Per Anhalter durch Südamerika - Morten Hübbe - E-Book

Per Anhalter durch Südamerika E-Book

Morten Hübbe

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Beschreibung

Eigentlich als Sprachreise nach Argentinien und Chile geplant, trampen Morten und Rochssare von den Gletschern Patagoniens bis an die karibischen Traumstrände Kolumbiens und Venezuelas. Sie treiben einen Monat mit Marktbooten den Amazonas hinunter, klettern hinab in die Silberminen Boliviens und besuchen die Mennoniten in Paraguay. Sie couchsurfen durch Studenten-WGs, teilen das Landleben der einfachen Bevölkerung und den Luxus in bewachten Wohnvierteln der Metropolen. Sie schließen Freundschaften mit LKW-Fahrern und tauchen mit Seelöwen vor Galapagos. Erst nach zwei Jahren und 246 Mitfahrgelegenheiten können sie sich von diesem fernen Kontinent lösen.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

November 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Deutschsprachige Erstausgabe:

traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag, Hamburg 2015

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Karte: Marlise Kunkel, München

Fotos: Morten Hübbe/Rochssare Neromand-Soma

Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Vorwort

Ein neues Vorwort zu unserem ersten Buch, unserem Herzensbuch. Diese Geschichte setzt bei Kilometer null an. Unsere ersten gemeinsamen Reisen per Anhalter haben ihren Ursprung in Südamerika. Es ist der ganz große Sprung ins Ungewisse. Der Kontinent ebnete unseren Weg, zeigte uns, dass es möglich ist, dauerhaft zu reisen und darüber zu schreiben. Seitdem ist ein Jahrzehnt vergangen, in dem wir knapp 130000 Kilometer in mehr als 1000 Mitfahrgelegenheiten hinter uns gebracht haben. So lange schon schweben unsere Gedanken von einem Detail zum nächsten und sind immer bereit, die Richtung zu wechseln.

Zeit und Distanz haben uns geprägt. Vor Südamerika waren wir unbedarfte Uniabsolventen, die nicht viel mehr kannten als quadratische Schulbänke und dicke Wälzer und nun alles auf einmal wollten. Wir waren Anfang, Mitte zwanzig und auf der Suche nach der Welt. Nach 18 Jahren im deutschen Bildungssystem wollten wir das Menschsein kennenlernen. Direkt und klar, ohne Umschweife und Verfärbungen.

Vorab war nicht geplant ein Buch darüber zu schreiben. Wir hatten andere Interessen. Die Welt zu erleben war uns wichtiger als sie mit den richtigen Worten und einer eingängigen Sprache zu beschreiben. Und doch hatten wir eine Leserschaft, dann ein Manuskript und schließlich sogar einen Verlag. Was dieses Buch ausmacht, ist der Charme der Jugend. Es ist die Freiheit, Dinge erst zu machen und dann darüber nachzudenken, ob das wirklich eine gute Idee war. Wir haben uns seitdem verändert, unser Blick auf die Welt hat sich entwickelt, ebenso unsere Sprache. Was geblieben ist, ist unsere Art des Reisens: langsam, nah an den Menschen, per Anhalter.

Reiseweisheiten sind Lebensweisheiten. Es ist schwierig in Worte zu fassen, was wir in den zurückliegenden zehn Jahren des Unterwegsseins gelernt haben, wie viel in dieser Zeit geschehen ist. Dutzende Länder haben wir gemeinsam per Anhalter bereist. Immer wieder sind wir zu Fremden ins Auto gestiegen und mit ihnen Stück für Stück durch die Welt gefahren. Ungezählte Male wurden uns Herzen und Türen geöffnet – unabhängig von Religion, Herkunft, sozialer Zugehörigkeit oder Fußballfanschaft.

In Südamerika und überall auf der Welt haben wir viel Liebe erfahren. Bedingungslos. Und wir werden wohl den Rest unserer Zeit damit beschäftigt sein, diese Liebe zurückzugeben. Bedingungslos. Darauf freuen wir uns.

Prolog

Es gibt viele Gründe, warum Menschen freiwillig ihr sicheres Heim verlassen und in die weite, unbekannte Welt hinausgehen. Wagemut spielt häufig eine Rolle, Sehnsucht, Fernweh oder gar die Suche nach spiritueller Erweiterung. Manchmal ist Reisen auch einfach nur eine Flucht.

Für uns ist es nichts davon. Als wir unsere Reise planen, fühlen wir uns weder besonders mutig noch suchen wir eine selbstreinigende Erfahrung. Was uns antreibt, ist ein Interesse an der Welt, das uns schon seit geraumer Zeit nicht mehr ruhig sitzen lässt. Wir wollen wissen, lernen und erfahren, sehen und spüren, wie das Leben am anderen Ende der Welt ist. Wir wollen Kulturen, Bräuchen, Menschen und Regionen begegnen. Wir wollen die Luft dort drüben riechen, Unbekanntem lauschen und den Geschmack der Fremde auf unserer Zunge schmecken. Wir wollen durch die Augen der anderen sehen. Auf ihre Leben und auch auf unsere.

Während Freunde und Bekannte versuchen, Job und Familie unter einen Hut zu bringen, schlagen wir einen anderen Weg ein. Die Aussicht auf eine 40-Stunden-Woche im Büro hat uns nie gereizt. Zwar bewundern wir diejenigen, die sich damit arrangieren, aber in unserer Lebensplanung ist dafür kein Platz.

So stoßen wir alles ab, was uns in Deutschland hält; kündigen unsere Wohnungen, verkaufen unsere Möbel, verschenken unsere Klamotten. Unsere Blicke richten sich nach vorn und sind doch diffus. Wir haben keinen konkreten Reiseplan, halten lediglich zwei Flugtickets nach Argentinien in den Händen. An einem Weihnachtsfeiertag stehen wir am Flughafen. Mit dabei sind zwei Rucksäcke und eine unbändige Neugier auf alles, was uns erwartet.

Inspiriert von großen Entdeckern wie Magellan, Humboldt und Darwin haben wir unzählige Reiseberichte verschlungen. Südamerika übt dabei eine besondere Faszination auf uns aus. Schneebedeckte Berggipfel und karibische Strände, trockene Wüsten und tropischer Regenwald, menschenleere Weite und überfüllte Megastädte lassen uns schwärmen, noch bevor wir einen Fuß über den Großen Teich gesetzt haben.

Darüber hinaus können wir hier mit nur einer Sprache sehr weit reisen. Das ist uns wichtig, wollen wir doch neben all den atemberaubenden Landschaften vor allem Menschen kennenlernen. Zwei Jahren reisen wir per Anhalter und als Couchsurfer durch alle südamerikanischen Länder. Solange es Land und Straßen gibt, bleiben wir auf der Erde. Die Reise soll als solche erlebbar bleiben. Wir wollen die kleinen Veränderungen zwischen den Orten spüren, genauso wie die großen Veränderungen zwischen den Kulturen.

Vom ersten Tag an verlieben wir uns in den fernen Kontinent; in seine Menschen, in die Natur und die städtebauliche Pracht. Wir reisen langsam, genießen den Augenblick, haben keinen Zeitdruck, keine Termine. Wir treiben vorwärts, halten aber auch inne und sehen hin. Überall treffen wir auf gastfreundliche Menschen, kommen ins Gespräch. Es sind diese Begegnungen, mit denen wir den Wert unserer Reise bestimmen.

ARGENTINIEN

Buenos Aires — La Boca und die Begeisterung

Und da kommen sie: Die Mannschaften betreten den Rasen. War die Stimmung auf den Rängen bisher lediglich eindrucksvoll, so steigert sie sich nun in pure Ekstase. Die rhythmischen Fangesänge, die aus dem wogenden blau-gelben Fahnenmeer zu hören sind, wandeln sich in Sekundenbruchteilen in eine gefährlich brodelnde Brandung, die alles zu verschlingen droht.

Heute ist ein besonderes Spiel, spätestens jetzt ist es allen klar. Ein neuer Spieler steht im Aufgebot: ein talentierter Junge von gerade einmal 20 Jahren und dennoch schon ein hochdekorierter Sportler. Im letzten Jahr gewann er mit der U20 Argentiniens die Juniorenweltmeisterschaft, wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt und trägt nebenbei auch noch die Auszeichnung als bester Fußballer seines Landes und Südamerikas. Doch all das scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Völlig ungehemmt spielt er in seinem ersten Spiel für die Boca Juniors in der »Bombonera« auf, erzielt zwei Tore und wird Jahre später als »die Hand Gottes« Weltruhm erreichen. Sein Name: Diego Armando Maradona. Für viele Argentinier der einzig wahre Fußballer auf dem Planeten.

Auch heute, mehr als 30 Jahre nach diesem denkwürdigen ersten Auftritt im Boca-Trikot, ist die Begeisterung für den Fußballer des 20. Jahrhunderts ungebrochen. Das Bild Maradonas prangt beinahe an jeder Häuserwand im Hafenviertel La Boca, der Heimstätte des Vereins. Hier im sozial schwachen Stadtteil steht nämlich die »Bombonera«, das Stadion der Boca Juniors. Gegründet als Arbeiterverein, symbolisiert der erfolgreichste argentinische Fußballklub heute das Ideal eines gelungenen Aufstiegs innerhalb der Gesellschaft, weshalb viele seiner Anhänger vor allem in der armen Bevölkerungsschicht zu finden sind. Weder der Prunk des schicken Palermos im Norden Buenos Aires’ noch der Charme des benachbarten San Telmos sind hier zu spüren. Selbst Argentinier raten davon ab, La Boca zu betreten: Überfälle seien an der Tagesordnung.

Die einzige Ausnahme bildet der »Caminito«. Im »Sträßchen«, der touristischen Hauptattraktion La Bocas, reihen sich bunte Wellblechhäuser wie die Perlen einer Halskette aneinander und vermitteln das Bild eines fröhlichen und farbenfrohen Viertels, das es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Ängstliche Touristen werden in Reisebussen direkt hierhergefahren und trauen sich kaum einen Schritt aus der Gasse heraus. Hier grüßt Diego Maradona gleich mehrfach als Figur aus Pappmaschee von den Balkonen. Vom ersten Stock winkt er mit den anderen Nationalhelden Argentiniens: Che Guevara, Evita Duarte de Perón und Carlos Gardel. Unten verkaufen fahrende Händler Kunsthandwerk, und Europäer, die ihren Rucksack fest umklammert auf dem Bauch tragen, lassen sich in verführerischer Tangopose fotografieren.

Alles wirkt hier unauthentisch: die Kellner, die vor den unzähligen Restaurants in dieser kurzen Gasse um zahlende Kunden werben, die Tangotänzer auf den Terrassen der Gaststätten, die ihre Leidenschaft für diesen stolzen Tanz schon vor langer Zeit verloren haben und nur noch gelangweilt in die Weite starren, der Maradona-Doppelgänger, der lediglich dann freundlich lacht, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist. Sie alle verdienen ihr Geld an den Touristen, die in Scharen hierhergekarrt werden, um drei Fotos zu machen und zusammen mit 500 anderen hungrigen Mäulern mittagzuessen. Dann geht es zurück in den Bus, und was bleibt, sind Lügen der Erinnerung. Weder das gestellte Tangofoto noch die Umarmung mit Maradona waren echt.

Doch La Boca ist weit mehr als eine kleine betrügerische Straße. La Boca ist Begeisterung, ist Leidenschaft, ist Identifikation – zumindest wenn es um Fußball geht. Das blau-gelbe Trikot der Boca Juniors ist die Arbeitsuniform, der Paradeanzug und wahrscheinlich auch das Nachthemd jedes einzelnen Bewohners dieses Viertels. Es macht den Anschein, als ob jeden Tag ein Heimspiel wäre, so omnipräsent sind die Farben des Vereins. Doch was passiert, wenn Boca wirklich einmal zu Hause spielt, ist fast nicht in Worte zu fassen. Von überall pilgern Tausende und Abertausende Fans in Richtung des Stadions. Wenn in einem der Stadtbusse mit 22 Sitzplätzen plötzlich 80 Boca Juniors-Fans überschwänglich ihre Lieder singen, gegen die Innenwände trommeln, sich weit aus den Fenstern lehnen, auf und ab hüpfen und so den Bus bei voller Fahrt zum Schaukeln bringen, dann passiert ganz offensichtlich etwas Besonderes – Boca spielt.

Rund um die »Bombonera« geht es etwas beschaulicher, aber nicht weniger enthusiastisch zu. An jeder Ecke finden Expertengespräche statt, und diejenigen, die es nicht bis ins Stadion geschafft haben, schauen in einer großen Traube die Liveübertragung auf einem Fernseher, den jemand zur Freude aller vor die Tür gestellt hat. Ich stelle mich einen Augenblick lang in die Menge und schaue dem Spielgeschehen zu. Boca greift an, ein Alleingang, ein Schuss – weit vorbei. Alle um mich herum stöhnen entsetzt über die vergebene Chance auf. »No es Maradona, lamentablemente« – »Leider ist er nicht Maradona«, ächzt jemand hinter mir. Der hätte den Ball nämlich reingemacht.

Sofort ist der Diego-Effekt da. Jeder hat eine eigene Geschichte zu erzählen, eine eigene Erinnerung, einen eigenen Diego-Moment. Die ehemalige Nummer 10 ist eine lebende Legende, an deren Nimbus ganz Argentinien arbeitet. So werden zehn Prozent umgangssprachlich »Diego« genannt, und der Code für Marihuana im Wert von zehn Pesos heißt – wie sollte es anders sein – »Diego«.

Der Personenkult wird auch nicht durch Drogenskandale und kolossale Misserfolge als Trainer geschwächt. Diego ist und bleibt Diego – der mit Abstand beste Fußballer der Welt. Und so wird es auch weiterhin einen Doppelgänger im Caminito geben, Touristen werden weiterhin T-Shirts, Tassen und Schlüsselanhänger mit seinem Konterfei kaufen, und irgendwann wird Diego vom Zehn-Peso-Schein lächeln. Ich glaube fest daran.

Gottes Segen und geschlossene Welten in Rosario

Mit einem klapprigen Zug verlassen wir Buenos Aires. Langsam rattern wir durch die Vororte der Megametropole, bis wir an der Endstation Zárate ankommen. Zárate ist klein, wie klein, weiß ich nicht, aber Menschen mit Rucksäcken scheinen selten zu sein. Im Bus in Richtung Autobahn werden wir neugierig beäugt. Eine ältere Dame kann sich nicht zurückhalten, spricht uns an, fragt uns aus.

Am Ende des Gespräches haben wir ihren und Gottes Segen und den Ratschlag: »Kinder, passt auf euch auf! Die Zeiten sind nicht einfach!« Das macht Mut. Auf den letzten Metern zur Autobahn, die wir zu Fuß zurücklegen, ein ähnliches Bild. Der ältere Herr, der stolz zu erkennen gibt, dass er unseren Akzent grob als »europäisch« einstufen kann, gibt uns zwar Auskunft, schlägt aber, als er von unseren Plänen erfährt, per Anhalter durch das Land zu reisen, die Hände über dem Kopf zusammen, den er dabei gleichzeitig heftig schüttelt. Auch er schenkt uns Gottes Segen.

Bei so viel göttlichem Segen kann ja gar nichts mehr schiefgehen. Wir gehen weiter. Und tatsächlich: An der Autobahn Richtung Rosario hält nach unglaublichen zwei Minuten Carlos an. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, liebevoll unser Pappschild zu beschriften, als wir auf eine Mitfahrgelegenheit warten müssen. Wir steigen ein. Carlos ist 30 und hat ein sehr rundes, aber nicht minder nettes Gesicht. Nur sein Auto macht mir Sorgen. Es klappert verdächtig, die Sicherheitsgurte funktionieren nicht, und die beiden Seitenspiegel sind auch nicht vorhanden. Auf meinem inneren Notizzettel füge ich hinzu: »Nicht nur Zustand des Fahrers, sondern auch des Fahrzeuges begutachten.« Auf den 250 Kilometern bis nach Rosario müssen wir viermal tanken. Warum wir dabei jedes Mal aus dem Auto aussteigen müssen, bleibt uns jedoch ein Rätsel.

Nichtsdestotrotz erreichen wir am frühen Abend Rosario, die drittgrößte Stadt des Landes. Direkt am Rio Paraná gelegen, sagt man Rosario nach, dass es die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Argentinien sei. Die für argentinische Verhältnisse beschauliche Einwohnerzahl von einer Million lässt dabei beinahe eine gemütliche Kleinstadtatmosphäre aufkommen.

Kurz nachdem wir von der Autobahn abfahren, sehen wir das größte Casino des Landes, welches dem mittlerweile verstorbenen Expräsidenten Néstor Kirchner gehörte. Direkt neben dem Casino, wie paradox, ein Armenviertel, ein »Villa«. Die verschwenderische Beleuchtung des Casinos macht Kinder sichtbar, die in der Dämmerung barfuß im Müll spielen. Nach der Busfahrt ins Zentrum werden wir von unseren Couchsurfing-Hosts Flor und Pedro empfangen. Die beiden sind selbst ein Jahr lang per Anhalter und mit Couchsurfing durch Südamerika gereist und nehmen als Dank nun selbst fleißig Reisende bei sich auf. Die Wohnung der beiden begeisterten Musikstudenten und Musiklehrer ist übersät mit Instrumenten aus aller Herren Länder.

Am selben Abend werden wir direkt zu einer kleinen Feier des Karnevalvereins eingeladen, in dem Pedro singt. Die junge Gruppe bringt politische Satire in melodischer Form unters bereits karnevalverrückte Volk.

Am nächsten Tag sind wir gegen Mittag bei Flors Vater und seiner Frau zum Grillen eingeladen. Flors Vater wohnt in einem »Country«. Das ist genau das Gegenteil einer Villa. In einem Country wohnen die Reichen unter sich – mit »mehr Sicherheit«, wie sie selbst betonen. Diese Art zu leben sei eher der neuen Frau ihres Vaters zuzuschreiben, erzählt uns Flor. Lorena sei »sehr speziell«. Ein Country, das sind etwa 200 große Villen mit großen Gärten und großen Autos davor. 200 Villen, umgeben von einer Mauer. Mehrere Autos einer privaten Securityfirma fahren 24 Stunden am Tag im Country Streife. Der riesige Eingang des Countrys erinnert an den Eingang eines Freizeitparks. Um reinzukommen, muss man beim Sicherheitspersonal seinen Namen angeben und die Person, zu der man möchte. Mit einem Telefonanruf wird dies dann überprüft. Wenn alles stimmt, darf man hinein. Hinein in eine andere Welt. Schöne Anekdote: Morgens fährt ein Junge auf dem Fahrrad durch das verschlossene Reichenviertel und wirft zusammengerollte Zeitungen in die gepflegten Vorgärten – wie in den schönen alten US-Filmen. Herrlich. Manche Menschen bezahlen anscheinend tatsächlich für ein Leben im eigenen Gefängnis.

Bei der Begrüßung und dem ersten Small Talk mit Flors Vaters versuchen wir nicht gänzlich überwältigt auszusehen. Das Haus ist beeindruckend, genauso wie der riesige Berner Sennenhund »Khalef«. Bei den Kuschelversuchen des anhänglichen 50 kg schweren Kolosses verliert man ab und zu die Balance. Wir schließen ihn direkt ins Herz. Dann steigt Lorena die Stufen zu uns herab. Lorena ist ein bisschen zu dünn, ein bisschen zu sonnengebräunt und ein bisschen zu blond gefärbt. Ihre Schuhe, ihre Hose und ihr T-Shirt blenden uns im strahlendsten Weiß mit unauffälligen Tommy-Hilfiger-Emblemen. Doch der erste Eindruck trügt. Marcello und Lorena leben zwar in einer völlig anderen Welt, sind aber sehr zuvorkommend, hilfsbereit und humorvoll. Wir bekommen eine Einweisung in die argentinische Grillkunst und zaubern zusammen Köstliches auf die Teller.

Nach drei gemeinsamen Tagen mit Flor und Pedro wechseln wir unseren Host und wohnen nun bei Manuel. Gottes Segen verlässt uns nicht. Bereits im Auto eröffnet uns Manuel zwei gute Nachrichten. Erstens: Er wohnt in einer Großfamilie, und zweitens: Seine Eltern sind heute aus dem Brasilienurlaub wiedergekommen, und es gibt ein großes Familienessen. Es wird natürlich gegrillt. Ganze Platten feinsten argentinischen Rindfleisches machen die Runde.

Am nächsten Tag lädt uns Manuels Vater zu einer Bootstour auf dem Rio Paraná ein. Im Motorboot der Familie cruisen wir über den Rio Paraná, der nur fünf Blocks vom Haus der Familie entfernt fließt. Erst in der beginnenden Dämmerung kehren wir zurück. Rosario im Abendlicht, vom Motorboot aus betrachtet, lässt uns sentimental unserem letzten Abend entgegenschippern, den wir gemeinsam mit Manuel und einigen seiner Freunde ausklingen lassen.

Mendoza und die Weingebiete

»Am Sonntag essen wir Asado, trinken Wein, bis wir richtig voll sind, und gehen dann um 18 Uhr ins Bett!«, so beschreibt Manuel, unser Host in Mendoza, den Tagesablauf.

Was nach jugendlicher Unüberlegtheit klingt, sind die Worte eines Mitarbeiters der bekanntesten und teuersten Privatschule Mendozas. Und so sitzen wir auf der Dachterrasse, lassen jede Menge Malbec unsere Kehlen hinunterlaufen und verwirklichen diese Aussage. Dabei handelt es sich keineswegs um einen besonderen Tag. Es ist lediglich Sonntag – und wie jeden Sonntag sitzen Manuel und sein Lebensgefährte Ignacio in der Sonne und betrinken sich. Dieses Mal begleiten wir sie auf ihrer Reise hinein in den Rausch der Woche. Das Ganze hat System: »Wenn du abends um 18 Uhr betrunken bist und schläfst, dann hast du richtig viel Zeit, um dich bis Montag früh auszuruhen«, erklären die beiden ihre ganz eigene Taktik, um das Wochenende ausklingen zu lassen.

Mendoza, umringt von unzähligen Weingütern, die Weine in überzeugender Qualität produzieren, ist für diese Art der Freizeitgestaltung wohl der beste Ort in ganz Argentinien. Hier herrschen perfekte Bedingungen: Die Höhenlage von 700 bis 1500 Metern sorgt für große Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, und die mächtigen Gipfel der Anden schützen die Trauben vor zu viel Niederschlag. Natürlich bleibt unsere Sonntagsverkostung dieses regionalen Produktes nicht die einzige. Volle drei Tage widmen wir uns gänzlich dem edlen Tropfen. Zunächst machen wir uns auf den Weg ins Valle de Uco, ein nahe gelegenes Tal, in dem nach Herzenslust und ohne Auflagen mit Wein experimentiert werden darf.

Aus diesem Grund tummeln sich hier Winzer aus Spanien, Frankreich, Holland, den USA, um immer neue Weine zu kreieren. In Tunuyán, einem Städtchen im Tal, bekommen wir in der ortsansässigen Touristeninformation eine Karte und jede Menge Material. Allerdings scheinen wir die allerersten Reisenden zu sein, die hier einkehren, denn der freundliche Mitarbeiter wirkt überaus aufgeregt, beschriftet unsere Karte, markiert Wege, malt Kreise, schraffiert Flächen, setzt Verweise. Am Ende ist von der eigentlichen Karte nicht mehr viel zu erkennen, stattdessen kreuzen sich jede Menge Striche und Linien, die der Kugelschreiber auf dem Papier hinterlassen hat. Verwirrt von all dem, entledigen wir uns dieses Zettels und entscheiden uns für einen Besuch der Bodega Salentein – Weinverkostung inklusive.

Dabei lernen wir, wie eine professionelle »Degustación« abläuft: Zuerst wird das Glas geschwenkt, um die alkoholischen Dämpfe zu verflüchtigen, um dann die Nase tief ins Glas zu halten und zu schnuppern. Dann kommt die Farbe: je heller der Wein, desto älter. Beim Verkosten des Weines erklärt uns der Winzer, was wir schmecken sollten: Marmelade, Kaffee, Nuss. Er hätte auch Gras, Leder und Teer sagen können, so vielfältig schmeckt Wein.

Dieses neu erlernte Wissen wenden wir am Folgetag gekonnt an. In Maipú, einem Vorort Mendozas, der sich selbst als »Wiege des Rebstocks« bezeichnet, leihen wir uns ein Tandem und erkunden die ländliche Umgebung. Na ja, eigentlich fahren wir von Bodega zu Bodega, verzichten auf die Führungen und kommen gleich zum Wein. Bei herrlichem Sonnenschein und einem Blick auf die Anden, der einfach unbeschreiblich ist, trinken wir ein Glas nach dem anderen, bis wir, fünf Bodegas bereits hinter uns, völlig betrunken auch das letzte Weingut verlassen.

Und dort neben unserem Tandem sitzt ein Polizist auf seinem Motorrad, ganz offensichtlich auf uns wartend. Doch er sagt kein Wort, spricht nicht, als wir unser Gefährt sicherheitshalber ein paar Meter weiter wegschieben, nicht, als wir beschließen, etwas zu essen, um Zeit zu gewinnen, und auch nicht, als wir endlich aufsteigen und losfahren. Aber er begleitet uns: Etwa eine Stunde lang fährt er im Schneckentempo hinter uns her. Unbeirrt bleibt er hinter uns, bis wir das Zentrum Maipús erreichen. Und dann ist er genauso plötzlich weg, wie er gekommen ist.

Den Abend verbringen wir mit Manuel und Ignacio, essen selbstgemachte Empanadas, mit Hackfleisch, Zwiebeln und Ei gefüllte Teigtaschen, und trinken selbstverständlich noch mehr Wein aus Maipú.

Doch Wein ist nicht die einzige Attraktion der Gegend. Ein paar Autostunden von Mendoza entfernt erhebt sich der Superlativ Amerikas: der Aconcagua. Seine 6962 Meter machen ihn zum höchsten Berg des Planeten – zumindest außerhalb Asiens. Mit dem Bus fahren wir von Mendoza bis hinein in die andine Welt. Was wir beim Einsteigen in Mendoza nicht bedenken: Hier auf 3000 Meter Höhe ist es verdammt kalt. Um uns herum ist nichts außer Berge, Schnee und Eis.

Völlig durchgefroren erreichen wir den Parque Provincial Aconcagua und machen uns auf zum Aussichtspunkt. Es ist der einzige offene Rundweg im Juni, mitten im Winter. Auf dem Weg fährt ein Ranger an uns vorbei, bremst und klärt uns in lässigem Ton darüber auf, dass fünf bis sechs Wildhunde in der Nähe seien. Nichts zur Beunruhigung, aber »cuidado« – »Vorsicht«. Spätestens jetzt wissen wir, dass wir in der Wildnis angekommen sind.

Und tatsächlich begegnen uns kurz vor dem Aussichtspunkt einige dieser Vierbeiner. In gegenseitigem Respekt kreuzen sich unsere Wege, ohne dass wir sie aus den Augen lassen. Und dann sind sie auch schon weg. Vom Aussichtspunkt, einem kleinen Hügel, öffnet sich ein freier Blick auf den massiven Berg. Seine zerklüftete Südwand, die Gletscher an den Hängen und die Schneestürme, die über seinem Gipfel tosen und wie riesige Wolken aussehen, lassen uns ungläubig staunen. Der Aconcagua – der »steinerne Wächter« – war für die Inka ein heiliger Berg, ein zeremonieller Ort, und auch wir halten einen Moment lang inne und genießen die Aussicht, bevor wir uns bibbernd und zitternd auf den Rückweg machen.

Grüne Riesen und die Pampa — Eine Reise durch die Valles Calchaquíes

Die Schönheiten eines Landes haben gelegentlich einen kleinen Haken: Sie liegen dort, wo sonst nichts ist; wo es keine Menschen und schon gar keinen Verkehr gibt. Es sind abgelegene Orte, die man, wenn überhaupt, nur sehr schwer erreicht. Genau aus diesem Grund besitzen sie eine außergewöhnliche Ausstrahlung.

Sie vermitteln das Gefühl, ihre Schönheit mit niemandem sonst teilen zu müssen. Zu diesen Orten gehören die Valles Calchaquíes südlich von Salta, im Nordwesten Argentiniens. Über 300 Kilometer erstreckt sich diese Kette mehrerer zusammenhängender Täler, die allesamt von der berühmten Ruta 40 durchzogen werden. Die Ruta 40 ist die längste Straße Argentiniens und durchmisst das Land von Süden nach Norden auf 5224 Kilometern.

Von Salta aus machen wir uns zunächst mit dem Mietwagen auf den Weg in Richtung Cachi, einen kleinen Ort in den Valles. Die Strecke dorthin ist schlichtweg atemberaubend und gehört wahrscheinlich zu den schönsten und vielfältigsten der Erde. Zu Beginn fahren wir durch eine erdig beige-braune Landschaft. Trockene Sträucher säumen die Straße, und von den Hängen der Berge winken uns nun riesige Kakteen mit ihren stacheligen Armen zu. Immer wieder halten wir an, um einen dieser beeindruckenden Weggefährten genauer zu betrachten.

Die Straße haben wir bereits lange hinter uns gelassen und folgen mittlerweile einer staubigen Piste, die sich immer höher und höher um die uns umgebenden Berge windet. Wir schauen hinab ins Tal, das mit seinem saftigen Grün einen krassen Gegensatz zur kargen Vegetation hier oben bietet. Die Kakteen verschwinden nun, und die Vegetation wird deutlich niedriger. Gräser, Farne und kleine Sträucher prägen die Landschaft. Hier über dem Tal bläst uns ein starker Wind um die Ohren.

Wenig später erreichen wir das nächste Mikroklima: Wir sind mitten in der Pampa – der Pampa Cachi –, einer trockenen Hochebene auf 3000 bis 4000 Meter Höhe. Hier ist es offensichtlich lebensfeindlich.

Der Wind wandelt sich in einen Sturm und fegt die trockene Erde in riesigen, sandigen Wolken über das Hochland. Trockene Sträucher fliegen, zu Ballen verkümmert, über die Straße, während unser getrübtes Auge außer der flachen Ebene und aufgewirbeltem Sand kaum etwas zu sehen vermag.

Immer weiter dringen wir in diese Einöde vor, und plötzlich sind sie wieder da: die großen Winker am Wegesrand. Die endlose Kakteenwüste des Parque Nacional El Cardón erstreckt sich nun vor uns. So weit wir sehen können, nichts als Kakteen.

So fahren wir weiter und weiter, bis irgendwann die schneeweißen Häuser Cachis vor uns auftauchen. Der Sandsturm tost hier immer noch unablässig. Die Umrisse und Formen der umliegenden Felsen verschwimmen vor unseren Augen, und die Welt versteckt sich hinter einem beige-braunen Schleier aus Sand, Erde und Staub, der alles, aber auch alles einhüllt und kaum etwas eindeutig Erkennbares preisgibt. Selbst der Nevado de Cachi, ein 6380 Meter hoher Berg direkt hinter dem Ort, ist nur noch zu erahnen.

Unseren Schlafplatz finden wir in San José, einige Kilometer weiter auf der Ruta 40. Dieser Ort, mit seinen zehn Häusern eigentlich viel zu klein, um ihn als Dorf zu bezeichnen, besitzt wie selbstverständlich eine Kirche und davor eine hübsche Plaza, die uns als Nachtlager dient.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg nach Cafayate. Der Schleier aus Sand und Sturm hat sich gelegt. Die Straße führt uns weiter durch trockene Landstriche und vorbei an bizarren Felsformationen und scharfkantigen Gebirgsrücken, bis wir unser Ziel erreichen. In Cafayate angekommen, machen wir das, was man in Argentiniens zweiter Weinhauptstadt (nach Mendoza) so macht: Vier Bodegas und mehrere Gläser Wein später sitzen wir auf einer Bank an der Plaza und genießen das Nichtstun. Hier im höchsten Weinanbaugebiet der Welt tickt die Uhr ein wenig langsamer. Die Abgeschiedenheit ist deutlich spürbar. Hektik scheint in Cafayate eine unbekannte Größe zu sein. Und auch wir kommen schnell in einen entspannenden Trott und kehren erst am nächsten Tag zurück nach Salta.

URUGUAY

Montevideo und die Völlerei am Muttertag

Seit einer Stunde stehen wir am Straßenrand kurz hinter Rosario und warten darauf, dass ein gut gelaunter LKW-Fahrer anhält oder wir gnädigerweise in einem PKW mitfahren dürfen.

Aber nichts passiert. Ab und an wird uns aus den vorbeifahrenden Autos »Suerte« – »Viel Glück« zugerufen. Andere lachen einfach über unser »Uruguay«-Schild, und auch wir sehen irgendwann ein, dass die 370 Kilometer bis zur Grenze zwischen Argentinien und seinem kleineren Nachbarstaat nicht so einfach zu überwinden sind. Ein neues Schild muss her. Unser Ziel heißt jetzt »Victoria«. Und nur wenige Minuten später haben wir Glück. Ein Camionero, ein Lastwagenfahrer, nimmt uns mit.

Sein Haus, wie er die Kabine des Trucks nennt, entspricht ziemlich genau dem Bild einer Junggesellenwohnung. Überall liegen Kleidungsstücke wild verstreut. Es gibt einen Karton für Mate, das wohl traditionellste Getränk in Argentinien, mitsamt der Thermoskanne und Yerba, allerdings keinen für Abfall, weshalb allerlei Papier und Plastik den Boden bedeckt. Kurz vor Victoria steigen wir aus.

Die nächste Mitfahrgelegenheit ist ein alter Lastwagen – und in die Jahre gekommen ist auch sein Fahrer. Nach all der Zeit, in der die beiden zusammen über die südamerikanischen Straßen von Ushuaia bis nach Lima, von Valparaíso bis nach Montevideo fuhren, scheint eine Verbindung zwischen Mann und Auto entstanden zu sein. Die Zähne des einen klappern wie die Türen des anderen, und die schwarze Abgaswolke draußen ist ähnlich giftig wie die Gase des Camioneros im Inneren. Letztere kommentiert der alte Herr selbst gerne mit den Worten »was für ein Gestank«. Und so fahren wir dahin, durch die Weiten des argentinischen Campos. Immer ein bisschen Glück im Gepäck, aber auch immer mit einer Überraschung rechnend. Das »Uruguay«-Schild kommt heute nicht mehr zum Einsatz. An einem Tag von Rosario bis nach Montevideo vorzudringen war wohl etwas zu optimistisch kalkuliert. Wir übernachten in Gualeguaychú, einem kleinen Ort nahe der Grenze.

Am nächsten Morgen erreichen wir Uruguay. Eine besondere Eigenheit des Reisens per Anhalter ist, an Orten zu sein, die normalerweise kein Tourist zu sehen bekommt. Das klingt zunächst sehr romantisch, entpuppt sich in der Realität aber gelegentlich auch als frustrierend. Wer schon mal mitten im uruguayischen Nichts zwei Stunden lang in einem kleinen Ort namens Cardoná auf eine Mitfahrgelegenheit warten musste, weiß, wovon ich spreche. Doch auch aus dem Nichts führt ein Weg heraus. Martín hält für uns an. Er ist 23 und fährt einen sehr gut gepflegten und ordentlich aufgeräumten LKW. Martín kommt aus Montevideo, sitzt, seitdem er denken kann, hinterm Steuer und kann Argentinier nicht leiden. »Das sind alles Lügner, Heuchler und Egoisten«, sagt er – und sowieso ist in Uruguay alles besser. Wir werden sehen.

In Montevideo angekommen, bietet uns Mario eine Couch. Der 64-jährige, von Beruf Reiseführer in Montevideo, hat schlechte Nachrichten zu verkünden. Zum einen ist seine Tochter zu Besuch, weshalb er für uns zwei Matratzen in sein Arbeitszimmer legt, und zum anderen hat er eigentlich gar keine Zeit, um Gäste aufzunehmen. Nach einem deftigen Abendessen verkündet uns Mario am nächsten Morgen außerdem, dass die Notlösung von letzter Nacht zu viel Platz in Anspruch nimmt und wir uns für den nächsten Tag eine neue Bleibe suchen sollen. Wir lassen uns von dem kleinen Rausschmiss nicht irritieren und spazieren tagsüber durch Montevideo. Die Altstadt liegt auf einer kleinen Landzunge und ist von beiden Seiten vom Wasser umspült. Zwischen den Häusern blickt man stets auf den Rio de La Plata oder den Hafen herab. Viel mehr gibt es jedoch nicht zu entdecken. Montevideo besticht vor allem durch provinziellen Kleinstadtcharme.

Gegen Abend kehren wir zu Mario zurück, trinken Wein und lassen uns von Uruguays Sehenswürdigkeiten berichten. Mario weiß natürlich jede Menge zu erzählen, und um seine Kehle nicht austrocknen zu lassen, schenkt er sich regelmäßig nach. Irgendwann zeigt das Wirkung, und Mario ist ein bisschen betrunken, wird sentimental und lässt es sich nicht nehmen, uns Fotos von seinen Urlaubsreisen und seiner Familie zu zeigen. Wir sitzen in seinem Arbeitszimmer – das sowohl unser Schlafzimmer als auch sein Rauchersalon ist. Zwei Stunden und zwei Zigarettenschachteln später schlafen wir vollgepackt mit Informationen ein.

Am nächsten Morgen treffen wir uns mit unseren neuen Gastgebern. Die beiden Studenten Vero und Nico laden uns in ihre kleine Wohnung mitten im Stadtzentrum ein. Doch dort bleiben wir nicht lange. Schon am nächsten Tag fahren wir hinaus aufs Land und besuchen Veros Eltern. Es ist Muttertag, und das wird in Uruguay gebührend gefeiert.

Seit über vier Monaten sind wir bereits in Südamerika. In Argentinien, das dafür berüchtigt ist, furchtbares Spanisch zu sprechen, haben wir uns der Herausforderung gestellt und eine Sprachschule besucht. Ausgerechnet in Córdoba, in einer Region, in der nicht gesprochen, sondern gesungen wird, lernen wir unsere ersten spanischen Sätze. Danach arbeiteten wir drei Monate lang in Buenos Aires, der Stadt, die für den schlechten Ruf der argentinischen Sprache verantwortlich ist. Hier wird nur gezischt, genuschelt, geschrien und geflucht. Dennoch können wir uns mittlerweile annähernd problemlos verständigen. Aber das, was auf dem uruguayischen Land gesprochen wird, gibt uns Rätsel auf. Wir brauchen einige Zeit, um auch nur erahnen zu können, worum es in den Gesprächen geht.

Kurz vor dem Mittag beginnt das Essen. Zunächst serviert uns die Mutter Quiche, dann gibt es den Hauptgang. Natürlich Asado – mit jeder Menge Fleisch. Obwohl bereits jetzt schon niemand mehr essen kann, lässt es sich Veros Vater nicht nehmen, jedem immer noch ein weiteres »kleines« Stück Fleisch auf den Teller zu legen, während seine Frau ihn mit einem animierenden »Esst, esst reichlich, ihr könnt doch noch nicht satt sein« unterstützt. Danach gibt es eine riesige Torte, gefüllt mit Dulce de Leche – einer Spezialität Uruguays, eine Creme aus karamellisiertem Zucker. Wenige Augenblicke später geht es weiter mit frisch gebackener Pizza und anschließend noch Gebäck und Kuchen. Unterbrochen wird diese mehrstündige Fressorgie nur von einem Verdauungsspaziergang, der jedoch keine Wirkung zeigt. Vero hatte uns zwar gewarnt, aber so viel Essen auf einem Haufen haben wir noch nie gesehen. Zu guter Letzt gibt es für alle eine Runde Verdauungstee.

Rinderhoden auf Brot und ein Bauernhof irgendwo in Uruguay

»Nein, nein, ich bin kein Gaucho.« Ignacio muss lachen. »Ich verdiene doch viel mehr.« Trotzdem macht es dem Anschein nach keinen allzu großen Unterschied. In seinen weiten Campohosen, dem großen Messer hinten am Bund und der obligatorischen Mütze könnte Ignacio glatt als ein uruguayischer Gaucho durchgehen.

Unsere Couch für die nächsten Tage ist ein Bauernhof irgendwo in Uruguay. Ignacio ist 28 und Supervisor für das 1200 Hektar große Grundstück. Ein kleiner Hof für Uruguays Verhältnisse, sagt er. Neben den drei Millionen Einwohnern Uruguays bevölkern nämlich rund zwölf Millionen Rinder das kleine Land – im Falle von Ignacio sind es Milchkühe. Der Arbeitstag unseres Gastgebers beginnt morgens um 5:30 Uhr und endet gegen 19 Uhr. Dann sitzt Ignacio an seinem Kamin, klimpert ein bisschen auf seiner Gitarre und genießt seinen Feierabend. Ignacio besitzt keine Töpfe und Pfannen. Braucht er auch nicht. Ignacio grillt. Abends stellt er einen kleinen Rost in seinen Kamin und grillt Fleisch. Dazu gibt es Mate oder auch mal einen Wein. Morgens gibt es frisch gemolkene Milch und Brot.

Auf dem Bauernhof, einige Kilometer von der Kleinstadt Rocha entfernt, lebt und arbeitet er seit zwei Monaten. Sein karges Wohnzimmer strahlt den Charme eines alten Landhauses aus. Die Möbel seien noch von dem alten Mann, der hier vor ihm gelebt hat. Über dem Kamin, an der schon gelblich verfärbten Wand, hängt ein altes Jagdgewehr. Daneben der Rost für das Fleisch und ein Teekessel für die Zubereitung des Mates. Eine alte Glasvitrine mit einem in die Jahre gekommenen Teeservice zeugt vom ländlichen Leben, wie es früher einmal gewesen sein muss.

Wir dürfen Ignacios Alltag für einige Tage begleiten. Er nimmt uns mit auf seinen Rundgang durch die Anbauflächen. »Ihr schaut in die Weite, und ich schau auf den Boden«, erklärt er uns bereits im Vorfeld, wie die nächsten Stunden ablaufen werden. Und so kommt es. Während wir bei milden Temperaturen unseren Blick über die weichen grünen Hügel und die endlos erscheinende Landschaft schweifen lassen, beäugt Ignacio kritisch den Boden. Seit zwei Monaten hat es nicht mehr geregnet. Mit auf dem Rücken gekreuzten Händen stapft Ignacio weiter über die Felder. Mal vor Freude strahlend – eine neue Grassorte, die er auf dem Hof eingeführt hat, gedeiht prächtig –, mal mit besorgniserregendem Blick – einige Hügel sind aufgrund der langen regenlosen Zeit völlig verdorrt.

Um unseren Weg querfeldein fortsetzen zu können, robben wir bäuchlings unter elektrisch geladenen Zäunen hindurch und springen über Wasserstellen. Wir sehen neben von Aasfressern sauber abgenagten Knochen auch eine verendete Kuh. Der Verwesungsprozess ist deutlich wahrnehmbar. Aufsteigendes Gas tritt aus dem leblosen Körper. Artigas, ein Mitarbeiter Ignacios, kommt uns auf dem Pferd entgegen. Auch er trägt sein großes Messer hinten am Gürtel. Gemeinsam besprechen sie den Zustand der Weideflächen.

Abends sehen wir einen Auftritt des jungen Orchesters von Uruguay, welches Stücke von Mozart, Wagner und Tschaikowski spielt. Ignacio ist völlig begeistert. Es ist eine der wenigen Veranstaltungen, die seinen Ansprüchen gerecht werden. Der passionierte Theatergänger beschwert sich über den Mangel an kulturellen Veranstaltungen in Rocha. Es gebe nicht mal ein Theater, schimpft er. »40 000 Einwohner, und keiner interessiert sich für Kultur!« Ein für ihn unfassbarer Umstand.

Zurück auf der Farm, sitzen wir nach Sonnenuntergang gemeinsam an seinem Kamin und grillen unser Abendessen. Heute gibt es eine Flasche Wein dazu.

Zwei Tage später werden die jungen Kälber markiert, enthornt und kastriert. Aus der Ferne hören wir die Verzweiflung der Tiere, die Rufe der Männer und riechen Verbranntes. Nach ein paar Stunden holt uns Ignacio zum Mittagessen ab. Sein Hemd ist zerrissen und mit dem Blut der Kälber bespritzt. Schelmisch grinsend, führt er uns aufs Feld, dorthin, wo die Jungbullen kastriert werden. Die Beute der Bauern wird direkt vor Ort, im nun leeren Gehege, auf einer improvisierten Feuerstelle gegrillt. Es gibt Rinderhoden auf Brot.

Ignacio und die auf dem Hof arbeitende Familie – Artigas mit seiner Frau und den drei Söhnen – sitzen auf einer Holzbank und langen kräftig zu. Wir zögern einen Augenblick, setzen uns dann jedoch dazu. Rinderhodensandwich?! »Wenn ihr das jetzt nicht probiert, werdet ihr es nie probieren«, sagt Ignacio. Wir geben ihm recht und gönnen uns den kleinen Snack. Artigas schmunzelt über unsere zögerlichen Bissen. Für ihn sind frische Rinderhoden eine Delikatesse. Und wie so vieles schmeckt es auch nur nach Hühnchen. Nach dem Essen und einer Einführung im Lassowerfen machen wir uns lieber wieder auf den Rückweg. Der zweite Schub Kälber kommt zur Kastration.

Am Abend gehen wir Ignacio beim Eintreiben der Kühe zur Hand. Unsere Aufgabe: den Kühen den Weg versperren, in die Hände klatschen und »Afuera vaca« – »Weg mit dir, Kuh« brüllen. Klingt eigentlich ganz einfach. Der Erfolg gibt uns aber nur teilweise recht. Eine junge Kuh kann fliehen, läuft Richtung Straße und Ignacio wie verrückt hinterher. Während mich bereits unbeschreibliche Schuldgefühle überkommen, galoppiert Artigas auf dem Rücken eines Pferdes herbei und kann zum Glück die Situation retten, bevor die Kuh für immer verschwindet. Menos mal – Schwein gehabt!

Obwohl man Ignacio die Freude an der Arbeit auf dem Land ansieht, frage ich ihn an unserem letzten Abend, ob er sich denn nicht manchmal einsam fühle, alleine an seinem Kamin. Ignacio lacht wieder: »Weißt du, wenn ich morgens aufwache, sehe ich die Sonne über diesen Bergen aufgehen. Das reicht schon, um den Rest des Tages glücklich zu sein.«

Strahlende Sterne und wildes Wasser — Uruguays Atlantikküste

Stotternd und stockend kommt unsere Mitfahrgelegenheit auf der sandigen Straße zum Stehen. Wir sind in Valizas, einem kleinen Fischerdorf an der Atlantikküste Uruguays. Was uns hierher verschlagen hat, wissen wir selbst nicht genau.

Auf den meisten Landkarten Uruguays sucht man Valizas vergeblich. Zu klein und zu unbedeutend ist der Ort mit seinen 200 Einwohnern. Doch wir sind froh, hier aussteigen zu können, denn die ältere Dame hinter dem Steuer des Kleinwagens, die uns bis hierher bringt, besitzt keine Fahrerlaubnis. Sie fährt uns, wie sie sagt, um ein bisschen zu üben. Außerdem erzählt sie irgendeine Geschichte, die wir nicht ganz verstehen: Offensichtlich ist sie mit dem deutschen Kaiser verwandt. Wir steigen aus Sicherheitsgründen aus.

Auf der Hauptstraße stellen wir bald fest, dass es in Valizas nichts gibt, was unsere Aufmerksamkeit erregt. Während die Häuser entlang unseres Weges noch mehr oder weniger geordnet nebeneinanderstehen, wirken die Hütten dahinter und in unmittelbarer Strandnähe, als seien sie wahllos durcheinandergewürfelt worden. Ein paar Hunde kreuzen unseren Weg, genauso wie ein oder zwei Menschen, aber sonst ist niemand zu sehen.

Unsere Gastgeberin für die nächsten Tage ist Cecilia mit ihren zwei Kindern. Unsere Unterkunft ist ein Strandhaus mit Blick auf die Wanderdünen und den Ozean. Valizas ist touristisch noch sehr unerschlossen. Zwar gibt es ein Hostel und einige Restaurants, aber zu dieser Jahreszeit im Mai, beinahe Winter, ist alles geschlossen. Einzig »Rabuk«, eine Gaststätte, ist geöffnet und Treffpunkt der Einheimischen.

Wir machen uns auf zum Strand – mehr gibt es auch nicht zu tun. Dunkle Wolken hängen tief über dem hin und her wogenden Meer. Möwen ziehen kreischend ihre Runden, und ganz weit weg, nur als kleiner Punkt wahrnehmbar, treibt ein Fischerboot auf den Wellen. Täglich fahren die Männer hinaus, um ihre Netze auszuwerfen und sie am nächsten Morgen wieder einzuholen. Das erzählt uns einer von ihnen, während wir gemeinsam sein Boot an Land befördern. Wir laufen eine Weile den Strand entlang und werden dabei von zwei Hunden begleitet, die uns für den Rest unseres Aufenthaltes in Valizas nicht mehr verlassen werden. »Pilsen« gehört eigentlich dem Nachbarn Cecilias, und »Fleischpastete«, nun ja, »Fleischpastete« gehört wohl irgendwie zu uns.

Am nächsten Tag brechen wir ins sieben Kilometer entfernte Cabo Polonio auf. Zwischen riesigen Dünen, immer parallel zur rauschenden Uferbrandung, laufen wir Richtung Süden. Mit dabei: »Fleischpastete«. Nachdem wir ihm tags zuvor heimlich etwas von »Pilsens« Futter zu fressen gaben, weicht er nicht mehr von unserer Seite, und wir nehmen seine Begleitung gerne an. Nach zwei Stunden befinden wir uns im Nirgendwo der uruguayischen Atlantikküste. Sand und nichts als Sand umgibt uns, türmt sich auf, weht in unsere Gesichter, erschwert das Vorwärtskommen. Und daneben der unendliche Atlantik, dessen grau-blaues Wasser sich in unermesslicher Weite öffnet, um am Horizont mit dem Himmel zu verschmelzen: bedrohlich und melancholisch zugleich.

Nach mehreren Stunden erreichen wir unser Ziel – Cabo Polonio. Dieser Ort, nicht einmal als Dorf zu bezeichnen, befindet sich auf einer Landspitze, die an drei Seiten vom Ozean umspült wird. Cabo Polonio ist Teil des gleichnamigen Nationalparks und nur mit allradbetriebenen Fahrzeugen zu erreichen, wenn man nicht gerade, so wie wir, zu Fuß anreist. Der Ort ist winzig, und das hat seinen Grund. Nicht viele Menschen können dauerhaft mit den Bedingungen leben, die hier geboten werden. Cabo ist isoliert von beinahe jedem modernen Schnickschnack. Es gibt kein Internet, keinen Strom, keine Infrastruktur. Dafür haben die meisten Häuser, die wild um den Leuchtturm verstreut sind, einen Brunnen vor der Haustür. Solarzellen, Windräder und Generatoren sorgen dafür, dass das Radio läuft und ab und an auch mal eine Glühbirne leuchtet.

Permanent wohnen etwa 30 Personen in Cabo. Einer von ihnen ist Jorge, in dessen Hostel wir übernachten. Jorges Alltag besteht im Wesentlichen aus zwei Dingen. Jeden Morgen schnappt er sich eine Angel, geht die paar Meter ans Wasser, wirft die Angel aus und schaut raus aufs Meer. So steht er da, mit seiner verwaschenen Schirmmütze auf dem Kopf, den Füßen in den olivgrünen Gummistiefeln und den Händen in den ausgebeulten Hosentaschen seiner Cargohose. Ab und an gesellt sich jemand zu ihm, spricht ein paar Worte oder auch nicht und geht wieder. Aber Jorge bleibt. Unbeirrt und unverwüstlich schaut er hinaus auf den Ozean – oftmals stundenlang. Ich glaube, dass Jorge in dieser Zeit nicht mehr Jorge ist. Er ist Sand, ist Wasser, ist Wind, ist vielleicht sogar der Fisch, den er versucht zu fangen.

In diesen Momenten hat sich Jorge, obwohl seine physische Gestalt noch immer da ist, aufgelöst. Einmal bewegt er sich dennoch, ist wieder vollständig Jorge aus Cabo Polonio, kommt auf uns zu und zeigt aufs Wasser: »Miren!« – »Schaut!« Und dort, keine 50 Meter vom Ufer entfernt, schwimmen zwei Delfine. Wir sehen ihre Rückenflossen immer wieder zwischen den Wellen auftauchen. Heute fängt Jorge keinen Fisch mehr, die tierische Konkurrenz macht seine Chancen zunichte. Doch Jorge bleibt gelassen. »Dann eben an einem anderen Tag«, sagt er und kümmert sich um das Mittagessen Lunas, eines Straßenhundwelpen undefinierbarer Rasse.

Direkt unterhalb des Leuchtturms befindet sich Cabos Hauptattraktion. Dort auf dem felsigen Ufer ist der Ruheplatz einer Kolonie Seelöwen, die meist faul herumliegen und nur ab und an ihre Nasen in den Wind strecken.

Im Sommer, wenn das Quecksilber im Thermometer auf 30 °C steigt, füllt sich Cabo mit Touristen, Sonnenanbetern und Surfern. Sie alle haben von diesem Ort gehört und wollen ein Stück unberührte Natur ergattern, wollen Teil von dem sein, was für eine Woche ganz romantisch klingt. In dieser Zeit verhundertfacht sich die Bevölkerungszahl, und aus aller Welt kommen Gäste. Obwohl Jorge mit seinem Hostel von genau dieser Urlaubszeit lebt, zieht er den Winter und die gefühlte Einsamkeit vor. Seit zwölf Jahren lebt er mittlerweile hier, und wenn man ihn sieht, fällt es nicht schwer zu glauben, dass er an diesem Ort seinen Seelenfrieden gefunden hat.

Auch wir lassen uns von der Magie Cabos verführen, genießen die Ruhe, nehmen Sonne, Sand und Wasser in uns auf. Über Uruguays Küste heißt es, dass alle Orte gleich seien, dass es eigentlich keinen Unterschied mache, wohin man gehe. Tatsächlich ist Cabo Polonio, zumindest im Winter, die Ausnahme. Nicht nur am Tag, sondern auch nach Sonnenuntergang. Dann nämlich strahlen Millionen und Abermillionen Sterne, deren Anblick durch keine auch noch so kleine künstliche Lichtquelle getrübt wird, auf die Erde herab. In dieser Zeit beleuchtet Jorge sein Hostel mit Kerzen. Auf der Terrasse, in der Küche, im Bad – überall flackert ein kleines Feuer und sorgt so für ein wenig Licht in der Dunkelheit der Nacht, in der sogar der Lichtkegel über dem einige Kilometer entfernten Valizas wie der einer Großstadt erscheint.

Nach zwei Tagen verlassen wir Cabo Polonio so, wie die meisten Touristen den Ort erreichen – auf der Ladefläche eines russischen LKWs, der außerdem über einen Ausguck wie bei einer Safari verfügt. Während der halbstündigen Fahrt werden wir ganz schön durchgerüttelt. Auf und ab, die Dünen hoch und wieder runter, bahnt sich der Transporter seinen Weg, bis wir endlich eine befestigte Straße zurück nach Valizas erreichen.

Tacuarembó, die Hutmacher und andere Verrückte

Die Sache ist wie folgt zu erklären. Eigentlich geschah dies alles aus einem einzigen Grund.

In Uruguay leben drei Millionen Menschen. Zwei Millionen davon in und um Montevideo. Eine weitere Million schlängelt sich an der langen Küste Uruguays entlang. Es stellt sich also die Frage: Wer oder was tummelt sich im Inneren des Landes, im Großteil Uruguays?! Um genau dies herauszufinden, machen wir uns auf den Weg. Unser Ziel lautet: Tacuarembó. Das liegt ziemlich genau in der Mitte, und außerdem klingt der Name vielversprechend. Grund genug für uns, einen kleinen Abstecher dorthin zu wagen.

Direkt zu Beginn ergeben sich jedoch Probleme. Es gibt keine Verbindungswege, keine Straßen nach Tacuarembó. Um von der Küste in den kleinen Ort zu gelangen, haben wir eine lange Reise vor uns. Doch vor solchen Schwierigkeiten schrecken wir nicht zurück. So kommt es, dass unsere Reise zunächst gen Nordosten führt, nach Chuy, der Grenzstadt zu Brasilien. Die Grenze verläuft mitten durch die Stadt hindurch. An der großen Hauptstraße, der Avenida Uruguai, spricht man auf der einen Seite Spanisch und auf der anderen Seite Portugiesisch. Und zwar ausschließlich.

In einer Stadt, in der Nachbarn aufgrund von Sprachbarrieren nicht miteinander kommunizieren können, bleiben wir, um uns am nächsten Tag auf den Weg ins Landesinnere zu machen. Der kaum vorhandene, nicht erwähnenswerte Verkehr und die schlechten Straßen machen uns mürbe. Über die Städte Treinta y Tres und Melo kommen wir nach insgesamt drei Tagen in Tacuarembó an.

Bereits auf dem Weg wird uns einiges klar. Zwischen Treinta y Tres, Melo und Tacuarembó, Städten, zwischen denen jeweils mehr als hundert Kilometer liegen, gibt es absolut gar nichts. Nicht mal die sonst so üblichen kleinen Dorfgemeinschaften. Alles, und zwar wirklich alles, ist eine einzige Weidefläche für riesige Rinderherden. Und trotz ihrer enormen Größe verschwinden sie in der weichen, hügeligen, grünen Landschaft, die nicht zu enden scheint, wie kleine Punkte im Nichts.

In Tacuarembó übernachten wir bei Carmen. Auf die Frage, was man denn in Tacuarembó machen könne, fängt Carmen an zu grinsen und macht eine vage große Bewegung mit der Hand. Dabei atmet sie tief ein. Kein gutes Zeichen. Am nächsten Morgen fahren wir mit Carmen in das kleine Dorf Valle Edén. Laut Carmen das einzig Interessante, was man hier machen kann. Außerdem sind die Leute auf dem Dorf, mitten im Nichts, in der Mitte Uruguays ganz besonders. Das dürften wir nicht verpassen. In Valle Edén leben rund 50 Menschen. In der Grundschule gibt es genau vier Schüler, die trotz der verschiedenen Altersstufen gemeinsam unterrichtet werden.

Ein paar Stunden nehmen wir am Unterricht der Kleinen teil und sind gleichzeitig Unterrichtsstoff. Wir beantworten fleißig Fragen, suchen gemeinsam Deutschland auf der Landkarte und ordnen die entsprechende Flagge zu. Im Endeffekt tragen wir sogar die Schuld an der Hausaufgabe für morgen: im Internet weitere Informationen über Deutschland zu recherchieren.

Schuldbewusst verabschieden wir uns und brechen auf, um Valle Edén etwas weiter zu erkunden. Nach wenigen Minuten ist unsere Erkundungstour beendet; Valle Edén ist wirklich klein.

So besuchen wir kurzerhand Mabel, eine Freundin Carmens. Mabel ist, wie Carmen uns bereits tags zuvor warnte, speziell. Alle fünf Minuten fragt sie uns, woher wir kommen – und ist jedes Mal aufs Neue gleich überschwänglich überrascht und begeistert über unsere Antwort. Mit stetig gleichbleibender Neugier stellt sie uns immer wieder die gleichen Fragen. Ich weiß nicht, wie oft die strickende alte Dame ihr Dorf bereits verlassen hat, aber Europa scheint für sie auf einem anderen Planeten zu liegen, so außer sich ist sie, wenn ihr wieder einmal klar wird, dass wir aus Deutschland kommen. Also zeigt sie uns ihr Haus und ihren kleinen Hof auf eine ganz spezielle Weise.

Detailliert erklärt sie uns alles, was wir sehen. Und wir gucken uns alles ganz genau und aus nächster Nähe an. Wir gehen in das selbst gebaute, furchtbar stinkende kleine Kabuff, in dem Mabel Hühner und zwei Schweine zur Müllvernichtung hält. Während sie uns genauestens erklärt, was denn Schweine und Hühner seien, schaut sie uns an, als müssten wir vor Begeisterung und Freude über das neu Erlernte beinahe platzen. Unterbrochen werden ihre eigenen Begeisterungsstürme nur von der leidigen Frage, wo wir denn noch mal herkämen, um dies dann mit ungläubigen Augen und einem lauten »Ahhhh« erneut aufzunehmen.

Anschließend zeigt uns Mabel ihren kleinen Garten, in dem sie Gemüse anbaut. Begleitet werden wir dabei von Klever, einem bärtigen Mann mit langen, grauen, fettigen Haaren, dessen Alter nicht einzuschätzen ist. Klever lebt seit einigen Jahren bei Mabel und hilft ihr bei der Arbeit im Garten und im Stall für ein kleines Zimmer in ihrem Haus. Auch Klever erklärt uns bei der Besichtigung die verschiedenen Gemüsesorten und ist überzeugt davon, dass die effektivste Art des Anbaus der familiäre Hof ist. Als Klever anfängt, von der Landflucht zu erzählen, wird er unangenehm emotional. Seine Stimme bricht, als er uns darüber aufklärt, dass ja auch jemand auf dem Land bleiben muss, um das uruguayische Volk zu ernähren und mit Gemüse zu versorgen. Das liege nun alles ganz allein in seiner Verantwortung, sagt er uns, als ihm Tränen in die Augen schießen.

Mabel ist bereits vorgelaufen. Als wir sie wieder einholen, begrüßt sie uns freudig und fragt, woher wir denn noch mal kämen. Die Welt hier ist verrückt. Das Einzige, was mir nun noch durch den Kopf schießt, sind Alice im Wunderland bei dem Hutmacher und die Tatsache, dass der einzige Bus in Richtung Tacuarembó erst in drei Stunden fährt. Nach der Besichtigung des Gartens und der stinkenden Ställe kehren wir zurück ins Haus, wo Carmen mit einem breiten Grinsen bereits auf uns wartet.

Die restliche Zeit, in der auch einige Nachbarn zu uns stoßen, erklärt uns Mabel die verschiedenen Gemüsesorten Uruguays: Tomaten, Salat und Kartoffeln. Ihre Erklärungen sind sehr detailliert, und gleichzeitig reicht sie uns kleine Stückchen des beschriebenen Gemüses zum Probieren. Unsere Beteuerungen, dass es dies alles auch bei uns zu Hause gebe und wir bereits wüssten, wie Tomaten aussehen und schmecken, vergisst Mabel anscheinend genauso schnell wie die Tatsache, dass wir aus Deutschland kommen.

Die folgenden Stunden verbringen wir ungläubig – halb lachend und halb weinend – und sehnen die Abfahrt des Busses herbei. Carmen hatte recht: Die Menschen hier muss man kennengelernt haben.

PARAGUAY

Kokablätter und ein parlamentarischer Putsch — der Weg nach Asunción

Wir verlassen Uruguay und kehren zurück in den Norden Argentiniens. Nach Mendoza, von wo aus wir über die Valles Calchaquíes und Jujuy nach Paraguay weiterreisen wollen. Doch wir haben uns viel vorgenommen. Der Weg von Jujuy nach Asunción, Paraguay, ist lang. Um genau zu sein, 1142 Kilometer.

Wir verschätzen uns. Die Konkurrenz ist einfach zu groß. Teilweise stehen wir mit vier anderen Wartenden an derselben Straßenkreuzung. Es ist Wochenende, und auch die Argentinier fahren nun per Anhalter. Jetzt stehen wir mitten im Nirgendwo. Die Sonne geht langsam unter. Der wunde Punkt ist erreicht.

Nach Sonnenuntergang sinken unsere Chancen, mitgenommen zu werden, schlagartig gen null. Mit sorgenvollem Blick sehen wir der Sonne zu, wie sie hinter den Horizont rutscht. Aber die wenigen Autos, die hier vorbeifahren (ich weiß nicht einmal, wo wir sind), wollen einfach nicht halten. Auf unserem kläglichen Schild steht schon nur noch: Estación de Servicio – Tankstelle. Wir erwarten nicht mehr viel, brauchen nur noch eine Tankstelle, wo wir – wieder einmal –, vor Müdigkeit mit dem Kopf auf dem Tisch liegend, seelenruhig bis zum nächsten Morgen warten können. Aber es sieht nicht gut aus.

Die nächste Tankstelle ist 50 Kilometer entfernt. Wir scheinen regelrecht im Niemandsland angekommen zu sein. Kurz bevor die Sonne hinter den Bergen verschwindet und wir bereits überlegen, in welchem Busch, hinter welchem Strauch wir die Nacht ohne Zelt überleben könnten, hält Roberto. Sein grimmiges Gesicht macht mir Angst. Der LKW-Fahrer hat statt der üblichen golfballgroßen Menge Kokablätter gleich eine tennisballgroße Menge in seiner Wange. Sie soll ihn wach halten in der Nacht. Den Blättern der Kokapflanze werden faszinierende Eigenschaften zugeschrieben. Ihr Genuss wirkt belebend, unterdrückt den Appetit und hilft gegen die Höhenkrankheit. Seit Jahrhunderten schwören die Menschen in Südamerika auf die Pflanze. Da aus ihr Kokain hergestellt wird, ist ihr Anbau allerdings illegal. Nichtsdestotrotz gehört die Kokapflanze vor allem in den Andenregionen noch immer zum Alltag.

Beim Anblick Robertos und seiner dicken Wange überlege ich, ob sein großes, weiches, hängendes Gesicht sich einfach nur sehr gut dazu eignet, um Unmengen von Koka zu verwahren, oder ob sein großes, weiches, hängendes Gesicht nur daher rührt, dass er einfach immer Unmengen Koka in seinem Mund verwahrt. Auf der anderen Seite seines Mundes kaut Roberto ununterbrochen auf etwas anderem herum. Gleichzeitig brennt seine Zigarette, ohne dass er daran zieht, langsam zwischen seinen Lippen ab. Aufgrund des gefüllten Mundraumes und der geschlossenen Lippen ist kaum zu verstehen, was Roberto uns sagen will.

Wir verstehen aber, oder wollen verstehen, dass er ganze 700 Kilometer in unsere Richtung fährt, direkt nach Resistencia, wo bereits unser Couchsurfing-Gastgeber auf uns wartet. Doch anstatt Freude überkommt mich ein ungutes Gefühl. Wir würden die ganze Nacht mit Roberto durchfahren. Aber wir haben keine andere Wahl. Obwohl Roberto uns nicht geheuer ist, steigen wir ein. Roberto redet kaum. Nach wenigen Minuten fragt er uns, woher wir kommen. Danach herrscht zwei Stunden lang Stille. Die nächste Frage beunruhigt mich. »Wie viel Geld gebt ihr am Tag aus?« Wir werden stutzig. Was möchte er mit dieser Frage bezwecken? Uns wird immer mulmiger zumute. Jetzt, mitten in der Nacht auf einer einsamen Landstraße, hoffen wir nur, dass er nicht auf die Idee kommt, uns auszurauben.

Wie alle Camioneros trägt auch Roberto ganz unverdeckt eine Schusswaffe bei sich. Doch Roberto macht keine kriminellen Anstalten. Gegen 22 Uhr sitzen wir zu dritt in einem schäbigen Lastwagenfahrertreff und teilen uns, wie hier üblich, eine 2-Liter-Flasche Cola und essen jeder ein riesiges Schnitzelsandwich. Im Laufe der Nacht steigt Robertos Konsum an Kokablättern. Nun wechselt er mehrmals pro Stunde die Portion in seinem Mund, die mir nun noch größer erscheint. Die Mittelrippe, aus der Kokain hergestellt wird, trennt er schon lange nicht mehr raus. Backpulver verstärkt die Wirkung der Blätter. Roberto wird sehr geschwätzig. Obwohl man immer noch absolut nicht versteht, was er sagt – sein Mundraum ist gefüllt wie eh und je –, redet Roberto die ganze Nacht.

Nach elf Stunden Fahrt kommen wir um sieben Uhr morgens total gerädert in Resistencia an, wo uns Nelson abholt. Nelson beherbergt ausschließlich Reisende, die wie wir zur Durchreise nach Resistencia kommen. Couchsurfer aus Argentinien hatte er seltsamerweise noch nicht. Nelson lacht: »Die Argentinier wissen, dass es in Resistencia nichts zu sehen gibt.« Dennoch machen wir uns direkt auf, um die kleine Stadt im Norden Argentiniens zu besichtigen. Nach 3,5 (!) Stunden Fußmarsch und vielem, was es nicht wert ist, gesehen zu werden (vor allem in unserem total geräderten Zustand), sind wir wieder zu Hause. Nachdem uns Nelson bereits mehrfach ermahnt hat, bloß nicht zu viel Wasser zu benutzen, verzichte ich gerne auf eine Dusche. Denn auch bei der Säuberung des Badezimmers spart Nelson an Wasser: Es ist übersät mit grünen, blauen und weißen Flecken. Der Wasserhahn ist nicht als solcher erkennbar. Dieses Badezimmer bleibt wohl schon seit geraumer Zeit von einer Reinigung verschont.

Abends, als wir gerade Pfannkuchen zubereiten und nach Tellern fragen, geht Nelson seltsamerweise Richtung Kühlschrank. Er habe nur zwei. Mit einem Griff holt Nelson diese aus dem Kühlschrank hervor, lässt die Essensreste, die sich noch auf ihnen befinden, locker mit einer Handbewegung auf den Boden fallen und deckt den Tisch. Die Apfelpfannkuchen haben heute den Geschmack frisch geschnittener, saftiger Zwiebeln.

In politisch aufgewühlten Zeiten kommen wir am nächsten Abend in Asunción an. Chalo, unser Host, hatte uns vorher gewarnt. Es habe gerade einen parlamentarischen Putsch gegeben. Der linke Präsident Fernando Lugo wurde gestürzt und durch den Konservativen Federico Franco ersetzt. Und das wenige Monate vor den regulären Neuwahlen. Wir sollen die Nachrichten verfolgen. Wenn es zu Aufständen kommt, rät Chalo von einem Besuch der Hauptstadt ab. Aber alles bleibt ruhig. Aufruhr gibt es nur vonseiten der linksregierten Staaten in Südamerika. Allen voran die argentinische Präsidentin Kirchner, die medienwirksam ihr verzerrtes, von Operationen geschundenes und zu stark geschminktes Gesicht in die Kameras hält und tut, was sie am besten kann: schreien. Chalo rechnet mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen Paraguay und auch mit der Schließung der Grenzen in wenigen Wochen. Wir müssen uns beeilen.

Doch die Paraguayer bleiben gelassen, und auch in der Stadt ist alles ruhig. Trotzdem scheint man auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Wir sehen große offene Lastwagen, die Soldaten aus allen Ecken des Landes in die Hauptstadt karren. Hier warten bereits die anderen entspannt, in großen Horden, auf Bänken und dem Boden sitzend, die ganze Stadt einnehmend, darauf, ob etwas passiert. Die Scharen von Polizisten und Soldaten, die die Stadt überwuchern, bieten ein seltsames Bild. Die meisten, kaum 18 Jahre alt, mit flaumigen Gesichtern und schlaksigen Körpern, verschwinden gänzlich hinter der zu groß erscheinenden Panzerung ihrer Gliedmaßen. Die jungen Uniformierten sind offensichtlich gelangweilt. Sie spielen unbedacht mit ihren Schlagstöcken und Maschinengewehren, die größer und mächtiger erscheinen als sie selbst. Davon unberührt, tummeln sich auf der Wiese vor dem Kongress ein Rudel Straßenhunde sowie zwei große Säue. Einige Meter weiter prangt das übergroße Bild eines alten Bekannten: Nelson Valdéz lächelt von einer Werbetafel, hält dabei ein Erfrischungsgetränk in Dosenform freudig in die Kamera.

Neben seinen Fußballhelden ist Asunción auch geprägt von den deutschen und arabischen Einwanderern, denen netterweise als neues Zuhause der leere, ungenutzte Norden Paraguays angeboten wurde. Die Besiedlungsflächen im trockenen, lebensfeindlichen Chaco kosteten jedoch vielen Einsiedlern in den Anfangsjahren das Leben. Sie erlagen Krankheiten, Hunger und Durst. Ihre landestypischen Leckereien haben es aber bis in Paraguays Hauptstadt geschafft. Hier gibt es nun eine Reihe von Schawarma-Läden, und auch Bollos, Berliner, werden von Händlern, die riesige Körbe mit den deutschen Kalorienbomben auf dem Kopf tragen, überall in der Stadt angeboten. Und jedes Jahr an Weihnachten freut man sich in Asunción über frische Christstollen.

Die zweite Nacht in Asunción versacken wir in einer Bar und müssen zu später Stunde feststellen, dass unser Bus nach Hause nicht mehr fährt. Auf der Suche nach einem anderen streunen wir nachts durch die Innenstadt, landen auf dem Straßenstrich und werden hier letztendlich fündig.

Der alte, große Bus, der bald vor uns hält, ist spektakulär. Während ich auf einem der Doppelsitze im Bus Platz nehme, stürzt dieser ohne Vorwarnung ein. Ich rutsche nach vorne, sitze auf dem Boden. Man braucht eine zweite Person zur Stabilisierung der Sitzbank.

Die gepolsterten Sitze sind so durchgesessen, dass man quasi völlig in ihnen versinkt. Ohne fremde Hilfe ist es kaum möglich, wieder aufzustehen. Der Boden des Busses ist aus morschem Holz. Ununterbrochen steigen fliegende Händler in den Bus, in den meisten Fällen Kinder, die lautstark ihre Waren anpreisen. Getränke, Snacks, magische Gesundheitspastillen für die ganze Familie, Handys, Schmuck: nichts, was man nicht im Bus erwerben kann. Die Händler schreien, so laut sie schreien müssen, um kommunizieren zu können. Mit unbeschreiblich lautem Brummen bahnt sich der Bus seinen Weg durch die Nacht. Chalo klärt uns später auf: Die Busse, die nachts fahren, sind um die 40 Jahre alt. Und sie fahren aus einem bestimmten Grund nur nach Anbruch der Dunkelheit: Nachts gibt es keine Polizeikontrollen.

Auf dem Weg vom Zentrum in Chalos Wohngegend sind fast keine Häuser entlang der Straße zu sehen. Das private Leben in Asunción findet ausschließlich hinter hohen Mauern und Stacheldraht statt. Und wer sich keinen Stacheldraht leisten kann, der klebt zerbrochene Flaschen und spitze Glasscherben mit Zement auf den oberen Rand der Mauer. Alles im Namen der Sicherheit, versteht sich. Alltag in Asunción, auch wenn das Sicherheitsrisiko in den meisten Wohngegenden nicht annähernd so hoch ist, wie es die Mauern erscheinen lassen.

Nach einer knappen Woche endet unsere Zeit in Paraguays Hauptstadt. Wir machen uns auf, den Rest des Landes zu entdecken.

Auf dem Río Paraguay — eine Flussfahrt und andere Katastrophen

Als wir Manuel, unserem Host in Concepción, von unserem Reiseplan erzählen, verdreht er nur die Augen und erklärt uns schlichtweg für verrückt. Dass er vielleicht nicht ganz unrecht hat, werden wir einen Tag später merken.

Denn damit hatten wir nicht gerechnet. Das Schiff, das vor uns am Kai liegt, ächzt unter seiner schweren Last. Knoblauch, Bananen und Windeln türmen sich meterweise übereinander, Menschen drängen sich eng auf dem Deck der »El Aquidabán« zusammen, und immer noch verladen Träger Unmengen an Säcken und Kisten, drücken sich Mitreisende über die schmale Planke in die Masse der an Bord wartenden Passagiere. Einige klettern sogar über die Schiffswand ins Innere des Bootes, in der Hoffnung, einen besseren Platz zu ergattern – angesichts der dort vorherrschenden Situation jedoch ein aussichtsloses Unterfangen. Dicht an dicht stehen die Reisenden aneinandergedrängt. Jeder Zentimeter an Bord ist von ihnen belegt, und mit jedem Atemzug stößt der Bauch an den Nebenmann.

In Concepción, einer kleinen Stadt Zentralparaguays, ist das Spektakel um die »El Aquidabán« die größte wöchentliche Aufregung, und so wundert es nicht, dass viele Schaulustige dem Beladen des Schiffes beiwohnen. Wir überlegen kurz, ob wir es wirklich wagen sollen, diesen Kahn, der schon so aussieht, als ob er bald sinken würde, zu betreten. Doch als die Planken zum Beladen endlich beiseitegeschoben werden, fassen wir uns ein Herz und springen auf. Vor uns liegt eine fünftägige Schiffsreise. Es geht Richtung Norden, den Río Paraguay hinauf durch das Pantanal, eines der größten Binnenfeuchtgebiete der Welt, bis nach Bahia Negra nahe der brasilianischen Grenze.