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Aktiensturz, Börsenkrach, Bankenpleiten, Ratlosigkeit und Bestürzung bei Bankern und Anlegern. Wie man aus einer Bankenpleite mit einem entwendeten Defizit einen Millionengewinn macht, zeigt Ewger Seeliger in seinem Bestsellerroman "Peter Voß der Millionendieb". Der Chef der renommierten Privatbank Stokes & Yarker verspekuliert die ihm anvertrauten Millionen seiner Kunden. Peter Voß, sein treuer Kassierer, täuscht einen Millionenraub vor, um die Bank seines Chefs zu retten. Der Meisterdetektiv Bobby Dodd wird von der Bank beauftragt, Peter Voß, den vermeintlichen Dieb, zu jagen, in diesem Fall um die ganze Welt. Ein Lehrbeispiel für deprimierte Bankenmanager und all jene, die gerade nach den verlorenen Millionen suchen. "Peter Voß" ist das bekannteste Werk des Erfolgsautors Ewger Seeliger. Es erschien als Buch in Millionenauflage in mehreren Sprachen, kam als Musical auf die Bühne und wurde bereits fünfmal verfilmt. Ewger Seeligers witzige Story über ein entwendetes Defizit, geschrieben in den tollen zwanziger Jahren, liest sich heute aktueller denn je.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ewald Gerhard Hartmann (Ewger) Seeliger
Provokateur und Bestsellerautor des 20. Jahrhunderts, ist noch heute bekannt durch seinen Roman „Peter Voß der Millionendieb“, der in einer Millionenauflage gedruckt, fünfmal verfilmt, als Hörspiel publiziert wurde und als Musical auf die Bühne kam. Aufsehen erregte Seeliger als Humoranarchist mit seinem „Handbuch des Schwindels“. Seine Bücher waren im Dritten Reich verboten, seine erotischen Barockromane „Junker Schlörk“ und „Vielgeliebte Falsette“ wurden in der Adenauer-Ära auf den Index gesetzt.
Seeliger schrieb fast 80 Bücher. Dazu zählen schlesische Historien und Novellen, erotische Barockromane sowie Seefahrer-, Abenteuer- und Science-Fiction-Romane.
Berliner Tagesspiegel zu Seeliger: „Ein Verbosnik, Skriptomane, Meinungskolportant – sprachlicher Gewalttäter, aber Pazifist, lammfriedlich, aber Querulant.“
GÖTTIN PROSPERITÄT
MAGIE DER MANIE
BLINDE PASSAGIERE
AN UND ÜBER BORD
DER MANN OHNE NAMEN
RINGS UM DIE ALSTER
DIE STIEFVATERSTADT
PARADIES UND JAGDSCHEIN
NÄCHTLICHE ENTFÜHRUNG
FUCHS IM LOCH
ONKEL GLATT DURCHS ZIEL
VOM SANATORIUM INS SATANORIUM
DIE ROTEN IMKER
UNKEN AUF ÖL
ANTIHEROIN
DER ENTLARVTE KONTRADIEB
IMMERS FINGER
NACHWORT
Um zehn Uhr dreiunddreißig barst die riesige Clearwater-Talsperre in Idaho, und schon um elf stürzten auf der Wallstreet die Aktien der Rolley-Electric ins Bodenlose. Vierzig Prozent dieser bisher so fetten Spekulationspapiere besaß das Bankhaus Stokes & Yarker in St. Louis. Um elf Uhr siebzehn schrillte das Telefon. Peter Voß, der Generalkassierer und erster Buchhalter, nahm die New Yorker Hiobspost entgegen und platzte sofort durch die beiden Polstertüren ins Allerheiligste.
Jim Stokes, der alleinige Inhaber und Chef der Firma, saß am Schreibtisch und hatte sich soeben in den Leitartikel der Morning Post vertieft, dessen Überschrift aus den beiden neckischen Wörtern bestand: Überall Prosperität.
»Panik in Rolley-Electric!« meldete Peter Voß in atemloser Hast. »Sturz binnen fünf Minuten von vierhundertsechs auf neununddreißig. Talsperre gebrochen. Schadenersatzansprüche mindestens anderthalb Millionen. Baufirma lehnt jede Verantwortung ab. Versicherungsgesellschaft weigert sich zu zahlen.
»Aus!« röchelte Stokes, verdrehte die Augen und begann zu schlottern.
»Hab Sie oft genug gewarnt« murmelte Peter Voß und strich sich seinen dunkelblonden, Aufsehen erregenden Vollbart.
»Bin kaputt!« stöhnte Stokes, knüllte die Zeitung zusammen und schmiss sie in den Papierkorb. »Bin ruiniert!«
»Gestern noch haben Sie für fünfhundert Mille gekauft« fuhr Peter Voß missbilligend fort. »Hab sie soeben überwiesen.«
»Auch das noch!« winselte Stokes und schlug die Hände zusammen. »Jetzt sind wir blank.«
»Auf Ihre gestrige Order« nickte Peter Voß. »Und morgen sind die zwei Millionen an Patton fällig.«
»Entsetzlich!« jammerte Stokes und krampfte seine zehn langgliedrigen Finger ineinander. »Alles verloren! Die Rolley wird die Baufirma und die Baufirma wird den Zementlieferanten verklagen.«
»Und die Versicherung wird die Richter schmieren!« trumpfte Peter Voß mit der Gelassenheit eines geborenen Hamburgers auf. »Prosperität für alle. Auch die Justiz will prosperieren.«
»Luft!« keuchte Stokes, griff sich an den steifen Kragen und kam langsam hoch. »Ich ersticke – muss hinaus – werde mit Patton sprechen.«
»Telefonieren Sie vorher!« riet Peter Voß.
»Nein!« winkte Stokes heftig ab. »Er hat es nicht gern. Ist schwerhörig. Werd ihn schon treffen.«
»Hoffentlich!« sprach Peter Voß, half ihm in den Staubmantel, reichte ihm den Hut und ließ ihn zur Hintertür hinaus.
Stundenlang sauste Stokes mit seinem Packard durch die Stadt und ihre Umgebung, ohne Dick Patton, den Weizenkönig von Missouri, erwischen zu können. Es war wie verhext. Um siebzehn Uhr gab er das Rennen auf. Kurz vor Geschäftsschluss war er wieder im Office, ließ Peter Voß rufen und gestand ihm ganz erschöpft: »Hab ihn nicht getroffen. Es sollte nicht sein!«
»Sie wollen die Flinte ins Korn werfen?« fragte Peter Voß stirnrunzelnd.
»Melde morgen Konkurs an!« schnaufte Stokes wie ein tödlich verwundeter Elchbulle und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Und Sie wollen ein hundertprozentiger Amerikaner sein?« rief Peter Voß ungläubig.
»Soll ich vielleicht die Depositen angreifen?« bäumte sich Stokes auf und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, dass es knallte. »Morgen Konkurs, und übermorgen suche ich mir eine Chance als Kornumstecher bei den Elevatoren. Und ich will meinen Strohhut fressen, wenn ich in sechs Jahren nicht wieder oben bin!«
Dabei hatte er das fünfzigste Jahr bereits hinter sich. Aber er war ein verdammt zäher Yankee mit zwei echten Pioniergroßvätern, und obendrein war er ein noch zäherer Junggeselle.
»Warum sechs Jahre« versetzte Peter Voß, »wenn es sich in der Hälfte der Zeit bewerkstelligen lässt?«
»In drei Jahren?« fragte Stokes hastig und riss die Augen auf. »Wie meinen Sie das?«
»Bin der Meinung, dass sich die Rolley-Electric in drei Jahren erholt haben wird. Vielleicht schon eher. Oder zweifeln Sie daran?«
»Nicht einen Augenblick!« jammerte Stokes. »Aber ich werde nichts davon haben.«
»Alright!« lächelte Peter Voß. »Dann will ich es wagen. Zeit gewonnen, alles gewonnen! Die Katastrophe ist da, und wenn wir sie nicht umschiffen, verschlingt sie uns. Da es keinen Ausweg gibt, müssen wir einen bauen. Es ist mir inzwischen etwas eingefallen. Bitte, kommen Sie mit!«
Zwei Minuten später standen sie im Keller vor den drei kreisrunden, wuchtigen Panzertüren. Peter Voß öffnete die mittelste und trat vor die Stahlfächer.
»Bitte, schauen Sie in diesen Safe« flüsterte er wie ein Verschwörer. »Was erblicken Sie? Vier Päckchen zu je fünfhundert Tausenddollarnoten, insgesamt zwei Millionen.«
»Damn!« fluchte Stokes, bekam einen knallroten Kopf und wollte sich wie ein hungriger Alaskageier auf diesen rettenden Schatz stürzen.
»Pst!« zischelte Peter Voß und fiel ihm in den Arm. »Bleiben Sie in einiger Entfernung. Es könnte sonst der Fall eintreten, dass Sie nur den obersten Schein für echt ansehen.«
»Zum Kuckuck!« stöhnte Stokes und sank gebrochen auf den Stuhl. »Was soll der Witz?«
»Damit werde ich die Firma retten!« sprach Peter Voß ganz ruhig. Stokes lachte heiser, beinahe giftig.
»Sie werden nicht Konkurs anmelden« belehrte ihn Peter Voß, »denn Sie haben sich ja soeben fest davon überzeugt, dass in diesem Fach die zwei Millionen für Patton liegen. Wie sie da hineingekommen sind, wird morgen früh aus den von mir geführten Büchern zweifelsfrei hervorgehen. Und damit Sie nicht in die Verlegenheit kommen, Patton mit Konzeptpapier zu bezahlen, werde ich so freundlich sein, diese beiden Millionen heute Nacht zu stehlen.«
»Stehlen?« hauchte Stokes und zuckte dabei zusammen wie unter einem Wespenstich. »Stehlen? Mausen? Eine fingierte Defraudation?«
»Ich entwende das von Ihnen verursachte Defizit« nickte Peter Voß herablassend. »Mal was anderes!«
»Sie sind total durchgedreht!« knirschte Stokes. »So ein unglaublicher Schwindel!«
»Je unglaublicher der Schwindel, umso eher findet er Gläubige. Und die leichtgläubigsten aller Gläubigen sind bekanntlich die Herren Gläubiger. Börse ist angewandte Metaphysik. Einmal wird es schon herauskommen, dass nicht jeder Spekulant ein Schwindler ist. Darum freie Bahn dem Tüchtigsten! Glaube macht selig, Kredit macht seliger. Sie brauchen Kredit, um durchzuhalten. Diesen Kredit schaffe ich Ihnen durch einen einzigen kühnen Griff ins Nochnichtvorhandene. Haben Sie das verstanden?«
»Sie Himmelhund!« schnaubte Stokes und starrte ihn an wie ein Gespenst aus einer kommenden Welt. »Das ist kein Ausweg, das ist ein Blödsinn!«
»Aber was ist Blödsinn?« fragte Voß eifrig.
»Fauler Zauber! Bluff!« keuchte Stokes verdutzt.
»Sie haben die Tragweite dieser fabelhaften Fiktion noch gar nicht übersehen!« klärte ihn Peter Voß weiter auf. »Lassen Sie mich nur machen. Ich habe alles bedacht. Die Sache wird so fein eingefädelt, dass sie gar nicht schiefgehen kann. Prosperität über alles! Wollen Sie denn, dass die kleinen Spitzbuben von dem allgemeinen Gedeihen ausgeschlossen werden? Sollen wir kleinen Spitzbuben tatenlos dulden, dass die großen Spitzbuben die ganze Welt einstecken? Darum frisch voran! Jede Sekunde ist kostbar. Zeit ist Geld. Ich klaue Ihnen heute Abend diese zwei Millionen, und Sie gehen morgen früh zu Patton und erzählen es ihm.«
»Er wird es mir nicht glauben!« ächzte Stokes und verzog das Gesicht, als hätte er unerträglich bohrende Zahnschmerzen.
»Oho!« begehrte Peter Voß auf. »Er wird es wohl oder übel glauben müssen, denn Sie werden diesen Diebstahl, der keiner ist, vorher zur Anzeige bringen und mir den großen Dodd nachschicken. Meine Schwägerin Nelly schwärmt für ihn. Das sagt alles. Jetzt will sie sogar Filmdiva werden. Ich habe mich soeben vergewissert, dass er zu haben ist. Denn Dodd muss es sein!«
»Dodd!« japste Stokes außer sich. »Bobby Dodd, das Genie? Der kriegt Sie! Der kriegt Sie noch vor New York, oder ich will meinen Spazierstock schlucken.«
»Wohlsein!« rief Peter Voß. »Dodd soll sich auch mal anstrengen. Er wird mich erst kriegen, wenn ich mich kriegen lassen will. Und das wird nicht eher geschehen, bis die Rolley-Electric-Aktien wieder oben sind.«
»Nur nicht Dodd!« bettelte Stokes in den höchsten Tönen. »Nehmen Sie um Gottes willen einen andern!«
»Wie ich vermute, wird Patton auf Dodd bestehen« gab Peter Voß zu bedenken. »Und darum wird es Dodd sein müssen und kein anderer!«
»Er ist der geriebenste Junge zwischen New Orleans und Chicago!« warnte Stokes mit erhobenen Händen.
»Eben drum!« schmunzelte Peter Voß. »Gerade der geriebenste, der berühmteste, der berüchtigtste muss es sein, die allererste Kraft auf diesem so beliebten Gebiet. Ich brauche den Detektiv, dem die Presse die dicksten Überschriften und die längsten Spalten zu widmen pflegt. Ich brauche den Kerl, den alle Reporter über den grünen Klee loben, den sie verhimmeln. Auch die Zeitungen wollen prosperieren! Und warum auch nicht? Umsatz, Umsatz über alles! Und wer versteht sich wie Dodd auf die spaltenlangen Sensationen? Für einen solchen Dickzeiler lassen die Verleger ihre Reporter durchs Feuer gehen. Da sehen Sie, was er kann! Alles Bluff! Sein Ruhm ist Schwindel auf Holzpapier!«
»Well!« gab Stokes zu und wurde schon etwas gefasster. »Aber es ist Tatsache, dass er bis jetzt jeden Verbrecher erwischt hat!«
»Woher wissen Sie das?« grinste Peter Voß. »Aus den Zeitungen! Über die schweren Jungen, die er nicht gekriegt hat, schweigt er sich aus wie ein Massengrab. Wissen Sie denn nicht, dass in Amerika die Mehrzahl der Verbrecher nicht erwischt wird? Aber angenommen, er hätte sie wirklich alle gekitscht. Was geht daraus hervor? Dass diese Tröpfe ihm gegenüber eine Hemmung hatten, dass sie unter der Holzpapierhypnose standen. Alle Verbrecher sind leidenschaftliche Zeitungsleser. Auf Grund dieser Lektüre hielten sie Dodd, ihren Verfolger, für einen Zweihänder mit höheren, geheimnisvollen, annähernd göttlichen Fähigkeiten. Das machte sie unsicher. Sie ertappten sich, und schon hatte er sie am Wickel. Ich dagegen werde Ihnen beweisen, dass Bobby Dodd das Pulver ganz bestimmt nicht erfunden hat. Auch Edison ist im Mechanischen steckengeblieben. Amerika hat überhaupt noch keine wirklich genialen Menschen hervorgebracht. Vielleicht kommt das noch. Wir wollen es hoffen!«
Stokes glotzte ihn an, ließ den Unterkiefer hängen und atmete schwer.
»Dodd ist anständiger Durchschnitt« fuhr Peter Voß gelassen fort, »wie alles in Amerika. Seine Pfiffigkeit ist die eines hochgebildeten Indianerhäuptlings. Sie reicht unbedingt für die Neue, aber keineswegs für die Alte Welt. Ich gehe jede Wette ein, dass ich ihn so lange an der Nase herumführe, bis die Rolley-Aktien wieder auf vierhundertsechs geklettert sind. Denn ich stehe im Gegensatz zu Ihnen und zu Patton nicht unter der Zeitungshypnose. Und eben deshalb muss es Bobby Dodd sein, dieser berühmteste aller Detektive. Mit seiner unfreiwilligen Hilfe werde ich die Firma Stokes & Parker retten, oder ich will nicht länger Peter Voß heißen.«
»Das wollen Sie für mich tun?« rief Stokes außer sich, sprang auf und packte ihn bei den Schultern.
»Für Sie wie für mich« erwiderte Peter Voß und strich sich durch das strenglockige Haar. »Sie haben mich vor zwei Jahren drüben auf der St.-Louis-Bridge festgehalten, als ich in den Mississippi springen wollte. Sie haben sich von mir zwei saftige Ohrfeigen eingesteckt und doch nicht losgelassen. Ohne Sie hätte ich heute ein toter Mann zu sein. Und das wäre mir höchst unangenehm, besonders da ich seit acht Wochen sehr glücklich verheiratet bin.«
»Aber Dick Patton?« seufzte Stokes krampfhaft.
»Wenn er überzeugt ist, dass ich Ihnen das Geld wirklich gestohlen habe« tröstete ihn Peter Voß, »dann wird er Ihnen Stundung gewähren, bis ich erwischt bin. Solange er noch Hoffnung hat, die zwei Millionen hereinzubekommen, muss er Stokes & Yarker halten, sonst wäre er ein schlechter Kaufmann, und das ist er nicht. Wenn Sie aber morgen zu ihm gehen und ihm die Wahrheit gestehen, wird er Sie ohne Gnade und Barmherzigkeit fallenlassen und froh sein, acht bis zehn Prozent aus dem Konkurs zu sichern. Die Welt will betrogen sein. Warum denn auch soll sie sich nicht betrügen lassen, wenn es auf eine so freundliche Art und Weise geschieht, wie hier in diesem Falle, wo keiner geschädigt wird und alle gewinnen müssen. Denn das allein scheint mir die ganz richtige Prosperität zu sein.«
»Aber Bobby Dodd!« warf Stokes ein, schon halb gewonnen für diesen mehr als abenteuerlichen Plan. »Sie unterschätzen ihn wirklich.«
»Und Sie unterschätzen mich!« widersprach Peter Voß. »Dodd hat bei seinen bisherigen Verbrecherjagden auf der Gegenseite immer eitlen vortrefflichen Bundesgenossen gehabt, nämlich das böse Gewissen. Bei mir fehlt es vollständig. Ich besitze sogar Überfluss vom Gegenteil.«
»Stimmt!« nickte Stokes aufatmend. »Ich kenne Sie durch und durch.«
»Sie kennen mich noch lange nicht« versetzte Peter Voß keck, »aber Sie sollen mich sofort kennenlernen, nur damit Sie einsehen, dass ich mich vor einem Dutzend Dodds nicht zu fürchten brauche. Bin in der ganzen Welt herumgekommen und mit allen Hunden gehetzt, obschon ich ganz gewöhnlich aussehe. Mit meiner Allerweltsnase kann ich in jede Maske hineinkriechen. Auch Schauspieler bin ich schon einmal gewesen, aushilfsweise zwischen Odessa und Budapest. Bis zu meinem dritten Jahr lebte ich in Hamburg, wo mein Vater Medizinalbeamter war. Im Cholerajahr verlor ich meine Eltern. Dann kam ich nach Strienau in Schlesien, wo mein einziger Ohm amtsrichterte. Mit seinen Erziehungsgrundsätzen war ich nicht ganz einverstanden. Anstatt in die Obersekunda zu gehen, brannte ich durch, kam nach Hamburg, kroch in den Bunker eines englischen Trampdampfers und erschien drei Tage später an Deck. Erst gab‘s ganz dicke Luft, dann was zu essen. Fünfzehn Jahre bin ich in allen fünf Erdteilen unterwegs gewesen, als Stiefelputzer und Kameltreiber, als Kellner und Monteur, als Reporter und Erntearbeiter, als Holzfäller und Tramp. In Shanghai war ich Trambahnkutscher, in Los Angeles Petroleumbohrer und Realitätenagent. Das kommt gleich hinterm Pferdestehlen. In Quebec hab ich Schnee geschaufelt, und in Detroit hab ich bei Henry Ford am laufenden Band gearbeitet. Schön ist was anderes! In Michigan hab ich Whisky geschmuggelt, und in Chicago hab ich mich als Prohibitionsbeamter versucht. In Frisco bin ich Sekteneinpeitscher gewesen, und in New Orleans bin ich als Sandwichman herumgelaufen. Zwischendurch war ich immer wieder auf See, einmal sogar an der chinesischen Küste als Zahlmeister. So kommt man allmählich in die Jahre. Während des Krieges hab ich mich in China herumgetrieben. Dann hab' ich mir Sibirien und Russland angesehen. Auch eine hübsche Gegend! Ich bin sozusagen die Menschheit, denn ich bin in der Alten wie in der Neuen Welt zu Hause. In Rio hab ich als Hotelportier gewirkt, und in Monte Carlo hab ich in einer Nacht meine ganzen Ersparnisse verspielt. An die zwanzigtausend Dollar! Und so kam ich schließlich auf die St.-Louis-Bridge.«
»Aber wie kamen Sie dahin?« rief Stokes bestürzt. »Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten und Ihren Sprachkenntnissen?«
»Lediglich durch die Liebe« gestand Peter Voß und räusperte sich herzhaft und männlich. »Damals wollte Polly durchaus nichts von mir wissen. Erst als ich zum Kassierer aufrückte, ließ sie sich erweichen.«
»Und wenn er Sie trotzdem erwischt?« seufzte Stokes.
»Dann werd ich die erste Gelegenheit ergreifen« erwiderte Peter Voß kaltblütig, »um ihm wieder auszukneifen.«
»Aber den Zufall haben Sie nicht in der Gewalt!« warnte Stokes.
»Er ihn auch nicht!« lachte Peter Voß. »Was ist übrigens Zufall?«
»Wenn ich das wüsste« knurrte Stokes verbissen, »dann hätt ich gestern die Rolley-Aktien abgestoßen. Aber wenn er Sie per Zufall erwischt und hierherbringt? Dann kommen Sie vor den Strafrichter!«
»Das ist mir nichts Neues« grinste Peter Voß.
»Sie sind vorbestraft?«
»Aber unschuldig. Diese Paragraphenböcke wollen doch auch leben.«
»Und ich werde dann als Betrüger entlarvt!« stöhnte Stokes.
»Nur keine Angst!« beruhigte ihn Peter Voß. »Diesen ganzen Komplex nehme ich auf meine Rechnung. Kommt es heraus, dann hin ich es ganz allein gewesen. Ich muss auf jeden Fall meinen dicken Kopf durchsetzen! Und wenn Sie mir dann den frechsten Anwalt besorgen, rechne ich sogar auf einen Freispruch mit Tränen der Rührung im Zuhörerraum. Sentimentalität ist noch immer Trumpf am Mississippi. Also schlagen Sie ein!«
»Hol mich der Satan!« stieß Stokes heraus und schlug ein. »Sie sind ein ganz verfluchter Kerl. Ihr Deutschen seid uns Yankees über.«
»Aber nur in den Künsten des Friedens!«
»Ihr habt etwas, was uns fehlt.«
»Vielleicht etwas mehr Fantasie?«
»Was ist Fantasie?«
»Theoretische Metaphysik« schmunzelte Peter Voß. »Was sonst?«
»Well!« rief Stokes entschlossen und schüttelte ihm die Hand, dass die Knochen knackten. »Wenn Sie Ihren Kopf für mich in die Schlinge stecken, dann will ich nicht hinter Ihnen zurückstehen. Alright! Ich engagiere Dodd und werde Patton breitreden wie einen Pfannkuchen.«
»Großartig!« nickte Peter Voß und klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken. »So gefallen Sie mir! Drehen wir das Ding zusammen! In zwei Jahren haben wir die Firma saniert. Dann steht die neue Talsperre, und ich bringe Ihnen als reuevolles Schaf die zwei Millionen zurück.«
»He?« rief Stokes und schnappte nach Luft. »Wozu das?«
»Na!« meinte Peter Voß und tippte sich an die Stirn. »Meinen Sie, ich will auch nur eine Minute länger als Millionendieb in der Welt herumsausen, als es unbedingt nötig ist? Im Gegenteil, ich will rehabilitiert werden von der öffentlichen Meinung. Das kann ich wohl verlangen, wo ich mich wie kein anderer um die allerhöchste U.S.A.-Göttin Prosperität bemüht habe! Ich bringe das Geld zurück und trete vor die Richter. Wenn sie mich auch nicht in der ersten Instanz freisprechen, so bin ich doch eine Woche lang der Held des Tages.«
»Aber dann kommt ja der Schwindel heraus« wimmerte Stokes verzweifelt.
»Das soll er doch gerade!« trumpfte Peter Voß drein. »Ich bin Ihre rechte Hand, Sie haben mir vertraut. Mein Schwindel kommt heraus, nicht der Ihre! Ich habe etwas windschiefe Bilanzen gemacht. Ich habe auf eigene Faust für die Firma spekuliert, habe Pech gehabt, habe fantastische Eintragungen gemacht. Ich gestehe das vor Gericht ein. Ich gebe zu, dass ich Ihnen mit diesen zwei Millionen einen blauen Dunst vorgemacht habe, um Sie, meinen Lebensretter, zu retten. Damit breche ich jeden Kassiererrekord. Alles für die Firma! Schwurgerichtsreklame ist die beste Propaganda! Ich lasse mich als den allertreuesten Bankkassierer der Ober- und Unterwelt durch alle Spalten schleifen. Ich habe keine Angst vor der Druckerschwärze. Ich bleibe der, der ich bin und war, auch wenn ich mich der Form wegen auf ein paar Wochen ins Gefängnis zurückziehen müsste.«
»Voß!« keuchte Stokes erschüttert. »Voß, in Gottes Namen, ich gebe mich in Ihre Hände! Tun Sie, was Sie wollen. Treue um Treue! Ich bin mit allem einverstanden. Das eine aber sage ich Ihnen: Besteht die Firma noch in zwei Jahren, dann wird sie heißen: Voß, Stokes Yarker.«
»Topp!« rief Peter Voß und schloss die Panzertür.
Dann verließen sie das Gewölbe. Das Office war leer. Gleichzeitig schauten sie nach der Uhr.
»Gehen Sie jetzt in den Klub!« schlug Peter Voß vor. »Vielleicht treffen Sie Patton. Sie könnten ihn etwas vorbereiten. Aber Vorsicht! Indessen werde ich die Bücher berichtigen. Nach dem Klub kommen Sie noch einmal hierher, um den Alarmapparat zu kontrollieren. Denn wenn ich erst mit meiner Beute das Lokal verlassen habe, hin ich für Sie nicht mehr zu sprechen.«
»Um wieviel Uhr?« flüsterte Stokes erregt.
»Nicht nach dreiundzwanzig.«
»Wohin wollen Sie?«
»Zuerst nach Deutschland. Hab etwas Heimweh. Möchte meinem Onkel wieder einmal guten Tag sagen. Am Ende ist er schon preußischer Justizminister. Denn gestrebt hat er immer, und der Verbrauch in dieser allerhöchsten Branche ist zurzeit geradezu beängstigend.« Hier schlug er sich plötzlich mit der flachen Hand an die Stirn und rief »Herrgott, noch eins! Und das ist das Wichtigste! Ich bin ja verheiratet! Polly!«
»Sie wollen doch nicht Ihre Frau mitnehmen?« ächzte Stokes zitternd.
»Keine Sorge« murmelte Peter Voß. »Sie weiß von nichts. Sie müssen sie einweihen. Aber erst morgen, wenn ich fort bin.«
»Wag ich nicht!« zuckte Stokes zurück. »Wenn sie Lärm schlägt!«
»Wird sie sicherlich« nickte Peter Voß. »Aber ich will Ihnen keine Vorschriften machen. Handeln Sie in diesem Punkte ganz nach Belieben.«
»Ich werde ihr sagen« schlug Stokes vor, »dass Sie plötzlich verrückt geworden sein müssen.«
»Verdammt starker Tabak!« seufzte Peter Voß. »Arme Polly! Aber plausibel! Für den Anfang genügt es. Allmählich werden Sie ihr doch wohl reinen Wein einschenken müssen. Sonst hält sie mich am Ende gar für einen richtigen Millionendieb, und das wäre mir schon aus dem Grund höchst unangenehm, weil ich sie so bald als möglich nachkommen lassen möchte. Vor allen Dingen größte Vorsicht! Nichts schriftlich und nichts durchs Telefon.«
Dann langte er nach dem Hauptbuch und schlug es auf.
Zwanzig Minuten später trat Stokes in den Excelsior Club. Hier saßen Dick Patton, Reginald Splarks, der Zuckerdiktator, und Merryman Peacock, der Subdirektor des Nikotintrustes, an einem runden Tisch und winkten mit den Pokerkarten. Stokes nahm Platz und spielte sehr vorsichtig.
»Er hat keinen Mut!« schnaufte Patton anstachelnd.
»Hab morgen früh zwei Mille zu zahlen« murmelte Stokes dagegen. »So was greift an. Hab sie eben mit meinem Kassierer zusammen nachgezählt und in den Safe gepackt.«
»Hätten Sie die Kleinigkeit nur gleich mitgebracht!« scherzte Patton, der heute eine besonders gute Laune hatte, weil es ihm soeben gelungen war, eine Farmergenossenschaft ganz empfindlich übers Ohr zu hauen.
»Ich pflege niemals vor dem Termin zu zahlen« erklärte Stokes feierlich. »Was sagen Sie übrigens zu dem katastrophalen Sturz der Rolley-Aktien? Gott sei Dank, dass ich keine mehr habe!«
»Schöne Gelegenheit, auf Baisse zu spekulieren!« lachte Patton großspurig.
»Ich halte!« rief Peacock, und Splarks fügte drohend hinzu: »Wer noch einmal von Geschäften spricht, zahlt hundert Dollar in die Pinke!«
So pokerten sie bis nach zweiundzwanzig Uhr. Patton gewann immerfort, und Stokes verdarb ihm diese kleine Freude nicht.
Als er kurz vor dreiundzwanzig Uhr ins Office trat, war Peter Voß schon reisefertig und fluchtbereit.
»Klarer Kopf und kaltes Blut« flüsterte er Stokes ins Ohr. »Und fallen Sie nicht aus der Rolle. Morgen um neun werden Sie den Diebstahl entdecken und Bobby Dodd anrufen. Dann fahren Sie zu Patton. Haben Sie ihn getroffen?«
»Ich denke, er wird mit sich reden lassen« murmelte Stokes aufgeregt.
»Ausgezeichnet!« fuhr Peter Voß fort. »Sind Sie mit Patton im Reinen, dann fahren Sie hinaus zu Polly. Fallen Sie aber nicht mit der Tür ins Haus, sondern bringen sie es ihr so schonend wie möglich bei. Und nun fort mit Ihnen! Wenn Sie den Wächter treffen, geben Sie ihm ein Trinkgeld. Es kann nichts schaden, wenn er mich hier herauskommen sieht. Umso glaubwürdiger wird die Geschichte. Sie haben mich natürlich hier nicht angetroffen. Offiziell tauche ich erst kurz nach Ihnen auf.«
Damit schob er ihn zur Tür.
»Alles Glück« sprach Stokes mit wankender Stimme, dann kontrollierte er den Lärmapparat und verschwand, wobei er alle Schlösser zusperrte.
Langsam fuhr er mit seinem Wagen um die Ecke in die stille Nebenstraße hinein. Hier traf er den Wächter der Schließgesellschaft, hielt an, drückte ihm einen Dollar in die Hand und hob wortlos den Zeigefinger. Der brave Mann verstand diese Geste, grüßte dankend und stiefelte die Straße hinunter und um die Ecke. Vor dem Bankhaus Stokes & Yarker nahm er Aufstellung. Um dreiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig musste er hier die Kontrolluhr stechen.
Um dreiundzwanzig Uhr sechzehn erklangen drinnen einige Schlösser, die Pforte sprang auf, und der tugendhafte, wohldisziplinierte Antiräuber griff zu.
»Hallo!« lachte der vermeintliche Verbrecher und stieß ihn mit einer kleinen braunen Handtasche vor den Bauch. »Was fällt Euch ein? Seht Euch doch erst die Leute an!«
»Mr. Voß!« stammelte der Wächter höchst verdutzt und löste den Klammergriff. »Bitte, die Übereilung zu entschuldigen.«
»Mit Vergnügen, guter Freund!« lachte Peter Voß und gab ihm zur Belohnung eine Zigarette. »Ihr habt nur Eure Pflicht getan.«
»Darf ich Ihnen behilflich sein?« fragte der Wächter diensteifrig.
»Wenn es Eure Instruktion gestattet« nickte Peter Voß, überließ ihm die Handtasche und steckte sich eine Zigarre an.
Im nächsten Augenblick tauchte ein gelbes Mietauto auf, Fabrikmarke Nash. Es hatte die Nummer 11177.
»Eine hübsche Nummer!« rief Peter Voß und winkte.
Der Wagen hielt, der Wächter öffnete den Schlag und reichte Peter Voß die Handtasche hinein.
»Haben Sie auch genug Benzin?« fragte er.
»Komm eben von der Tankstelle« erwiderte der Chauffeur.
»St.-Louis-Bridge!« kommandierte Peter Voß wie ein General vor der Entscheidungsschlacht und griff an den Hutrand, um sich von dem Wächter zu verabschieden.
Andächtig lüftete dieser urbrave Mittelstaatler die Mütze. Gleich darauf sauste der Wagen um die Ecke. Das letzte, was der Wächter sah, war die hell erleuchtete Nummer.
»Hundertelf siebenundsiebzig« sprach er zu sich selbst. »Das ist wirklich eine sehr hübsche Nummer.«
Dann zückte er seinen Schlüsselbund im Namen der allerhöchsten, jungfräulichen, panzergeschützten U.S.A.-Göttin Prosperität.
Am nächsten Morgen klingelte Stokes um neun Uhr zweiundzwanzig nach Peter Voß. Sein Platz war leer. James Green, der zweite Kassierer und Prokurist ohne Prokura, stürmte durch die Polstertüren.
»Mr. Voß noch nicht da!« meldete er eifrigst. »Seine Frau hat schon dreimal angerufen. Er scheint diese Nacht nicht nach Hause gekommen zu sein.«
»Soso« sprach Stokes gedehnt und runzelte die Brauen. »Holen Sie die zwei Mille für Patton herauf. Vier Pakete in gelbem Papier. Hier sind die Schlüssel!«
Green verschwand so beflissen wie ein gesetzlich geschützter Yellowstone-Ohrwurm. Zwei Minuten später tauchte er mit allen Zeichen des Entsetzens wieder auf.
»Nichts da!« stotterte er schlotternd. »Alles leer.«
»Leer?« grollte Stokes. »Leer? Mensch, Sie sind wohl verrückt geworden?«
»Durchgebrannt!« hauchte Green unwillkürlich.
»Was faseln Sie da?« schnauzte Stokes fuchsteufelswild.
»Voß durchgebrannt« lallte Green, und seine Knie bebten.
Stokes raste hinunter ins Gewölbe, warf einen durchbohrenden Blick auf die leeren Fächer, walkte sich wie ein Rasender die Glatze und begann plötzlich aus Leibeskräften zu brüllen, dass es schaurig durch die beiden Stockwerke der Firma hallte: »Um Gottes willen! Bin beraubt worden! Zwei Millionen gestohlen! Hilfe! Hilfe! Haltet den Dieb!«
Da er diese Szene schon mehrmals in Filmen gesehen hatte, gelang sie ihm ausgezeichnet. Das Personal lief zusammen und umstand hingerissen, ratlos und gefühlvoll den Chef. Dem Kontorstift traten sogar vor Schauder und Ehrfurcht die Haare zu Berge.
»Polizei!« winselte Stokes. »Bobby Dodd. Zahle ihm jedes Honorar, wenn er ihn erwischt.«
Dann wurde er schwach. Ein Glas Wasser brachte ihn wieder zu sich. Inzwischen telefonierte Green wie ein Tobsüchtiger nach allen Seiten. Zuerst schoss der Reporter der Morning Post herein. Kaum war er abgefertigt, erschien der Wächter der Schließgesellschaft.
»Mr. Voß!« brüllte er schon in der Tür. »Um dreiundzwanzig Uhr neunzehn ist er hier gewesen. Hab ihm die Tasche ins Auto gereicht.«
»Die Millionentasche!« keuchte Stokes und betrommelte sich mit beiden Fäusten die schweißtriefende Stirn.
»Nummer hundertelf siebenundsiebzig!« berichtete der Wächter weiter.
»Ein Wahnsinniger!« ächzte Stokes, schluchzte dreimal, dass sich dem Stift das Herz kreuzweis im Leibe herumdrehte, und lachte dann wie ein Verrückter.
»Lieber Gott, wenn er nur nicht überschnappt!« betete Green als frommer Quäker.
Aber Stokes kehrte zur Vernunft zurück, nachdem er aus medizinischen Gründen einen tüchtigen Schluck Whisky zu sich genommen hatte.
»Warten Sie hier auf die Polizei!« befahl er dem Wächter und wandte sich dann an Green. »Sie fahren sofort zu Mr. Patton und teilen ihm unter vier Augen mit, dass er erst dann auf Zahlung rechnen kann, wenn der Dieb erwischt ist. Sobald das Protokoll aufgenommen ist, werde ich selbst zu ihm kommen.«
Green sauste ab. Stokes ließ sich wie zerschmettert in den Lederfauteuil fallen und schüttelte sein kahles Haupt, als verstände er die Welt nicht mehr. So fanden ihn die beiden Polizisten, die den Tatbestand aufnehmen wollten. Der Wächter machte seine Aussagen. Der Missetatort wurde genau untersucht. Das Protokoll wurde immer länger.
»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?« fragte der eine Polizist. »Voß!« murmelte Stokes mit Widerstreben. »Mein Generalkassierer!«
»Wie gewöhnlich!« bemerkte der andere Polizist weise.
In diesem Augenblick erschien Bobby Dodd. Er sah ebenso smart wie harmlos aus. Die beiden Polizisten begrüßten ihren weltberühmten Zivilkollegen mit überaus vorzüglicher Hochachtung. Er prüfte das Protokoll, forschte den Wächter aus, besah sich das erleichterte Stahlfach, untersuchte Kladde, Kassenjournal und Hauptbuch, fand nichts daran auszusetzen und schnitt sich aus der Kladde einige besonders wohlgelungene Fingerabdrücke heraus. Dann wandte er sich an Stokes.
»Sie sind der Chef der bestohlenen Firma. Sie haben mich rufen lassen. Die Sache interessiert mich brennend. Hier ist der Kontrakt.«
Damit zog er ein umfangreiches Formular mit dreiundvierzig Paragrafen aus der Brusttasche.
»Danke« murmelte Stokes. »Und Sie werden ihn kriegen?«
»Kleinigkeit« lächelte Dodd herablassend. »Ein Amateurspitzbube. Keine Praxis! In solchen Fällen ist das Honorar fällig, wenn ich den Dieb erwischt habe. Paragraf siebzehn.«
»Sehr kulant!« erwiderte Stokes. »Es ist mir aber weniger um den Dieb als um das Geld zu tun.«
»Er wird es nicht gestohlen haben, um es in den Mississippi zu werfen« beruhigte ihn Dodd. »Ich bringe Ihnen natürlich den Dieb und das Geld. Wie viel Prozent wollen Sie mir als Honorar bewilligen?«
»Von der entwendeten Summe?« fragte Stokes lauernd. »Was beanspruchen Sie?«
»Zehn Prozent!« schlug Dodd vor.
»Gemacht!« rief Stokes, füllte die Lücken des Kontraktes aus und unterschrieb. »Sie sehen, ich bin kein Knicker.«
Die Polizisten schlossen das Protokoll ab. Dodd aber fragte das Personal aus, ließ sich Pollys Adresse geben und zog dann aus der Tasche einen Zirkel. Damit schritt er zur Karte der Vereinigten Staaten, die an der Wand hing, maß eine bestimmte Kilometerentfernung ab und schlug einen Kreis mit dem Zentrum St. Louis.
»Diese Linie muss der Wagen 11177 bei Tagesanbruch erreicht haben« belehrte er die beiden Polizisten. »Dass der Defraudant die St.-Louis-Bridge als erstes Ziel angegeben hat, ist nur ein Trick von ihm, um uns irrezuführen.«
Während die beiden Beamten, die von der Kreislinie berührten Städte notierten, telefonierte Dodd mit dem Leiter der Kriminalabteilung und erbat alle weiteren Nachrichten an Pollys Adresse. Dann klingelte er einige Reporter an und diktierte ihnen die Hauptpunkte pressegerecht in die Feder.
Kaum waren die Polizisten fort, kehrte Green zurück. Stokes empfahl sich hastig, und Dodd ließ sich mit Polly verbinden, die er den Reportern schlauerweise unterschlagen hatte.
»Hier Robert Dodd, der bekannte Detektiv!« flötete er mit zärtlicher Betonung ins Telefon. »Sie vermissen seit gestern Abend Ihren Gatten. Er steht leider unter dem dringenden Verdacht, diese Nacht der Firma Stokes & Yarker zwei Millionen Dollar entwendet und damit das Weite gesucht zu haben.«
Polly schrie auf und fiel ein wenig in Ohnmacht.
Inzwischen war Stokes zu Patton gelangt.
»Stokes! Stokes!« schnaubte der Weizenkönig und wankte mit wuchtigen Schritten auf ihn zu. »Das ist ja eine ganz verfluchte Geschichte! Was machen wir nun?«
»Ich?« hauchte Stokes gebrochen. »Ich mache Bankrott.«
»Was?« schrie Patton und packte ihn am obersten Westenknopf. »Und meine zwei Millionen? Ich brauche sie! Ich habe damit gerechnet!«
»Tut mir ganz entsetzlich leid!« seufzte Stokes achselzuckend. »Wenden Sie sich an den, der sie hat. Gegen durchgehende Kassierer gibt es keine Versicherung. Kann Ihnen auch jeden Tag passieren.«
»Himmelherrgott!« stöhnte Patton. »Setzen wir uns. Sie werden nicht Bankrott machen. Werde Ihnen die Zahlung stunden, bis der Schurke erwischt ist. Stelle aber die Bedingung, dass Sie ihm Bobby Dodd auf die Fährte setzen.«
»Bereits geschehen.«
»Well, er wird ihn geschwind haben, und Sie werden dann zahlen.« »Wenn das Geld zur Stelle ist.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Sagen Sie! Und wenn er ihn nicht kriegt?«
»Ausgeschlossen!«
»Alles schon dagewesen!« warf Stokes sehr mürrisch ein.
»Mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Beteiligen Sie mich mit fünfzig Prozent an Ihrer Firma.«
»Werde doch lieber Konkurs anmelden« murmelte Stokes verstockt. »Es ist viel einfacher. Den Schlag überwinde ich nicht. Die verfluchte Prosperität! Überall Spitzbuben! Und die Treue, sie ist tatsächlich ein leerer Wahn.«
»Stokes, Kopf hoch!« rief Patton im großen Salbungston der Christian Science und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wollen Sie, dass ich meine zwei Millionen verliere? Na also! So dicke hab ich sie nicht sitzen. Lasse Sie nicht fallen! Sie werden sich schon durchbeißen! Sagen wir vierzig Prozent.«
»Nicht mal dreißig« seufzte Stokes und verdrückte eine echte Träne.
Dann machten sie einen Vertrag, wonach Patton zwei Millionen in die Firma Stokes & Yarker einbrachte und dafür als stiller Teilhaber mit fünfundzwanzig Prozent am Reingewinn partizipierte.
Inzwischen war Dodd zu Polly hinausgefahren, die in einer reizenden kleinen, hochmodernen Etage vor dem Carondelet-Park wohnte.
Sie hatte mittlerweile mit Green telefoniert und empfing den Detektiv ziemlich gefasst, wenn auch mit nassen Lidern und zuckenden Lippen. Ihre außerordentliche Schönheit entzückte ihn. Er fing sofort Feuer.
»Dodd!« stellte er sich vor, wobei er errötete, was ihm sehr gutstand, denn er war etwas bleich.
»Er hat es nicht getan!« schluchzte sie. »Ich kann jeden Eid darauf leisten!«
»Das wird wenig helfen« versetzte er. »Haben Sie keine Spur von Geistesgestörtheit bemerkt?«
»Bei Pete?« fuhr sie auf und starrte ihn ganz entsetzt an.
»Er war in der letzten Zeit furchtbar nervös im Geschäft. Sie werden es wohl, ja gewiss, bestätigen können. Es wäre sehr wünschenswert für ihn.«
»Ach Gott! Ja, ja!« nickte sie unter strömenden Tränen. »Ich kann es bestätigen.«
»Es ist mir um die Herbeischaffung des Geldes, nicht um seine Bestrafung zu tun« versuchte er sie zu trösten. »Ich mache Ihnen deshalb folgenden Vorschlag: Sie verbünden sich mit mir zu dem Zweck, den so plötzlich Verschwundenen zu finden. Wir werden ihn dann, wenn wir ihn erst haben, zur Herausgabe des Geldes überreden. Dann kommt er auf einige Wochen ins Sanatorium, wo Sie ihn gesundpflegen können. Hat er die Tat in einem Anfall von Geistesverwirrung getan, so wird das Verfahren sofort niedergeschlagen. Ich werde mich dafür einsetzen, gnädige Frau, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Er war in den letzten Wochen immer so zerstreut« bemerkte sie kleinlaut.
»Aha!« atmete er sehr wohlwollend auf. »Ganz ausgezeichnet! Zerstreutheit ist immer das erste Anzeichen von Schizophrenie. In diesem Zustand begeht der Kranke Handlungen, für die er nicht verantwortlich gemacht werden kann. Nur wenn er das Geld nicht herausgibt, ist Gefahr vorhanden.«
»Oh!« rief sie hastig. »Wenn ich ihn darum bitte, wird er es schon herausgeben. Er hat mir noch niemals etwas abgeschlagen.«
»Das kann ich verstehen« sprach Dodd hingerissen und küsste ihr respektvoll die Hand. »Jetzt begreife ich seine Tat voll und ganz!«
»Für mich?« fragte sie hastig und setzte ihren reizenden Zeigefinger mitten auf ihre Brust.
»Oh, wenn Sie meine Frau wären« verschwor er sich. »Jeden Tag würde ich einige Millionen stehlen.«
»Aber mein Herr!« sprach sie entrüstet und erhob sich wie eine gekränkte Königin.
»Verzeihung!« entschuldigte er sich. »Das war eine Entgleisung, aber es ist die Wahrheit. Sie sind das entzückendste Geschöpf zwischen New York und Hollywood.«
»Ich wünsche von Ihnen keine Schmeicheleien zu hören!« rief sie empört. »Niemals wieder! Kommen wir zur Sache!«
Damit setzte sie sich und griff zu Spiegel und Puderdose, um sich wieder in die von der Göttin Prosperität vorgeschriebene Form zu bringen.
»Alright!« lenkte er gehorsamst ein. »Sie nehmen meinen Vorschlag an?«
»Obschon er auf Eigennutz beruht!« wies sie ihn zurecht. »Sie rechnen auf meine Personalkenntnisse. Ersparen Sie sich alle Erklärungen! Ich bin vollkommen im Bilde. Und ich will Ihnen nur gestehen, dass ich Ihnen nicht über den Weg traue.«
»Noch niemals ist ein Mensch so verkannt worden!« seufzte er und faltete die Hände mit baptistischer Inbrunst.
»Ich nehme Ihre Offerte an« sprach sie fest. »Aber ich werde die Augen offenhalten. Merke ich nur das Allergeringste, dass Sie mich hinters Licht führen wollen, dann werden Sie selber hinters Licht geführt werden! Ich halte treu und fest zu meinem Gatten, und wenn er hundert Millionen gestohlen hätte.«
»Gut!« nickte Dodd und schluckte dreimal. »Zunächst brauche ich eine Fotografie.«
Sie holte eine herbei, warf sich dann auf den Diwan und schluchzte herzzerreißend: »O Pete, Pete, dass du mir das antun konntest. Nennst du das Liebe?«
Dodd betrachtete das Bild.
»Er trägt einen Vollbart?« fragte er verblüfft.
»Auf meinen Wunsch!« rief sie stolz.
»Merkwürdig« murmelte er. »Aber Sie werden ihn sicher auch ohne Bart erkennen.«
»Unter Millionen!« rief sie und lief zur Tür, da es geschellt hatte. Draußen stand einer der beiden Polizisten, Polly prallte zurück. »Sind Sie Mrs. Voß?« fragte er. »Ihr Telefon ist defekt.«
»O nein!« rief sie schnell und brachte es in Ordnung. »Ich habe nur einzuhängen vergessen.«
Dodd trat aus dem Zimmer.
»Das Auto 11177 ist vor genau zwei Stunden in Louisville gesehen worden« meldete der Beamte.
»Also doch New York!« rief Dodd überrascht.
»Es wird gegen Mittag in Cincinnati erwartet« fuhr der Polizist fort.
»Nicht verhaften!« rief Polly außer sich.
»Ganz meine Meinung!« stimmte Dodd bei. »Der Mann ist nicht normal. Er darf nicht erschreckt werden. Sonst kommen die zwei Millionen in Gefahr. Der Mann soll beobachtet, aber nicht verfolgt werden. Telefonieren Sie sofort an Webster & Son. Dort steht mein Rolls-Royce. Er soll sofort mit beiden Chauffeuren hierherkommen. Jede Minute ist kostbar.«
Der Polizist sprang ans Telefon.
»In wie viel Minuten können Sie reisefertig sein, gnädige Frau?« wandte sich Dodd an Polly.
»Sofort!« antwortete sie und verschwand im Nebenzimmer.
Inzwischen durchsuchte Dodd den Schreibtisch. Ach, wie verstand er zu suchen! Und er hatte Glück. Er fand eine Fahrlizenz des Flüchtlings mit Signalement. Schnell warf er einige Bleistiftzeilen auf ein Papier und drückte beides dem Polizisten in die Hand.
»Das ist der Steckbrief!« flüsterte er ihm zu. »Schnell fort damit! Die Fotografie verwirrt nur. Er hat sich sicher den Bart abnehmen lassen. Keinesfalls verhaften! Ich werde die Verfolgung mit Hilfe der Frau aufnehmen.«
Kaum war der erste Polizist fort, platzte der zweite herein und meldete: »Der Millionendieb ist um sieben Uhr in Louisville vor dem Bristolhotel abgestiegen und hat dort gefrühstückt. Er trägt einen dunkelblonden Vollbart.«
»Nicht möglich!« staunte Dodd. »Ein Schwerkranker! Ein Maniker! Wir müssen auf alles gefasst sein. Nur keine Gewalt! Wie leicht kann ihn bei der Verhaftung der Schlag treffen, und dann sind die zwei Millionen futsch. Die Sache muss mit der größten Vorsicht gemanagt werden. Sagen Sie das dem Inspektor.«
Auch der zweite Beamte verschwand. Dodd ging wieder ins Zimmer zurück und schaute zum Fenster hinaus. Ein Packard flitzte aus dem Park heraus und hielt vor dem Hause. Als sich Dodd umwandte, fiel sein Blick auf die Fotografie.
»Verdammt!« fluchte er. »Er trägt ja noch den Bart.«
Gerade wollte er zum Telefon eilen, da schellte es wieder an der Tür. Draußen stand Stokes.
»Sie sind hier?« fragte er ganz verdutzt.
»Und Sie kommen wie gerufen!« sprach Dodd und drückte ihm die Fotografie in die Hand. »Bringen Sie das Bild sofort ins Polizeioffice, damit der Steckbrief nicht ohne Klischee hinausgeht. Die ersten dreitausend sollen luftexpress nach New York gehen.«
»New York« stotterte Stokes.
»Eilen Sie!« knurrte Dodd.
»Ich wollte« murmelte Stokes unsicher, »erst ein paar Worte mit Mrs. Voß – «
»Vollkommen überflüssig!« fiel ihm Dodd mit eifersüchtigem Nachdruck ins Wort. »Sie weiß alles, sie begleitet mich.«
»Das Auto ist da!« rief Polly, stürzte reisefertig aus dem Nebenzimmer, erkannte Stokes, stutzte und flehte in den rührendsten Tönen. »O Mr. Stokes! Ich bin ja so unglücklich! Verzeihen Sie ihm, und bringen Sie die Sache nicht vor Gericht. Wir wollen ihn in Güte dazu bringen, dass er das Geld wieder herausgibt. Er hat es ja nur in einem Anfall von Schizophrenie getan.«
»Ach so« nickte Stokes ganz verdutzt. »Schizophrenie. Ja, ja, das gibt es wirklich!«
»Nun aber machen Sie, dass Sie fortkommen!« drängte Dodd und begleitete ihn zur Tür. »Sie haben keine Sekunde zu verlieren, wenn Sie Ihre Millionen wiederhaben wollen!«
Und Stokes trollte sich.
Zehn Minuten später schnellte der Rolls-Royce mit Dodd und Polly über die St.-Louis-Bridge. Unermüdlich warf das schnaubende Ungetüm die Kilometer zu Dutzenden hinter sich. Die beiden Chauffeure lösten sich alle zwei Stunden ah.
»Tahitaha!« schrie das Pneumahorn.
Polly lehnte erschöpft in den Kissen. Auch Dodd schloss die Augen. Am Abend hatten sie Cincinnati erreicht.
Hier war das Auto 11177 mit seinem bärtigen Insassen und Lenker mehrfach beobachtet worden. Hier hatte es getankt und war in östlicher Richtung verduftet.
Weiter ging es durch die Nacht. Polly schlief. Dodd beobachtete sie entzückt und grübelte: Dieses himmlische Wesen ist an einen Geisteskranken gefesselt und liebt ihn obendrein. Ich muss sie von ihm befreien. Das ist meine Pflicht als Gentleman.
Damit warf er einen bewundernden Blick auf sein tadelloses Bild, das ihm aus dem schmalen Zierspiegel herausfordernd ansah.
Wenn ein Nash in Sicht kam, gab der diensttuende Chauffeur ein dreimaliges Signal mit der elektrischen Hupe, die sich wie eine beleidigte Brüllaffenherde benahm.
Jedes Mal fuhr Polly aus dem Schlaf, aber die Nummer 11177 blieb unsichtbar. Im Morgengrauen erreichten sie die Vorberge der Alleghany. Jetzt konnte der Zwölfzylinder-Motor seine Leistungsfähigkeit beweisen. Mit Vollgas riss er den schweren Wagen ohne Verminderung der Geschwindigkeit die Steigungen empor.
Am Morgen wurde in Cumberland eine Frühstückspause eingelegt. Polly hatte sich erholt und aß mit Appetit. Dodd war glücklich und bediente sie hinreißend. Er hatte sich Hals über Kopf in die junge Dame verliebt. Seine Eifersucht gegen den flüchtigen Ehemann und Millionendieb wuchs von Minute zu Minute.
Um zehn Uhr hatten sie die Passhöhe hinter sich. Jetzt ging es wieder bergab.
Und da erblickte Polly die Nummer 11177. Gleichzeitig röhrte die Brüllaffenhorde und schloss mit einem infernalischen Rülpser. Wie ein Wiesel lief der kleine Nash, dessen Verdeck zurückgeschlagen war, den gegenüberliegenden Abhang hinunter und sauste um die Felsnase.
»Das ist er!« stöhnte Polly zitternd wie Espenlaub. »Das ist sein Hut!«
Mehr war von dem Verfolgten nicht zu sehen.
»Überholen!« kommandierte Dodd durch den Sprechschlauch.
Wie eine große Bulldogge preschte der Rolls-Royce hinter dem Nash her und konnte ihn doch nicht einholen. Die zahlreichen Windungen und Kehren der Bergstraße waren dem kleinen Fahrzeug viel weniger hinderlich als dem großen. Schon drohte der Nash zu entkommen.
Da riss Dodd aus der Wagentasche eine gewichtige Schnellfeuerpistole.
»Nicht schießen!« schrie Polly und fiel ihm in den Arm.
»Auch nicht in die Pneumatik?« fragte er höflichst.
»Nein!« fauchte sie ihn an und ließ ihre Augen blitzen. »Sie könnten ihn treffen. Nur Dummköpfe schießen!«
Gehorsam ließ er die gräuliche Kugelspritze wieder verschwinden. »Nicht schießen!« kommandierte er durch den Schlauch, wobei er infolge einer inneren Hemmung das „Nicht“ unbetont ließ.
Schießen! hörte der Chauffeur, zog seine Waffe und gab Feuer. Polly presste die Hände vor die Augen. Die dritte Kugel traf. Der Vorderreifen platzte mit einem dumpfen Knall. Nummer 11177 kam ins Schleudern, taumelte gegen die Felswand, drückte sich den Kühler ein und stand. Der Hut war verschwunden.
Noch bevor der Wagen hielt, sprang Dodd heraus und griff zu. Aber es war gar nicht Peter Voß, den er gefangen hatte. Der vermeintliche Verbrecher bestand aus den beiden hinteren Sitzpolstern, einem Luftkissen, einem Hut und einem Überrock. Der Hut lag im Wagen.
Polly schrie, und Dodd knirschte. Dodds Chauffeure standen stramm. Der Nash-Lenker fluchte mörderlich, denn er hatte sich beim Anprall den rechten Mittelfinger verstaucht.
»Wo ist er? Wo ist er?« jammerte Polly, während sie als Ehegattenersatz die beiden erbeuteten Kleidungsstücke und das Luftkissen an ihr Herz presste.
Dodd beruhigte den Verletzten, gab ihm fünf Dollar Schmerzensgeld und dreizehn Dollar für einen neuen Reifen und fragte ihn aus. Das dauerte eine gute Viertelstunde.
»Zurück nach Cumberland!« befahl Dodd. »Er muss im Fahren aus dem Wagen gesprungen sein.«
»Und wer bezahlt die Taxe?« fragte der Nash-Kutscher.
»Ich bin seine Frau!« rief Polly rasch. »Wie viel macht es?«
»Sechsundzwanzig Dollar« war die Antwort.
Und Dodd legte es aus, ohne mit der Wimper zu zucken.
Um siebzehn Uhr dreißig schlenderte Peter Voß über den Broadway. Er trug einen gelben Mantel und eine braune Autokappe mit Schutzbrille. Vor dem Paradies-Kino blieb er stehen.
Komisches Paradies! dachte er. Es lärmt und stinkt und qualmt wie eine Höllengasse.
Dann dachte er an Polly, denn er hatte ihr gegenüber ein nicht ganz sauberes Gewissen.
Stokes wird jetzt bei ihr sein! suchte er sich zu trösten und guckte in die spiegelnden Portalsäulen.
Einfach feudal! schmunzelte er sich zu, dann bog er in die 14. Straße ein.
Kurz hinter Cumberland hatte er im Morgengrauen bei einer scharfen Steigung die Nummer 11177 verlassen, ohne den Chauffeur davon zu benachrichtigen, und war in die Stadt zurückgebummelt, um sich im ersten Frisiersalon den Bart abnehmen und das Haar kürzen zu lassen. Auch Mantel und Kappe stammten aus Cumberland, und zwar aus dem Gigantic-Basar. Dann hatte ihn ein Expresszug ohne Unfall nach New York gebracht. Jetzt war er auf dem Wege nach Hoboken, um in den Docks ein geeignetes Schiff für die Überfahrt nach Hamburg auszubaldowern.
Auf der Anschlagsäule an der Ecke der 8. Avenue fand er seinen Steckbrief. Das Papier war knallgelb und der Kleister noch feucht. Mit innigstem Vergnügen genoss er jedes einzelne Wort. In der Mitte prangte sein bärtiges Bild.
ZWEITAUSEND DOLLAR BELOHNUNG!
stand in fetten Lettern darunter und darüber.
»Ein bisschen wenig für einen doppelten Millionendieb!« brummte er gekränkt.
»Ganz meine Meinung!« stimmte ihm ein Nachbar bei und turnte dann dollarjagend zum Broadway hinüber.
Auch Dodds Adresse fehlte nicht.
»Ach, du lieber Dodd!« lachte sich Peter Voß leise ins Fäustchen. »Wie er sich um mich sorgt! Es gibt für einen Verbrecher doch nichts Wichtigeres als die Lektüre seines eigenen Steckbriefes.«
Da protzte plötzlich dicht neben ihm ein Säulenentheiliger von seinem Motorrad, schwang den Leimpinsel schräg über das Bild, verzierte den Bart mit einem roten Zettel und stank ab.
»Der Verbrecher hat sich den Bart abnehmen und das Haar stutzen lassen und ist bekleidet mit einem gelben Staubmantel und einer braunen Autokappe mit Schutzbrille« las Peter Voß und ließ die Kappe blitzschnell in seine Tasche verschwinden.
»Alle Achtung!« murmelte er ziemlich betroffen, machte sich westwärts auf die Strümpfe, verschwand im nächsten Hochbahnhof, entledigte sich seines Mantels, vergaß ihn heim Aussteigen und kaufte sich eine schneidige Seemannsmütze und eine Flasche schwarze Haarfarbe.
Damit betrat er eine halbe Stunde später ein schäbiges Hotel auf der Bovery. Hier erprobte er das tausendfach belobte und hundertfach prämiierte Verschönerungsmittel der Fulldress-Company, bis ihn sein Scheitel im tiefsten Schwarz aus dem Spiegel begrüßte.
»Jazz ist Trumpf« murmelte er und wagte sich wieder auf die Straße.
Um achtzehn Uhr vierzig war er in Hoboken eingetroffen und bummelte, die Hände in den Hosentaschen, lässig die wimmelnden Docks entlang, um gezielt mitteleuropäischen Anschluss zu suchen.
Die Dockseingänge lagen auf der Zollgrenze. Überall standen Sicherheitswachen.
Da Peter Voß die Millionentasche mit dem Konzeptpapier schon bei Parkersburg in den Ohio geworfen hatte und außer Zahnbürste und Taschenmesser kein Gepäck hatte, brauchte er sich für die Zöllner nicht zu interessieren. Am Piertor der Hamburg-Amerika-Linie sah er die Schiffsliste durch. Morgen früh ginge die Resonante in See. Da schwamm der neue, breite, sichere Kasten ihm dicht vor der Nase.
Das wär schon was! dachte er und legte sich auf die Lauer. Vielleicht find ich unter der Besatzung einen alten Bekannten.
Die Besatzung zählte über vierhundert Köpfe. Leider prangte auch hier sein Steckbrief, allerdings mit dem alten Signalement. Aber schon fünf Minuten später klebte der rote Zettel darüber. Die beiden Polizisten, die den Eingang bewachten, machten sich sofort an das Studium der neuen millionendiebischen Tatsachen.
Jeden Unbekannten hielten sie an. Wer sich nicht ausweisen konnte, wurde abgewiesen. Während Peter Voß noch überlegte, wo die beiden U.S.A.-Zerberusse am besten zu übertölpeln wären, schob sich prasselnd ein Lastauto heran, auf dem außer andern Frachtstücken ein langer Holzkoffer lag.
>Passagiergepäck für Resonante nach London<
stand auf dem aufgeklebten Frachtplakat, vor dem die geheiligte Plombe der wohlgelungenen Zollabfertigung locker baumelte. Weit größer aber waren die Buchstaben:
VORSICHT! GLAS! NICHT STÜRZEN!
Sie prangten auf allen vier Seitenflächen und auf dem sanft gewölbten Deckel.
»Ach, läg ich doch in dieser wunderschönen Kiste!« seufzte Peter Voß und betrachtete sie scharfsinnig bis sachverständig von allen Seiten.
Der Zöllner prüfte die Plombe, ließ das Lastauto aber nicht durch. Da stürmte ein Dollarjäger, der einen gelben Staubmantel und eine braune Lederkappe mit Autobrille trug, über die Straße, wollte schnurstracks ins Dock hinein und sah sich plötzlich von vier amtlichen Greiforganen gepackt.
Er schimpfte wie ein Rohrspatz, behauptete, Frank Murrel zu heißen und Passagier der Resonante zu sein, und wies einen englischen Pass vor, wonach er als berühmter Zauberkünstler und Jongleur ans Londoner Metropol-Varieté engagiert worden war.
»Zauberkünstler?« grinste der eine Polizist. »Das kennt man schon! Nicht jeder Pass ist echt!«
»Zwei Millionen gestohlen!« knirschte der andere und wies auf den Steckbrief.
Der Verhaftete erbleichte zusehends, rollte die Augäpfel und geriet in steigende Temperatur.
Der Kerl hat sicher etwas auf dem Kerbholz, dachte Peter Voß, wenn auch keine zwei Millionen!
Trotz aller Einwände musste sich der Zauberkünstler zur nahen Wache abführen lassen.
»Komme sofort wieder!« winkte er dem Lenker des Lastautos zu. »Geben Sie acht auf den Koffer! Er darf nicht gestürzt werden! Es sind äußerst zerbrechliche Bühnenrequisiten darin!«
Kaum war er fort, peilten sich unter Führung eines kernigen Bootsmanns zwei Matrosen an den Riesenkoffer heran. Aber es zeigte sich, dass er noch viel schwerer war als er aussah. Nun schickte der Bootsmann, der Peter Voß ziemlich bekannt vorkam, den einen Matrosen an Bord zurück, um Hilfe zu holen. Der hatte es nicht sehr eilig.
»Moritz Pietje, du verdammter Hollandschmann!« schnauzte ihm der Bootsmann nach. »Nimm die Beine in die Hand, oder du kriegst eins in die Klüsen, dass du die Engel balzen hörst.«
An dieser seltsamen Redensart erkannte Peter Voß seinen alten Freund Michel Mohr.
»Hummel! Hummel!« begrüßte er ihn im herzlichen Tone des unteren Alstertals.
Die Antwort kam sofort und ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.
»Guten Abend, Michel Mohr!« fuhr Peter Voß fort und schakte ihm die Hand. »Kennst du Hinrich Breckwoldt aus Blankenese nicht mehr? Wir sind doch zusammen an Bord gewesen.«
»Richtig!« nickte Michel herablassend und schlug ihm herzhaft auf die Schulter. »Auf einem Fischdampfer. Wie hieß er denn bloß?« »Burstah drei!« schnappte Peter Voß ein.
»Stimmt! So hieß er! Junge, Junge, hast du dich aber verändert! Nicht zum Wiedererkennen! Hast du denn damals schon schwarze Haare gehabt?«
Peter Voß schüttelte den Kopf.
»Was hast du denn hier für eine Branche?« fragte Michel neugierig.
»Augenblicklich stellungslos!« gestand Peter Voß ganz bedeppert. »Möchte nach Hamburg zurück. Kannst du mich nicht verstauen?«
»Verstauen!« fragte Michel Mohr und wiegte den Schädel. »Hast du was ausgefressen?«
Peter Voß nickte zerknirscht.
»Mal sehen, was sich machen lässt« murmelte Michel mitleidig und deutete dann auf die Kiste. »Erst mal den Koffer an Bord schaffen, da sind Glassachen und so ein Schietkram drin.«
Moritz Pietje war inzwischen mit zwei anderen Matrosen zurückgekommen. Peter Voß trat beiseite.
»Angefasst!« kommandierte der Bootsmann. »Ganz vorsichtig herunterheben! Moritz, wenn du die Kiste scharf aufsetzt, dann geb ich dir einen Pedd, dass dir die Klüten in der Gardine bammeln!«
Im gleichen Augenblick tauchte Frank Murrel, der Besitzer dieses Gepäckstückes, wieder auf. Es hatte sich auf der Polizeioffice herausgestellt, dass er trotz seiner Kleidung mit dem doppelten Millionendieb nicht identisch war.
»Vorsicht! Vorsicht! Nicht stürzen!« brüllte er wie besessen. »Der Koffer muss sofort in meine Kabine gebracht werden.«
»Welche Nummer?« fragte der Bootsmann.
Aber Frank Murrel wusste die Nummer nicht. Er behauptete zwar, dass seine Fahrkarte schon an Bord sei, aber sie war noch auf der Agentur.
»Stellen Sie den Koffer an Deck!« rief er und rannte davon.