnerte es mich an das Glimmen, von dem Quicks stets umgeben war, und das alle lebenden Seelen ausstrahlten. Ich sog erschrocken die Luft ein, doch beim nächsten Blinzeln war die Wand wieder weiß und langweilig wie immer. Fassungslos blinzelte ich, wandte den Blick ab und sah wieder an die Stelle, blinzelte nochmals, aber es blieb dabei – alles, was ich sah, war die übliche, blanke Wand. Ich fasste mir an den Kopf. Jetzt wurde ich auch noch paranoid, oder was? „Alles okay?“, fragte das Mädchen, was neben mir saß, flüsternd, „du siehst so blass aus. Geht's dir nicht gut?“

„Alles bestens“, presste ich mit gezwungener Grimasse hervor.

Ihr war deutlich anzusehen, dass sie mir nicht glaubte, aber in dem Moment beendete Herr Lanz Gott sei Dank die Stunde. Ich stopfte in Windeseile meine Sachen in den Schulrucksack, griff fahrig nach meiner Jacke und stürmte aus dem Raum – bedauernswerterweise nicht, ohne Nico noch einen Blick zuzuwerfen, doch er unterhielt sich lachend mit seinem Sitznachbarn und nahm keinerlei verfluchte Notiz von mir.

Mein Fuß trat auf etwas Unebenes und ließ mich straucheln. Durchdringende Dunkelheit umfing mich und ließ keinerlei Möglichkeit, meine Umgebung auszumachen. Keuchend fing ich mein Gleichgewicht wieder. Wo war ich hier? Blindlings stolperte ich weiter über den sich wölbenden Untergrund. Moment, warum wölbte er sich überhaupt? Ich hielt an, Panik erfasste mich. Der Untergrund schwankte immer stärker, als wäre ich mitten auf hoher See in einem Sturm, doch es war totenstill um mich herum. Weiterhin steigerte sich das Wanken und ich kämpfte verzweifelt um Balance, doch als der Boden mit einem Mal nachgab, kippte ich nach vorn. Kreischend streckte ich meine Hände vor, doch statt mich mit ihnen abzufangen, war da nichts, an dem ich Halt fand. Stattdessen stürzte ich hilflos ins schwarze Nichts.

Schwer atmend fand ich mich in meinem Bett wieder. Hier war die Dunkelheit durch meine leuchtenden Weckerziffern sowie durch das erste, sanfte Morgenlicht, das sich zaghaft durch meine Jalousien zwang, durchdrungen und fühlte sich deutlich weniger drückend an. Ich bemühte mich um tiefe, kontrollierte Atemzüge, bevor ich mich traute, mir über meinen Traum Gedanken zu machen. Ich würde gern behaupten, es handle sich bloß um einen einfachen Albtraum, aber leider hatte er sich mehr angefühlt wie… wie gezielt erschaffene Bilder. Sofort kamen mir die Visionen, die mir Quicks damals geschickt hatte, in den Sinn. Konnte es sein…? Wütend schlug ich die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Verdammt, ja, die Physikstunde war ein rigoroser Rückschritt gewesen, eine blanke Blamage vom Feinsten. Aber meine Güte, das war verdammt nochmal kein Grund, meine Fassung fallen zu lassen und völlig durchzudrehen. Es war besonders in der letzten Woche schon so erstaunlich gut gelaufen. Ich würde mir das nicht versauen lassen.

Als ich knapp eine Stunde später das Schulgebäude betrat, ging es mir schon deutlich besser. Zwar machte mir die Verschlechterung Angst, aber ich war fest entschlossen, mich davon nicht unterkriegen zu lassen. Und dazu gehörte, keinen Aufriss zu machen und Merle nichts von dem Traum zu erzählen – vorerst nicht. Ich würde zwar nicht den Fehler machen und ihr wieder verheimlichen, wie es mir ging – von der Physikstunde gestern hatte ich ihr bereits in aller Intensität berichtet, bis auf den Teil mit der Wand, der sicher meiner Fantasie entsprungen war und leider noch immer dort festhing – aber ich wollte unwichtigen Dingen nicht übermäßig viel Bedeutung beimessen, wenn sie diese nicht brauchten. Umso weniger Beachtung sie erhielten, desto schneller war ich sie hoffentlich wieder los. Also ließ ich den Schultag ereignislos an mir vorbeiziehen und lästerte mit Merle über ein paar Mitschüler, die sich mal wieder mit ihrem Liebesleben in der Öffentlichkeit lächerlich machten. „Ich verwette meine Lieblingsbluse darauf, dass die beiden in spätestens einer Woche wieder getrennt sind“, schnaubte Merle selbstsicher, als wir in der zweiten Pause über den Hof spazierten.

An einer meiner pinken Haarsträhnen rumzwirbelnd, neckte ich sie: „Gut, der Timer ist gestellt. Wenn du verlierst, wer soll sie dann erhalten?“

„Ich werde ja nicht verlieren“, behauptete Merle, streckte herausfordernd ihren Finger in meine Richtung und drohte spaßend, „du solltest mir mehr vertrauen. Schließlich bin ich die, die immer den neusten Tratsch parat hat.“

„Und ich frage mich bis heute, wie du das schaffst", gestand ich lachend, woraufhin Merle ihre blonden Locken zurückwarf – was bedingt dadurch, dass diese nur knapp Schulterlänge erreichten, überhaupt nichts brachte – und verkündete hoheitsvoll, „ein Meister verrät nie seine Geheimnisse. Zumindest nicht, bis ich sterbe. Dann vererbe ich dir mein Wissen, junge Schülerin.“

Amüsiert schnalzte ich mit der Zunge und erwiderte:

„Wenn das so ist, wird das Geheimnis hoffentlich noch eine ganze Weile von dir gehütet.“

„Jawohl", bekräftigte meine Freundin bestimmt. Obwohl wir nur scherzten, konnte ich nicht das hohle Gefühl in meinem Magen abschütteln. Unsere neue Route, um Nico aus dem Weg zu gehen, führte auf der anderen Seite des Schulgebäudes entlang, da unser Pausenhof fast einmal um die Schule herumreichte. Hier war der Hof allerdings nicht von Büschen und Bäumen sowie einem Sportplatz begrenzt, sondern hier hatten wir die wenig ansprechende Sicht auf die zugehörige Halle sowie eine wenig befahrende Straße, die zu den Lehrerparkplätzen führte und sich einmal die komplette Nordseite des Hofs entlangstreckte. An dieser gingen wir gerade mit etwas Abstand entlang, als auf einmal der Scheinwerfer eines parkenden Autos ansprang. Ich warf nur einen kurzen Blick auf den weißen PKW, der mich jedoch stocken ließ. Da war gar kein Scheinwerfer an.

Stattdessen bildete ich mir ein schwaches, blauweißes Licht ein, was vor der Windschutzscheibe flackerte.

Ungläubig hielt ich inne und rieb meine Augen. Alles in mir verkrampfte sich. Das war doch eine Seele, oder?!

„Rachel, was ist los?“, erklang wie durch Watte Merles Stimme, denn sie hatte wohl mein Zögern bemerkt.

„Merle, schau, da!“, brachte ich stockend hervor und streckte meinen zitternden Finger Richtung Seele.

Doch genau in dem Moment glitt sie völlig lautlos in die Motorhaube des Autos und war verschwunden. „Du… du hast das doch gesehen, oder?“, stammelte ich panisch, unfähig, meinen Blick abzuwenden.

„Was soll ich gesehen haben?“, fragte Merle besorgt. Ich zwang mich, sie anzusehen. „Na… da beim Auto…“

„Rachel, du gefällst mir nicht. Was war beim Auto? Ich habe da niemanden gesehen. Um genau zu sein, ist hier überhaupt keiner in der Nähe“, hakte Merle ratlos nach. Als ich die Umgebung scannte, musste ich feststellen, dass sie Recht hatte. Alle Schüler hatten sich weiter hinten in einiger Entfernung gesammelt und nur langsam kamen auch hier wieder einzelne Personen entlang. Ich fröstelte, und zwar nicht wegen der Kälte, die uns umgab. Was hatte das zu bedeuten?

Halluzinierte ich? Es konnte doch nicht sein, dass hier, mitten auf unserem Schulhof in der echten Welt, eine Seele herumgeisterte? Auf einmal schob sich Schwärze in mein Blickfeld. Fahrig streckte ich meine Hände haltsuchend nach Merle aus, die vor meinen Augen verschwamm. Großartig, Ohnmacht hatte mir gerade noch gefehlt.

Aber anstatt meine Sinne zu verlieren, blitzte eine verschwommene, bläulich glänzende Umgebung vor meinen Augen auf, jedoch völlig in sich verschwimmend. Gleichzeitig drang eine kaum wahrnehmbare, hauchende Stimme an mein Ohr, deren Worte ich nicht verstand, so leise war sie. Ich wollte mich bewegen, doch zu schnell zerfloss das Bild in sich und machte der Dunkelheit Platz. Während ich erneut in Schwärze gehüllt wurde, drang ein zweites Mal das Hauchen zu mir, dieses Mal meinte

ich jedoch, es zu verstehen: „Hilf mir!“

Panisch riss ich die Augen auf, als ich erkannte, wem die Stimme gehörte. Aber nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Erst die Begegnung mit Nico, dann die Seele und jetzt… Quicks?

„Rachel, Rachel! Hörst du mich? Hallo?“, sprudelten Merles Worte auf mich ein.

Ich nahm wahr, wie sie mich an den Schultern festhielt.

„Merle“, setzte ich zittrig an, doch sie unterbrach mich, „ja, ja, ich bin da! Komm, setz dich lieber, du bist ganz blass.“

Ich hatte gar keine andere Wahl, als mich von ihr auf den Boden befördern zu lassen. „Merle“, quetschte ich nochmal hervor, und endlich sah sie mich an, ohne mich zu unterbrechen.

Ihr zutiefst besorgter Blick traf meinen völlig fassungslosen, und ich hauchte: „Ich glaube, Quicks hat mich gerufen.“

Dann verlor ich wirklich die Sinne.

Kapitel 3

„Wow. Das klingt wirklich beunruhigend", stellte Merle fest, als wir am Nachmittag auf ihrem Bett hockten.

Nachdem ich vorhin im Schulsanitätszimmer wieder aufgewacht und entlassen worden war, da ich versichert hatte, dass es mir wieder gutginge und ich nur zu wenig getrunken hätte, hatte ich Merle in Kürze geschildert, was ich gesehen hatte. „Das verlangt zweifelsfrei nach einer Krisensitzung“, hatte sie sofort geäußert, sodass ich nach der Schule direkt mit zu ihr gekommen war.

Gerade hatte ich ihr alle Ereignisse, die seit gestern passiert waren, in aller Ausführlichkeit geschildert und dabei auch den Traum erwähnt sowie meine Vermutung, dass dieser ebenfalls kein normaler Traum war. Denn seit vorhin kam mir der Verdacht ganz und gar nicht mehr übertrieben vor.

„Das klingt nicht nur beunruhigend, das fühlt sich auch verdammt ungut an", setzte ich mulmig hinzu und rührte gedankenversunken in meinem Tee herum.

Weintraube sollte die Geschmacksrichtung sein, und es war einer von den Sorten, die ich unbedingt probieren sollte. Doch natürlich war er mir gerade ziemlich egal. Ich hatte viel zu viel damit zu tun, irgendwie Ordnung in meine Situation zu bringen.

„Merle“, jammerte ich, „ich habe Angst. Angst, dass mich die Vergangenheit wieder einholt. Ich habe so sehr versucht, sie loszuwerden. Woher kommt das auf einmal alles? Ich war doch auf so einem guten Weg!“

„Rückschläge gehören dazu", murmelte Merle und strich mir tröstend über den Rücken, bevor sie nachdenklich hinzufügte: „Also denkst du, das ist normal? Sollte ich das alles einfach ignorieren?“, schniefte ich.

„‘Ganz normal‘ würde ich es nicht nennen", relativierte Merle, „aber verständlich. Ich mein, du hast gestern Nico wiedergesehen, nachdem du ihn zuletzt an einem der schlimmsten Tage deines Lebens gesehen hast und er dich verletzt hat. Es ist nur nachvollziehbar, dass das Erinnerungen mich sich bringt.“

„Das mag ja sein", seufzte ich, „das habe ich in Bezug auf die Visionen und Träume auch überlegt. Schließlich sind sie immer noch ein Teil meiner Seele, und vielleicht kann ich sie jetzt gerade nicht sonderlich gut verdrängen.

Aber dass ich Seelen in der Öffentlichkeit umherschwirren sehe und Quicks höre, übersteigt einfache Erinnerungen, oder nicht?“

Nachdenklich legte Merle den Kopf auf die eine Seite und anschließend auf die andere. Dann meinte sie:

„Vermutlich schon.“

Gern hätte ich etwas anderes gehört, aber ihre Ehrlichkeit bedeutete mir mehr. Ich ließ mich in ihr Kissen fallen. „Angenommen, Quicks hat mir wirklich Visionen geschickt – warum? Ich meine, ich habe mehr als zwei Wochen nichts von ihm gehört, nichts. Ich dachte, unsere Verbindung würde nicht mehr bestehen, jetzt, wo er den Teil meiner Seele von sich gelöst und in Luminaris gelassen hat.“

„Das ist wirklich eine gute Frage", stimmte Merle zu und nahm vorsichtig ein paar Schlucke ihres Tees, „du meintest, er hat um Hilfe gebeten. Bist du dir sicher?“ Schulterzuckend antwortete ich: „Ich weiß es nicht.

Eigentlich bin ich der Meinung, das verstanden zu haben, aber er war so leise, es hätte auch gut alles andere sein können. Und es will nicht in meinen Kopf, warum er Hilfe brauchen sollte, erst recht nicht von mir. So oder so will ich ihm eigentlich keine Beachtung schenken.“

„Das ist mehr als verständlich und sicher auch das Vernünftigste“, stimmte Merle mir sofort zu, „sollte er wirklich versuchen, Kontakt zu dir aufzunehmen, kann es zumindest nichts für dich Wichtiges sein. In Luminaris gibt es nichts mehr zu holen – und ich würde dich da sowieso nicht nochmal reinlassen – und was anderes kann er nicht wollen, von dem du profitieren kannst.

Somit gibt es keinen mir ersichtlichen Grund, zu ihm zu gehen. Ignorier ihn. Irgendwann muss er ja Ruhe geben.“

„Ich hoffe es. Sehr", seufzte ich, stimmte Merle aber voll und ganz zu. „Und was unternehmen wir bezüglich der Seele, die ich gesehen habe?“

Jetzt sah Merle ratlos aus und zupfte an ihrem Kopfkissen. „Nichts, schätze ich. Was können wir schon großartig tun? Wir wissen ja nicht mal, ob da wirklich eine Seele war – nicht, dass ich dir nicht glaube, wenn du das sagst!“, beteuerte Merle schnell, „aber wie soll eine Seele allein hierherkommen? Und was können wir schon mit unserem Wissensstand dagegen ausrichten?“

Ich musste mir eingestehen, dass Merle recht hatte. Auch wenn es mir ziemlich gegen den Strich ging, nichts zu tun. „Dann lass uns das aber im Auge behalten“, verlangte ich.

„Klar“, stimmte Merle zu, „und ich erwarte sofortige Berichterstattung, sollte irgendwas, was auch nur ansatzweise mit all dieser Thematik zusammenhängen könnte, geschehen.“