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Auf dem Weg durch ein phantastisches Gebiet - zum Wrack eines Richterschiffes Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen. Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang - den Weltenbrand - der gesamten Galaxis. Atlan, der unsterbliche Arkonide, will dem Tribunal in dessen Machtzentrum gegenübertreten, um die Wahrheit zu erfahren. Bis zur Passagewelt Andrabasch ist er bereits vorgestoßen, doch ohne eine besondere Berechtigung endet sein Weg dort. Seine einzige Chance ist die Hilfe des geheimnisvollen Pensors. Auf dem Weg zu ihm landet er IM LAND DER TECHNOPHAGEN ...
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Veröffentlichungsjahr: 2015
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Nr. 2829
Im Land der Technophagen
Auf dem Weg durch ein phantastisches Gebiet – zum Wrack eines Richterschiffes
Michelle Stern
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Atlan, der unsterbliche Arkonide, will dem Tribunal in dessen Machtzentrum gegenübertreten, um die Wahrheit zu erfahren. Bis zur Passagewelt Andrabasch ist er bereits vorgestoßen, doch ohne eine besondere Berechtigung endet sein Weg dort.
Seine einzige Chance ist die Hilfe des geheimnisvollen Pensors. Auf dem Weg zu ihm landet er IM LAND DER TECHNOPHAGEN ...
Atlan – Der Unsterbliche will zum Richterschiff.
Shukard Ziellos – Der Genifer geht neue Wege.
Veyqen – Der Tesqire muss sich bewähren.
Amtum Hehre von Orbagosd
Ich bin Andrabasch, der Planet.
Ich will euch sagen, wie's mir geht.
Jahrhunderte erst ist es her,
da kam ein Schiff, das hatt' es schwer.
Nicht durch den Raum, nein, durch die Zeit,
war seine Reise kurz und weit.
Es war in Not, es stürzte nieder,
wurde zur Quelle vieler Lieder.
WEYD'SHAN wird es weithin genannt,
und es fiel von Feindeshand.
Sabotiert hat man die Reise,
auf heimtückische, nied're Weise.
Das Wrack grub sich in mich hinein,
tiefer und tiefer in mein Sein.
Die Wunde schmerzte, tat mir weh,
war ein Krater, weiß von Schnee.
Ich rief die Helfer schnell herbei,
die Wunder taten, vielerlei.
Sie legten sich von Technohand,
in den Trichter als Verband.
Wahrhaft heilen tat ich nicht,
das Schiff blieb Narbe im Gesicht.
Die Fauthen hörten von dem Leid,
machten zum Aufbruch sich bereit.
Seitdem warte ich auf sie,
doch gesehen hab' ich sie nie.
Die Kommission, sie lässt sich Zeit,
auch ihre Reise ist nah-weit.
So vergeht nun Tag für Tag,
an jedem ich die WEYD'SHAN trag.
Es ist zwar Last, doch ich tu's gern,
behüt' das stolze Schiff von fern.
Aus den Erzählungen der Cüünen
1.
Die Eherne Kyberne
Klamm Godir, Vergangenheit
Amtum Hehre von Orbagosd rollte die Schräge neben den Treppenstufen hinauf. Ihr Kyberkörper war jung, die Kugel, die mit dem biologischen Torso verwoben war, bewegte sich nahezu lautlos zur Grotte der Ehernen Kyberne.
Amtum war erleichtert, dass die Eherne so schnell Zeit für sie gefunden hatte. Gleichzeitig spürte sie Beklemmung. Der Schacht wurde immer enger, Felsen und Technogeflecht schlossen sie mehr und mehr ein, als wollten sie mit ihr verwachsen. Das Gefühl, in eine Falle zu laufen, wurde mit jeder Kugelumdrehung größer und weckte den Wunsch, umzukehren und zu fliehen.
Die Empfindung kam nicht einzig durch die Steinmassen, die sich um Amtum drängten. Was sie geträumt hatte, war falsch. Cüünen träumten davon nicht.
Würde die Eherne Kyberne sie deswegen bestrafen?
Gosgad hätte keine Angst, dachte Amtum. Gosgad Hehrer von Trynn hatte vor nichts Angst. Er war drei Wasserstürze älter als sie, eben an der Schwelle zum Speerträger und mutig wie ein fünffüßiger Gebirgskappta.
Die Kapptas lebten in den größten Höhen und Tiefen, scheuten weder Eis noch Feuer und ertrugen die Kälte am Nachtschatten mit stoischer Gelassenheit. Vielleicht lag es am dicken Fell, das sie schützte. Wenn man einen solch dichten Pelz brauchte, um furchtlos zu sein, hätte Amtum gerne ihre spärliche, rotbraune Haarpracht und einen Teil der Körperdornen dagegen getauscht.
Fahlblaues Licht fiel aus der Grotte und leuchtete Amtum den Weg. Sie nahm die letzte Steigung, glitt in den winzigen Raum, den die Eherne Kyberne ausfüllte.
Die alte Cüüne hockte auf drei Kugeln, die mit den Biokomponenten des Körpers verbunden waren und sich bei Bedarf ineinander schoben. Sie hatte vier Kyberarme, von denen zwei irrwitzig dürr waren und Stöcken gleich an ihren Seiten hingen. Dank der zahlreichen Gelenke konnte die Eherne ihre Glieder in mehrere Richtungen drehen. Durch das transparente Gewand erkannte Amtum Altersknötchen in den Ellenbeugen.
Technogeflecht wuchs von der Decke, hüllte Schultern und Hals ein, lag reglos auf der kybernen Brust. Es dauerte eine Weile, bis die beiden hervorstehenden Stielaugen über dem gebogenen Silberschnabel Amtum wahrnahmen und in ihre Richtung zuckten.
Amtum wartete ängstlich. Der große Körper der Ehernen verlagerte das Gewicht, drehte sich ihr zu. Es war Furcht einflößend. Einen Zwergferrn, der die Aufmerksamkeit eines Gebirgskapptas erregte, mochte das gleiche Zittern befallen wie Amtum in diesem Augenblick.
Sie ist eine von uns, keine Feindin.
Esgir Hehre von Drandirr hatte die Eherne einst geheißen, daran erinnerte sich Amtum. Doch diesen Namen trug sie seit Dutzenden Wasserstürzen nicht mehr. Vielleicht würde sie eines fernen Tages einen Teilnamen tragen und Eherne Dirr genannt werden – falls ihr Wirken wichtig genug wäre, in den Erzählungen und Legenden einen Ehrenplatz zu erhalten.
»Amtum Hehre von Orbagosd.« Die spitz zulaufenden Augen wurden klar, als hätte jemand einen Schleier vor ihnen weggezogen. »Sie suchen meinen Rat?«
»Ja.« In Amtums Schnabel knirschte es. »Ich hatte einen Traum letzte Nacht, der mich verwirrt.«
»Faszinieren Sie mich!«
Das Technogeflecht leuchtete auf. Es reagierte auf die mit ihm verwobene Eherne.
»Nun ...« Amtum senkte die Stimme. »Ich habe vom Dunklen geträumt, vom Pensor.«
»Er sucht uns oft heim in den Nächten.«
Das stimmte. Amtum bildete da keine Ausnahme. Auch wenn der Pensor eine schreckliche Gestalt war, war es normal, dass man von ihm träumte. Viele Jungcüünen begegneten ihm in der Finsterphase, wenn das Lager ruhig dalag und die Phantasie die Flügel hin zur WEYD'SHAN spreizte. Selbst wenn sie bloß Minuten schliefen, genügte die kurze Zeit, sich in lebendigen Bildern zu verlieren.
Amtum senkte die Lauffüßchen entlang ihrer Rollkugel, damit sie sicherer stand. Sie unterdrückte den Wunsch, beide Arme um den Oberkörper zu schlingen. »Ja, aber dieser Traum war anders. Ich war mit Gosgad Hehrer von Trynn auf dem Weg zum Herzen des Technoverbands, auf dem Weg zur WEYD'SHAN – und der Pensor ...« Es fiel Amtum schwer, es auszusprechen. »Er forderte, dass ich Gosgad angreife. Dass ich ihn vernichte.«
Das Licht im Technogeflecht flackerte. War es Entsetzen oder Erheiterung, auf das der Verbund reagierte?
Verunsichert zog Amtum den langen Hals ein. Sie musste zur Ehernen aufsehen, die sie um eine Kugelspanne überragte.
Die Eherne lehnte sich vor. Amtum roch ölige Haut und den Würzsaft in den dünnen Haaren, der an Alter und Ehrfurcht gemahnte. »Haben Sie es getan?«
»Ja. Ich habe einen Speer genommen und Gosgad Hehrer von Trynn getötet. Dabei ist er mein Freund!«
»Was ist dann geschehen?«
»Gosgad hat sich aufgelöst, und die Klamm war von Licht erfüllt, erhellt von einem Scheinwerfer aus dem Orbit.«
Die Eherne sank in sich zusammen, wodurch sie fast mit Amtum auf Augenhöhe war. »Gosgad hat sich in Licht gewandelt, nachdem Sie ihn ermordet haben. Das ist gut. Ich weiß, dass Sie das erschreckt. Wir Cüünen haben eherne Regeln. Wir töten einander nicht. Im Traum aber gelten andere Gesetze. Was wir dort umbringen, stirbt nicht. Es verändert sich. Was in der Tagwelt großes Unrecht wäre, ist in der Nachtwelt unumgänglich, um Wachstum zu erreichen.«
»Dann habe ich keine verwerfliche Una begangen?«
»Keineswegs.« Die Eherne blinzelte.
Bildete Amtum sich das ein? Nein. Da war ein Blinzeln gewesen. Ein Zeichen von Freude und Erheiterung. Die alte Cüüne streckte einen dürren Arm aus und malte das Zeichen der Beschwichtigung auf Amtums Schnabel. »Waren Sie wütend auf Gosgad Hehrer von Trynn, ehe Sie das träumten?«
»Nein.«
»Gibt es etwas, worum Sie Gosgad Hehrer von Trynn beneiden?«
»Seinen Mut.«
»Das mag der Grund gewesen sein.« Die Eherne malte ein neues Zeichen, das Zusammenhalt symbolisierte und mehr galt als jeder Kontrakt.
Amtums Schnabel brannte. »Was bedeutet das für mich?«
»Etwas Schönes. Sie haben einen Kontraktir gefunden. Machen Sie Gosgad zu Ihrem Lehrer, und lernen Sie von ihm seinen Mut, dass Sie solche Träume nicht mehr zu fürchten brauchen.«
Hüten wir uns
vor dem Zorn des Pensors,
denn nichts auf dieser Welt
kann ihm Einhalt gebieten.
Sprichwort der Cüünen
2.
Massaker
Das furchtbare Geschöpf, das Elemente von Technologie und Flora vereinte, hielt mitten in seinem Ansturm auf mich inne.
Dies geschah völlig abrupt, viel konsequenter, als es einem Lebewesen möglich gewesen wäre.
Ich hielt den Atem an, presste mich an die Wand und starrte in das Gesicht des Pflanzen-Maschine-Hybriden. Neben mir verharrte Shukard Ziellos reglos wie ein Felsbrocken.
Wir hatten Kampflärm in der Technoklamm gehört, waren ihm gefolgt und mitten in ein Massaker geraten. Die Pflanzen-Hybridwesen, die mir und meinen Begleitern mehrfach seit der Ankunft auf Andrabasch zugesetzt hatten, stürmten ein Lager der Cüünen.
Dort, wo zuvor ein Verband aus rötlichem Technogeflecht den Zugang zum Lager geschützt hatte, klaffte ein schwarzes Loch von sechs Metern Durchmesser, das einer Wunde glich. In der Luft lag blassblauer Rauch, den die Angreifer ausströmten. Funken stoben durch die Felshöhle. In der Ferne rauschte das Wasser der Klamm.
Vor uns schrien Verletzte, es roch nach dem minzigen Blut der Laufvogelartigen und nach Schmieröl. Irgendwo musste ein Feuer ausgebrochen sein, denn es stank zugleich verbrannt.
Durch den Extrasinn und mein fotografisches Gedächtnis nahm ich Unmengen Informationen in wenigen Sekunden auf: den abgetrennten Arm einer Cüüne, wehende durchsichtige Kleidungsfetzen, die Schar der Pflanzenwesen, die sich in Wellen durch das schwarze Loch in das Lager ergoss und dünne Würgstränge um die Hälse der überraschten Opfer warf, die den Zugang verteidigten.
Das weiße Gesicht von Shukard Ziellos, der bisher keine Gewalt in dieser Größenordnung kennengelernt hatte und wirkte, als würde er sich jeden Moment übergeben. In seinen Händen zitterte die Armbrust, die ich gern selbst benutzt hätte, doch mit dem Schwert war Shukard ungeübt.
Bisher war kein weiterer Angreifer auf uns aufmerksam geworden, nur dieser eine. Die anderen ergingen sich in einem Werk der Zerstörung.
Das Pflanzenwesen vor mir blinzelte und machte auf unsicheren Beinen einen Schritt auf uns zu, wie ein witternder Kuthan.
Ich hob das Schwert. Noch ein Schritt, und ich würde ihm den klobigen Kopf vom Rumpf trennen. Dass es überhaupt einen Körper samt Kopf hatte, erstaunte mich trotz des Chaos, das um uns herrschte. Bisher hatten sich die Technophagen als Pyramiden mit wimmelnden Lauffüßen präsentiert.
Shukard hob die Armbrust, griff zur primitiven Arretierung.
»Nicht!« Ich sagte es leise und scharf. Mein Begleiter erstarrte angespannt.
»Warum nicht? Sie ...«
»Still!«, zischte ich. Erst in diesem Moment begriff ich, was mein Unterbewusstsein längst registriert hatte: Das, was im flächigen Gesicht meines Gegners saß, waren keine funktionsfähigen Augen, sondern unvollkommene Nachbildungen. Das Geschöpf machte den Eindruck eines Rohlings, dem der Feinschliff fehlte.
Es war blind.
Offensichtlich versagte an diesem Ort die Fähigkeit der Pflanzenwesen, uns anzumessen. Vielleicht, weil in der Klamm alle Technik gestört war, womöglich lag es aber auch an den Kyberkörpern der Cüünen und deren Besonderheiten.
Dass die Wesen, die vor uns schreckliche Tode starben, Cüünen waren, daran zweifelte ich nicht. Wir hatten die Technoscouts gefunden – und wurden Zeugen eines bestialischen Überfalls.
Der dir geschuldet sein könnte, meldete sich mein Extrasinn zu Wort, mein Berater und steter Begleiter, seit meinem achtzehnten Lebensjahr. Was vielleicht auch der Grund dafür ist, warum die Angreifer euch in Ruhe lassen. Sie haben sich auf die Cüünen eingeschossen. Womöglich nimmt dieser Auftrag ihre gesamte geistige Kapazität in Anspruch.
Der Stimme des Extrasinns fehlte jeder Spott. Er mochte recht haben. War es wirklich Zufall, dass die Technophagen die Cüünen ausgerechnet angriffen, während wir nach ihnen suchten?
Ich wusste wenig über die Technoscouts und über ihr Verhältnis zu den Hybrid-Pflanzenwesen. Doch daran, dass sie alte Feinde waren, die eine von vielen Fehden in einem Krieg austrugen, glaubte ich nicht. Die Cüünen waren überrascht worden. Sie hatten sich an diesem Ort sicher gewähnt.
»Was ...« setzte Shukard an.
Ich legte warnend einen Finger an die Lippen.
Das grotesk geformte Geschöpf wandte sich ab, stürzte einem zweiten hinterher.
Die Taktik der Aggressoren war einfach und effektiv: Sie überrannten die Cüünen mit ihrer schieren Masse. Dass sie nur halb so groß waren wie die bis zu drei Meter hohen Laufvogelartigen machten sie mit Schlingen aus metallisch anmutenden Pflanzenstreben wett, die sie nutzten, um die Cüünen zu erdrosseln.
Zusätzlich setzten sie Wurfwaffen ein, Bolzen und Pfeile, die aus ihren Leibern hervorschossen und aus verhärteten Teilen ihrer selbst zu bestehen schienen. Auch das war neu.
Die Cüünen ihrerseits hatten kaum Waffen. Zwei Speerträger lagen tot am Boden. Ihre Speere waren zerbrochen. Weder in den Bioanteilen der Kyberkörper noch in den künstlichen Gliedmaßen regte sich etwas.
Die letzten Überlebenden wehrten sich erbittert.
Sie nutzten das überall wuchernde Technogeflecht, um zurückzuschlagen: Sie bildeten damit Dornen aus und spießten die Gegner auf.
Drei formten eine Art Presse, in der sie einen der Pflanzenangreifer zerquetschten. Weißes Pulver rieselte an den Seiten zu Boden. Als die Presse den Deckel hob und sich auf den nächsten Gegner warf, war sie leer.
Mehrere Technophagen sprangen herbei und bedrängten die Cüünen, die das Technogeflecht dirigierten.
Ich wollte zu ihnen laufen, in den Kampf eingreifen, doch der Extrasinn hielt mich zurück. Narr, du kennst die Zahl der Gegner. Willst du dich sinnlos opfern? Diese Schlacht ist geschlagen, egal, was du tust.
Hektisch deutete Shukard auf eine Cüüne, die auf eine Felsspalte zukroch. Aus ihren vier Beinen sickerte Blut. Auch auf sie achtete derzeit keiner der Angreifer. »Helfen wir ihr!«
Shukard stürmte voran. Ich hätte ihn aufhalten können. Die Gefahr, in den Fokus der Übermacht zu geraten, war da. Zwar waren inzwischen fast alle Pflanzenwesen durch den Zugang im Lager verschwunden, doch wie schnell würden sie umkehren, wenn sie uns entdeckten und wir ihr neues Ziel wurden?
Misch dich nicht ein!, mahnte der Extrasinn.
Ich ignorierte ihn, denn ich wollte dasselbe wie Shukard Ziellos: helfen. Dafür ein kalkuliertes Risiko einzugehen, war es wert.
Gemeinsam packten wir die Dahinkriechende an den Armen, stützten sie, sodass sie das angesteuerte Versteck erreichte. Kaum betraten wir den Spalt, vergrößerte er sich. Das Technogeflecht, das auf dem Felsen wucherte, löste sich ab und weitete sich aus.
Die Cüüne murmelte Worte, die ich nicht verstand. Irgendwie stand sie wohl in Verbindung mit den metallenen Streben und Trieben. Innerhalb weniger Sekunden stülpte sich das Gebilde über uns drei und schloss uns ein.
Shukard schrie erschrocken auf und feuerte die Armbrust auf die Wandung ab. Der Bolzen blieb in der rötlichen Masse stecken.
Der lange Hals der Cüüne fiel nach unten, der Kopf schlug auf. Ein starker Geruch nach Minze breitete sich aus. Ich steckte das Schwert fort, legte den Rucksack ab, griff in unserer Ausrüstung nach dem Erste-Hilfe-Set. Dabei musste ich aufpassen, auf dem Blut nicht wegzurutschen. Vorsichtig kniete ich mich neben die Verletzte.
Das Geflecht verdichtete sich um uns. Die Geräusche der Welt außerhalb erstarben, dass ich meinen und Shukards Atem hörte. Den der Cüüne dagegen nicht mehr.
Sie ist tot, sagte der Extrasinn, ehe ich es selbst mithilfe der schlichten Diagnoseeinheit und meinen Fingern an der Halsschlagader feststellte.
Meine Hand berührte das rötliche Kopfhaar.
Wir waren zu spät gekommen.
*
»Wir sitzen fest!« Panik lag in Shukards Stimme. Ich spürte seine Furcht. Sicher, Shukard hatte Mut und sich in den bisherigen Kämpfen gegen die Pflanzenhybriden bewährt. Doch das, was wir gerade erlebten, ging selbst mir an die Substanz – einem unsterblichen Aktivatorträger, der mehr Schlachtfelder gesehen hatte, als er sich zu erinnern wünschte. Wie sollte ein Siebzehnjähriger damit umgehen?
Ich wandte mich von der Toten ab, stand auf und legte Shukard in dem engen Raum beide Hände auf die Schultern. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das schwache rote Licht, das von den Wänden ausging, und ich erkannte Shukards geweitete Pupillen. »Wir kommen hier raus, keine Sorge. Das Geflecht schützt uns. Es ist auf unserer Seite.«
»Aber die da draußen ... Sie sterben! Hörst du ihre Schreie etwa nicht? Riechst du nicht das Blut? Dieses ganze Blut ...«
Shukard zitterte wie in einem Fieberanfall.
Ich tat etwas, das ich seit Langem nicht mit einem anderen getan hatte – ich nahm ihn in den Arm.
Sein Atem wurde langsamer. Er löste sich verlegen von mir. »Warum machen die das, Kommandant Atlan? Warum töten sie alle?«
»Ich fürchte, es ist unseretwegen. Sie wollen uns daran hindern, die WEYD'SHAN zu erreichen. Deshalb töten sie die, die uns zu ihr führen könnten: die Technoscouts.«
»Das ist barbarisch! Die Cüünen können nichts dafür!«
»Nein. Aber diese Pflanzenwesen sind stupide. Sie barbarisch zu nennen, trifft daneben. Sie denken nicht wie wir.«
Der junge Genifer nickte. »Sie sind hirnlose Ungeheuer!« Er sagte es voller Zorn. Ich war sicher, dass er das nächste Mal ohne Zögern schießen würde, wenn er ein Pflanzenhybridwesen sah.
Suchend tastete ich die Wand ab, die uns einschloss. »Sicher öffnet sie sich, sobald die Gefahr vorüber ist. Wir brauchen nur zu warten.«
»Bis niemand da draußen mehr lebt«, sagte Shukard. Ich hatte nie zuvor so viel Bitterkeit in seiner Stimme gehört. Ob ihm der Tod der Laufvogelartigen auch deswegen so naheging, weil sein Bruder entfernt einem Vogel glich?
Nein. Shukard Ziellos war auf der ATLANC geboren und aufgewachsen, einem Sammelbecken unterschiedlichster Transterraner, die Schnäbel, Rüssel und eine ganze Palette weiterer genetischer Abweichungen aufwiesen. Er machte schlicht keinen Unterschied zwischen einem Cüünen und einem Transterraner, selbst wenn er nichts über die Cüünen wusste.
Ungeduldig zupfte Shukard an dem Multifunktionsarmband an seinem Handgelenk.
Ich nutzte die Schutzgefangenschaft, um über das nachzudenken, was ich beobachtet hatte. Offensichtlich waren die Aggressoren in der Lage, ganz verschiedene Formen anzunehmen. Hatten sie eine Art Update erhalten? Wieso glichen einige von ihnen entfernt Humanoiden, wo sie zuvor Pyramiden gewesen waren?
Es könnte eine andere Baureihe sein, sagte der Extrasinn.
Eine, die uns sehr ähnlich ist ..., dachte ich zurück. Mir bereitete der Gedanke Unbehagen.
Wenige Minuten später öffnete sich das Geflecht wie von Geisterhand.
Ich zog das Schwert, doch Technophagen waren keine mehr da. Diejenigen, die im Kampf gestorben waren, waren zu einem weißen Pulver zerfallen, das den Boden puderte. Ich behielt es argwöhnisch im Blick. Der weiße Staub konnte sich womöglich sammeln und zu neuen Gegnern zusammensetzen. Vergleichbares hatte ich bereits erlebt.
Die Cüünen dagegen lagen verdreht und reglos da – ein Bild des Grauens. »Suchen wir nach Überlebenden!«
Shukard nickte tapfer und entfernte sich ein Stück von mir. Er aktivierte sein Armbandgerät. »Die Daten sind mehrdeutig. Die Strahlung setzt dem Gerät zu. Aber ... Dahinten könnte etwas sein! Dicht am Eingang. Eine zweite Ausbuchtung ähnlich der, in der wir eingeschlossen waren!«
Wir näherten uns der Stelle und erreichten eine Art Vorhalle. Tatsächlich kauerte keine zwei Schritte hinter dem schwarzen Loch ein männlicher Cüüne auf zwei kybernetischen Beinen. Sich zurückziehendes Technogeflecht rahmte ihn ein. Ich vermutete zumindest, dass er männlich war, denn im Gegensatz zu den weiblich wirkenden Cüünen hatte er am Kiefer zwei Hauer, die weit nach außen ragten. Während die Beine und Laufkugeln aller anderen Cüünen leblos und dunkel blieben, zuckte durch die des vor uns Knienden ein Lichtimpuls.
Der Verwundete reagierte nicht auf unsere Annäherung. Die Augen blieben geschlossen. Er wirkte wie von unsichtbaren Schraubstöcken in Position gehalten.
Schnell nahm ich wieder das Erste-Hilfe-Set zur Hand und kümmerte mich um die Erstversorgung. Die vergleichsweise primitive, robuste Technik funktionierte uneingeschränkt: ein automatisches Verbandanlagesystem und ein steriles Granulat aus anorganischen Zeolithen taten ihr Werk, sobald ich sie auf die gefährlichsten Verletzungen angesetzt hatte, und stoppten die Blutungen.
Sorgen machte mir eine schwere Brandwunde im Brustbereich, in die zusätzlich etwas eingedrungen war. Es sah aus, als hätte jemand eine spitze Fackel in den Cüünen gesteckt und sie wieder herausgezogen. Ich reinigte den Bereich, versorgte ihn mit Granulat und öffnete das Päckchen mit dem Brandwundenverband.
Shukard untersuchte die kybernetischen Beine des Laufvogelartigen. Im Gegensatz zu anderen Cüünen, die sich auf einer Kugel fortbewegten, hatte dieser zwei Beine mit je drei Einschnürungen und muskelartigen Ausbuchtungen, die silbern glänzten.