Perry Rhodan 95: Mensch aus dem Nichts (Silberband) - Hans Kneifel - E-Book

Perry Rhodan 95: Mensch aus dem Nichts (Silberband) E-Book

Hans Kneifel

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Beschreibung

Im Herbst des Jahres 3583 erwacht in einer verlassenen Relaisstation des ehemaligen Solaren Imperiums ein geheimnisvoller Mann. Das besondere an ihm: In seinem Körper leben sieben menschliche Bewusstseine. Der "Mensch aus dem Nichts", der auch als "Mehrheitsmensch" bezeichnet wird, ist das erste der so genannten Konzepte ... Wie es scheint, leben in den Konzepten die Bewusstseine jener zwanzig Milliarden Menschen, die verschwanden, als die Erde und der Mond durch den mysteriösen Schlund in eine andere Galaxis versetzt wurden. Die Superintelligenz ES nahm sie auf, um sie dem Zugriff der feindlichen Superintelligenz Bardioc zu entziehen. Jetzt muss ES diese Bewusstseine gezielt freisetzen. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Milchstraße vor großen Umwälzungen steht: Die Laren, nach wie vor die Unterdrücker der Galaxis, bekommen Probleme mit der Energieversorgung ihrer Raumschiffe. Und die Menschen des Neuen Einsteinschen Imperiums, das gegen die Laren kämpft, leiten den 80-Jahres-Plan zur Befreiung der Milchstraße ein ...

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Nr. 95

Mensch aus dem Nichts

Im Herbst des Jahres 3583 erwacht in einer verlassenen Relaisstation des ehemaligen Solaren Imperiums ein geheimnisvoller Mann. Das besondere an ihm: In seinem Körper leben sieben menschliche Bewusstseine. Der »Mensch aus dem Nichts«, der auch als »Mehrheitsmensch« bezeichnet wird, ist das erste der so genannten Konzepte ...

Wie es scheint, leben in den Konzepten die Bewusstseine jener zwanzig Milliarden Menschen, die verschwanden, als die Erde und der Mond durch den mysteriösen Schlund in eine andere Galaxis versetzt wurden. Die Superintelligenz ES nahm sie auf, um sie dem Zugriff der feindlichen Superintelligenz BARDIOC zu entziehen. Jetzt muss ES diese Bewusstseine gezielt freisetzen.

Vorwort

Wenn dieses Buch erscheint, ist es ziemlich genau fünfundvierzig Jahre her, dass der erste Roman der PERRY RHODAN-Serie mit dem Titel »Unternehmen STARDUST« publiziert wurde. Es war der 8. September 1961. Niemand konnte damals ahnen, welcher Erfolg aus der Idee unserer beiden Gründungsautoren Karl-Herbert Scheer und Walter Ernsting erwachsen würde.

Was mit der ersten Mondlandung begann, hat sich längst zur Geschichtsschreibung der Menschheit nicht nur in ferner Zukunft, sondern auch tief in der Vergangenheit entwickelt. Viele Facetten bilden den Mythos und die Faszination PERRY RHODAN: Es sind die Romane um Menschen und Außerirdische, um die Rätsel und Gefahren von Raum und Zeit, und es ist die Lust, Neuland zu entdecken, das es in unserem eng gewordenen irdischen Umfeld kaum noch gibt, die PERRY RHODAN heute wie vor fünfundvierzig Jahren auszeichnet.

Das vorliegende Buch »Mensch aus dem Nichts« spielt im 36. Jahrhundert und gehört zu dem BARDIOC-Zyklus, der Weichen für die kommende Entwicklung stellt, weil erstmals der kosmische Aufbau und die Superintelligenzen thematisiert werden.

In der Heftromanserie hingegen befinden wir uns schon am Ende des fünften Jahrtausends. Eines Tages werden auch diese Romane wohl als Hardcover erscheinen. Wer aber schon heute zusätzlich einen Blick in die fernere Zukunft werfen will, dem empfehle ich, »nebenbei« auch zu den Heftromanen zu greifen. Eine unheimliche Macht ist in die Milchstraße eingedrungen, die Terminale Kolonne TRAITOR der so genannten Chaosmächte. Sie werden spannende Romane lesen über Perry Rhodan und menschliche Schicksale, über die Völker der Milchstraße, die Sie schon kennen, und sogar über das »alte« Fernraumschiff SOL, das auch in der Zukunft immer noch Geschichte schreibt.

Die in diesem Buch enthaltenen Originalromane sind: Mensch aus dem Nichts (809) von Hans Kneifel; Homo sapiens x 7 (810) von William Voltz; Begegnung auf Olymp (811) von Peter Terrid; Der Howalgonier (812) von H. G. Francis; Im Strom der Ewigkeit (813) von Clark Darlton; Der Vario und der Wächter (814) von Ernst Vlcek und Der Sieben-D-Mann (815) von Kurt Mahr.

Zeittafel

1971/84 – Perry Rhodan erreicht mit der STARDUST den Mond und trifft auf die Arkoniden Thora und Crest. Mit Hilfe der arkonidischen Technik gelingen die Einigung der Menschheit und der Aufbruch in die Galaxis. Geistwesen ES gewährt Rhodan und seinen engsten Wegbegleitern die relative Unsterblichkeit. (HC 1–7)

2040 – Das Solare Imperium entsteht und stellt einen galaktischen Wirtschafts- und Machtfaktor ersten Ranges dar. In den folgenden Jahrhunderten folgen Bedrohungen durch die Posbis sowie galaktische Großmächte wie Akonen und Blues. (HC 7–20)

2400/06 – Entdeckung der Transmitterstraße nach Andromeda; Abwehr von Invasionsversuchen von dort und Befreiung der Völker vom Terrorregime der Meister der Insel. (HC 21–32)

2435/37 – Der Riesenroboter OLD MAN und die Zweitkonditionierten bedrohen die Galaxis. Nach Rhodans Odyssee durch M 87 gelingt der Sieg über die Erste Schwingungsmacht. (HC 33–44)

2909 – Während der Second-Genesis-Krise kommen fast alle Mutanten ums Leben. (HC 45)

3430/38 – Das Solare Imperium droht in einem Bruderkrieg vernichtet zu werden. Bei Zeitreisen lernt Perry Rhodan die Cappins kennen. Expedition zur Galaxis Gruelfin, um eine Pedo-Invasion der Milchstraße zu verhindern. (HC 45–54)

3441/43 – Die MARCO POLO kehrt in die Milchstraße zurück und findet die Intelligenzen der Galaxis verdummt vor. Der Schwarm dringt in die Galaxis ein. Gleichzeitig wird das heimliche Imperium der Cynos aktiv, die am Ende den Schwarm wieder übernehmen und mit ihm die Milchstraße verlassen. (HC 55–63)

3444 – Die bei der Second-Genesis-Krise gestorbenen Mutanten kehren als Bewusstseinsinhalte zurück. Im Planetoiden Wabe 1000 finden sie schließlich ein dauerhaftes Asyl. (HC 64–67)

3456 – Perry Rhodan gelangt im Zuge eines gescheiterten Experiments in ein paralleles Universum und muss gegen sein negatives Spiegelbild kämpfen. Nach seiner Rückkehr bricht in der Galaxis die PAD-Seuche aus. (HC 68–69)

3457/58 – Perry Rhodans Gehirn wird in die Galaxis Naupaum verschlagen. Auf der Suche nach der heimatlichen Galaxis gewinnt er neue Freunde. Schließlich gelingt ihm mit Hilfe der PTG-Anlagen auf dem Planeten Payntec die Rückkehr. (HC 70–73)

3458/60 – Die technisch überlegenen Laren treten auf den Plan und ernennen Perry Rhodan gegen seinen Willen zum Ersten Hetran der Milchstraße. Rhodan organisiert den Widerstand, muss aber schließlich Erde und Mond durch einen Sonnentransmitter schicken, um sie in Sicherheit zu bringen. Doch sie rematerialisieren nicht am vorgesehenen Ort, sondern weit entfernt von der Milchstraße im »Mahlstrom der Sterne«. Den Terranern gelingt es nur unter großen Schwierigkeiten, sich in dieser fremden Region des Universums zu behaupten. (HC 74–80)

3540 – Auf der Erde greift die Aphilie um sich, die Unfähigkeit des Menschen, Gefühle zu empfinden. Perry Rhodan, die Mutanten und andere gesund Gebliebene beginnen an Bord der SOL eine Reise ins Ungewisse – sie suchen den Weg zurück in die Milchstraße. (HC 81)

3578 – In Balayndagar wird die SOL von den Keloskern festgehalten, einem Volk des Konzils der Sieben. Um der Vernichtung der Kleingalaxis zu entgehen, bleibt der SOL nur der Sturz in ein gewaltiges Black Hole. (HC 82–84)

3580 – Die Laren herrschen in der Milchstraße, die freien Menschen haben sich in die Dunkelwolke Provcon-Faust zurückgezogen. Neue Hoffnung keimt auf, als der Verkünder des Sonnenboten die Freiheit verspricht. Lordadmiral Atlan sucht die Unterstützung alter Freunde, die Galaktische-Völkerwürde-Koalition (GAVÖK) wird gegründet. (HC 82, 84, 85) Auf der Erde im Mahlstrom zeichnet sich eine verhängnisvolle Entwicklung ab. (HC 83)

3581 – Die SOL erreicht die Dimensionsblase der Zgmahkonen und begegnet den Spezialisten der Nacht. Um die Rückkehr zu ermöglichen, dringt ein Stoßtrupp in die Galaxis der Laren vor und holt das Beraghskolth an Bord. (HC 84, 85) Nur knapp entgeht die SOL der Vernichtung; die Entstehung des Konzils wird geklärt. (HC 86) Monate nach der SOL-Zelle-2 erreicht Perry Rhodan mit der SOL die Milchstraße und wird mit einer falschen MARCO POLO und dem Wirken eines Doppelgängers konfrontiert. Die Befreiung vom Konzil wird vorangetrieben. (HC 87, 88)

Im Mahlstrom halten der geheimnisvolle Plan der Vollendung und die PILLE die Menschen im Griff. Die Erde stürzt in den »Schlund«. (HC 86)

3582 – Alaska Saedelaere gelangt durch einen Zeitbrunnen auf die entvölkerte Erde (HC 88) und gründet mit einigen wenigen Überlebenden der Katastrophe die TERRA-PATROUILLE. (HC 91)

Die SOL fliegt aus der Milchstraße zurück in den Mahlstrom der Sterne (HC 89) und erreicht die Heimatgalaxis der Feyerdaler, Dh'morvon. Über die Superintelligenz Kaiserin von Therm eröffnet sich eine Möglichkeit, die Spur der verschwundenen Erde wiederzufinden. (HC 90, 91)

Die Inkarnation CLERMAC erscheint auf der Heimatwelt der Menschen, und das Wirken der Kleinen Majestät zwingt die TERRA-PATROUILLE, die Erde zu verlassen. (HC 93)

3583 – Die SOL erreicht das MODUL und wird mit dem COMP und dem Volk der Choolks konfrontiert. (HC 92) Hilfeleistung für die Kaiserin von Therm und der Kampf um die Erde. (HC 94)

Prolog

Die Jahre 3583 und 3584 n. Chr. halten für die Menschheit vielfältige Entscheidungen und Veränderungen bereit.

In der Milchstraße weiß niemand, wie es um die SOL, das größte Fernraumschiff der Menschheit, bestellt ist. Perry Rhodan ist der Spur des verschollenen Planeten Erde gefolgt und findet die Heimatwelt der Menschen in der Hand eines überlegenen Gegners. Zwanzig Milliarden Menschen sind spurlos verschwunden. Perry Rhodan glaubt, dass die Superintelligenz BARDIOC dafür verantwortlich ist, denn die letzten Bewohner des Planeten – eine Hand voll zu allem entschlossener Männer und Frauen, die das Schicksal zusammengeführt hat – werden von einer Inkarnation BARDIOCS bedroht.

Keiner von ihnen kann wissen, was inzwischen in der Milchstraße geschieht.

1.

Die riesige Metallkonstruktion war verlassen. Aber Aggregate, für Jahrhunderte wartungsfreien Betriebs konstruiert, fuhren einprogrammierte Prüfroutinen, korrigierten Hitze und Kälte, führten winzige Kurskorrekturen durch und beseitigten Schäden, die im Lauf der Zeit auftraten. In der Station gab es dennoch nicht ein einziges Geräusch, das darauf hingewiesen hätte, dass sich ein lebender Organismus in einer der leeren Kammern befand.

Etwa hundertzwanzig Jahre lang war SI-RS-290 verlassen. Im leeren Raum der galaktischen Eastside, als stählerner Mond von den gelegentlichen Patrouillen der Blues nicht einmal mehr beachtet, driftete jener unwichtige Rest der terranischen Expansionsbestrebungen.

Solares Imperium, Relais-Station Nummer 290. Die Buchstaben glänzten gelb und schwarz auf den Flanken. Das war eine von unzähligen Stationen, die das Solare Imperium installiert hatte, damals ...

Die Erhabenheit der Sonnen und Dunkelwolken umgab dieses stählerne Staubkorn. In einer riesigen Kreisbahn, die an markanten stellaren Feuern vorbeiführte, driftete SI-RS-290 seit mehr als einem Jahrhundert ohne Besatzung durch das All.

Wo waren die Terraner, die mit den Blues verhandelt hatten, die Einblick in das komplizierte und technisch-logische Denkvermögen, in die fremden Sitten und die spartanische Lebensführung der Gataser gewonnen hatten? Verschwunden, zerstreut, gestorben, untergegangen in dem alles zermalmenden Strom aus Zeit und Abenteuer. Keiner der Namen, die in der Zentralpositronik verankert waren, hatte heute noch Bedeutung.

Heute gab es hier weder Menschen noch Blues.

Eine Positronik war nicht in der Lage, Bedauern oder Niedergeschlagenheit zu empfinden. In diesem Fall hätte sie sich abgeschaltet, alle Nebenaggregate desaktiviert und die Station irgendwann in eine Sonne stürzen lassen. Seit dem Jahr 3460 arbeitete SI-RS-290 ohne Zwischenfall.

21.9.3563 – 14 h 34 min 55 sec.

Ein fingergroßer Meteorit traf die Außenhülle, stanzte ein sechskantiges Loch und verwandelte sich auf dem rasenden Flug in einen weißglühenden Metalltropfen, der wie ein Geschoss eine Decke durchschlug, abermals einen Teil seiner Masse und seiner kinetischen Energie verlor und eine Wohnkabine teilweise verwüstete.

Alarm wurde ausgelöst. Ein Roboter erfasste den Strom der entweichenden Atmosphäre und versiegelte die Außenhülle. Eine zweite Maschine machte sich daran, die Schäden im Innenbereich zu beseitigen.

30.09.3583. – 12 h 00 min 02 sec.

Zuerst: eine dumpfe Vibration, die dem Aufprall von rund neunzig Kilopond auf einem Zwischendeck entsprach. Sofort erwachten Hunderte Messeinrichtungen.

Dann: das unverkennbare Geräusch, das entstand, wenn ein zweibeiniges Individuum langsam durch einen Raum ging. Wo? Mittelebene. Aufenthaltsraum neben halbautomatischem Restaurant. Richtung? Korridor mit Endpunkt Positronikterminal IV. Die erste Überwachungseinrichtung lieferte der Zentralen Positronik ein Bild des Besuchers.

Das Bild: ein männlicher Terraner, etwa dreißig Jahre alt, mit grauem, halblangem Haar und grünen Augen, schlank, Größe 191 Zentimeter, neunzig Kilogramm und 750 Gramm schwer. Er trug einen weißen, modern geschnittenen Overall mit gefälligen Taschen und hohem Kragen, die Ärmelaufschläge waren offen. Form des Gesichts: länglich-oval. Kein Bart. Die Maschine war nicht programmiert, Gesichtsausdrücke zu interpretieren. Sonst hätte sie festgestellt, dass der Besucher verwirrt und unsicher wirkte.

Die Positronik protokollierte alles, aktivierte dann die zur Lebenserhaltung notwendigen Subsysteme und bewirkte, dass die Robotküche ihre Tätigkeit wieder aufnahm. Auch die Versorgung des Terminals, auf das der Besucher zuging, schaltete sich ein.

Es war, als begänne für den technischen Organismus von SI-RS-290 ein neuer Abschnitt des Lebens.

Ich weiß, dass ich Chung Lo bin. Etwas über dreißig Jahre alt, an Körper und Geist gesund. Zuletzt war ich – und hier beginnt die Erinnerung zu flimmern wie heiße Luft über einer sonnenbeschienenen Straße – Chefmechaniker, ein wertvoller Mann, den man zu allen möglichen Spezialarbeiten heranzog. Wie ich hierherkomme, weiß ich nicht. Aber ich lebe, und das ist wichtig.

Zunächst spürte ich, wenn ich in meinen Körper hineinhorchte, Durst und Hunger.

Nur keine Panik, Lo!

Wo bin ich? Jedenfalls in einem Umfeld, das menschlichen Bedürfnissen entspricht. Saubere, kühle Luft mit hohem Sauerstoffanteil. Geruch nach Sauberkeit und Frische. Unter mir ein moosgrüner, wunderbar weicher Teppich. Ein Korridor mit metallenen Wänden. Also bin ich in einem Raumschiff aufgewacht.

Sehr rätselhaft ... partielle Amnesie. Soll vorkommen. Ruhig bleiben, Lo! Irgendetwas ist passiert, und du wirst dich schon wieder zurechtfinden, alter Junge. Damen scheint es hier nicht zu geben, dafür jede Menge Platz.

Ich weiß, dass ich ein methodischer Mensch bin. Muss ich schließlich sein als Mechaniker. Also muss ich versuchen, jetzt und hier methodisch vorzugehen. Andernfalls werde ich verrückt. Und natürlich niemand da, den ich fragen kann.

Erst einmal einen kräftigen Schluck trinken – wenn es hier überhaupt etwas gibt.

Ich glaube, ich sollte versuchen, jemanden zu finden, der mir erklärt, wo ich bin.

Chung Lo hob den Kopf und rief laut: »He! Hallo! Ich bin hier und suche Kommunikation!« Niemand antwortete ihm.

Er hob die Schultern, schaute sich erneut um, las die Beschriftungen und Piktogramme an der Wand. Sogar ein Analphabet hätte den Weg dorthin gefunden, wo es Essen und Trinken geben musste. Also setzte sich Chung Lo in die betreffende Richtung in Bewegung und schob die Tür zur halbautomatischen Küche auf.

Die Anlage machte einen gebrauchsfertigen Eindruck. Er tippte eine Anzahl von Gerichten, suchte sich Getränke aus und benutzte die Einrichtung so problemlos wie seine eigene Küche. Die Ausgabestelle servierte ihm sterile Teller, Bestecke, Gewürze und Servietten. Chung Lo setzte sich an einen Tisch des kleinen Speisesaals, öffnete eine Dose dunkles Bier und langte kräftig zu.

Eine Automatik registrierte den Gast im Speiseraum, schaltete zusätzliche Beleuchtungen ein und startete ein Musikprogramm. Nur an zwei Bearbeitungen klassischer Stücke von Boncard und Grey konnte sich der hungrige Mann erinnern, alle anderen Melodien waren ihm fremd.

Nach etwa vierzig Minuten fühlte er sich besser. Zumindest sein körperliches Wohlbefinden war wiederhergestellt. Er wischte sich die Lippen ab, goss den Inhalt einer zweiten Bierdose in das Glas und trank genießerisch mit geschlossenen Augen.

Wo waren seine Erinnerungen?

Chung Lo wusste nicht, woher er kam. Vage Gedanken an die Erde, an den Zustand der Menschen in der Endphase der Aphilie, an ein plötzliches Aufhören aller gedanklichen Funktionen, stiegen wie Schattenbilder in seinem Geist auf und verschwanden wieder.

Er trank aus und erhob sich zögernd. Was sollte er tun? Vielleicht gab es hier eine Datenbibliothek. Er hatte unendlich viele Fragen. Aber würde er die erhofften Antworten bekommen?

»Ich habe keine Eile. Es gibt eine Küche, also werde ich auch ein Bett finden«, sagte er halblaut, nur um seine Stimme zu hören.

Chung Lo trat wieder hinaus auf den Korridor. Gemächlich ging er geradeaus, bis er den Hinweis auf die Zentrale entdeckte. Er folgte den Leitsymbolen und blieb nur kurz stehen, wenn sich ein für ihn interessanter Blick bot, in ein Labor oder in verlassene Räume, von denen einige wirkten, als wären sie für nichthumanoide Wesen entworfen worden. Schließlich änderte sich die Kennfarbe des Bodens hin zu einem satten Gelb.

»Ich wette, hier ist ebenfalls niemand!«, rief Chung Lo im Selbstgespräch. Er behielt natürlich Recht.

Niemand antwortete. Einige Schotten zeigten ihm, dass er sich entweder im Weltraum oder auf einem Planeten mit giftiger oder zumindest problematischer Atmosphäre befand. Seine Umgebung war in Sektoren unterteilt wie ein Raumschiff, das auch nach einer Havarie Überlebenschancen bot. Wieder eine neue Erkenntnis, dachte er fatalistisch. Er war zufrieden mit seiner stabilen Psyche, trotzdem fühlte er, dass in ihm ein deutlicher Schub von Panik lauerte, der nur darauf wartete, aufzutauchen wie ein Albtraum.

»Noch nicht, mein Freund«, murmelte er. Vor ihm glitten zwei Kunstglasscheiben auseinander, und er betrat einen mittelgroßen, schätzungsweise vier Meter hohen und rechteckigen Raum, der von Panoramaschirmen geprägt wurde. Zu vier Fünfteln umliefen Instrumentenkonsolen den Raum.

Chung Lo sog die Luft ein, als sich die Hologramme aufbauten. Ein Sternenmeer wurde sichtbar. Er stand in der Mitte der Zentrale und drehte sich langsam um sich selbst. Pfeilspitzen aus Licht, drohend und kalt, fraßen sich in sein Bewusstsein vor. Sterne in unbekannten Konstellationen. Senkrecht zur Schwerkraftebene verlief ein breiter, vielfach verzweigter Arm einer atemberaubenden Konzentration von Millionen und Abermillionen ferner Sonnen. Sie bewegten sich nicht – nichts bewegte sich dort draußen.

»Sterne ... Ich befinde mich in einer Raumstation. Aber wo?«, stöhnte Chung Lo. Er fürchtete die Sterne nicht, diese eindringlichen Bilder schockierten ihn vielmehr. Jetzt erst, da die optische Verbindung zwischen innen und außen bestand, packte ihn das beklemmende, eigentlich entsetzliche Gefühl, dass er sich weitgehend ohne Erinnerungen an einem unbekannten Ort befand.

Verloren im Kosmos. Verirrt, hinausgeschleudert ins All. Wo war Sol, die Sonne der Erde? Wo gab es in diesem Chaos aus Licht einen festen Bezugspunkt?

»Es gibt keinen«, ächzte Chung Lo, als ihn die Schwäche zu überwältigen drohte. Das war kein körperlicher Zusammenbruch wie nach großer Überanstrengung, sondern eine Sinnesverwirrung. Sekundenlang zuckte ein bohrender Schmerz durch seinen Schädel.

Dieser Schmerz machte ihn halbblind. Seine Identität verwischte – besser konnte er den Vorgang nicht umschreiben. Eben noch hatte er die Kontrolle über seinen Verstand und den Körper besessen und sich gefreut, dass er nicht wahnsinnig geworden war in diesem Schock der Einsamkeit, nun fühlte er, dass die Identität Chung Lo bedeutungslos wurde. Etwas anderes schob sich vor seine Sinne und verdrängte sein Ich.

Chung Lo verstand nicht, was mit ihm geschah.

Er erkannte auch nicht, dass all das innerhalb von Sekundenbruchteilen geschah.

Jedenfalls schien derjenige, der nun schwankend und halbblind durch die Zentrale taumelte und wimmernd in einen Kontursessel sank, ein anderer Mensch zu sein.

Ein faszinierendes Halbpanorama! Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Meer von Sternen der Eastside zuzurechnen sein könnte; dieser senkrechte milchstraßenartige Ast ist sicher nur eine lokale Erscheinung, aber immerhin charakteristisch. Ich muss nachdenken, denn ich kenne dieses Bild, wenngleich nur von Studienaufnahmen.

Keiner soll sagen, dass Abd el Pumán in irgendeinem Sektor der Milchstraße fremd sei. Ich kenne nicht gerade jeden Stern, andererseits hat ein professioneller Astronom einen sechsten Sinn dafür, wo er sich gerade befindet – ich erinnere mich der Tests, die wir während der Ausbildung zu Tausenden über uns ergehen lassen mussten. Ein holografisches Bild, zehn Sekunden Zeit, dann eine schnelle Antwort. Von hundert möglichen Treffern erzielte ich stets zwischen einundneunzig und neunundneunzig. Natürlich: Ich befinde mich in der Eastside der heimischen Milchstraße, im Gebiet der Blues.

So weit, so gut. Aber: Wie bin ich hierher gekommen?

Ruhe, Abd el Pumán! Keine Panik. Du spürst deinen Körper, hast auf der Zunge den widerlichen Geschmack von dunklem Bier, sitzt in einem mäßig hellen Schaltraum in einem Sessel – aber du bist ratlos, weil dir ein gehöriger Teil deiner Erinnerungen fehlt.

Wo bin ich?

»Ich habe keine Ahnung«, muss ich mir eingestehen. Das ist irgendeine Raumstation. Eastside? Blues? Eine gewisse Ruhe und Stille?

Ich kann mich nicht einmal erinnern, vor kurzer Zeit gegessen und ausgerechnet dunkles Bier getrunken zu haben. Zweifellos habe ich irgendwann das Bewusstsein verloren und bin von jemandem oder von etwas in eine leer anmutende Raumstation im Einflussbereich der Gataser-Abkömmlinge mit ihren tellerförmigen Köpfen gebracht worden. Darüber hinaus glaube ich zu wissen, dass mein Körper irgendwie anders ausgesehen hat. Oder anders war. Der Körper, den ich jetzt spüre, ist schlanker als meiner, den ich in Erinnerung habe. Ich glaube, ich werde noch einmal diese faszinierenden Sternanhäufungen studieren und danach versuchen, meine Fragen zu beantworten. Hoffentlich gibt es einschlägige Beobachtungsinstrumente, ich glaube nämlich zu wissen, dass ich inzwischen viel verlernt habe.

Wo ist der Kollege, der die Hologalerie aktiviert hat?

Abd el Pumán sah sich zwanzig Minuten später in einer Spiegelwand. Eben noch war sein Gesicht anders gewesen, nun wirkten die Augen auf rätselhafte Weise dunkler, und die Mundwinkel zogen sich leicht abwärts. Die Schulterhaltung war die eines Mannes, der lange Zeit vor Instrumenten, Tabellen und Rechnern verbracht hatte, dessen Liebe nicht Tieren, Maschinen oder Raumschiffen gehörte, sondern den Vorgängen in den Chromosphären und Kernen der Sterne aller Klassifizierungen.

In einem Warmluftstrom trocknete sich Abd el Pumán die schlanken Hände ab und ließ sein Gesicht mit einem feinen Nebel belebenden Parfums einsprühen.

»Niemand da«, sagte er laut zu sich selbst. In dem strahlend sauberen Toilettenraum hallten seine Worte wider. »Eine merkwürdige Stimmung. Na ja, wenigstens stört mich keiner.«

Noch hatte er kein Identitätsproblem, war er überzeugt, dass er er selbst war und kein anderer. Aber ein deutliches Gefühl der Unsicherheit verließ ihn nicht, als er anfing, das Observatorium in dieser Station zu suchen und sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Vielleicht, so dachte Abd el Pumán skeptisch, fand er denjenigen, der ihn hierher gebracht hatte. Alle anderen Probleme, die mit seiner nicht vorhandenen Erinnerung, mit jener gewaltigen Gedächtnislücke zu tun hatten, vergaß er zwar nicht, er verschob ihre Klärung nur auf später.

Ein halber Tag verging. Der Astronom war durch endlose Gänge und Korridore und über eine Vielzahl von Rampen gelaufen. Er hatte bestimmt zweihundert verschiedene Räume betreten und festgestellt, dass alle Räumlichkeiten, die Menschen als Aufenthaltsort dienen konnten, klimatisiert und bestens ausgestattet waren. Proviant schien für eine kleine Ewigkeit vorhanden zu sein.

Er hatte umfangreiche Magazine gesehen, in denen Ausrüstungsteile gelagert waren, benutzte und neue Raumanzüge, Wassertanks, Aufbereitungsanlagen und winzige, abgekapselte Systeme, die Grundsubstanzen herstellten, aus denen eine sinnreiche Automatik bei Bedarf Proteine, Fette und Zucker gewinnen konnte. Ein Schwimmbad war ebenso vorhanden wie ein Solarium, ein Sportraum von fantastischen Ausmaßen konkurrierte mit einem Auditorium.

Die Station an sich wies einen geschätzten Durchmesser von etwa hundertfünfzig Metern auf und war allem Anschein nach kugelförmig. Es gab kein einziges Raumfahrzeug – die Hangars für Space-Jets und andere Beiboote waren leer. Die Besatzung schien mit ihnen geflohen zu sein.

»Und es gibt keinen einzigen Menschen außer mir!« Stöhnend massierte sich Abd el Pumán die Schläfen.

Er korrigierte sich. Natürlich gab es Spuren. Hier ein Holowürfel, der eine junge Familie zeigte, dort einige Lesekristalle, die ebenso einem Besatzungsmitglied gehört hatten und beim Aufbruch zurückgelassen worden waren. Dort ein großes Bild eines lachenden jungen Mannes und eines lächelnden Mädchens. Seltsam. Warum lachten auf Fotos alle? Weshalb waren sie nicht ernst? Warum weinten sie nicht, obwohl sie doch ahnen mussten, dass sie denjenigen Menschen, der ihr Foto bei sich trug, niemals wiedersehen würden?

Vielleicht lachen sie gerade deswegen, dachte der Astronom und sah sich um. Er befand sich längst im eigentlichen Wohnbezirk, einem zylinderförmigen Segment, ausgefüllt von robotgepflegten Pflanzen und Blüten. Übereinander verliefen Rampen, hinter denen die Eingänge in Apartments lagen. Hervorragend gebaut, aus einem verwirrenden, aber sinnvollen System von Fertigteilen, genormt und dennoch abwechslungsreich.

Abd el Pumán blieb auf halber Höhe stehen und bewunderte die wuchernden Pflanzen und die makellose Ordnung, dann gähnte er.

»Vielleicht bringen ein paar Stunden Schlaf die Erleuchtung«, murmelte er, als er die nächste Tür öffnete. Er ließ sie offen, schaltete alle Lichtquellen in dem mittelgroßen Apartment ein und streifte sich vor der Bettnische die Stiefel ab.

Schließlich aktivierte er die Musikberieselung, regelte die Akustikfelder auf Maximalstärke und zog sich aus. In der angrenzenden Hygienezelle fand er alles, was er brauchte.

Nur kurze Zeit lag er noch wach. Dann schlief Abd el Pumán während einer langen Adagio-Passage ein.

Etwa fünf Stunden später registrierte die Automatik, dass alle Beleuchtungskörper des Solariums und des Schwimmbads eingeschaltet wurden. Ein nackter, schlanker Mann warf sich mit einem Hechtsprung ins Wasser, ohne vorher die Temperatur geprüft zu haben. Immer schneller durchschwamm er das Becken, wobei er hin und wieder über lange Strecken sogar tauchte. Erst nach knapp sechzig Minuten verließ er triefend den Pool und stellte sich unter die Wechseldusche.

Die Haltung des Körpers hatte sich deutlich verändert. Unschwer war zu erkennen, dass Hubert Kelassny sich über das Bad und die anschließende Robot-Vibrationsmassage freute und jede Sekunde davon genoss.

Er fühlte sich wie neugeboren, als er die Erholungszone verließ und in einem langsamen Trab durch die matt erleuchteten Gänge lief. Die Automatik hatte, wie immer seit Hunderten von Jahren, die Beleuchtung und Versorgung der Standard-Nachtphase eingeregelt.

Mühelos fand Kelassny den einzigen bewohnten Raum der Station. Auf dem Bettlaken sah er den eigenen Körperabdruck. Er legte sich wieder hin, endlich entspannt und beruhigt, und löschte das Licht.

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, dachte Hubert Kelassny zum ersten Mal, seit er aufgewacht war, intensiv nach.

Natürlich weiß ich, dass ich nicht verrückt bin. Ich, Hubert Kelassny, erkenne meine Umwelt exakt und bediene mich mühelos aller gewohnten Einrichtungen. Ich wollte schwimmen und habe den Swimmingpool auch gefunden, und ich spüre die nachwirkende Strahlung des Solariums auf meiner Haut.

Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich mich im offenen Schott dieses Apartments wiederfand. Ich lief los, von einer unerklärlichen Kraft getrieben, bis ich die Erholungsräume fand.

Wo bin ich?

Nach allem, was ich gesehen habe, in einer Raumstation oder einem verlassenen Raumschiff.

Wie bin ich hierher gekommen? Warum wachte ich erst in diesem Bett auf das ich allem Anschein nach selbst zurechtgemacht hatte?

Ich bin nicht allein!

Ich spüre meinen Körper. Ich, Hubert Kelassny, hatte eben die völlige Kontrolle über diesen biologischen Mechanismus. Mein Verstand funktionierte wie stets. Nun aber merke ich, dass etwas geschieht. Ein zweiter Verstand scheint in meinem Kopf zu wohnen, als hätte ich zwei verschiedene Gehirne. Ein einziger Körper, von zwei verschiedenen Persönlichkeiten beherrscht?

Ich spüre aufkommende Panik ...

Ganz ruhig bleiben! Nicht aufspringen, dies ist keine Lösung. In mich hineinhorchen, suchen, tasten, finden ... Ich muss mich zur Ruhe zwingen, obwohl der andere sich aus verborgenen Tiefen des Verstandes heraufschiebt.

Ist ein Dialog möglich?

Ich versuche es.

Der Andere: Ich bin Abd el Pumán. Ich nenne mich Abd el Pumán. Wer bist du? Wir sind zusammen in einem Körper.

Ich: Hubert Kelassny. Biologe. Ich bin eben aufgewacht und war schwimmen.

Der Andere: Deswegen ist mein Haar so feucht. Ich glaube, ich werde verrückt. Was hast du Mistkerl in meinem Körper zu suchen?

Der Körper krümmt sich, federt zurück in die Embryonalhaltung. Der andere Verstand fürchtet sich und verbirgt seine Furcht – oder versucht es – hinter markigen Worten. Kelassny befiehlt den Muskeln bewusst, sich wieder zu strecken. Sein Bewusstsein neutralisiert die Impulse des anderen. Den lautlosen Kampf von fünf Sekunden Dauer gewinnt schließlich Kelassny. Der Körper liegt endlich, vor Anstrengung schweißgebadet, wieder ausgestreckt.

Der Andere: Na schön, die Muskeln gehorchen dir, Kelassny. Dafür weiß ich, wo wir sind. Bist du neugierig?

Ich: Nicht besonders. Nur der Umstand, dass wir zu zweit in einem Körper stecken, macht mir Sorge. Bist du ein Mutant oder so etwas?

Der Andere: Nein. Aber ein Klasse-Astronom! Der beste in dieser Raumstation. Warst du es, der dieses furchtbare Bier getrunken hat?

Ich: Bier? Welches Bier?

Gedankliches Schweigen. Nur eine Art Hintergrundgeräusch ist zu spüren. Die Unterhaltung der beiden Persönlichkeiten fand nicht in einzelnen Sätzen statt, sondern sehr viel schneller und mit viel höherer Informationsdichte ausgestattet. Es gab fast keine Redundanz; eine lückenlose Kette von Bildern, Bedeutungen, ineinander verketteten Fakten und Informationen wurde ausgetauscht. Die Verständigung war tief, schnell und total – und erschreckend in ihrer Deutlichkeit. Fast gleichzeitig spüren beide Persönlichkeiten diese Gefahr. Ein Hauch von Abwehr und Ekel scheint durch die Überlegungen zu ziehen. Das Schweigen der Erkenntnis und des Schreckens geht vorüber.

Ich: Du hasst Bier. Ich kann mich nicht erinnern, Bier getrunken zu haben. Also ...

Der Andere: Dunkles Bier!

Ich: Dann gibt es noch jemanden zwischen uns? Ein Körper mit dreifachem Verstand?

Ein Anderer: Richtig. Hier bin ich, Chung Lo, der Mechaniker. Ich habe dieses verdammte Bier getrunken. Ich hoffe, ihr prügelt mich nicht deswegen.

Wieder Schweigen. Dann, als sich die drei Persönlichkeiten halbwegs miteinander abgefunden haben ...

Ein abermals Anderer: Wir sind vier. Es wird sich herausstellen, ob das zweckmäßig ist. Wir sollten wählen, wer zu schlafen und wer zu agieren hat. Übrigens, ich bin Pynther Äslinnen, Positroniker. Ich werde für uns die Station manipulieren. Ich kenne alles, was es auf diesem Gebiet gibt.

Plötzlich füllen vier komplexe gedankliche Persönlichkeiten jenen imaginären Raum aus, den sie als den Sitz ihres Verstandes betrachten. Jedes dieser Elemente trägt unverwechselbar die Kennzeichen der gesamten Persönlichkeit, wie eine Eizelle oder eine überaus perfekte Beschreibung eines Menschen.

Chung Lo:

Begabt, aber zurückhaltend und zaudernd. Er schenkte niemandem sein Vertrauen, schon gar nicht den drei anderen, mit denen zusammen zu existieren er gezwungen wurde. Im Augenblick erfüllten ihn Abscheu und Furcht. Er war kontrollierbar, und sie würden jede seiner Reaktionen, nein, schon die Überlegungen und Reflexe, herumdrehen und begutachten, mit ihrer ätzenden Kritik vernichten. Schon jetzt baute er eine Sperre auf und hoffte, dass sie ihn schützen würde. Jedenfalls würde er sich freiwillig nicht den anderen drei Persönlichkeiten anvertrauen.

Abd el Pumán:

Er genoss es, der Einzige zu sein, der allein herausgefunden hatte, wo sich dieser seltsame Verbund von einem Körper und vier Persönlichkeiten befand. Er wusste nicht im Geringsten, welche Macht ihre mehrfache Persönlichkeit hierher gebracht hatte. In Wirklichkeit fürchtete sich Abd el Pumán vor der Erkenntnis und vor den Folgen, die diese merkwürdige Konstellation hervorrufen würde. Neurosen und Psychosen würden aufblühen, blitzschnell um sich greifend, wenn es nicht gelang, die anderen Persönlichkeiten zurückzudrängen. Und wer würde eingeschränkt und geknechtet werden? Er, derjenige, der den Gefahren auswich? Eine unbändige Wut erfüllte ihn, und er wollte diesen Hass den anderen entgegenschreien, aber dann würden sie mit vereinten Kräften über ihn herfallen. Deshalb schwieg er. Seine Stunde war noch nicht gekommen.

Hubert Kelassny:

Auf eine sarkastische Weise war er belustigt. Jedenfalls fürchtete er sich nicht, denn er erkannte keine unmittelbare Gefährdung seines Körpers, und der Zustand des Körpers garantierte ein Überleben seines Verstandes. Hubert wusste, dass er stark, gelassen und mit Hilfe von Ironie und Sarkasmus fähig war, schwierige Situationen zu meistern. Dies war zweifellos eine solche Lage: Ihm fehlten sämtliche Informationen darüber, wie, wann und an welchem Ort der verzwickte Zustand hergestellt worden war, von wem und zu welchem Zweck. Andererseits entschädigte diese Variante des Lebens für zu erleidende Einschränkungen. Inzwischen gab es in diesem Verbund von Hirnen oder Bewusstseinen einen Astronomen, einen Biologen, einen hochqualifizierten Mechaniker und einen Positroniker. Vier Fachleute also, die abwechselnd und problemorientiert den Körper steuern und in ein machtvolles Instrument verwandeln konnten. Hubert Kelassny hatte keine großen Sorgen, was die nahe Zukunft betraf. Seine Ruhe machte ihn zu einem starken Teil des Verbundes. Vielleicht zum stärksten?

Ein Anderer: Ich weiß, dass ich schwach bin. Aber das sind alle Künstler. Ich bin Pheuch! Tamoe Pheuch!

Den Übrigen zeigte sich kurz das flirrende Bild eines grazilen jungen Mannes in wollener Kleidung, der eine glitzernde Stange in der Hand hielt und seinen Körper in grotesken, eleganten und gewagten Sprüngen und Schritten über eine ebene Fläche bewegte.

Pheuch sagte: »Ich bin Choreograf, müsst ihr wissen. Ich genieße es, so starke Charaktere um mich zu haben. Ich weiß, dass ihr mich beschützen werdet.«

»Keine Sorge, Kleiner«, erwiderte Kelassny in Gedanken. »Vielleicht brauchen wir deine Begabung, um etwas Leben in diese Station zu bringen.«

Pheuch lispelte: »Ihr seid nett, ihr alle. Ich mag euch, wisst ihr?«

Pynther Äslinnen: »Jetzt sind wir wieder einer mehr. Fünf! Erstaunlich, was in einen solchen Menschenkopf hineingeht. Aber das ist gar nichts gegen die Wirkung einer Positronik meiner Generation. Ein kopfgroßer Speicher kann bis zu einundzwanzig Persönlichkeiten speichern.«

Äslinnen war ein »Maniac«, ein Mann, der in technischen Vorgängen dieser Art das eigentliche Wunder dieser Jahrhunderte sah. Denkmaschinen und Aggregate, die von ihnen gesteuert wurden, beherrschten sein Denken und seine Empfindungen. Er selbst bezeichnete sich als trockenen, spezialisierten Charakter und lag damit auf seltsame Art völlig richtig.

Äslinnen war kein schlechter Kerl. Gutmütig, anspruchslos, was persönliche Bedürfnisse und Ansprüche betraf, aber störrisch, wenn er zu spüren glaubte, dass jemand über seine offensichtliche Begeisterung spottete.

Fünf verschiedene Identitäten in einem Körper! Keiner der fünf vermochte einen Sinn in dieser Problematik zu sehen.

Ein Anderer: Ich auch nicht!

Wieder breitete sich ein vakuumhaftes Schweigen der Verwunderung aus.

Hubert Kelassny: Sind wir sogar sechs?

Ein Anderer: Nein, sieben!

Alle: Wer seid ihr?

Ich bin N'kamo Fassa. Ich bin Filmreporter. Ich habe ebenfalls keine Ahnung, wie wir hierher und in dieses geistige Gefängnis gekommen sind. Könnt ihr es mir sagen?

Hubert Kelassny: Nein. Das kann niemand. Ich zweifle daran, dass wir sieben es jemals erfahren werden.

Ein Anderer – der Siebente: Ich bin Nahrungsmitteltechniker. Vanni Delgiudice. Ich kann sämtliche Rezepte ausführen und für fast alle menschlichen Völker zubereiten. Mir ist klar, dass ich gegen Äslinnen oder Kelassny nicht konkurrieren kann. Sonst weiß ich nichts.

Hubert Kelassny: Ist außerdem jemand da? Möglicherweise hat unser unfreiwillig ausgesuchter Körper größere Kapazitäten aufzuweisen. Wenn nicht, bringen wir es hinter uns. Schließlich werden wir in nächster Zeit auf gute Nachbarschaft angewiesen sein. Führungskämpfe der einen oder anderen Persönlichkeit haben sicher nur den Effekt, dass ich-wir verrückt werden. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir alle sieben diese Entdeckung so schnell akzeptiert haben.

Im Moment gehörte der Körper zu Kelassny. Er lag entspannt auf dem Bett. Die Dunkelheit, von fahlem Lichtschimmer hinter Geräteskalen durchbrochen, wirkte wohltuend auf den Organismus. Die Ausbrüche von Angstschweiß waren vorbei. Mild umfächelte die Luft aus der Klimaanlage den Körper.

Chung Lo: Kelassny hat Recht. Wir dürfen nicht miteinander kämpfen. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, einen anderen Körper zu übernehmen. Wir wissen nichts.

Tamoe Pheuch: Wir wissen überhaupt nichts.

Pynther Äslinnen: Aber wenn ich für ein paar Stunden den Körper übernehme und mit der Positronik arbeite, werden wir über sämtliche Möglichkeiten dieser Station verfügen können.

Vanni Delgiudice: Das ist, denke ich, ein guter Vorschlag. Trotzdem sollten wir den Körper erst ausschlafen lassen. Wir müssen ihn schonen, denn wir haben keinen anderen.

N'kamo Fassa: Ich bin müde. Ich ziehe mich zurück.

Die Gefühle, die sieben verschiedene Persönlichkeiten hatten, waren kaum zu beschreiben. Ihre Kommunikation ging lautlos und in rasender Schnelligkeit vor sich. Darüber hinaus war die Informationsdichte der Gedanken ungewohnt. Bisher hatten sich die sieben Menschen auf dem langwierigen Weg über die Sprache unterhalten müssen. Dies fiel nun weg, und sie alle waren erstaunt darüber, wie armselig die Sprache war gegenüber dieser mentalen Kommunikationsweise. Ganz langsam legte sich das wirbelnde Chaos aus allen erdenklichen Abwehrreaktionen, das in diesem Siebenfach-Verstand tobte.

Abd el Pumán: Und wir wissen nicht einmal, ob wir nicht vielleicht auch in der Zeit umhergeschleudert worden sind.

Pynther Äslinnen: Das werde ich morgen herausfinden. Für uns alle.

Als sich die sieben Persönlichkeiten zurückzogen und behutsam jegliche Kontrolle über den Körper abgaben, erschlaffte der Organismus. Der Körper rollte zur Seite. Bald darauf ertönten gleichmäßige, tiefe Atemzüge. Das einzige lebende Wesen in der Relaisstation schlief.

Die sieben Persönlichkeiten hatten weder Zeit noch Muße, staunende Beobachtungen über den rund dreißigjährigen, schlanken und gesunden Körper anzustellen. Sie hätten sonst drei- oder viermal verblüffende Dinge gesehen. Je nachdem, welche Persönlichkeit gerade den Körper steuerte, veränderte sich dieser innerhalb bestimmter Grenzen. Die Arroganz und der übersteigerte Anspruch von Abd el Pumán drückten sich in Bewegung und Körperhaltung ebenso aus wie die Scheu und Ängstlichkeit des Mechanikers. Im Augenblick lief der Körper, der jetzt Pynther Äslinnen war, auf die Zentrale zu. Äslinnen hatte einen merkwürdigen Gang, er machte kleine, hüpfende Schritte. Und seine Fingerspitzen bewegten sich unaufhörlich. Er wirkte wie ein Pianovirtuose, der unaufhörlich Läufe und Figuren übte. Aber er spielte nicht auf Tasten, sondern auf Schaltern und Reglern positronischer Anlagen. Vor ihm fuhren die Kunstglastüren auseinander.

»Eine herrliche Anlage!«, bemerkte er zufrieden. Langsam ging er einmal entlang der vielen Pulte und Skalenfelder, bemerkte die alten Schnelldrucker und die wenigen Analogschirme und dann, als er wieder in der Mitte des Raumes stand, die großen Panoramaholos mit dem faszinierenden Himmelspanorama.

»Gehen wir methodisch vor«, sagte er und setzte sich in den Sessel des Stationschefs für den technischen Bereich. Mit schnellen Schaltungen aktivierte er die wichtigsten Sequenzen und verschaffte sich Klarheit über Kapazität und Bedeutung der externen Elemente.

Er rief das Datum ab, das ihm bislang unbekannt war.

»Wir schreiben das Jahr 3583, den ersten Oktober«, sagte er gleichmütig. In seiner Erinnerung fehlte ein Datum, das er in Bezug bringen konnte. »Ich brauche weitere Informationen.«

Er aktivierte ein Testprogramm.

»Wo befindet sich diese Station?«

Die Positronikstimme war männlich, ein Bariton, der weder sonderlich angenehm noch unangenehm klang – eine durchaus normale Kunststimme. Äslinnen kannte fortschrittlichere Anlagen dieser Art, nur hatte er nicht die geringste Ahnung, ob er dieses Gerät tatsächlich folgerichtig als aus weit zurückliegender Produktion stammend einstufen durfte.

»Die Relaisstation des Solaren Imperiums befindet sich auf einer stabilen Umlaufbahn in der Eastside der Galaxis. Die Koordinaten des Bahnmittelpunkts sind ...« Zahlen und Buchstabenkombinationen folgten. Der Verstand Pumáns, der bis eben passiv beobachtet hatte, schob sich in den Vordergrund und gab Äslinnen eine kurze Erklärung.

»Wiederhole die Koordinaten!«, verlangte der Positroniker sofort.

Abd el Pumán verstand die Koordinaten, erfasste den Standort der Station beziehungsweise die Position im Weltraum, um die herum sich SI-RS-290 auf einer Halbjahresbahn bewegte, dann ließ er seinen Körper fragen: »Die Relaisstation war ein Treffpunkt zwischen Menschen und Blues?«

»Richtig«, bestätigte die Positronik. »Mittlerweile ist die ehemalige Besatzung abwesend, ein Kontakt mit Angehörigen der Blues fand zum letzten Mal im Mai des Jahres 3460 statt.«

»Ich verstehe. Drucke die Koordinaten zur Sonne Soluman, Richtung, Distanz und alle anderen wichtigen Informationen aus!«

»Die Ausgabe wurde eingeleitet.«

Lautlos verständigten sich Äslinnen und Pumán. Der Astronom und der Positroniker tauschten ihre Überlegungen aus. Abd el Pumán erklärte, dass er die von ihm erwähnte Sonne in seiner Erinnerung gefunden hatte. Ihr System lag in der Nähe des Blues-Gebietes. Damit wurde die Position der verlassenen Station konkreter.

Dann übernahm wieder Äslinnen den Körper. »Berichte in kurzen Zügen über die letzten gespeicherten Informationen, die Menschheit betreffend!«

Die Positronik erwiderte, dass die letzten Informationen aus dem Jahr 3460 stammten und daher veraltet wären.

»Das ist unwichtig. Alle Informationen ausdrucken!«

Mit einem tiefen Summgeräusch arbeitete der Schnelldrucker. Eine eng beschriebene Folienbahn wurde ausgegeben, die Äslinnen sofort an sich nahm.

Was Pynther Äslinnen erfuhr und damit auch die anderen, war aufregend und unbefriedigend zugleich. Die dramatischen Ereignisse, mit denen die Auflösung des Solaren Imperiums eingeleitet worden waren, sagten ihnen nichts. Sie wussten allerdings, dass sie auf eine schwer zu beschreibende Art zu den Terranern gehörten, die dieses Chaos betroffen hatte, damals, im Juli, vor einhundertdreiundzwanzig Jahren.

Die Station verfügte nur über Informationen, die auf dem Funkweg oder über Kuriere eingetroffen waren. Terra und Luna waren mit ihren Bewohnern durch den Sol-Transmitter aus der Milchstraße geflohen. Julian Tifflor und Atlan – Namen, die seltsam bekannt schienen und dennoch kaum etwas an tieferer Bedeutung für die sieben Persönlichkeiten hatten – hatten zu retten versucht, was in der Milchstraße nicht zerfallen war. Wahre Wunderdinge schienen von der USO vollbracht worden zu sein, aber die neuen Herrscher und ihre Helfer, die Überschweren, besaßen die Machtmittel, um das Solare Imperium und dessen Reste niederzuhalten. Die Mächte des Konzils traten ungehindert als Eroberer auf.

Wirtschaft, Raumfahrt und Handelsbeziehungen waren innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen.

Die Besatzungsmitglieder der Station hatten SI-RS-290 nach und nach verlassen. Sie hatten keinen Sinn mehr in ihrer Anwesenheit gesehen. Die Datenspeicher enthielten nur die Startmeldungen der Beiboote, nicht die anvisierten Ziele.

»Befindet sich noch ein Raumfahrzeug in einem Hangar der Station?«, wollte Pynther Äslinnen wissen.

»Negativ!«, lautete die Antwort.

Äslinnen nickte. Es wäre verrückt gewesen, das Gegenteil anzunehmen. Sie waren nicht nur Gefangene in einem Körper, sondern zugleich Gefangene der Relaisstation.

Der ausgedruckte Text beschäftigte sich weiterhin mit den politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit den Blues und kam zu dem bedauerlichen Schluss, dass auch ihre Völker von den Laren und den Überschweren versklavt wurden. Die Bankrotterklärung des Solaren Imperiums lag vor, als Äslinnen die letzten Zeilen las und danach die Folie zusammenknüllte und in den Abfallvernichter warf.

»Tragisch und nicht im Geringsten weiterführend«, sagte er versonnen und bedauerte selbst, dass er keine Emotionen spürte.

Sie alle befanden sich in einer Art Vakuum. Jeder von ihnen war in der Lage, sich aller Einrichtungen zu bedienen, die zum Leben eines Terraners in einer weitestgehend problemfreien Umgebung gehörten. Dies hatten sie irgendwann als Kinder und Heranwachsende nahezu automatisch gelernt. Jeder von ihnen verfügte über einen funktionierenden Verstand, keiner war schizophren oder paranoid. Ihr gemeinsamer Körper schien dem Leistungsstandard eines gesunden und trainierten Dreißigjährigen zu entsprechen.

Doch keiner der sieben wusste, wie er in den Körper gekommen war.

Gehörte der Leib, den sie sich teilten, einem von ihnen – waren sechs der Bewusstseine demnach Gäste oder Gefangene?

Wer hatte sie in dieser einzigartigen Weise manipuliert oder gar versklavt?

Warum hatte keiner von ihnen so etwas wie eigene Erinnerungen? Warum war jener Faktor, den sie als Gedächtnis kannten, leer und sauber wie ein unbeschriebenes Stück Folie?

Warum waren sie hier? Wie lange sollten sie hier bleiben? Warum das alles? Gab es einen Sinn hinter diesem System von verrückten oder mysteriösen Einzelheiten?

Pynther Äslinnen sprach aus, was die sechs anderen, passiv zuhörenden Persönlichkeiten dachten: »Völlige Desorientierung! Keiner hat die geringste Ahnung. Was wir in den nächsten Tagen unternehmen können, beschränkt sich auf reine Überlebenstechnik. Vielleicht wird uns derjenige, der dies alles zu verantworten hat, erklären, was geschehen soll. Vielleicht auch nicht.«

Ihre Existenz erschien wie der Gipfel der Sinnlosigkeit. Auf eine Weise, deren Definition ihre Vorstellungskräfte um mehrere Potenzen überstieg, schienen sie eine Versuchsanordnung zu sein – ein Modell, nichts anderes.

Ein multipler Terraner. Ein Mehrfachmensch.

Vier der sieben Persönlichkeiten hätten an diesem Punkt der Überlegungen, in dieser an sich undramatischen, aber unzweifelhaft stattfindenden Sekunde der ultimaten Wahrheit Suizid begangen. Sie versuchten es nicht, weil deutlich wurde, dass die drei stärkeren Persönlichkeiten dies mit Nachdruck verhindern würden.

Die Unsicherheit marterte dennoch alle sieben.

Hubert Kelassny: Wir sieben sind einer, sind eins. Wenn wir überleben, dann nur deswegen, weil wir uns gegenseitig nicht behindern. In dieser Form werden wir eine unbestimmte Zeitspanne lang existieren müssen. Einen Tag, einen Monat oder zwanzig Jahre ..., ich weiß es nicht. Der gemeinsame Körper ernährt uns und ermöglicht uns das Weiterexistieren. Wir müssen uns abfinden, bis sich die Situation ändert.

In einer plötzlichen Intension des Mutes oder gar der Tollkühnheit fragte der Choreograf Tamoe Pheuch: »Und was bleibt uns übrig, was können wir unternehmen?« Seine Gedanken, in denen Angst, Existenznot und Ratlosigkeit klar zu Tage traten, waren schrill und ängstlich wie die eines Kindes.

Hubert Kelassny antwortete beruhigend: »Wir müssen abwarten. Überstürzte Aktionen sind häufig der Grund für tödliche Gefahren.«

Auch Kelassny zog sich dann zurück und überließ die Handlungsfreiheit wieder dem Positronikspezialisten. Pynther Äslinnen wandte sich erneut an den Zentralrechner: »Verfügt die Station über ein Hyperfunkgerät?«

»In Raum 77 B befindet sich eine autarke Einheit. Sie wurde zuletzt Ende Mai 3460 benutzt und ist funktionsfähig. Weshalb erfolgte die Frage?«

»Das geht dich einen feuchten Abfall an!«, schrie Äslinnen.

Aus einem Grund, den nicht einmal Äslinnen erkennen konnte, erschien ein Stück Folie in der Ausgabe: Die Relaisstation wurde mit einem positronischen internen und externen Verteidigungssystem ausgerüstet. Es ist ebenso sorgfältig gewartet worden wie alle anderen Minisysteme von SI-RS-290.

2.

Tobby Beugner sah ihr Ebenbild im Spiegel verdrossen an, zuckte in einer Geste der Resignation mit den Schultern und drehte sich um. Heute war zweifellos einer der Tage, an denen sie sich nicht leiden konnte. Ein Tag, an dem sie die Farm und sich selbst hasste, den herrlich blauen Himmel, die Sonne und alles, was den Überbegriff Wirgler trug. Hätte es eine Gelegenheit gegeben, Wirgler zu verlassen, sie wäre ohne Gepäck und Geld an Bord des nächsten Raumschiffs gegangen und hätte sich in die Arme eines Offiziers der NEI-Flotte geflüchtet.

»Alles wäre leichter, wenn ich ein Mann wäre«, murmelte sie. Sie war wirklich nicht der Typ für Farmerburschen. Sie war überhaupt kein Typ, sondern eine von sechshunderttausend. Eine der Verwalterinnen einer Zukunft, die grau und chancenlos aussah.

Für Tobby Beugner, die Tochter eines der reichsten Farmer, gab es nur zwei Ebenen des Lebens.

Die eine: Sie leitete die Farm und kümmerte sich dann sogar um die kleinsten Probleme.

Die andere: Sie behielt ihre Träume, und ein Teil der Träume war höchst real – nämlich der Umstand, dass sie eine Agentin des NEI war.

Beide Beschäftigungen waren mit viel Arbeit und Frustrationen verbunden und brachten ihr kaum Erfolgserlebnisse.

Wirgler, einst eine Welt der verarbeitenden und verfeinernden Industrie und großer Handwerksbetriebe, litt unter katastrophalem Rohstoffmangel und war in eine merkwürdige Mischkultur zurückgefallen, eine Verbindung von reiner Agrarwirtschaft mit den hochtechnisierten Resten einer vergessenen Zeit. Störanfällige Kernkraftwerke arbeiteten hier und dort, und die Zahl funktionierender Maschinen nahm mit jedem Jahr weiter ab. Die Bevölkerung, einstmals dreißig Millionen Kolonialterraner und mehr, war auf klägliche sechshunderttausend zusammengeschrumpft, die aus den Zentren der verfallenden Städte immer weiter in die Randgebiete hinausgezogen waren. Mehr als eine Viertelmillion verschieden großer Farmen lagen im Land verstreut.

Die Bedeutungslosigkeit des Planeten war vollkommen, denn die Laren regierten mit absoluter Macht. Nur noch selten landete ein Raumschiff. Handel war so gut wie ausgeschlossen. Das Weltbild der Farmer schmolz ebenso zusammen wie ihre technischen Möglichkeiten.

Niemand brauchte zu hungern, niemand litt wirklich Not; das Leben war lediglich sehr unbequem geworden. Die landschaftliche Schönheit, die mit dem Verlust der Industrie immer mehr in den Vordergrund gerückt war, entschädigte für vieles, aber eben nicht für alles.

Tobby schüttelte den Kopf, grinste sich im Spiegel an und verließ den Raum. Sie und ihr Vater lebten in einer ehemaligen Schaltstation des Wasserkraftwerks. Die Turbinen und Pumpen waren vor siebenundzwanzig Jahren ausgefallen, drei Jahre vor ihrer Geburt. Seitdem lief das Wasser in einem imposanten Katarakt über die Staumauer. Aus diesem Stausee bewässerte ihr Vater seine Felder und Gemüsekulturen.

»Ich könnte weinen, wenn ich an unsere ungenutzten Chancen denke«, sagte sie, als sie den großen Wohnraum betrat. Ihr Vater saß in einem Sessel, der hundertfünfzig Jahre alt war. Die zusammengenähten Felle von gefangenen Kleintieren lagen über dem ruinierten Bezug. So oder ähnlich war es überall auf dem Planeten: Jeder verwertete, so gut es ging, die Reste einer bedeutungslos gewordenen Vorzeit.

»Lass es bleiben, Tobby«, antwortete der Vater. »Iss etwas, und dann werden wir versuchen, den Dampfpflug anzuwerfen.«

Er grinste sie breit an, ein anscheinend stets gutgelaunter, bärtiger Mann mit riesigen Händen und vielen Lachfältchen um die Augen. Er hatte durchgesetzt, dass Tobby an zwei verschiedenen Universitäten studiert hatte, auf ehemals terranischen Schulplaneten. Vor knapp einem Wirgler-Jahr war sie mit dem Diplom eines abgeschlossenen Maschinenbau-Ingenieur-Studiums zurückgekommen. Ihr Fachgebiet war robotgesteuerte Landwirtschaftstechnologie. Und dann verbrachte sie das halbe Jahr damit, im Führerstand der spuckenden, fauchenden Maschine zu sitzen und riesige Äcker umzubrechen?

»Schon gut. Hin und wieder überfallen mich eben solche Überlegungen.« Tobby setzte sich an den Tisch. Das Frühstück war einfach, aber nahrhaft, Luxusartikel waren kaum mehr bekannt.

»Ich kann's verstehen«, sagte David Beugner kauend.

Der Tag war gut für die Feldarbeit. Früher einmal hatte es genügend Roboter hier gegeben, die perfektere Furchen zogen, als jeder Mensch es konnte. Heute funktionierten nur noch wenige, meist stationäre Positroniken. Auf Wirgler gab es eben keine Ersatzteile mehr.

David trank den letzten Schluck aus dem Tonbecher und blickte seine Tochter kritisch an. »Du scheinst heute wirklich deinen nachdenklichen Tag zu haben«, murmelte er verdrießlich.

»So ähnlich«, antwortete Tobby leise. »Ich weiß zufällig sehr genau, dass wir auf Wirgler sogar relativ gut dran sind.«

»In Bezug auf Laren und Überschwere, meinst du?«

Sie nickte. »Sie lassen uns in Ruhe. Immerhin. Aber fünf Schiffsladungen voller Ersatzteile, und wir hätten viel mehr Zeit für Bildung, Ausbildung und daher bessere Chancen. Der Planet verblödet.«

David Beugner zupfte an seinem Bart. Dann bewies er wieder einmal, dass er weit mehr war als ein einfacher Farmer. »Die Geschichte der Menschheit ist Tausende von Jahren in einem ständigen Auf und Ab verlaufen«, sagte er. »Hundert Jahre hin oder her sind in einer solchen Zeitspanne nur unbedeutend. Derzeit sind wir unten, zweifellos. Aber es wird einen Tag geben, an dem wir wieder oben stehen werden. Wir sehen nur Momentaufnahmen, und, zugegeben, es sieht nicht so aus, als ob wir uns auf der Straße des Siegers befänden. Aber ...«, er lächelte und schaute seiner Tochter tief in die Augen, »denke daran, dass wir Terraner eine Menge ruhender Reserven haben.«

Tobby dachte an die geheimen Kontakte während ihrer Ausbildung. Rätselhafterweise hatten die Laren nur wenige Kontrollen durchgeführt. Die von ihnen beherrschten Welten konnten wenigstens überleben.

»Ich weiß das, David«, sagte Tobby. »Leider sind wir hier auf Wirgler von diesen Reserven weit entfernt. Geschichten und Gerüchte helfen uns nicht, wenn wir uns nicht selbst helfen.«

»Am besten, indem wir dieses schauerliche Monstrum in Bewegung setzen! Worauf warten wir eigentlich?«

Sie liebten ihren Planeten und seine wiedergewonnene Schönheit. Aber gerade deshalb schmerzte es beide, dass Wirgler weder autark noch entwicklungsfähig war. Sie gingen durch den wuchernden Garten hinaus zu der Dampfmaschine. Aus vielen Einzelteilen angerosteter Anlagen hatte Tobby das Gerät zusammengeschweißt. Es funktionierte sogar. Inzwischen hatte das Holzfeuer ausreichend Hitze erzeugt. David Beugner schleppte den Pflug heran, klinkte ihn ein, und Tobby kletterte in den primitiven Steuerstand. Pleuelstangen bewegten sich, Dampf zischte, die riesigen Räder begannen sich zu drehen. Das ungefederte Gefährt setzte sich in Bewegung, bog auf der schmalen Straße hinaus auf das Feld, und dort klappte die Pflugschar hinunter.

Die langweilige, aber letztlich doch befriedigende Arbeit hatte wieder angefangen. Der Planet und seine Bevölkerung mussten überleben. Die großen Städte waren zu Ruinen zerfallen, und nun lösten sich auch die Reste dessen auf, was einst terranische Kultur und Zivilisation genannt worden war.

Tobby Beugner war nicht gewillt, dies einfach hinzunehmen.

Pynther Äslinnen kontrollierte am Nachmittag des zweiten Tages wieder seinen Körper. Zeitweise hatte Kelassny den Körper übernommen und sich in der Schwimmhalle ausgetobt und die Muskeln trainiert, dann hatte Tamoe Pheuch die Verfügungsgewalt eingefordert und zu Musik in höchster Lautstärke eine wilde Serie von Tanzschritten geübt.

Äslinnen ging an seinen Arbeitsplatz in der Zentrale. Hier kannte er inzwischen jede noch so unbedeutende Anzeige. »Ich glaube«, sagte er sich und nahm vor dem Pult Platz, »ich sollte es riskieren!«

Mehrmals hatten sich die Bewusstseine beraten. Aber trotz aller Anstrengungen waren sie kaum klüger als zuvor.

Pynther Äslinnen gab die Namen und alle bekannten Charakteristika der sieben Persönlichkeiten ein. Er versuchte, das Problem mit Hilfe der Positronik zu klären. Auf welche Weise mochte es möglich gewesen sein, die sieben Bewusstseine in den gemeinsamen Körper zu pferchen?

Der Rechner reagierte ganz anders, als Äslinnen es sich vorgestellt hatte. Offensichtlich identifizierte die Maschine ein Wesen, das sich aus einem Körper mit sieben darin enthaltenen Persönlichkeiten zusammensetzte, nicht als einen Menschen. Die Positronik arbeitete ununterbrochen, über die Schirme huschten rätselhafte Symbole, schließlich sagte die mechanische Stimme entschieden: »Dieses Wesen ist kein Terraner, es ist auch kein Blue. Für Angehörige anderer Völker ist die Station weder eingerichtet noch betretbar. Ich habe soeben alle Systeme der Relaisstation auf Alarmzustand geschaltet.«

Hubert Kelassny: Das klingt alles andere als beruhigend, Pynther!

Pynther Äslinnen: Ich werde schon mit diesem Gerät fertig. Immerhin ist der Alarm nur gegenüber einer hypothetischen Person ausgelöst worden.

Chung Lo: Ich bin sicher, du irrst dich! Der Alarm gilt uns!

Äslinnen gab in rasender Eile ein: Lösche sämtliche Fragen! Dieses Konstrukt war rein rhetorischer Natur!

»Ich identifiziere den Körper am Programmierpult mit diesem Nicht-Terraner. Wesen anderer Völker bedeuten für die Relaisstation eine ernst zu nehmende Bedrohung.«

Dieser Körper ist ein Terraner. Die Alarmschaltung beruht auf einem Rechenfehler!

»Der Problemkreis wurde mehrmals nach verschiedenen Kriterien durchgerechnet. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Zeitgleich wurden die Verteidigungssysteme der Relaisstation aktiviert!«

Abd el Pumán: Wir müssen in die Galaxis hinausflüchten!

Chung Lo: Womit denn, du Sternenforscher?

Vanni Delgiudice: Es wird sich etwas finden.

Schlagartig erkannte Pynther Äslinnen die gesamte Tragweite des Rechenergebnisses. An irgendeiner Stelle hatte die Positronik aus einer falschen Information und mit einer falschen Berechnung diesen winzigen, aber verhängnisvollen Fehler begangen. Aus der Sicht positronischer Arbeitsweise war es kein Fehler, aber die Ergebnisse hatten aus dem anscheinend sicheren Bezirk der leeren Relaisstation ein System weitgehend unbekannter Fallen werden lassen.

»Ich glaube«, sagte Äslinnen und hoffte, dass die anderen Persönlichkeiten zuhörten, »wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir den Nachstellungen der Positronik entgehen können!«

Ein starker Impuls des gemeinsamen Verständnisses drang von allen Seiten auf ihn ein.

Zwar wusste er es nicht definitiv, doch Anlagen dieser Art begleiteten einen Alarm nicht unbedingt mit akustischen oder optischen Signalen. Die Stimme hatte die Maßnahmen deutlich genug angekündigt. SI-RS-290 verwandelte sich in eine Unzahl kleiner, möglicherweise tödlicher Sperrzonen.

Urplötzlich packte Äslinnen die Furcht. Durch den dicken Schleier des Unbehagens, der die Persönlichkeiten seit ihren ersten Kontakten umgab, drang die Erkenntnis, dass dieser einzigartige Organismus sich in tödlicher Gefahr befand. Er fragte sich, welche Chancen der Mehrfachmensch haben konnte, dem Irrtum der Positronik zu entkommen.

»Freunde«, sagte Äslinnen unruhig und verkrampft vor Nervosität und Angst, »es wird verdammt ernst. Vielleicht sind wir eine lebensuntüchtige Fehlkonstruktion, die in den nächsten Stunden ausgerottet wird. Handeln wir schnell; wir müssen fliehen!«

Chung Lo: Aber wohin? Die Station kann uns umbringen!

Pynther Äslinnen: Nötigenfalls müssen wir die Relaisstation verlassen.

Als Äslinnen den Körper aus der Zentrale hinausgehen ließ, schloss sich hinter ihm ein schweres Schott. Der Rückweg war damit versperrt.

Pynther Äslinnen kannte die Relaisstation bereits sehr gut, und er beschleunigte seine Schritte sofort. Er rannte über den weichen Bodenbelag, bis er die Treppe fand, die ihn in einen winzigen Raum brachte.

Er konnte nur hoffen, dass nicht auch diese Tür positronisch verriegelt worden war. Schließlich hatte er keine Waffe, um das Schloss gewaltsam zu öffnen.

Mit einem kräftigen Satz warf er sich vorwärts und berührte den Kontakt. Das Stahlschott glitt auf. Auch die Raumbeleuchtung funktionierte noch. Pynther Äslinnen wusste, dass es in diesem Raum eine der wenigen Chancen für ihn gab. Er wusste genau, was er zu tun hatte. Mit schnellen Griffen klappte er Verkleidungsteile der halb mannsgroßen Apparatur herunter und aktivierte die Sensorflächen. Noch schien die zentrale Positronik nicht erkannt zu haben, was geschah.

Der Hyperfunksender war nicht an das Energienetz der Station angeschlossen. Die Positronik hatte allerdings stets dafür gesorgt, dass die Speicher gefüllt waren. Pynther Äslinnen leitete die Energie auf die Sendeantenne. Er wählte eine der geläufigsten Frequenzen.

»Hier Relaisstation zweihundertneunzig!«, sagte er drängend. »Wir sind ... Ich bin in Gefahr. Die Positronik der Station ist verrückt geworden. Die Koordinaten sind ...«

Sofort übernahm Abd el Pumán die Kontrolle über den gemeinsamen Körper. »Die Koordinaten entsprechen zunächst in Grobpeilung der Sonne Soluman in der Eastside. Die augenblicklichen Bahnpunkte sind ...« Der Astronom ratterte die Datenkolonnen herunter und rechnete die Bewegung der Station auf ihrer Kreisbahn dazu. »Wir befinden uns in Gefahr durch die Station selbst. Wer immer diesen Funkspruch empfängt, wir sind in Lebensgefahr! Wir brauchen sofort Unterstützung, und wir senden, bis die Energie erschöpft ist. Ich wiederhole ...«

Pumán zog sich zurück, der Positroniker aktivierte die Endloswiederholung. Dann sprang Äslinnen auf und hastete zur Tür. Aus dem Korridor erklangen Unheil verkündende Geräusche.

Roboter!, dachte Äslinnen verzweifelt.

Er schloss die Tür hinter sich, fand jedoch keine Möglichkeit, sie von außen zu verriegeln.

Chung Lo: Wir müssen ins Magazin! Dort gibt es sicher Waffen, aber vor allem Raumanzüge. Wir werden einen brauchen, um überleben zu können!

Äslinnen huschte die Rampe abwärts. Das Summen hinter ihm war lauter geworden. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und ein Gefühl lähmender Kälte kroch die Wirbelsäule empor.

Abermals reagierte eine der Persönlichkeiten und bewies, dass der Mehrfachmensch ein größeres Überlebenspotenzial besaß, als seine sieben Einzelbewusstseine ahnten.

»Vertraut mir! Ich schaffe es. Nur muss Pynther mir sagen, wo das Magazin ist. Ich werde mit den Maschinen fertig!«, schrie Tamoe Pheuch. Seine Gedanken waren schrill, aber nichtsdestoweniger selbstbewusst.

»Einverstanden!«, sagten alle sechs.

Pheuch übernahm den Körper, als der erste Kampfroboter erschien. Ein Schuss fiel, aber wo der gleißende Strahl einschlug, befand sich der Choreograf schon nicht mehr. Der Robot hatte keineswegs mit einem Lähmstrahler, sondern mit tödlicher Energie gefeuert.

Von Panik getrieben, hetzte Tamoe Pheuch durch diesen Sektor der Station. Äslinnen dirigierte ihn in die richtige Richtung.

Erst wechselte die Farbe des Bodens, dann veränderte sich das Licht. Der Körper hatte das Arsenal erreicht, doch inmitten der Regalreihen und der vielfarbigen, in Kunststoffgespinste gehüllten Ausrüstungspakete gab es kaum einen Überblick.

Chung Lo: Ich kann euch helfen – ich übernehme!

Als Chefmechaniker kannte er Ersatzteillager besser als jedes andere seiner Mitbewusstseine. Nicht einmal eine Zehntelsekunde brauchte er, um die Herrschaft über den Körper an sich zu ziehen. Chung Lo rannte mit untrüglicher Sicherheit auf die Stelle zu, an der sich zwischen den Gerüsten aus Metall und Kunststoff massivere Elemente erhoben. Unmittelbar bevor er den gesonderten Abschnitt erreichte, erlosch die Beleuchtung.

Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, hastete Chung Lo zurück und riss eines der Pakete weiter vorne aus dem Regal. Ein schwerer Handscheinwerfer polterte zu Boden. Chung Lo fand ihn trotz der Finsternis fast augenblicklich, und dann flammte ein Strahl weißer Helligkeit auf. Sekunden später riss der Mechaniker das Waffenmagazin auf.

»Hier spricht die zentrale Positronik«, erklang es aus Lautsprecherfeldern. »Ich fordere den Fremden auf, die Station umgehend zu verlassen. Für die Dauer dieser Aktion werden die Kampfroboter neutralisiert.«

Chung Lo grinste zwar, doch seine Erleichterung war nicht von langer Dauer. Er richtete den Scheinwerfer auf die Waffen, die hier aufbewahrt waren. Eine kleine Armee konnte damit ausgerüstet werden. Schockstrahler, ungefüge Zweihandgeräte, Kombistrahler – schließlich riss der Chefmechaniker ein schweres Zweihandgerät aus den Halteklemmen und dazu einen Gürtel mit zwei kleineren Strahlern.

»Ich wiederhole! Verlassen Sie umgehend die Station! Die zentrale Positronik wünscht keine Auseinandersetzung. Ein Hangar wird auf der Ebene geöffnet, auf der Sie sich gerade befinden!«

»Ist ja schon gut«, murmelte Chung Lo und dachte an den Raumanzug. Er würde nicht mehr sein als eine Überlebenshilfe.

Pynther Äslinnen: Nicht einmal ich weiß, was diese verrückt gewordene Positronik unternehmen wird. Es wäre gefährlich, sie zu unterschätzen. Sie kann fast alles.

Die Raumanzüge befanden sich an einer anderen Stelle des Magazins. Chung Lo hastete zwischen den Regalen hindurch. Er kannte die Anzugsgröße, die dem Körper entsprach. Fauchend strömte Luft in die Vakuumversiegelung des Transportbehälters, und der Raumanzug fiel auf Chung Los Schulter, als er die Halteklammern löste. Mit fliegenden Fingern überprüfte der Mechaniker den Anzug, er fand sogar einen kleinen Antigravgürtel und schaltete ihn ein. Auf die Weise war der schwere Anzug bequemer zu transportieren. In die Beintaschen stopfte er zusätzliche Mikrotanks für Atemluft, Wasser und Konzentratnahrung, dann trat er den Rückweg an.

Vor dem Magazin warteten drei Roboter. Als Chung Lo erschien, hoben sie ihre Waffenarme, aber sie feuerten nicht.

Hubert Kelassny wusste, dass es für ihn nichts zu tun gab. Delgiudice, Fassa und er waren überflüssig, das war die Stunde der technischen Spezialisten – und vielleicht auch Tamoes, dessen Körperbeherrschung sie erst vor wenigen Minuten gerettet hatte.

Chung Lo hatte Waffen und einen Raumanzug gefunden. Abd el Pumán kannte die Koordinaten, Pynther Äslinnen kümmerte sich um die Aktionen der Positronik. Natürlich fürchtete sich jede der sieben Persönlichkeiten, die einander erst in diesem Körper kennen gelernt hatten.

Aktuell lenkte wieder Äslinnen den Körper. Er bewegte sich mit gespielter Selbstsicherheit an den wartenden Robotern vorbei, verschwand in einem schmalen Quergang und blieb in dem kleinen Raum stehen, in dem sich eines der externen Terminals befand. Er schaltete aus gutem Grund die optische Überwachung aus und sprach nicht, sondern wählte die Tastatureingabe.

Ich will die Station verlassen, schrieb er. Eine halbe Sekunde später flimmerte die Antwort auf dem Holoschirm.

Genau das habe ich soeben angeordnet.

Aber ich bin ein Wesen, das die Lebensbedingungen eines Terraners benötigt. Ich bin ein Terraner! Wie soll ich im Vakuum existieren können? Es wäre mein sofortiger Tod.

Gespannt und fast neurotisch vor Erwartung und Angst sahen und verstanden die sechs passiven Persönlichkeiten.

Sie sind kein Terraner. Ich kann Sie nicht als Menschen identifizieren!

Pynther Äslinnen war beharrlich, aber selbst als Positronikspezialist wusste er nicht, ob seine nervösen Versuche die Entwicklung aufhalten konnten. Er schrieb, fast ohne nachzudenken: Die Unzulänglichkeit der Beobachtungssysteme ist Grund für diesen Fehler der Positronik. Maschinen im Dienst des Menschen dürfen Menschen nicht verletzen! Denke an die Grundregeln! Ich sterbe, wenn du mich angreifst; ich sterbe, wenn ich die Station verlassen muss. Ich brauche deinen Rat und deine Fürsorge!

Ich kann Sie weder als Menschen noch als Terraner identifizieren. Beim Verlassen der Station erlischt meine Sorgfaltspflicht. Ich bin nicht eingerichtet, um Fremdwesen Fürsorge jeglicher Art angedeihen zu lassen! Meine Beobachtungen sind korrekt und zuverlässig!

Äslinnen spürte, dass er den begangenen Fehler niemals wieder würde rückgängig machen können. Er versuchte es auf einem anderen Weg. Ich bitte, obwohl Terraner, um Asyl bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich abgeholt werde!

Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie abgeholt werden, ist gleich null.

»Du verdammtes Stück einer Rechenmaschine«, knurrte Äslinnen in heißer Wut. »Ich werde dir zeigen, wozu wir fähig sind!«