Pechstein sieht schwarz - Judith Bergmann - E-Book
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Pechstein sieht schwarz E-Book

Judith Bergmann

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Beschreibung

Zwei brillante Ermittler. Er blind, sie aggro. Zusammen sind sie unschlagbar.

Pechstein, ehemals »sexiest KHK alive« und kürzlich erblindet, ist zurück im Dienst – jetzt allerdings in der neu gegründeten Einheit Cold Cases im LKA. Einzige Kollegin ist Natalia Becks, frühere Vorzeige-Polizistin im Karrieretief.

In ihrem ersten Fall nehmen sie die Spur zweier Mädchen auf, die fünfzehn Jahre zuvor spurlos verschwanden. Während Pechstein sich hoch motiviert dem Fall widmet, wird Becks mit einem dunklen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit erpresst. Die Suche nach dem Erpresser lässt ihr kaum Zeit für die Ermittlung. Allein kann Pechstein den Fall aber nicht lösen. Und so schwankt das Team zwischen Erfolgswillen, Chaos und Kooperation.

krimi-blogger.de urteilt:

»Die Geschichte ist [...] spannend und enorm gut erzählt. Und das bis zum Schluss. Judith Bergmann liefert nachvollziehbare, starke und vor allem glaubhafte Figuren – auch im Grenzbereich. 88 von 100 Punkten.«

Die Autorin erhielt 2018 mit dem GLAUSER die höchste Auszeichnung der deutschen Krimiszene, als ihr Krimi »Unter Fremden« den Preis als Bester deutschsprachiger Kriminalroman des Jahres bekam. Der GLAUSER wird vergeben vom SYNDIKAT e.V., Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur, in dem über 700 Krimiautorinnen und Autoren organisiert sind. »Unter Fremden« erschien damals unter ihrem Klarnamen Jutta Profijt und wird demnächst unter dem Pseudonym Judith Bergmann neu aufgelegt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Pechstein sieht schwarz

Judith Bergmann

Kriminalroman

auch als Taschenbuch ISBN 978-3-759-21775-2

 

1 Autorin - 3 Namen

Pippa Jansen | Judith Bergmann | Jutta Profijt

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Über das Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Nachwort und Dank

Weitere Bücher der Autorin

Über die Autorin

Impressum

Über das Buch

Zwei brillante Ermittler. Er blind, sie aggro. Zusammen sind sie unschlagbar.

 

Pechstein, ehemals »sexiest KHK alive« und kürzlich erblindet, ist zurück im Dienst – jetzt allerdings in der neu gegründeten Einheit Cold Cases im LKA. Einzige Kollegin ist Natalia Becks, frühere Vorzeige-Polizistin im Karrieretief.

In ihrem ersten Fall nehmen sie die Spur zweier Mädchen auf, die fünfzehn Jahre zuvor spurlos verschwanden. Während Pechstein sich hoch motiviert dem Fall widmet, wird Becks mit einem dunklen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit erpresst. Die Suche nach dem Erpresser lässt ihr kaum Zeit für die Ermittlung. Allein kann Pechstein den Fall aber nicht lösen. Und so schwankt das Team zwischen Erfolgswillen, Chaos und Kooperation.

 

Acht Monate zuvor

Im Hausflur stank es nach Urin und Müll. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, im dritten und fünften Stock hatte die Treppenhausbeleuchtung den Geist aufgegeben. Das schwache Licht des dunklen Märztags sickerte widerwillig durch das dreckige Drahtglas auf die Stufen voller Kippen, Kaugummi und klebrigen Pfützen. Schlimmer als der Dreck waren die Schnuller, sie verursachten Pechstein ein Kribbeln auf der Kopfhaut und einen Kloß im Hals. Wer hier aufwuchs, hatte schon so gut wie verloren. Deshalb hatte Janine Drechsler all ihren Mut und den letzten Rest Energie aufgebracht, den ihr das Leben mit drei kleinen Kindern und einem saufenden Schläger noch gelassen hatte, und war bei Nacht und Nebel abgehauen. Bis zur Oma hatte sie es geschafft, elf Stationen mit der Straßenbahn, aber Welten entfernt.

Alles wäre gut geworden, hätte nicht ihr Jüngster seinen Schmusehasen vergessen. Der neue Hase, den die Oma häkelte, konnte den Verlust nicht ersetzen. Janines Herz blutete, wenn sie die Verzweiflung in den Augen des Kleinen sah. Vier Tage hielt sie sein Weinen aus, dann stahl sie sich davon. Hoffte, den Hasen unbemerkt aus der Wohnung holen zu können. Verlor die Wette mit dem Schicksal. Den Hasen in der Hand hatte sie das Haus verlassen, als sie plötzlich seine Schritte hinter sich hörte. Ta-tok, unverkennbar, das eine Bein kürzer als das andere, Motorradunfall. Trotzdem war er schneller als sie. Die Zeugen griffen nicht ein, die Männer aufseiten des Schlägers, die Frauen froh, dass es heute eine andere traf. Immerhin wählte eine den Notruf. Janine überlebte zweieinhalb Wochen, am Vorabend war sie gestorben. Aus dem Schläger war ein Mörder geworden. Deshalb waren sie hier.

Elfter Stock, Pechstein und Mike verschnauften auf dem Treppenabsatz, bevor sie in den Flur traten. Dreckige Windeln, ein kaputter Stuhl, fünfzehn Türen links, zehn rechts. Sie fanden die Richtige. Griffen nach ihren Dienstwaffen, P99, volles Magazin mit je sechzehn Schuss, nur zur Sicherheit. Bei den ersten Befragungen hatte der Typ geschwiegen, kalte Augen, verschränkte Arme, keine Aggression, nur Verachtung. Weil er keine Waffe benutzt hatte, um seine Frau zu schlagen, hatte der Haftrichter ihm den Knast erspart. Das war hinfällig, jetzt, wo das Opfer tot war.

Pechstein, links neben der Tür, klingelte. Mike hielt sich bereit, die Tür aufzudrücken, den Fuß reinzustellen, dem Mörder die Acht anzulegen, alles innerhalb von Sekunden, um Gegenwehr gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Die Projektile durchschlugen die billige Tür, erwischten Mike in Brusthöhe, katapultierten ihn nach hinten gegen die Wand. Pechsteins Reflexe funktionierten. Mit einem Satz war er bei seinem Partner, ergriff dessen Kragen und zerrte ihn aus der Schusslinie Richtung Treppenhaus. Mit Schwung gegen die gesprungene Glastür, Stufen runter. Ein Treppenhaus ist wie eine Schießbude, von oben hat der Schütze freies Feld, also ins nächste Stockwerk, Tür aufziehen, im Flur Deckung suchen. Handy aus der Hosentasche, Notruf, alles mit Links, die Rechte hielt die Waffe.

Die Tür flog auf, Pechstein schoss, traf die rechte Schulter und beraubte damit den Angreifer seiner Pistole. Der folgende Treffer landete irgendwo im Rumpf, aber das Adrenalin hielt den Rasenden weiter auf den Beinen. Ein drittes Projektil ging daneben, als Mike sich ein letztes Mal in Pechsteins Armen aufbäumte. Dann war der Angreifer bei ihm. Der erste Tritt traf die Hand mit der P99, die über den Flur schlitterte, der zweite das Schienbein. Das Letzte, was Pechstein in seinem Leben sah, war ein schwarzer Stiefel, der gleich darauf gegen seine rechte Schläfe krachte. Ein gleißender Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde es dunkel.

 

- 1 -

Pechstein ...

… hatte an Mikes Grab gehen wollen, lange schon in vager Absicht, dann gestern ganz konkret, war aber nur bis zur Friedhofskapelle gekommen. Barrierefreiheit? Keine Chance. Gestern hatte er dem keine besondere Bedeutung beigemessen, heute wünschte er sich, er hätte jemanden nach dem Weg gefragt. Hätte Parzelle und Nummer genannt, die Verlegenheit ertragen, wenn zwei nicht wissen, wie sie miteinander umgehen sollen, weil die Hilfe eine Nähe erfordert, die keiner will. Stattdessen hatte er so getan, als sei der Ort nicht wichtig, als sei die alte Verbundenheit mit seinem Partner und Freund unabhängig von Raum und Zeit, Leben oder Tod.

Bullshit.

Jetzt stand er im Foyer des Landeskriminalamtes, erkannte den Geruch und die Geräusche von seinen zahlreichen Besuchen, nur sich selbst erkannte er nicht. Stürmte nicht wie früher voran, weil er in einer kriminalpolizeilichen Ermittlung die Hilfe des LKA benötigte, eines Profilers oder des kriminaltechnischen Labors oder eines anderen Expertenteams. Stattdessen benutzte er die Leitstreifen im Boden, um zum Fenster der Pförtnerloge zu kommen, …

acht Schritte

… wo er das Schreiben abgab, in dem sein Name und seine Dienststelle standen, nicht mehr im Präsidium, leider, sondern hier. Im LKA. Dienstbeginn: heute. Nach acht Monaten und zwölf Tagen meldete sich Kriminalhauptkommissar Pechstein endlich wieder zum Dienst.

 

Klaus Hartmann holte ihn ab, Leiter des Sachgebiets 31.5, zu dem ab heute auch Pechstein gehörte.

»Schön, Sie zu sehen«, sagte sein neuer Vorgesetzter. Seine Stimme klang so, wie Pechstein sie in Erinnerung hatte. Keine aufgesetzte Fröhlichkeit, kein Mitleid. Der Mann tat so, als habe Pechstein sich seit ihrem letzten Treffen nicht verändert.

»Danke, gleichfalls«, entgegnete Pechstein, sich der Ironie bewusst, dass er ihn eben nicht sah. Er war froh, endlich wieder arbeiten zu dürfen, auch wenn er lieber in seinen alten Job zurückgekehrt wäre.

»Hier ist Ihr Dongle, der das Drehkreuz öffnet.«

Die Leitstreifen auf dem Boden führten bis zum Drehkreuz und hindurch, endeten aber bald danach. Ab da wurde es schwierig.

»Wenn an Ihrem Arbeitsplatz etwas fehlt, melden Sie sich. Ansonsten tut es mir leid, dass wir gerade im Stress sind, ich hätte Sie gern mit allen Kollegen bekannt gemacht, das holen wir nach.«

Pechstein mochte Hartmanns ruhige Art, fand es auch jetzt angenehm, dass der Mann ihn nicht anfasste, um ihn zum Fahrstuhl und durch den Korridor zu leiten.

»So, da sind wir. Ihre Kollegin erwartet Sie schon. Herzlich willkommen, Pechstein, wir freuen uns, dass Sie unsere Truppe verstärken.«

Pechstein dankte, spürte eine Hand auf der Schulter, hörte, wie Hartmann sich hastig entfernte, dann fand seine Linke die Türklinke. Er trat ein, ohne zu klopfen, immerhin war das hier jetzt sein Büro.

 

Becks ...

… überflog die Daten ein letztes Mal. Pechstein, Vorname Erasmus, achtunddreißig, ledig. Zuletzt Kriminalhauptkommissar im Düsseldorfer KK 11, Todesermittlungen. Verletzung im Dienst vor gut acht Monaten, seitdem blind und deshalb nicht polizeidienstfähig wegen dauerhafter Verwendungseinschränkungen, wie es im Amtsdeutsch hieß.

Eigentlich.

Aber die Polizei litt unter chronischem Personalmangel, wie alle anderen Unternehmen und Behörden auch. Und da Not bekanntlich erfinderisch machte, hatte man dem für die Frühpensionierung noch zu jungen KHK eine kriminalpolizeiliche Verwendung im Innendienst angeboten, genauer in den Cold Cases. Ein Ausnahmefall, dem Problem geschuldet, dass zusätzlich zu den bereits vorhandenen unterbesetzten Dienststellen eine komplett neue Einheit für die Bearbeitung der ungelösten Altfälle aus dem Boden gestampft werden sollte.

Deshalb würde sie also jetzt den ehemals »sexiest KHK alive« in sein neues Aufgabenfeld einführen. Pechsteins tote Augen würden einen »frischen Blick auf die ungelösten Fälle der letzten fünfundfünfzig Jahre« werfen, wie die Pressestelle, damals noch in Unkenntnis des vollständigen Mangels visueller Fähigkeiten beim zuständigen Ermittler, formuliert hatte.

Die Stimmen vor der Tür kündigten ihn an, bevor er eintrat. Pechstein sah älter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, was nichts heißen musste. Das bisher einzige persönliche Treffen lag etwa drei Jahre zurück und hatte ungefähr fünf Minuten gedauert, im Ministerium, der Anlass war ihr entfallen. Er würde sich gar nicht daran erinnern, vermutete Becks. Schwarze Jeans, schwarzer Pullover, anthrazitfarbener Kurzmantel, pechschwarze Sonnenbrille und ein fettes, schwarzes Headset am linken Ohr. Nur der Langstock weiß. An der rechten Schläfe die Narbe, die mittelblonden Haare nicht lang genug, um sie vollständig zu verdecken. Er stand in der Tür und schien zu schnüffeln.

 

Pechstein ...

… roch abgestandene Luft, eine Mischung aus Muff von altem Papier und heißem Staub, ein Hauch von Parfum. Würzig, harzig, herb.

Holzfäller. Nur ohne den Schweiß.

Pechstein machte zwei Schritte vorwärts, tastete mit Stock und Hand. Geradeaus zwei Schreibtische, die Rückseiten aneinandergeschoben. Die übliche Kunststoffplatte, vermutlich in Standardgrau. Er ging rechts herum, streifte den Papierkorb, ertastete die Stuhllehne - gängiger Polyesterbezug eines gängigen Büromöbels auf Rollen, keine Armlehnen -, hängte seinen Mantel darüber und setzte sich.

»KHK Natalia Becks, willkommen bei den Cold Cases.«

Ihre Stimme war ungewöhnlich tief, klang rau, vielleicht eine Erkältung? Den Namen hatte er schon gehört, erinnerte sich aber nicht, in welchem Zusammenhang.

»KHK Pechstein. Danke.«

»Rechts von dir ist ein Extratisch mit technischem Kram, den hat die Haustechnik hier abgeladen. Keine Ahnung, ob alles da ist.«

»Okay.« Noch immer saß er reglos auf dem Stuhl, den Langstock in der rechten Hand. Der Raum, dessen Abmessungen Pechstein noch nicht erfasst hatte, erdrückte ihn mit seiner Schwärze. Und die Tatsache, dass Becks ihn vermutlich anstarrte, lähmte ihn zusätzlich.

»Nenn mich Becks.«

»Gefällt dir dein Vorname nicht?«

»Meiner schon.«

»Charmant.«

»Glaub nicht, dass ich mir jeden Tag so viel Mühe gebe.«

Pechstein zwang sich, die verkrampften Hände zu lösen und an der Schreibtischkante entlangzutasten, bis er den im rechten Winkel anstoßenden Extratisch erreichte. Zum Tischende, Leerstelle, Garderobenständer. Er klappte den Langstock zusammen, legte ihn ab, drehte sich zurück zum Schreibtisch, Tastatur, Telefon, Kleinkram. So kam er nicht weiter.

»Was genau tun wir hier?«, fragte er.

»Cold Cases beschäftigt sich mit den ungeklärten Tötungsdelikten seit 1970, soweit sie bereits digitalisiert sind.«

Pechstein hatte die Ankündigung des Innenministers über die Einrichtung dieser neuen Taskforce gehört, vor Monaten schon. Dass er selbst hier landen würde, hätte er damals für seinen schlimmsten Albtraum gehalten.

»Präziser?«

»Fallakten durchgehen und auf Vollständigkeit oder Widersprüche prüfen. Feststellen, ob aktuelle kriminaltechnische Möglichkeiten einen neuen Ermittlungsansatz bieten können. Falls ja: Wiederaufnahme der Ermittlung in Kooperation mit der zuständigen Kriminalhauptstelle.«

Pechstein zwang sich zur Ruhe. Über fünfzig Jahre alte Akten durchgehen in der Hoffnung auf einen übersehenen Ansatzpunkt oder einen Querverweis, der in Zeiten ohne Datenbankabgleich nicht aufgefallen war. Oder auf einen Fetzen Leder, Plastik oder Textil, an dem vielleicht ein bisschen Täter-DNA hing, die zum damaligen Zeitpunkt mit den damaligen Methoden nicht analysiert werden konnte. Hunderte, ach was, Tausende Seiten hatte eine ordentliche Mordermittlungsakte. Berichte der Spusi, Zeugenbefragungen, Anwohnerbefragungen, Listen von Fahrzeugen, die dem Modell ähnelten, das irgendwer irgendwo im näheren oder weiteren Umkreis um den Tatort gesehen zu haben glaubte.

»Hast du schon Fälle gefunden, die für eine Wiederaufnahme infrage kommen?«

»Ich bin bisher ausschließlich mit der Bürokratie beschäftigt, die die Einrichtung dieser Einheit mit sich bringt. Du kannst dich also völlig unvorbelastet gleich ins operative Tagesgeschäft stürzen.«

»Auf wie viele Ermittler wird die Taskforce aufgestockt?«

»Wir sind zu zweit. Übrigens habe ich darauf bestanden, dass ein Kopfhörer zu deiner Ausrüstung gehört. Setz ihn auf, damit ich mir die Laberei deines Computers nicht den ganzen Tag anhören muss. Jetzt schau dich in Ruhe um, ich muss zu einer Besprechung.«

Das »schau dich um« war kein Versprecher, dachte Pechstein, das war eine Ansage: Kein Behindertenbonus, keine Schonung. Die Erleichterung darüber überkam ihn wie eine Brandungswelle, in die er sich früher mit Begeisterung hineingeworfen hatte. Er nickte kurz, wobei ihm egal war, ob sie ihn noch sah oder nicht, bevor die Tür hinter ihr zuklappte. Er aktivierte die MiniCam am Bügel der Sonnenbrille, die Geldscheine erkannte oder Texte vorlas. Langsam und methodisch bewegte er sich durch den Raum, stoppte nur, wenn die MiniCam Text erkannte und in Sprache übersetzte. Er las die Beschriftungen auf den wenigen Akten im halb leeren Schrank, fand den Speiseplan der Cantine, wie sich die Gastronomie auf dem Gelände nannte, Verhaltensregeln für den Brandfall. Auf Becks’ Schreibtischunterlage lagen mehrere Zettel mit kryptischen Abkürzungen, die weder die MiniCam noch er interpretieren konnten. Dann wandte er sich seinem Arbeitsplatz zu.

 

Das Vorlesegerät für gedruckte Schriftstücke funktionierte problemlos, die extra für die Cold Cases programmierte Datenbank war tatsächlich barrierefrei und die Braillezeile für den Computer erinnerte ihn daran, dass er die Blindenschrift trotz Crashkurses bis heute nur sehr schlecht beherrschte. Tatortfotos würden ein Problem bleiben, für das er noch keine Lösung hatte. Aber darum würde er sich kümmern, wenn es so weit war.

 

Nach welchem System er sich durch die alten Akten wühlen sollte, hatte Becks nicht vorgegeben. Gut so. Pechstein hatte, wie vermutlich jeder Mensch in Deutschland, von der zehnjährigen Emilia aus Benrath gehört, die seit vier Tagen vermisst wurde. Er hätte zur Soko gehören wollen, mit seinen alten Kollegen gemeinsam Sechzehn-Stunden-Schichten kloppen, sieben Tage die Woche, so lange, bis sie Emilia gefunden hätten. Er war sicher, dass er gute Arbeit geleistet hätte.

Stattdessen hatte man ihn abgeschoben auf einen Schreibtischjob, der keinerlei zeitliche Dringlichkeit besaß. Immerhin war er trotzdem wichtig. Die meisten Eltern verschwundener Kinder quälten sich für den Rest ihres Lebens mit der Frage, was ihrem Sohn oder - häufiger - ihrer Tochter zugestoßen war. Diesen Menschen konnte er immer noch helfen. Und er konnte Täter zur Rechenschaft ziehen, die bisher mit ihren Verbrechen davongekommen waren.

Er setzte den Kopfhörer so auf, dass das linke Ohr, in dem er permanent sein eigenes Headset trug, frei blieb, diktierte die Suchanfrage nach vermissten Kindern und bekam eine erschreckend lange Liste von Treffern, die der Computer ihm vorlas. Die Stimme unaufgeregt männlich, er hatte schon Schlimmeres gehört. Weitere zwei Mal lauschte er der Aufstellung. Das Erfassen und Erinnern von Informationen ausschließlich über das Gehör fiel ihm immer noch schwer, daher dauerte die oberflächliche Durchsicht der infrage kommenden Akten Stunden, in denen Pechstein alles um sich herum vergaß.

Das Mädchen, dessen Akte er schließlich herausgefiltert hatte, war Melina aus Düsseldorf. Verschwunden im Alter von acht Jahren am 27. November 2007. Einzige Tochter von Bianca Bielmann, Vater unbekannt. Von Melina wurde eine Mütze gefunden, im nahe gelegenen Grünzug, gar nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Leider stammte die in rauen Mengen vorhandene DNA von einem Hund. Ob der Köter die Mütze an Ort und Stelle gefunden oder dorthin verschleppt hatte, war unklar. Menschliche DNA fand sich nur in winzigen Spuren an dem Kleidungsstück, das sich nach Aktenlage in der Asservatenkammer des Präsidiums befand. Pechstein beschloss, dass es sowieso Zeit für eine Pause an der frischen Luft war, und nahm ein Taxi für die kurze Strecke zum Präsidium, die er früher mit dem Rad zurückgelegt hätte.

 

Das Gebäude zu betreten, in dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte, die längste Zeit davon mit Mike, bereitete Pechstein körperliche Schmerzen. Er hatte Ohrensausen und Magendrücken, als er sich am Empfang meldete wie ein Besucher, der er ja jetzt war. Er hoffte, keinem seiner alten Kollegen zu begegnen.

In der Asservatenkammer holte er sich bei dem ihm unbekannten Zuständigen eine Abfuhr. Die Herausgabe der Mütze erfolge nur an den zuständigen Ermittler mit dem entsprechenden Formblatt und nicht an irgendeinen Typen vom Landeskriminalamt ohne offizielle Dokumente. Pechstein seufzte. Hätte er selbst dran denken können. Natürlich hatte er die Anweisung zur Kooperation mit dem ermittelnden Präsidium verstanden, die Abteilung Cold Cases sollte eigentlich nur im Hintergrund tätig sein. Aber welcher Kommissar würde sich um diesen Fall kümmern, während alle verfügbaren Kräfte die aktuell verschwundene Emilia suchten? Pechstein zückte das Handy und rief seinen ehemaligen Chef an.

 

Wolf-Jürgen Behr klang nicht, als hätte er abgenommen. Schnappatmung, scheuernder Stoff bei jedem Schritt und die fünf Zentimeter, die der Aufzug nach unten gesackt war, verrieten, dass der Behrwolf sich weiterhin von Currywurst und Kuchen ernährte. Er war irgendwo im Haus unterwegs gewesen, hatte Pechstein gebeten zu warten, und ihn dann mit in sein Büro genommen. Der altbekannte Geruch nach Zimtschnecken löste in Pechstein eine so starke Sehnsucht nach seinem früheren Leben aus, dass er mehrfach schlucken musste, bevor er sein Anliegen vorbringen konnte.

»Okay«, erwiderte Behrwolf nach einer langen Stille, »dann bin ich dein zuständiger Ermittler vor Ort, aber nur pro forma. Und du bist derjenige, der den Kontakt zur Staatsanwaltschaft hält, damit kann ich mich nicht belasten.«

Die Staatsanwaltschaft. Pechstein seufzte. Der erste Tag hatte scheiße begonnen und sich gegen Abend hin deutlich verschlechtert.

 

Becks ...

… genoss die Ruhe im Büro. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich noch nicht wieder so fit, wie sie es alle Welt glauben machte, aber weder die Tatsache an sich noch den Grund dafür könnte sie jemals einem anderen Menschen gegenüber eingestehen. Vor allem nicht den Grund. So lange die Kollegen, Vorgesetzten und Psychologen, in deren Sprechstunden man sie gezwungen hatte, glaubten, die traumatische Erfahrung ihrer Entführung durch einen kriminellen Clan sei die alleinige Ursache für ihren anschließenden Zusammenbruch, war alles in Ordnung. Zwar hasste sie das Mitleid, das man ihr entgegenbrachte, aber es war deutlich besser als das, was sie zu erwarten hätte, wenn jemals die Wahrheit ans Licht käme.

An Pechsteins Computer checkte sie anhand der kürzlich verwendeten Programme und Dateien, womit er sich beschäftigt hatte. Nicht mit ihr, stellte sie fest. Er hatte weder ihren Namen gegoogelt, noch im polizeiinternen System geschnüffelt. Überraschend. Sie selbst hatte ihn ausführlich digital gestalkt, über die üblichen, die weniger üblichen und auch einige nicht ganz koschere Kanäle. Dass er so überhaupt kein Interesse an ihrer Person zeigte, entlockte ihr ein grimmiges Grinsen. Entweder wusste er schon alles über seine neue Kollegin, oder er interessierte sich ausschließlich für sich selbst.

Tatsächlich hatte Pechstein den ganzen Tag nur Fallakten geprüft. Vermisste Kinder. Von einer Akte hatte er sogar eine Asservatennummer ausgedruckt und den Chef des KK 11, Wolf-Jürgen Behr, als Fall-Paten benannt. Echt jetzt? Das KK 11 hatte mit dem aktuell verschwundenen Mädchen absolut keine Kapazität für die Wiederaufnahme eines Altfalls. Damit würde die gesamte Arbeit an Pechstein hängen bleiben. Aber vielleicht war es genau das, was er wollte. Arbeiten und vergessen.

Wer hätte das besser verstanden als sie?

 

Pechstein ...

… tastete sich vorsichtig mit dem Langstock in Richtung Rhein. Früher hätte er kaum zwei Minuten auf dem Rad benötigt und die auch nur, weil er als Polizeibeamter wenigstens ein Minimum an Respekt vor der Straßenverkehrsordnung zeigen musste. Heute tappte er Schritt für Schritt vorwärts, immer an der Innenkante des Bürgersteigs entlang, weil die Kante an der Fahrbahnseite mit Pollern besetzt war, um Falschparker abzuwehren. Vor allem wehrte sie seinen Stock ab. Er wurde sogar von einem Grüppchen Rentnerinnen mit Rollatoren überholt, die zum Rheinturm wollten.

Ab dem Ende des Fürstenwalls wurde es noch schlimmer. Gepflasterte Wege und Rasen auf gleichem Niveau, Kantensteine Fehlanzeige. Je näher der Rhein kam, desto weniger Orientierungsmöglichkeiten hatte er. Mit Hilfe des Navis wagte er sich weiter vorwärts, bis es ihm zu doof wurde. Er machte sich hier zum Gespött mit seinen Trippelschritten in Schlangenlinien. Genervt drehte er um und empfand Erleichterung, als sein Stock endlich wieder einen befestigten Rand fand, und Frust, weil er genau hier vor wenigen Minuten schon einmal gewesen war. Gehe zurück auf Los, viel Glück beim nächsten Mal.

Er wusste, dass er noch nicht nach Hause wollte, aber was er stattdessen tun oder wo er stattdessen hinwollte, wusste er nicht. Das war in den letzten Monaten anders gewesen. Da hatte er ein Ziel gehabt, das er mit aller Macht verfolgte: zurück zum Dienst. Dafür hatte er sich durch physiotherapeutische Übungen gequält, Knochenbrüche und Prellungen rehabilitiert. Dafür hatte er sich von speziellen Ausbildern für Blinde in alltagspraktischen Dingen schulen lassen. Einkaufen, Kochen, Körperpflege, Rasur. Orientierung, Gebrauch von manuellen, technischen und elektronischen Hilfsmitteln.

Alles für diesen Tag.

Jetzt lag der erste Arbeitstag hinter ihm und er fühlte nichts von der erwarteten Euphorie. Die Arbeit mit MiniCam, Computerstimme und Vorlesegerät war langwierig und anstrengend, und das Gefühl der Zugehörigkeit, das er früher an seinem Arbeitsplatz empfunden hatte, fehlte völlig. Dass Becks ihn als Zumutung betrachtete, hätte sie kaum deutlicher zum Ausdruck bringen können. Und dann scheiterte er erst am Hüter der Asservatenkammer und später an den städtischen Grünanlagen.

Wie hatte er die Situation so vollkommen falsch einschätzen können? Wie hatte er glauben können, sobald er als Ermittler an einem Schreibtisch säße, wäre er wieder KHK Pechstein, die coole Sau, die mit einer unkonventionellen Mischung aus anarchischer Kreativität und akribischer Präzision noch jeden Fall gelöst hatte? Zusammen mit den Kollegen natürlich, vor allem mit Mike, der nicht nur sein Partner, sondern auch sein bester Freund gewesen war. Pechstein stoppte abrupt. Plötzlich hatte er ein Ziel. Dieses Mal würde er Mikes Grab finden.

 

- 2 -

Pechstein ...

… zögerte. Ihr Büro war das dritte links gewesen und es gab keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sich daran etwas geändert hätte. Trotzdem erwartete er fast, dass eine unbekannte Stimme ihn auf sein Klopfen hin hereinbitten würde, aber es war ihre. Tanjas. Er wappnete sich und öffnete die Tür.

Die Pause, die eintrat, wenn die Leute ihn betrachteten, kannte er inzwischen. Zum Kotzen fand er sie immer noch.

»Rasmus!«

Er zuckte zusammen. Er hasste seinen Vornamen Erasmus, aber Tanja hatte, als sie ein Paar wurden, darauf bestanden, ihn damit anzureden. Letztlich hatte Pechstein einem Kompromiss zugestimmt. Rasmus. Blöd genug, aber besser als mit dem völlig unnützen E vorne dran. Eigentlich könnte sie ihn jetzt wieder Pechstein nennen, dachte er, wie alle anderen es taten, aber er bat sie nicht darum.

»Du siehst schlecht aus.«

Mitleidig. Würg.

Er nickte. »Du auch.«

»Das kannst du doch gar nicht sehen.« Sanfte Sorge. Er hatte gelernt, diesen Tonfall zu ignorieren.

»Ich rolle eine Vermisstensache neu auf und brauche die nötigen Papiere.« Er legte ihr den Ausdruck auf den Tisch.

»Bist du sicher, dass du schon wieder so weit bist?«

»Es geht um ein Mädchen, das vor fünfzehn Jahren spurlos verschwand.«

»Deine Hand zittert.«

»Ich brauche eine DNA-Untersuchung der Mütze von den Spezialisten in München. Abgeklebt hatten wir sie damals schon, aber nicht genug Material für eine Analyse. Mit der neuen Methode bekommen wir ein Profil.«

»Warum musste ich über den Flurfunk erfahren, dass du wieder im Dienst bist? Und wenn du sowieso zu mir wolltest, hätten wir doch zusammen fahren können.«

Pechstein unterdrückte ein Seufzen. Warum konnte sie nicht einfach akzeptieren, dass es kein Wir mehr gab?

Tanja räusperte sich auf diese besondere Art, die ein Zeichen von Gereiztheit war. »Soweit ich weiß, sind es die jeweiligen Kriminalhauptstellen, die bei den Ermittlungen federführend sind.«

»Behrwolfs Unterschrift findest du auf Seite zwei.«

»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.«

»Lass es.« Schärfer als beabsichtigt.

»Gut, wie du willst.« Enttäuscht? Erbost? Eisig! Jetzt würde eine steile Falte zwischen ihren gletscherblauen Augen auftauchen und sie würde die Ärmel ihres Blazers zurechtzupfen, eine Übersprunghandlung, die sie selbst hasste wie die Pest. »Aber ich werde ein besonderes Auge auf diese Ermittlung haben. Sollte ich feststellen, dass du der Sache nicht gewachsen bist, werde ich das Experiment beenden.«

Pechstein schwieg unversöhnlich. Er lauschte den Geräuschen der Tastatur und des Druckers und vernahm das Rascheln des zweifellos teuren Stoffs, als sie aufstand. Bei ihrer Kleidung machte sie keine Kompromisse. Hosenanzüge oder Kostüme, italienische Marken, Schurwolle pur oder mit Seide gemischt, klassisch geschnitten. Niemals Jeans im Büro, keine Schuhe unter neun Zentimetern Absatzhöhe. Damit erreichte sie Pechsteins Größe, daher gab er sich Mühe, ihr gerade ins Gesicht zu schauen, während er die Dokumente entgegennahm. Dann rief er mal wieder ein Taxi.

 

In der Asservatenkammer ließ Pechstein Melinas Mütze heraussuchen und quittierte den Empfang. Er war froh, das Gesicht des Beamten nicht sehen zu müssen, als er ihn bat, die Schablone zu positionieren, damit Pechsteins Unterschrift nicht quer über das Blatt verlief – oder halb daneben.

Mit der Mütze in der Hand, von der er glaubte, dass sie rot war - hatte das nicht irgendwo in der Akte gestanden? - tastete er sich auf dem Weg zu Behrwolf langsam durch das Gebäude. Seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Der Widerhall des Raums verriet ihm, ob er sich am Anfang, am Ende oder in der Mitte eines Flurs befand, ob der Raum groß oder klein war, die Decke hoch oder niedrig, die Fenster offen oder geschlossen. Das leise Ping informierte ihn ebenso wie das Zischen der sich öffnenden und schließenden Türen über den Abstand zwischen ihm und dem Aufzug. Zuklappende Zimmertüren, das Dröhnen eines elektrischen Händetrockners im Toilettenvorraum, die typischen Geräusche von Kopiergeräten, alles konnte der Orientierung dienen.

Nur war Pechstein lange nicht hier gewesen. Als Sehender hätte er sich zurechtgefunden, als Blinder nicht. Plötzlich befand er sich in einem Flur, von dem er nur wusste, dass er hier falsch war. Aber wo war er? Und in welcher Richtung lag sein Ziel? Das mulmige Gefühl verstärkte sich, als eine Tür ganz in seiner Nähe aufflog und Menschen herausströmten. Viele. Eilig.

Pechstein hätte sich gern mit dem Rücken an die Wand gedrückt, bis die Flut vorbei wäre, aber da war keine Wand. So blieb er steif stehen, den Langstock fest an seinen Körper gepresst, damit niemand darüber fiel. Satzfetzen erreichten sein Ohr. »Neue Spur Reifenabdruck …«, »Lehrer widerruft Aussage über Fahrzeugmodell …«, »… über neunhundert Hinweise aus der Bevölkerung«.

Plötzlich wusste er, wo er war. Die tägliche Pressekonferenz zum Ermittlungsstand im Fall der verschwundenen Emilia war zu Ende, die Journalisten mit Stift, Mikro oder Kamera eilten davon, um der sensationslüsternen Öffentlichkeit mitzuteilen, dass es nichts Neues zu berichten gab. Das allerdings würden sie wort- und bildgewaltig in Szene setzen. Die Polizei brauchte die Medien, aber die Gier nach Geschwindigkeit hatte die Schallmauer durchbrochen. Stündlich wollten Online-Redaktionen neue Nachrichten, und wenn es keine gab, wurde genau das zur Schlagzeile, gern garniert mit kritischen Fragen über die Qualität der Ermittlung oder die Kompetenz der Beamten. Pechstein war froh, dass er dieses Mal davon nicht betroffen war.

»Hey, sind Sie nicht - natürlich! Kommissar Pechstein, na so was. Ich wusste ja gar nicht, dass Sie wieder im Dienst sind!«

Pechstein spürte eine Hand auf der Schulter und musste sich massiv zusammenreißen, um sie nicht gewaltsam von dort zu entfernen. Stattdessen drehte er sich darunter weg. Er nahm ein Gemisch verschiedener Aromen wahr, eine bekannte Hautcreme, irgendwas Blumiges und die scharf-bittere Note von Haarspray.

»Ricki, mach mal eine kurze Einstellung«, rief eine schrille Frauenstimme von links. Gleichzeitig hörte Pechstein von allen Seiten das typische Klicken von Fotoapparaten. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht und sagte so laut wie möglich, ohne hysterisch zu klingen: »Keine Fotos oder Filmaufnahmen von mir. Ich meine es ernst und werde das verfolgen lassen.«

»Kommissar Pechstein, seit wann sind Sie wieder im Dienst?«

»Kommissar Pechstein, in welcher Funktion sind Sie jetzt tätig?«

»Kommissar Pechstein …«

Pechstein spürte, wie er zu schwanken begann. Das passierte ihm gelegentlich, wenn eine Situation seine Sinne überforderte. Zwei Mal war er ohnmächtig geworden bei seinen ersten Gehversuchen als Blinder außerhalb der Reha. Jetzt umklammerte er seinen Stock, als hinge sein Leben davon ab. Vor der versammelten Journaille umzufallen würde seinen Wiedereinstieg beenden, bevor er richtig begonnen hatte.

»Leute, das ist nicht fair, lasst ihm Luft zum Atmen!«

Die Stimme war nicht laut, hatte aber genug Autorität, um Wirkung zu zeigen.

»Sie bekommen Ihre Chance, dem Kollegen all Ihre Fragen zu stellen, aber jetzt gehen Sie bitte weiter.«

Behrwolf.

Einzelne Stimmen protestierten, entfernten sich trotzdem. Es wurde still, die Atemluft füllte sich wieder mit Sauerstoff, das Gefühl, von etwas Zähem, Klebrigem umschlossen zu sein, löste sich auf. Pechstein widerstand dem Impuls, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Danke.«

»Was wolltest du hier?«

Pechstein informierte Behrwolf über die Mütze aus der Asservatenkammer. Eigentlich hatte er seinen früheren Chef bitten wollen, sie nach München zu schicken, aber er brachte es nicht über sich, nach dem peinlichen Auftritt auch noch seine Unfähigkeit in Postangelegenheiten zum Thema zu machen. Also erwähnte er die Münchner Analyseexperten nur als nächsten Schritt, den er unternehmen würde.

»Gut, mach mal. Noch was?«

Pechstein schüttelte den Kopf. Er wollte nur noch weg.

 

»Wir sollten einige Dinge klären, damit sich keine falschen Abläufe einschleifen«, sagte Becks, noch bevor Pechstein auf seinem Drehstuhl Platz genommen hatte. »Ich habe Cold Cases aufgebaut und bin zurzeit allein verantwortlich, da du dich noch in der Wiedereingliederungsphase befindest. Du informierst mich jeden Tag mindestens einmal über den aktuellen Status. Anträge an die Staatsanwaltschaft sind vorher mit mir abzustimmen.«

Pechstein schwieg überrascht, während er versuchte, sich an die Details seines neuen Dienstvertrags zu erinnern. »So weit ich weiß, sind wir hierarchisch gleichgestellt.«

»Theoretisch schon, praktisch nicht.«

Er nahm die Info schweigend zur Kenntnis.

»Probleme?«, fragte Becks.

»Offenbar hast du welche«, entgegnete er. »Und zwar mit mir.«

Becks seufzte. »Wo soll ich da anfangen? Ein blinder Ermittler, der Beweisstücke nicht mal sieht, wenn er drüber fällt. Kein Budget für einen Assistenten, der deine Defizite ausgleichen könnte. Meinen einzigen«, sie machte eine winzige Pause, »Kollegen für die Cold Cases habe ich mir anders vorgestellt.«

»Warum bin ich dann hier?«

»Deine Personalie wurde an anderer Stelle entschieden. Beweis mir, dass du den Job beherrschst, ansonsten sorge ich dafür, dass du spätestens Neujahr weg bist.«

Acht Wochen. »Geduld ist nicht deine Stärke.«

»Nein. Und deshalb will ich jetzt den Tagesstatus hören und zwar kurz und präzise.«

Kurz lag ihm. Pechstein fasste zusammen, warum er Melinas Akte aus den vielen Fällen herausgesucht hatte. Warum er sich von dem bundesweit einmaligen Waschverfahren zur Sicherstellung winzigster DNA-Spuren auf der Mütze neue Erkenntnisse versprach. Dass er Staatsanwältin Rudow überzeugt hatte, den Fall wiederaufzunehmen.

»Ist das die Mütze?«, fragte Becks zweifellos mit Hinweis auf die Asservatentüte auf Pechsteins Schreibtisch.

»Ja.«

»Gut, dann schick sie los. Wir sehen uns Montag.«

Pechstein ignorierte die erneute Provokation und lauschte schweigend den Geräuschen, die Becks machte, als sie ihren Mantel anzog, sich eine Tasche über die Schulter hängte und die Tür öffnete. Dann war er allein.

Einen Moment lang starrte Pechstein vor sich hin. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass seine Wiedereingliederung als Kriminalhauptkommissar nicht nur ungewöhnlich war und eine Herausforderung für ihn selbst darstellte, sondern auf massiven Widerstand stoßen würde. Und wenn – hätte es etwas geändert? Hätte Pechstein seinen Plan, wieder als aktiver Ermittler zu arbeiten, fallen gelassen, nur weil das einigen Leuten nicht in den Kram passte? Sicher nicht. Wozu also jetzt ein Drama daraus machen? Er musste halt zusehen, dass er die Dinge geregelt bekam. Zum Beispiel die Weiterleitung dieser Mütze an die Spurensicherer in Bayern. Er nahm die Mütze, fand den Weg zur Poststelle und traf dort auf einen hilfsbereiten Menschen, der ihm die Verpackung und Beschriftung der Sendung mit Freuden abnahm, bevor auch er sich ins Wochenende verabschiedete. Pechstein fühlte sich so zufrieden wie lange nicht mehr.

 

Becks ...

… hatte ihn ziemlich auflaufen lassen, aber sie wollte von Anfang an klare Fronten. Sie war nicht aus dem Polizeipräsidium Dortmund ins LKA gewechselt, um dort im Wurmfortsatz der kriminalistischen Hierarchie zu versauern. Natürlich musste sie erst mal den Ball flach halten. Abwarten, ob in der Aufarbeitung der Geschehnisse, die zu ihrem Wechsel geführt hatten, Dinge ans Tageslicht kamen, die besser im Dunkeln blieben. Welcher Posten wäre besser dafür geeignet als ein Job in einer anderen Stadt, abseits des Tagesgeschäfts unter dem Radar der sensationsgeilen Live-vom-Tatort Berichterstattung.

Becks goss sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Das letzte Stück Pizza hätte sie besser nicht gegessen, jetzt hatte sie Sodbrennen. Vielleicht kam es aber auch von dem Campari, den sie als Aperitif getrunken hatte. Sie versuchte hinauszuschauen auf den Rhein, dafür hatte sie diese lächerlich überteuerte Wohnung schließlich gekauft, aber ihr Blick wurde von der Scheibe zurückgeworfen. Sie starrte in ihr Spiegelbild. Undeutlich war es, zum Glück. So musste sie die Falten nicht sehen, die sich neuerdings von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen. Konnte sich einbilden, die Schultern hätten dieselbe Spannkraft wie früher, das Haar sei nicht stumpf, die Augenringe nur Schatten von der schummrigen Beleuchtung. Hinter ihr verlor sich der leere Raum im Dunkel. Keine Möbel, keine Kisten. Nebenan die Matratze auf dem Boden, hier nur der Balkontisch mit dem wackeligen Stuhl, den die Vorbesitzer draußen hatten stehen lassen.

Ein Geräusch gelangte wie aus weiter Ferne an Becks’ Ohren. Ihr Handy. Sie erhob sich, schwankte leicht wegen des Weins oder des Camparis, vielleicht auch wegen der zwei Bier, die sie zur Happy Hour in irgendeiner Altstadtkneipe getrunken hatte. Dann fischte sie das Telefon aus der Manteltasche.

Musik drang leise durch die Leitung. Ein französisches Chanson, Nathalie von Gilbert Bécaud. Jener Song, den sie einst geliebt hatte, als er noch nicht zur Titelmelodie ihres größten Versagens geworden war. Jetzt versetzte er ihr einen Schock. Der Mann, der dieses Lied als ihren Klingelton auf sein Handy gespielt hatte, der es regelmäßig gesummt hatte, wenn sie im Dunkeln nebeneinanderlagen, der sie Nathalie genannt hatte statt Natalia, wie es in ihrem Personalausweis stand, dieser Mann war …

»Salut, ma belle!«

Nicht seine Stimme. Natürlich nicht. Konnte es nicht sein, denn er war tot, ganz sicher, mausetot. Sie wusste, dass es eine Obduktion gegeben hatte, Hirn entnommen, Organe entnommen, gewogen, beprobt, spätestens danach stand niemand wieder auf, da brauchte man sich über einen Scheintod oder ein vorgetäuschtes Ableben keine Gedanken zu machen.

»Freust du dich gar nicht über ein Wiederhören unter alten Freunden?«

Freunde? Becks erkannte die Stimme nicht, aber das konnte auch daran liegen, dass der Sprecher offenbar einen Schnupfen hatte.

»Aber auch mit alten Freunden redet man lieber über die Zukunft als über die Vergangenheit, nicht wahr? Zumal das finstere Geheimnis deiner Vergangenheit bei mir in den besten Händen ist, schöne Nathalie. Daher lass uns über die Zukunft reden. Deine Zukunft als Sachgebietsleiterin im LKA.«

Becks glaubte, sich verhört zu haben. Erstens stand überhaupt kein Job auf dieser Ebene zur Disposition, zweitens glaubte sie nicht, dass irgendjemand ihr einen solchen Job anbieten würde, so kurz nach dem posttraumatischen Zusammenbruch und der Reha. Und drittens würde sie den Teufel tun, sich mit einer Bewerbung auf eine Führungsstelle einem Hintergrundcheck auf Herz und Nieren auszusetzen.

»Ausgerechnet bei der Operativen Fall Analyse. Das ist ein wunderbarer Posten, den du bald antreten wirst. Sehr verantwortungsvoll. Mit Zugang zu allen wichtigen Ermittlungen der Kripo, des Landeskriminalamtes und mit engem Kontakt zum Bundeskriminalamt. Und du weißt ja, dass kleine Geschenke die Freundschaft erhalten, nicht wahr?«

Hartmann?, dachte Becks. Warum sollte ihr direkter Vorgesetzter seinen Job aufgeben? Der Mann, der dem Sachgebiet Operative Fallanalyse vorstand, zu dem auch sie selbst mit den Cold Cases gehörte, war ein vitaler Mittfünfziger, der im letzten Jahr seinen ersten Marathon gelaufen war.

»Ich melde mich wieder, Nathalie, bald schon. Dann können wir unsere alte Freundschaft auf eine ganz neue Basis stellen.«

Wie lange sie mit dem stummen Handy am Ohr gestanden hatte, hätte sie später nicht mehr sagen können. Irgendwann riss ihr Magen sie aus der Lähmung, sie erbrach die Pizza und den Rotwein und schleppte sich unter die Dusche, wo sie das Wasser so heiß aufdrehte, dass ihre Haut innerhalb von Sekunden knallrot leuchtete.

Ihre Unterwäsche ließ sie an. Wie immer. Seit damals.

 

Pechstein ...

… erreichte sein Büro am Montag erst um neun. Der durchschnittliche natürliche Biorhythmus des Homo sapiens hatte eine Länge von 25 Stunden, wie diverse Studien festgestellt hatten. Hauptsächlich durch den Wechsel zwischen Hell und Dunkel passten sich die Menschen mehr oder weniger erfolgreich der festgelegten Tageslänge an, aber dieser optische Reiz fiel für Pechstein aus, weshalb er abends schlecht einschlief und morgens nicht wach wurde. Er würde sich einen zweiten Wecker besorgen müssen.

Das ganze Wochenende hatte er versucht, sich die Fakten im Fall der verschwundenen Melina einzuprägen. Hatte sie im Geiste wiederholt, um nur ja nichts zu vergessen. Verschwunden am 27. November 2007, vermutlich in der Nähe des eigenen Zuhauses. Zumindest war sie dort in der Theodorstraße zuletzt gesehen worden. Pechstein kannte die Ecke. Kein kriminalistischer Brennpunkt, aber viele Alleinerziehende, viele Menschen, die von Sozialleistungen lebten, viele Arbeitslose. Der Wohnraum älter und kleiner als im städtischen Durchschnitt, keine sozialen oder kulturellen Angebote in dem Areal, das ursprünglich ein Industriegebiet war – es sei denn, man zählte die zwei Bordelle dazu. Zwischen Bahnlinie und zwei Autobahnen gelegen, im Süden die Asphalt- und Betonwüste des ehemaligen Mannesmanngeländes. Ebenso in fußläufiger Nähe Grünzüge – wo die Mütze gefunden worden war – und Kleingartenanlagen diesseits und jenseits der Schienen. Wenige Wohnhäuser und viele Gewerbehöfe, die für die ortsansässigen Kinder ein einziger Abenteuerspielplatz waren. Zumindest für die, die sich trauten.

Melina sei eher still gewesen, hatte die Mutter behauptet. Still, ja, aber vermutlich nicht dumm, wobei sich das nicht sicher beurteilen ließ, die Lehrerin. Ein kleines Miststück, eine Petze, bei der man nie wusste, was hinter ihrem meist unbewegten Gesichtsausdruck vor sich ging. Diese Einschätzung hatte die damalige Nachbarin zu Protokoll gegeben, deren Tochter oft genug die Leidtragende gewesen sei.

Pechstein würde mit diesen Menschen noch einmal sprechen, um sich ein eigenes Bild von Melina zu machen. Und zwar bevor er sich den Verdächtigen zuwandte, die man damals für mögliche Täter gehalten hatte. Bis er diesen Schritt ging, lag hoffentlich auch das DNA-Profil vor, auf das er eigentlich warten müsste, um überhaupt mit der Bearbeitung des alten Falls zu beginnen. Aber dass er Ergebnisse aus München bekommen würde, war für Pechstein so sicher wie das Schwarz vor seinen Augen. Und gewartet hatte er die letzten Monate genug. Er fragte die aktuelle Meldeadresse von Melinas Mutter ab, die immer noch die gleiche war wie damals, und rief sich ein Taxi.

 

»Die is ahbiede, die kütt et owends spät noh huus.«

Pechstein seufzte leise. Dass Bianca Bielmann erst spät nach Hause kam, weil sie arbeiten war, hatte er gerade so verstanden. Zum Glück verkniff sich die Frau ihr Düsseldorfer Platt und kratzte ihre Fremdsprachenkenntnisse in Hochdeutsch zusammen, als sie ihm bereitwillig Auskunft gab über Bianca Bielmann. Dass die es schwer hatte, aber den Kopf über Wasser hielt, seit dem Zusammenbruch damals.

Pechstein hatte darüber gelesen. Wenige Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter Melina war Bianca Bielmann in die Psychiatrie gebracht worden, in die Geschlossene, wo sie einige Monate blieb.

Aber Bianca hatte sich nicht hängen lassen, als sie aus der Klapse kam. Sie trank keinen Alkohol mehr, keinen Schluck seitdem. Und dann habe sie diese Selbsthilfegruppe gefunden, übers Internet. Dort habe Bianca erfahren, dass es vielen Menschen gehe wie ihr, dass täglich Kinder verschwänden, dass die meisten allerdings wieder auftauchten.

Die Frau machte eine Pause, schluckte, räusperte sich. Ihre Stimme war brüchig, als sie leiser fortfuhr, immer wieder mit Ausdrücken in Mundart durchsetzt, wenn es besonders emotional wurde. Dass Melina nicht wieder aufgetaucht sei, aber das wisse der Herr Kommissar ja selbst. Dass Bianca trotzdem nicht wieder mit dem Alkohol »und dem anderen Dreck« angefangen habe, sondern eine Ausbildung, die hatte sie nämlich vorher nicht gehabt. Jetzt sei sie Friseurin, eine gute, und immer freundlich.

Pechstein hatte nach den ersten Worten sein Handy eingeschaltet und den Monolog aufgenommen, jetzt bat er die Nachbarin noch um Namen und Adresse. Hier im Haus, Erdgeschoss, direkt unter Bianca. Und sie sei die Liesel Meckenstock. Und wenn das dann alles wär, dann würde sie jetzt endlich einkaufen gehen, bevor die Läden zumachten, sie hätte schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, um mit fremden Leuten zu palawern.

Während sich die trippelnden Schritte der Frau entfernten, klingelte Pechsteins Handy. Becks.

»Wo bist du?« Keine Begrüßung, kein »Guten Morgen«.

»Theodorstraße. Nachbarn befragen.«

»Die Presse steht mir auf den Füßen wegen dir. Welchen Job hat er jetzt, wie geht es ihm, wie kann ein Blinder als Ermittler arbeiten?«

Pechstein ärgerte sich. Über die Presse, aber vor allem über sich selbst. Das hätte er kommen sehen müssen.

»Wir haben eine PK für heute Nachmittag angekündigt, bei der du dich den Fragen stellst.«

Wir? »Heute Nachmittag kann ich nicht.« Er hatte grundsätzlich keinen Bock, über die letzten Monate zu sprechen, schon gar nicht mit der Presse. Aber wenn es unbedingt sein musste, dann doch bitte mit ein bisschen Vorlauf, damit er sich Gedanken darüber machen konnte, was er denen erzählte. Und vor allem: was nicht.

»Zwei Uhr. Du, ich, Steiner von der SBV und Markward von P und Ö.«

Die Schwerbehindertenvertretung und die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Und die hatten alle so ganz spontan Zeit? Oder hatte Becks das von langer Hand geplant?

»Sorry, aber …«

»Zwei Uhr, Pechstein. Du bist auf Probe, vergiss das nicht.«

 

Pechstein betrat den Raum um zwei Minuten vor zwei. Rechts hörte er das Gemurmel aus den Stuhlreihen, links klopfte jemand ungeduldig auf den Tisch. Auf dem kleinen Podium wurde ein Stuhl zurückgeschoben, kurz darauf griff eine Hand nach seinem Oberarm. Das war definitiv P und Ö, denn die SBVler wussten, dass Blinde es hassten, wenn man sich an sie heranschlich, sie anfasste und dann herumschob wie Schachfiguren.

»Hallo, Herr Markward.« Pechstein löste die fremde Hand von seinem Oberarm. »Wie geht es dem Sohn?«

Pechstein hatte gehört, dass Markwards Sohn bei einem Gleitschirmunfall im Sommer verunglückt war.

»Danke, es wird.«

»Der dritte Stuhl ist Ihrer«, murmelte Sybille Steiner gerade so laut, dass Pechstein sie hören konnte. Er stieg auf das Podest, glitt mit der rechten Hand an den Rückenlehnen der ersten beiden Stühle vorbei, bevor er sich auf den dritten setzte. Er war ziemlich sicher, dass er bei seinem Auftritt keine schlechte Figur gemacht hatte. Damit war die erste Hürde schon mal geschafft.

Becks begrüßte die Journalisten und fasste in wenigen Worten die Geschehnisse zusammen, bei denen Mike getötet und Pechstein schwer verletzt worden war. Ihre Stimme war professionell neutral, während sie die Eckdaten vortrug, wurde leise und bewegt, als die Rede auf Mikes Tod kam, und transportierte eine freundliche Wärme bei der Erwähnung von Pechsteins Rückkehr in den Dienst.

»Einer unserer besten Ermittler, wie Sie alle wissen. Wir freuen uns sehr, dass wir ab sofort wieder auf seine langjährige Erfahrung zählen können.«

Pechstein dachte an ihr Ultimatum und den Umgangston, den sie mit ihm pflegte. Natalia Becks hatte definitiv zwei Gesichter. Interessant wäre die Frage, wie viele Menschen das Finstere kannten.

»Kommissar Pechstein, wie geht es Ihnen aktuell?«

»Danke, gut. Und Ihnen?«

»Kommissar Pechstein, wie haben Sie die letzten Monate verbracht?«

»Im Krankenhaus, in der Reha und zu Hause.«

»Sind Sie Ihrer neuen Aufgabe gewachsen?«

»Ich denke schon.«

»Wie gehen Sie mit dem Verlust Ihres Augenlichts um?«

»Radikale Akzeptanz ist die einzige Möglichkeit.«

»Wie haben Sie sich gefühlt, als Ihre damalige Lebensgefährtin sich von Ihnen getrennt hat?«

Pechstein musste sich zur Ruhe zwingen. Dass er mit Staatsanwältin Tanja Rudow liiert gewesen war, ging niemanden etwas an. Dass er sich von ihr getrennt hatte, ebenso wenig. Aber wenn er die Frage nicht beantwortete, stünden am nächsten Tag wilde Spekulationen in der Zeitung, die Tanja diffamieren und damit zur Weißglut treiben würden.

»Über mein Privatleben gebe ich grundsätzlich keine Auskunft, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme, weil Ihre Frage die Unterstellung enthält, dass Frau Rudow mich im Stich gelassen hätte, als es mir schlecht ging. Das war nicht der Fall.«

»Haben die Opfer, deren Fälle Sie jetzt bearbeiten, nicht einen Ermittler verdient, der alle seine Sinne beisammenhat?«

Im Raum breitete sich eisiges Schweigen aus. Pechstein kämpfte um einen neutralen Gesichtsausdruck und war froh, sich hinter seiner Sonnenbrille verstecken zu können. Diese Frage traf ihn ins Mark.

»Polizeiarbeit ist immer Teamwork, das ist auch bei den Cold Cases so.« Becks’ Stimme und Tonfall waren so entspannt, dass sie die Brisanz der Frage vollständig neutralisierten.

»Aber die Soko im Fall der aktuell verschwundenen Emilia hat mehr als fünf Dutzend Ermittler, während Sie mit Kommissar Pechstein allein sind.«

»Wir haben Zugriff auf jede Unterstützung, die wir benötigen, und arbeiten in enger Abstimmung und Kooperation mit den Kreispolizeibehörden und Kriminalhauptstellen zusammen, in deren Zuständigkeitsbereich die Fälle liegen.«

Pechstein wunderte sich, über welche Bandbreite an unterschiedlichen Stimmen und Tonfällen Becks verfügte. In diesem Fall lautete der Subtext eindeutig: Damit ist das Thema abgeschlossen. Und es funktionierte, denn die nächste Frage ging an die Kollegin von der Schwerbehindertenvertretung.

»Frau Steiner, Sie haben sich dafür eingesetzt, dass Kommissar Pechstein seinen Ermittlerjob behalten darf, obwohl er als Blinder eigentlich nicht polizeidiensttauglich ist. Glauben Sie, dass er der Aufgabe gewachsen ist?«

»Ich frage zurück: Wollen wir wirklich auf einen hervorragenden Ermittler verzichten? Ist es nicht eher so, dass die Probleme, die sich aus seiner Blindheit ergeben, leicht lösbar sind, während seine jahrelange Erfahrung unersetzbar ist?«

Pechstein musste sich ein Grinsen verkneifen. Sybille Steiner hatte in einem internen Gespräch mit ihm sarkastisch angemerkt, dass es auch bei Nichtbehinderten ganz nützlich wäre, sich zu überlegen, ob sie die nötigen Qualitäten für den angestrebten Job mitbrächten, besonders die charakterlichen. Leider würden Defizite bei Menschen ohne Schwerbehindertenausweis gern ausgeblendet, während sie bei denen mit Ausweis im Fokus stünden. Pechstein hatte ihre schnoddrige Art gemocht.

»An welchem Fall arbeiten Sie aktuell, Herr Pechstein?«

Noch bevor Pechstein über eine mögliche Antwort nachdenken konnte, grätschte Becks dazwischen.

»Darüber können wir Ihnen heute leider keine Auskunft geben. Ich denke, dass wir alle Fragen zur Rückkehr von Kommissar Pechstein beantwortet haben, und danke Ihnen für Ihr Interesse. Auf Wiedersehen.«

 

Becks …

… verließ den Raum der Pressekonferenz beinahe fluchtartig. Sie wollte auf keinen Fall einem dieser Medienfritzen vor die Kamera oder das Mikro laufen. Fragen nach ihrer eigenen Situation konnte sie gerade nicht gebrauchen.

Das ganze Wochenende hatte sie gegrübelt. Erst über die Frage, wer zum Teufel der Anrufer war. Dann, woher er wusste, dass Hartmanns Job als Sachgebietsleiter demnächst neu vergeben werden würde. Allerdings war dieses Problem nebensächlich. Viel schlimmer war die Tatsache, dass es offenbar jemanden gab, der ihr schmutziges, kleines Geheimnis kannte. Und das war nicht irgendjemand, sondern einer von denen. Von der anderen Seite. Wäre es ein Kollege gewesen – schlimm genug. Aber so war es eine Katastrophe.

Ein Krimineller wollte eine Marionette als Leiterin des Sachgebiets 31.5, das, neben den Cold Cases, vor allem für die Operative Fallanalyse zuständig war. Der Arbeitsbereich, der in den USA als Profiling bezeichnet wurde, stand als LKA-Fachabteilung auf Wunsch allen Kriminalkommissariaten unterstützend zur Seite. Die meisten Kollegen machten davon regen Gebrauch, ein Kompetenzgerangel gab es nicht. Kein auch nur halbwegs professioneller Kommissar würde auf die Expertise der Fallanalytiker verzichten. Würde Becks den Job antreten, bekäme sie Einblick in praktisch jede kriminalpolizeiliche Ermittlung in schweren Straftaten aus dem ganzen Bundesland. Tötungsdelikte, schwerer Raub, Entführungen, Sexualstraftaten, Brandstiftung oder Angriffe gegen den Staat, die Liste war lang. Und die Operative Fallanalyse bekam nicht nur Zugang zu den Akten der Behörden vor Ort, sondern erstellte Gutachten zum Tathergang sowie Täterprofile, die damit entscheidenden Einfluss auf die weitere Aufklärungsarbeit hatten. Wenn Becks sich hätte überlegen sollen, an welcher Position ein korrupter Beamter den größtmöglichen Schaden anrichten könnte, wäre genau dieser Posten auf ihrer Liste ziemlich weit oben aufgetaucht. Und sie wollte dieser korrupte Bulle nicht sein. Ergo musste sie zurück in ihre Vergangenheit, an die sie nie wieder hatte denken wollen. Becks stieg in ihr Auto, wählte eine Playlist aus der Rubrik laut und aggro und machte sich auf den Weg.

 

Das Dortmunder Polizeipräsidium war immer noch so hässlich wie in ihrer Erinnerung. Natürlich. Sie parkte, empfand die plötzliche Stille als körperlichen Schmerz und blieb noch einen Augenblick sitzen.

Jahrelang war sie hier erfolgreich und zufrieden gewesen. Von den meisten Kollegen akzeptiert, von den Vorgesetzten respektiert, im Turbo befördert. In jedem Zeitungsartikel über die Erfolge der Dortmunder Polizei im Kampf gegen die Clankriminalität war sie erwähnt worden, die gut aussehende Überfliegerin, die fünf Sprachen fließend beherrschte und eine glänzende Karriere in der internationalen Wirtschaft hätte haben können, sich aber stattdessen für die Kriminalitätsbekämpfung im Ruhrpott entschieden hatte. Was ihrem Vater, dem Vorstandsvorsitzenden eines weltweit führenden Konzerns seiner Branche, so wenig gefallen hatte, dass er sie enterbte. Zumindest laut Klatschpresse. Becks’ Vater selbst hatte seit Ewigkeiten nicht mit ihr gesprochen, schon gar nicht über ein eventuelles Erbe, auf das sie sowieso nicht spekulierte. Die Einkünfte aus dem Anlagepaket, das sie zur Volljährigkeit von ihm geschenkt bekommen hatte, ergänzten ihr Einkommen so großzügig, dass sie sich um ihre Finanzen keine Sorgen machen musste. Aktuell so ziemlich der einzige Bereich ihres Lebens, der ihr keine schlaflosen Nächte bereitete. Sie stieg aus und machte sich auf den Weg zu ihrem ehemaligen Büro.

 

»Mann, Becks, du siehst so richtig scheiße aus!«

Becks spürte, wie die Last auf ihrer Seele leichter wurde. Auf Olli hatte sie gehofft, ihn hatte sie treffen wollen. Er war ihr immer der liebste Kollege gewesen. Null Ambitionen auf Beförderung, null Probleme mit einer Frau im Team, null Toleranz gegenüber Faulheit, Doofheit oder Desinteresse, null Political Correctness in seiner Sprache.

»Du nicht, Olli, du bist genau so sexy wie immer.«

Olli drückte sich mühsam aus seinem Stuhl hoch, ein hundertzwanzig Kilo schwerer Gartenzwerg, nur ohne Mütze. Aber die roten Bäckchen, die Knollennase, alles stimmte.

Der pickelige Jüngling am Tisch gegenüber starrte die beiden mit offenem Mund an. Becks hoffte: Praktikant, fürchtete: Kollege. Aber vielleicht sah sie im Moment auch einfach alles schwarz.

»Dienstlich oder privat?«, fragte Olli.

»Privat.«

»Tschüss Jung, bis morgen.«

Der Picklige brauchte einige Sekunden, um zu kapieren, dass er gemeint war, wollte offenbar widersprechen, ließ es bleiben. Olli folgte Becks hinaus, in das düstere Grau, zu ihrem Auto.

»Schicke Karre, so um die vierzig Riesen?«

»Red nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst«, entgegnete Becks freundlich. »Wohin?«

»Hab 'ne neue Kneipe aufgetan. Könntest was auf die Rippen vertragen.«

Becks fuhr nach seinen Anweisungen, ansonsten schwiegen sie. Das kannte Becks, das respektierte sie. Olli war ein Schweiger. Wenn er so weit war, würde er fragen, was sie zu ihm führte. Bis dahin war jedes Wort an ihn vergebene Liebesmüh.

 

»Hast du dich eingelebt?«, fragte Olli eine halbe Stunde später. Dunkles Holz auf dem Boden und an den Wänden, helle Tischplatten aus Esche, zu denen auch Silberbesteck und Leinenservietten gepasst hätten. Tatsächlich standen Serviettenhalter aus Plexiglas und abgestoßene Salzstreuer auf jedem Tisch. Eine Mischung aus uralter Eckkneipe und gehobener Bürgerlichkeit und das auch noch mit vietnamesischer Küche. Ollis gastronomische Entdeckungen waren legendär.

»Die Orga steht, wir rollen gerade den ersten Altfall neu auf.«

Olli gähnte.

Becks grinste. »So schlimm ist es nicht.«

»Wenn du dabei bist, wird es sicher spannend.«

Becks nickte. Überlegte, wie sie ihre Frage verpacken sollte. Entschied sich für die direkte Variante. »Was wisst ihr inzwischen über den neuen Player im Kokshandel?«

Olli schwieg, trank an seinem alkoholfreien Bier, stellte das Glas ab, wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Warum warst du wirklich in der Reha?«

Becks hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass Olli Antworten gab, ohne zu wissen, worum es ging, aber dass gleich seine erste Frage voll ins Zentrum des Problems zielte, war schon ein bisschen unheimlich.

»Ich wurde entführt, misshandelt, …«

Olli winkte ab.

Becks konnte ihm nicht erzählen, dass ihre Entführung nur stattgefunden hatte, weil der libanesische Clanchef einen Tipp bekommen hatte, wann sie wo sein würde. Sie, die Ermittlerin, die seinen Neffen eingelocht hatte, der so blöd gewesen war, einen Mann vor der Linse einer Überwachungskamera und den Augen einer Zeugin abzustechen. Vor allen Dingen konnte sie ihm nicht erzählen, dass der Tipp, mit dem der Clan sie abgreifen konnte wie ein Huhn im Dunkeln, von dem Mann gekommen war, mit dem sie die sechs glücklichsten Monate ihres Lebens verbracht hatte.

»Du hast dich selbst aus der Schusslinie genommen, Becks. Kann ich verstehen. Ich dachte, es hätte damit zu tun, wie leicht sie dich einkassiert haben.«

Ja, das hatten sie, denn Thomas Kauertz, die Liebe ihres Lebens, hatte alles sorgfältig eingefädelt.

»Als dann während deiner Reha die Info kam, dass du ins LKA wechselst, klang es nach Beförderung, nicht nach Flucht. Aber deine Frage verrät mir, dass dir deine Vergangenheit wie Scheiße am Schuh klebt und du fürchtest, darauf auszurutschen.«

Kein Wunder, dass Ollis Erfolgsquote gigantisch war, dachte Becks. Er sah Zusammenhänge.

»Ich kann dir nicht die ganze Geschichte erzählen, tut mir leid.«

Der junge Mann, der die Bestellung aufgenommen und die Getränke gebracht hatte, stellte mehrere Schüsselchen auf den Tisch und je einen Teller vor Olli und Becks. Er wünschte einen guten Appetit und zog sich ebenso leise und unauffällig wieder zurück, wie er aufgetaucht war.

Olli nahm von allem, häufte seinen Teller voll und griff zur Gabel. Becks hatte keine Ahnung, welche Speisen in den Schüsseln dampften, aber sie war nicht wegen der Kulinarik hier, sondern um von Olli eine Information zu bekommen. Alles andere war Nebensache. Sie tat es ihm gleich und begann zu essen. Endlich mal wieder keine Pizza, kein Brauhausfraß oder Fastfood. Überrascht stellte sie fest, dass sie das Essen genoss.

»Von unserer Kundschaft ist es keiner«, sagte Olli, nachdem er seinen Teller geleert hatte. Typisch, dass er nach etlichen Zwischenfragen und fast einer halben Stunde Bedenkzeit unvermittelt zum Ausgangspunkt zurückkam. Es gab Menschen, die diese Gedankensprünge nicht gut nachvollziehen konnten, aber Becks hatte kein Problem damit. Schon gar nicht in diesem Fall, wo sie der Antwort entgegenfieberte, die ihre Erwartung bestätigte: Es war niemand aus dem Bereich Clankriminalität.

»Auch die Kiffer kennen ihn nicht.«

Bei dem Spitznamen für die Kollegen von der Drogenfahndung musste Becks kurz grinsen.

»Der neue Player ist wirklich neu. Ein Außenseiter, Quereinsteiger, nenn es, wie du willst. Es gibt keine Revierkämpfe mit Semmys Clan, keine Kleinkriminalität rund um das Big Business mit den weißen Kragen, nichts dergleichen. Er beherrscht das Geschäft aus dem Verborgenen heraus.«

Becks stellte fest, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete langsam aus. Was Olli da beschrieb, war die Vorgehensweise von Thomas Kauertz gewesen, untadeliger Geschäftsmann im internationalen Beraterbusiness – bis ihm eines Tages die Idee kam, mit sauberem Koks Millionen zu scheffeln. Er hatte sich informiert – das Internet bot dem cleveren Suchenden alle Informationen und Kontakte, die man benötigte, manche hinter starken Firewalls, andere nur gegen Bezahlung, aber alles erhältlich – und einen Plan ausgeheckt, wie er die beiden Clans, die im Ruhrgebiet das Drogengeschäft unter sich aufgeteilt hatten, gegeneinander ausspielen konnte. Dabei war er auf sie, Kriminalhauptkommissarin Natalia Becks, gestoßen. Er hatte sie als Beute ins Visier genommen und sie war ihm in die Falle gegangen. Hatte sich in diesen kultivierten Mann verliebt, von dessen dunklem Geheimnis sie erst erfuhr, als es schon viel zu spät war. Kauertz hatte sie benutzt, um Zugang zu Informationen über die Drogenclans zu bekommen – und darüber, wie die Dortmunder Kripo sie bekämpfte. Von ihr. Beziehungsweise über sie. Hatte ihr Spyware aufs Handy gespielt, das Tablet, den Laptop. Hatte Kameras und Mikrofone der Geräte ferngesteuert, sie abgehört, ausgespäht, Dateien kopiert. Er hatte erfahren, dass ein syrischer Geschäftsmann dem alteingesessenen libanesischen Clan Konkurrenz machte. Semmy, der Syrer, hatte innerhalb von zwei Jahren ein modernes Unternehmen aufgezogen. Straff organisiert, solide finanziert, technisch auf dem neuesten Stand. Semmy wollte die libanesische Vorherrschaft beenden, wollte Al-Capo, wie der libanesische Clanchef wegen seiner Vorliebe für Mafiafilme genannt wurde, vom Drogenthron der Ruhrgebietsmetropole verdrängen. Und Kauertz wollte ihn dabei unterstützen, um dann eine Kooperation zu vereinbaren, oder besser gesagt: ein Stillhalteabkommen zwischen Semmys Straßenverkauf von Drogen aller Art und Kauertz’ Upper-Class-Koks-Business.

All das hatte er ihr eines Tages selbst offenbart in der sicheren Erwartung, dass sie sich auf seine Seite schlagen würde. Saubere Drogen, analog zu Alkohol und Arzneimitteln, seien ein Dienst an der Gesellschaft, hatte er ihr erklärt. Keine Beschaffungs- und Begleitkriminalität, mehr Sicherheit für alle, sie stünden auf derselben Seite. Wortlos hatte sie seine Wohnung verlassen. Sprachlos, fassungslos, vor allem: planlos. Dass sie ihn anzeigen musste, war klar. Aber sie zögerte. Hoffte, einen Weg zu finden, auf dem sie selbst nicht in die Schusslinie geriet.

Sie überlegte zu lang, denn wie sie sich später zusammenreimen konnte, beschloss Kauertz ihre Entsorgung in dem Moment, in dem sie seine Wohnung verließ. Er bot Semmy einen Deal an: Der Syrer würde seinem libanesischen Gegenspieler einen Tipp geben, wann und wo er Becks abgreifen könne. Die gesamte Polizei des Landes würde ihre entführte Kollegin suchen und sie nach einem anonymen Hinweis, für den Kauertz sorgen würde, bei den Libanesen finden.

---ENDE DER LESEPROBE---