Pfälzer Auslese - Susanne Seider - E-Book

Pfälzer Auslese E-Book

Susanne Seider

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine Maklerin wird mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden, kurz darauf ein erhängter Arzt in der Kirche. Während die Kripo Landau von Suizid ausgeht, glaubt Pastorin Olivia Jacob nicht an die Selbstmorde ihrer Gemeindemitglieder. Hilfe erhofft sie sich von Kommissarin Kira Lilienfeld, die endlich ihr Sabbatjahr im beschaulichen Leinsweiler genießt. Obwohl Kira wenig Lust auf Mord und Drama hat, entflammt ihre Neugierde, als sie entdeckt, dass die beiden Toten ein düsteres Kapitel aus ihrer Jugend teilen. Kira lässt keinen Trick aus, um Hauptkommissar Steinbach von der Kripo vor ihren Karren zu spannen und den Todesfällen auf den Grund zu gehen. Doch sie ahnt nicht, dass das Geheimnis der Toten lebensgefährlich ist.

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Seitenzahl: 392

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comeISBN 978-3-8271-9782-5

Susanne SeiderPfälzer Auslese

1. KapitelOlivia

Olivia Jacob war hochbegabt, Pastorin einer wachsenden Gemeinde und hatte einigen Menschen zu einem persönlichen Durchbruch verholfen. Obwohl sie sich ihre Stärken wie ein Mantra pausenlos ins Gedächtnis rief, fand sie seit Wochen kaum Ruhe. Genauer gesagt, seit sich eine Frau aus ihrer Kirche die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Heute gelang es ihr nicht einmal, einzunicken. Das Kissen war zu warm, Tobias’ Worte hallten in ihrem Kopf. Annas Suizid betrifft uns beide, dich und mich, hatte er mit eindringlicher Stimme eine Sprachnachricht geschickt. Olivia hatte ihn später zurückgerufen. Er wollte nicht sagen, worum es ging, und sie war zu erschöpft gewesen, um Tobias’ Wunsch nach einem sofortigen Treffen nachzukommen. Ihre Augen waren verquollen vom Weinen und niemand sollte sie so sehen, besonders nicht jemand aus ihrer Gemeinde. Vielleicht hatten seine Worte ihr auch Angst eingejagt.

Annas Suizid betrifft uns beide.

Olivias Glieder kribbelten und sie lauschte dem gleichmäßigen Atem ihres Ehemanns, der sich neben ihr auf der Matratze eingerollt hatte. Tom schien eingeschlafen zu sein, also gab Olivia dem Drang ihres Körpers nach und drehte sich auf die andere Seite. Der Lattenrost unter ihr ächzte und sofort regte sich Tom. Sein Arm wanderte von hinten über ihre Taille und seine Hand legte sich auf ihren Bauch.

„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte er und rückte näher zu ihr heran.

Olivia brummelte etwas, von dem sie hoffte, dass es wie ein Laut aus dem Halbschlaf klang. Toms Brust schmiegte sich fester an ihren Rücken, seine Wärme trieb ihr augenblicklich den Schweiß aus den Poren. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und bewegungslos liegen zu bleiben. Ihr Blick huschte zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch. 2:37 Uhr. Er würde erst in vier Stunden klingeln. Sie hatte Tobias angeboten, ihn gleich früh um acht Uhr in der Kirche zu treffen, und er hatte zugestimmt. Nun bereute sie, dass sie die Verabredung nicht sofort hinter sich gebracht hatte.

Tom hielt sie umschlungen, die von ihm ausgehende Hitze hüllte sie ein wie eine kratzige Decke. Vorsichtig schob sie seinen Arm von ihrem Körper.

„Was ist?“, fragte Tom.

Olivia setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. „Schlaf weiter, ich muss nur etwas trinken.“

„Geht es dir nicht gut?“ Er hatte den Kopf angehoben und blinzelte im hereinscheinenden Licht der Straßenlaterne.

„Doch. Bitte schlaf.“ Olivia erhob sich und tappte aus dem Zimmer. In der Küche holte sie ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser, setzte sich damit an den Tisch und schwenkte es gedankenverloren hin und her. Der Pfalzblitz lag aufgeschlagen vor ihr. Mehrere Male hatte sie das Schmierblatt wegwerfen wollen, doch aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht übers Herz. War es Annas ebenmäßiges Gesicht mit den melancholischen Augen und den kastanienbraunen Haaren, das ihr entgegensah? Daran musste es liegen, denn den Text kannte Olivia längst auswendig.

Erfolgreiche Maklerin aus Landau/Pfalz begeht blutigen Selbstmord!

Neben Datum und Uhrzeit des Geschehens wurde viel zu detailliert beschrieben, wie Anna von ihrer Putzfrau mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden worden war. Die letzten Sätze des Artikels hatten sich wie ein Brandmal in Olivias Seele gefressen:

Anna R. war aktives Mitglied in der evangelischen Freikirche CGF, die sich mehrmals wöchentlich in der Kirche von Leinsweiler trifft. Leitende Pastorin der CGF ist die stadtbekannte Olivia Jacob, die gerne von der Presse als Engel der Südpfalz tituliert wird. Unweigerlich fragt man sich, warum niemand dort merkte, wie es um die Seele von Anna R. stand. Pastorin Olivia Jacob hat dafür eine knappe Erklärung: „Ich kann nicht in jeden unserer Besucher hineinsehen.“

Olivia umklammerte das Wasserglas, ohne daraus zu trinken. Unter Tränen hatte sie diesen Satz zu dem Reporter mit dem Pferdeschwanz gesagt. Doch so, wie der es formuliert hatte, kam es schnippisch rüber. Gleichgültig.

Nein. Sie wollte den dunklen Gedanken keinen Raum geben. Entschlossen stand sie auf und kramte aus dem Garderobenschrank das Vokabelheft unter Mützen und Handschuhen hervor, dort, wo niemand etwas Persönliches vermuten würde. Mit dem Heft setzte sie sich wieder an den Tisch und schlug es auf. Alle Seiten waren durch einen senkrechten Strich in der Mitte getrennt. Doch Olivia lernte keine Vokabeln. Stattdessen nutzte sie die beiden Spalten für Lüge und Leben. Sie kannte die Dualität des Daseins, wusste, dass es für jeden Menschen zwei Geschichten gab, die sein Leben beschrieben. Eine Geschichte, die Gestalt annahm, wenn man den destruktiven Gedanken glaubte, und eine völlig andere, die auf der heilsamen Kraft der Wahrheit beruhte.

Ich bin überfordert, schrieb sie in die linke Spalte, über der das Wort Lüge stand. Ich bin eine Versagerin, weil ich keine Ahnung hatte, dass Anna Probleme hat. Die Menschen lachen mich aus, sie lesen den Pfalzblitz und denken, dass ich eine unfähige Pastorin bin. Ich werde auch Tobias nicht helfen können. Er wird enttäuscht sein und der Gemeinde den Rücken kehren. Toms Erinnerung daran, wie ich ihn gerettet habe, wird verblassen, er wird erkennen, dass er mir längst überlegen ist und dass unsere Ehe ihm nichts mehr geben kann. Ich bin nutzlos. Eine Last. Eine Verliererin.

Tränen liefen ihre Wangen herunter, doch Olivia wusste, dass dies ein gutes Zeichen war. Sie erkannte bereits die Lüge in den Worten und das schaffte Erleichterung.

Die Situation stellt eine Herausforderung dar, der ich mich stelle, schrieb sie in die rechte Spalte, welche die Überschrift Leben trug. Annas Tod ist für uns alle schrecklich, doch hätte Anna Hilfe gewollt, hätte sie darum gebeten. Ich bin für jeden da, der um Unterstützung bittet. Die Artikel aus dem Pfalzblitz haben keine Macht, denn ich weigere mich, diese zerstörerischen Worte anzunehmen. Ich werde Tobias mit Liebe und Verständnis begegnen und das wird ihn stärken. Ich werde mich inmitten des Sturms für Zuversicht und Leben entscheiden und Tom wird stolz auf mich sein. Ich bin ein Segen für ihn und die Gemeinde.

Befriedigt las Olivia die Zeilen erneut, wischte sich die Tränen von der Wange und lehnte sich zurück. Ja, diese zwei Seiten des Daseins waren real und sie spürte bereits die Kraft, die von der Geschichte des Lebens ausging. Es war ihre Entscheidung, welchen Weg sie einschlagen würde.

Plötzlich freute sie sich auf das Gespräch mit Tobias. Seit Monaten besuchte er die Gemeinde, beriet als Arzt die Menschen bei ihren Wehwehchen und leitete zwei Gruppen, in denen er die Teilnehmer ermutigte, ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Tobias hatte denselben Herzschlag wie Olivia und sie fühlte sich geehrt, dass er Rat von ihr wollte.

Annas Suizid betrifft uns beide, dich und mich, hallte es in ihrem Kopf. Weil wir beide mit Anna befreundet waren, antwortete sie sich selbst.

Die folgende Stunde saß Olivia still am Tisch und gab sich der gewonnenen Zuversicht hin. Als die Wanduhr zeigte, dass es fünf Uhr war, hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und schlich in den Flur. Dort hatte sie Jeans und Shirt bereitgelegt, um Tom nicht zu wecken. Leise zog sie sich an, schlüpfte in ihre Sneakers, griff ihre Handtasche und verließ die Wohnung. Die Fahrt von Landau nach Leinsweiler dauerte keine zwanzig Minuten und am Horizont sah sie bereits den hellen Streifen, mit dem sich die aufgehende Sonne ankündigte. Die enge Kirchgasse mit ihren Pflastersteinen war leer. Natürlich war sie das. Hier in Leinsweiler gab es keine Clubs, nur unzählige Weingüter, die spätestens um Mitternacht die Tore schlossen. Olivia verriegelte den Wagen, stieg die steilen Stufen hinauf bis in den Garten der Kirche und blieb einen Moment unter der hohen Linde stehen. Was für ein Segen, dass die Landeskirche Mitglieder verlor. Nur einmal im Monat fand hier ein regulärer Gottesdienst statt und man hatte ihr erlaubt, die Kirche für ihre Versammlungen zu nutzen. Wir dienen demselben Gott, hatte der alte Pastor lächelnd zu Olivia gesagt. Sie legte den Kopf in den Nacken und sog die Luft ein, die nach der feuchten Erde des Spätsommers duftete. Tobias würde erst um acht Uhr kommen, sie hatte genug Zeit, um hier aufzutanken. Der Wind raschelte im Laub der alten Linde und strich durch ihre Haare. Dieser Ort war dem Leben geweiht, das hatte sie vom ersten Moment an gespürt.

Langsam ging sie die letzten Meter und holte den Eisenschlüssel aus dem Fach unter den Fake-Steinen. Es schepperte, als sie ihn ins Schloss schob und versuchte, ihn zu drehen. Er klemmte mal wieder. Sie rüttelte am Knauf, zog den Schlüssel raus und steckte ihn erneut in den Schlitz. Schob ihn hin und her, bis er sich endlich umdrehen ließ. Die Tür knarrte, als sie aufschwang.

Olivias Blick fiel auf Tobias und sie erstarrte.

Links von ihr befand sich die Empore unter der Kirchendecke. Man hatte ihr erzählt, dass diese Empore einst die ganze Wand eingenommen hatte, doch irgendwann hatte ein leidenschaftlicher Musiker der Kirche eine kleine Orgel gestiftet, die nun weiter hinten stand. Dafür hatte man die Empore verkleinert.

Olivia wunderte sich, warum sie ausgerechnet in diesem Moment darüber nachdachte. Vielleicht, weil der Gedanke einfacher zu ertragen war als das, was sie sah. Ihr wurde übel. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie blinzelte in der Hoffnung, dass ihr übermüdeter Verstand ihr einen Streich spielte. Doch Tobias hing immer noch da. Ein hellblauer Strick hatte sich in die Haut seines Halses geschnitten, eine Farbe, die in diesem Zusammenhang obszön schien. Wie eine Puppe baumelte Tobias vom hölzernen Geländer der Empore. Sein weißes Gesicht sah aus, als wäre es aus Wachs.

Ein Windstoß drückte Olivia gegen die Tür und fuhr in die Kirche hinein. Als Tobias’ Körper sanft hin und her schaukelte, wich die Starre aus ihrer Kehle und Olivia begann zu schreien.

2. KapitelKira

Kira atmete tief ein und aus, der Druck auf den Scheitel schmerzte und die Sicht verschwamm vor ihren Augen. Noch dreiundzwanzig Sekunden bis zu ihrem persönlichen Kopfstand-Rekord, vierundzwanzig, um einen Fortschritt zu machen. Ein Schatten tauchte vor ihr auf. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …

„Liewer Himmel, Fraa Lilie’feld, Sie sinn aber gelengisch.“ Irmgard Nagel trug trotz der Wärme Filzpantoffeln über grünen Wollstrümpfen, mehr konnte Kira von ihrer Vermieterin nicht erkennen.

… siebenundzwanzig …

„Bassen Se uff Ihr’n Rigge uff, domit derf mer net schbasse.“

„Nicht … jetzt …“, presste Kira hervor.

… dreißig …

„Ihrn Sohnemann und de Gadde sin do, Fraa Lilie’feld.“

Der Gatte?

Ein Blitz raste durch Kiras Brust. So schnell es ihr dröhnender Kopf erlaubte, ließ sie ihre Beine zurück auf die Matte sinken. Auf allen vieren drehte sie sich um, richtete langsam den Oberkörper auf und starrte die magere Dame mit den abstehenden, grauen Haaren entsetzt an. „Wer ist da?“

Irmgard Nagel wischte sich die Hände an ihrer bunten Schürze ab. „Isch hab ihne gsaad, dass se draus waade solle, isch häb jo net gewollt, dass Se vor Schreck umfalln. Isch hab die Männer schun vom Fenschter aus gsehe.“

„Bitte langsam, Frau Nagel.“ Kira stand auf. Mittlerweile verstand sie das meiste von Frau Nagels Worten, doch gerade war sie überfordert. „Mein Sohn ist hier mit einem anderen Mann?“

Die Dame nickte eifrig. „Er hot gesaat, dass er Ehr Gadde isch.“

Kira schnaubte. „Mein Gatte ist beim Tauchen in Australien mit seiner jungen Geliebten.“

„Isch hob dodemix nix zu do, Fraa Lilie’feld.“ Mit eingezogenem Kopf verschwand die Vermieterin in ihrem Haus und ließ Kira im Hof zurück, der durch eine moosbewachsene Mauer von der Straße getrennt war. Kira holte tief Luft, straffte die Schultern, ging barfuß über die spitzen Steine und öffnete das Tor. Das Erste, das sie entdeckte, war der breite Rücken ihres Ehemannes.

Verdammt.

Langsam drehte sich Jan zu ihr um. Ein scheues Lächeln umspielte seinen Mund, jenes schiefe Grinsen, das einen scharfen Kontrast zu seinen forschen Augen bildete und gerade deshalb unwiderstehlich war.

„Ich fasse es nicht!“, stieß sie hervor. „Du wagst es, hier aufzukreuzen?“

Jan sah schuldbewusst aus. „Bitte gib mir nur einen Moment, Kira.“

Sebastian tauchte hinter seinem Vater auf. „Ich habe ihm gesagt, dass es keine gute Idee ist.“

In Kiras Seele kämpften abgrundtiefe Wut auf ihren Mann, der sie im Frühsommer Hals über Kopf verlassen hatte, und brennende Neugier, warum er wieder in Deutschland war. „Hat dir deine silikongestopfte Studentin schon den Laufpass gegeben?“ Der perfekte Satz, um beiden Emotionen gerecht zu werden.

„Können wir kurz reden?“

Kira umklammerte die Türklinke. „Ich bin beschäftigt.“

„Deine Vermieterin meinte, du stehst auf dem Kopf.“ Jan klang schnippisch.

„Ich mache Yoga. War es das, worüber du sprechen wolltest?“

„Nein.“ Jan starrte kurz auf den Boden, bevor er sie wieder ansah. „Sebastian hat mir von dem Mord in Leinsweiler erzählt. Auch, dass du dich bei der Suche nach dem Täter beteiligt hast und beinahe gestorben wärst. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

Sie sah zu Sebastian, der mit den Daumen in den Gesäßtaschen hinter Jan stand und in Richtung der Weinberge sah.

„Das ist fünf Wochen her und seither genieße ich die Ruhe. Kein Grund zur Sorge.“

Jan rieb mit der Hand über seinen Unterarm. „Morgen ist dein Geburtstag. Und ich dachte, wir drei …“

„Es gibt kein wir drei mehr. Sebastian möchte mich morgen Mittag besuchen und am Abend habe ich ein paar Frauen aus dem Dorf eingeladen. Was dich angeht, spielt mein Geburtstag keine Rolle.“

Sebastian drehte sich zu Kira. „Herrje, Mom, er meint es nett. Wollen wir nicht gemeinsam essen gehen?“

„Nein.“ Sie sah wieder zu Jan. „Was immer du tust, lass unseren Sohn aus der Sache.“

„Hey, das ist auf meinem Mist gewachsen“, wandte Sebastian ein. „Er wollte allein kommen.“

Jan nickte erleichtert. Hinter ihm fuhr ein grüner Kombi langsam vorbei, bremste und kam im Rückwärtsgang zurück. „Ich wollte wirklich mit dir allein reden. Sag mir, wann und wo, und ich werde da sein.“ Der Wagen kam direkt vor dem Tor zum Halten.

Eine zierliche Frau Mitte dreißig mit blondem Pferdeschwanz stieg aus. „Sind Sie Kira Lilienfeld?“

„Das bin ich.“ Am liebsten hätte sie der Besucherin einen roten Teppich ausgerollt, so dankbar war sie für die Ablenkung. Irgendwoher kannte sie dieses Gesicht. Bestimmt war sie Teil des Leinsweiler Frauenchors, den Kira zweimal besucht hatte.

Die Frau sah von Sebastian zu Jan. „Ich kann später noch mal kommen.“

„Nein.“ Kira lächelte. „Die beiden wollten gerade gehen.“ Sie warf einen entschuldigenden Blick zu ihrem Sohn. „Wir sehen uns morgen?“

„Klar.“ Sebastian grinste.

„Und wann können wir reden?“, fragte Jan.

„Jetzt nicht“, gab Kira zurück und schob ihren Ehemann zur Seite. „Kommen Sie rein“, sagte sie zu der Frau.

Jan stieß lautstark die Luft aus und wandte sich schließlich um. Kira bedeutete der Frau mit der Hand, den Hof zu betreten, und schloss von innen die Tür.

„Entschuldigen Sie meinen überraschenden Besuch.“ Die Frau rümpfte verlegen die winzige Stupsnase, die von Sommersprossen übersät war.

„Sie ahnen nicht, wie gelegen Sie mir kommen.“ Sie reichte ihr die Hand. „Kira Lilienfeld.“

„Olivia Jacob.“ Der Händedruck war ein wenig zu fest. „Nennen Sie mich Olivia.“

Kira nickte und führte Olivia zu der Sitzgarnitur unter der Kastanie. „Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee bringen?“

„Nein, ich möchte nichts trinken.“ Olivia nahm Platz und faltete die Hände auf dem Schoß. Eine feingliedrige Uhr am Handgelenk war ihr einziger Schmuck und passte nicht zu den Turnschuhen und den verwaschenen Jeans.

Kira setzte sich neben sie. „Sie singen auch im Chor, oder?“

„Im Chor?“ Sie blinzelte verwirrt. „Nein. Ich bin hier, weil ich in der Zeitung von Ihrem Mitwirken beim Mordfall Arely Alves gelesen habe. Haben Sie von den beiden Selbstmorden in der Umgebung gehört?“

Kira dachte an den Artikel in der Rheinpfalz, der hiesigen Tageszeitung, der vor einigen Tagen eine Doppelseite eingenommen hatte. „Sie sprechen von dem Arzt, der sich in der Kirche erhängt hat?“ Diese Kirche befand sich nur eine Straße entfernt von Kiras Wohnung und ihr war beim Lesen ein Schauer durch die Wirbelsäule geflossen.

„Ja. Tobias Simmet. Und die Maklerin Anna Rastätter, die sich vor zehn Tagen in Landau die Pulsadern aufgeschnitten hat.“

„Über diese Maklerin weiß ich nichts.“

„Ich bin leitende Pastorin einer freien evangelischen Gemeinde hier in Leinsweiler. Und beide Tote waren aktive Mitglieder meiner Kirche.“

„Das tut mir leid“, gab Kira bestürzt zurück. „Aber wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich glaube nicht, dass es sich bei Anna und Tobias um Selbstmord handelt.“ Olivia senkte den Blick und rieb die Finger auf ihrem Schoß gegeneinander.

Kira lehnte sich nach vorne. „Sie sind der Meinung, dass es Mord war?“

„Ja.“

„Haben Sie das der Polizei gesagt?“

„Natürlich. Aber man hat mir nicht geglaubt.“ Ein Anflug von Zorn huschte über ihr Gesicht.

„Und da dachten Sie, dass ich der Sache nachgehe?“

„Ich hoffe, dass Sie es tun.“

„Ich bin keine Privatdetektivin.“ Tatsächlich hatte sie sich in die Ermittlungen beim Mord an Arely in die Rolle einer solchen gedrängt, doch das schien eine Ewigkeit her. Ebenso wie ihr Leben als Kommissarin und alles andere, das nicht nach Entspannung klang.

„Ich weiß.“ Olivias Stirn glänzte, obwohl die Temperatur im Schatten der Kastanie angenehm war. „Aber Sie sind bei der Kriminalpolizei.“

„Ich befinde mich in einer Sabbatzeit.“ Sechs Monate, die eigentlich dafür gedacht waren, um ihre Ehe zu retten. Geplant war eine mehrere Wochen dauernde Wanderung entlang der Pazifikküste von Nordkalifornien bis Kanada. Kurz vor Antritt der Reise hatte Jan ihr eröffnet, dass er sich verliebt hatte und mit seiner neuen Flamme nach Australien fliegen würde. Und so hatte Kira kurz entschlossen das gemeinsame Haus in Bielefeld verlassen, um sich für eine Weile im südpfälzischen Leinsweiler einzuquartieren. Hier gab es viel Sonne, gute Weine, und dazu war sie in der Nähe ihres Sohnes, der in Karlsruhe studierte. „Die Kripo weiß genau, wann sie einen Tod als Suizid einstuft. Wie kommen Sie darauf, dem zu misstrauen?“

„Ich war diejenige, die Tobias gefunden hat. Normalerweise schließe ich jeden Tag um acht Uhr die Kirche auf, doch an diesem Morgen war ich früher dran. Als ich ankam, war die Tür verschlossen, ich erinnere mich, wie das Schloss geklemmt hat. Und als ich eintrat, habe ich ihn gesehen.“ Olivia hielt inne und kratzte sich fest am Arm. „Er baumelte tot an der Empore. Und ich habe so laut geschrien, dass die ganze Nachbarschaft wach wurde. Ja, ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Trotzdem bin ich sicher, dass die Kirche abgeschlossen war. Hätte sich Tobias dort erhängt, dann …“ Olivias Augen wurden feucht und sie sah hinauf zu dem Baumwipfel.

„Dann wäre die Tür offen gewesen“, beendete Kira den Satz. „Haben Sie das der Kripo gesagt?“

„Natürlich! Aber man hat mich nicht ernst genommen. Für die Polizei bin ich nur eine Frau, die unter Schock stand.“

„Wer hat einen Schlüssel zu der Kirche?“

„Der Schlüssel liegt versteckt in einem hohlen Stein. Theoretisch kommt jeder an ihn heran, denn die Kirche soll für alle offen sein.“

„Tobias könnte also selbst aufgeschlossen haben?“, hakte Kira nach.

„Das wäre möglich. Aber wer hat dann wieder zugeschlossen und den Schlüssel zurück an seinen Platz gelegt? Außerdem sind weder Tobias noch Anna der Typ für Selbstmord. Beide waren beruflich erfolgreich, ehrenamtlich engagiert und bei allen beliebt. Jemand wie sie begeht keinen Suizid, schon gar nicht unabhängig voneinander innerhalb weniger Tage.“

Kira lehnte sich angespannt zurück. Die Angst im Blick der jungen Pastorin war greifbar und sie ahnte, dass die Fragen, die nach einer solchen Tat die Angehörigen quälten, auch Olivia als Gemeindeleiterin belasteten. Was die Frau brauchte, war jemand von der Kripo, der ihr versichern konnte, dass kein Mörder in den Reihen ihrer Kirche herumlief. „Sie sagten, dass Sie bereits bei der Polizei waren?“

„Ja. Aber dieser Kommissar hat nichts unternommen. Es ist derjenige, mit dem Sie im Mordfall Arely zusammengearbeitet haben.“

„Hauptkommissar Steinbach?“ Kira zog die Augenbrauen hoch.

„Genau der. Ich war auf dem Präsidium, er hat versprochen, sich darum zu kümmern. Zwei Tage später rief irgendeine Sekretärin bei mir an und sagte, dass es keine Hinweise auf Fremdeinwirken gibt.“ Olivia schüttelte frustriert den Kopf.

„Es ist nicht die Kripo, die solche Entscheidungen trifft, sondern die Staatsanwaltschaft“, erklärte Kira und fragte sich, warum sie Steinbach verteidigte. Fachlich mochte er nichts falsch gemacht haben, aber Olivia mit dem kurzen Anruf einer Fremden abzuspeisen sah ihm ähnlich.

„Wie auch immer, ich glaube nicht an Suizid. Daher brauche ich Ihre Hilfe.“ Olivia richtete sich auf. „Sie könnten nachforschen, ob es jemanden gibt, der weiß, warum Tobias mich vor seinem Tod sprechen wollte. Ich würde es selbst tun, aber ich bin stadtbekannt.“

„Ist Ihre Kirche so groß, dass man Sie in der ganzen Umgebung kennt?“

Olivia schnaubte. „Nein, doch die Presse hat es geschafft, mich weit über Leinsweiler hinaus berühmt zu machen.“

„Warum …“ Kira unterbrach ihren Satz, denn in diesem Moment wusste sie, woher sie Olivia kannte. „Sie sprechen vom Pfalzblitz, oder?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie dieses Schmierblatt lesen“, gab Olivia bitter zurück.

„Meine Vermieterin legt ihn mir vor die Tür.“ Tatsächlich blätterte Kira gerne in der regionalen Zeitung, doch hatte sie keinen der Artikel gelesen. „Was schreibt man über Sie?“

„In der letzten Ausgabe nannte man mich den Todesengel von Leinsweiler. Seit Tobias’ Tod kommen ständig Schaulustige in meine Gemeinde, weil sie wissen wollen, wie es in einer Kirche zugeht, wo sich die Menschen reihenweise das Leben nehmen und die Pastorin tatenlos zusieht.“

„Das wurde so geschrieben?“

„Genau so“, gab Olivia zurück. „Aber es geht nicht um mich, sondern um meine Kirche. Um die Menschen, die kommen, weil sie sich nach Stabilität sehnen. Viele von ihnen sind seelisch belastet. Ehemalige Alkoholiker, frisch geschiedene Eheleute, Menschen, denen niemand etwas zutraut und die bei uns eine Aufgabe finden. Unsere Besucher brauchen einen geschützten Raum, keine Reporter und erst recht keine Sensationstouristen.“

Kira betrachtete die Frau, die mit ihrem blonden Pferdeschwanz und dem sportlichen Look so alltäglich und frisch wirkte, als machte sie Werbung für Biomüsli. „Wie gut kannten Sie die Toten?“

„Anna und Tobias waren Freunde von mir und meinem Mann. Wenn die beiden Probleme gehabt hätten, wüsste ich es.“ Olivia lehnte sich zurück. „Doch das Gegenteil war der Fall. Sie haben zu jenen Besuchern gehört, die anderen gedient haben.“

„Menschen mit Depressionen verbergen oft ihr Leid“, wandte Kira ein.

„Ich hätte es gemerkt, davon bin ich überzeugt.“

Kira sog die Luft bis tief in den Bauchraum, so wie sie es im Yogakurs gelernt hatte. Während der letzten Wochen war sie zur Ruhe gekommen. Das Scheitern ihrer Ehe tat noch weh, doch gleichzeitig wuchs die Gewissheit, dass dieses Ende auch einen neuen Anfang beinhaltete. Sie war entschlossen, die restliche Sabbatzeit zu nutzen, um sich über ihre nächsten Schritte klar zu werden. „Ich kann Ihnen leider nicht helfen.“

Olivia kratzte sich mit den Fingern am Handrücken, machte Anstalten, aufzustehen, und überlegte es sich doch anders. Schließlich griff sie in ihre Tasche, zog ein Handy hervor und tippte etwas auf das Display. „Tobias hat mich am Abend vor seinem Tod angerufen. Ich war unterwegs und konnte nicht abnehmen. Er hat mir dann eine Sprachnachricht geschickt.“ Sie legte das Telefon auf den Tisch. Aus dem Lautsprecher erklang eine hektische Männerstimme. Hier ist Tobias. Wir müssen uns treffen. Annas Selbstmord betrifft uns beide, dich und mich. Ruf mich so schnell wie möglich zurück. Eine kurze Pause. Ich war nicht ehrlich zu dir, Olivia, und das tut mir leid. Ich kann nur ahnen, wie es in dir aussieht. Bitte melde dich.

Kira starrte auf das Handy.

„Ich habe Tobias kurz darauf zurückgerufen“, erklärte Olivia. „Er wollte mir nicht sagen, worum es geht, also habe ich ihm angeboten, mich am nächsten Morgen in der Kirche zu treffen.“

„Was meint er damit, dass Annas Suizid Sie und ihn betrifft?“

Olivia presste die Knie zusammen. „Ich weiß es nicht. Aber Fakt ist, dass ich seit Annas Tod vom Pfalzblitz gejagt werde. Und es kommt mir so vor, als wollte mich jemand zerstören, indem er mich als unfähig darstellt, diese Kirche zu führen.“ Olivias Handrücken, den sie noch immer mit den Fingernägeln malträtierte, leuchtete rot. „Ich habe weder Theologie studiert noch habe ich gelernt, wie man eine Gemeinde leitet. Aber ich liebe die Menschen und der Erfolg gibt mir recht.“

„Glauben Sie denn selbst, dass Sie diese Kirche führen können?“, fragte Kira und musterte die zierliche Frau.

„Was soll die Frage? Meine Gemeinde wächst schnell, die Mitglieder vertrauen mir.“

„Dann muss es Ihnen egal sein, was die Presse schreibt.“

„Es geht mir nicht um die Presse“, fauchte Olivia und sah Kira aus schmalen Augen an. „Es geht darum, dass Tobias dringend mit mir sprechen wollte. Warum sollte er sich das Leben nehmen, so kurz vor unserem Termin?“

Kira lehnte sich zurück. „Haben Sie der Polizei von Tobias’ Anruf erzählt?“

„Nein.“ Olivia senkte den Blick. „Weil Tom, mein Ehemann, nichts von dieser Verabredung wusste.“

„Ist er eifersüchtig?“

Olivia lachte bitter und sah Kira wieder an. „Welcher Mann wäre das nicht? Tom und Tobias waren Freunde. Ich hatte mich gewundert, dass Tobias mich treffen will statt ihn. Aber etwas in seiner Stimme war so eindringlich. Hätte ich Tom von der Verabredung erzählt, hätte er darauf bestanden, mich zu begleiten.“

„Und jetzt wollen Sie nicht, dass Ihr Mann im Nachhinein davon erfährt“, schlussfolgerte Kira, auch wenn sie Olivias Begründung nicht ganz glaubwürdig fand.

„Genau. Und vor der Polizei würde es einen falschen Eindruck hinterlassen, wenn sie wüssten, dass ich meinen Mann belogen habe. Ich könnte mir in den Hintern beißen, dass ich es Tom nicht gleich gesagt habe. Aber jetzt ist es zu spät.“

„Sollte es bei den Suiziden wirklich um Mord gehen, wird es nicht möglich sein, dies zu verheimlichen.“

„Das ist mir bewusst.“ Olivia nickte und rieb dabei die Lippen aneinander. „Aber solange die Kripo nicht ermittelt, will ich, dass Tom nichts von dem Anruf erfährt. Es geht hier um meine Kirche. Stellen Sie sich vor, es kommt raus, dass ich mit Tobias eine heimliche Verabredung hatte. Es wird aussehen, als hätte ich eine Affäre gehabt.“

Kira rieb sich die Stirn und lehnte sich zurück. Etwas an Olivias Geschichte war nicht stimmig und ein Teil von ihr hätte zu gerne gewusst, was die Pastorin ihr verschwieg. Doch sie hatte entschieden, sich erst mal um sich selbst zu kümmern. „Ich werde nicht im Leben von Tobias und Anna herumschnüffeln“, sagte sie. „Aber ich spreche mit Hauptkommissar Steinbach. Vielleicht lässt er mich einen Blick in die Akten werfen. Sollte es Ungereimtheiten geben, müsste ich ihm von dem Anruf erzählen, damit er die Sache noch mal aufrollt.“

Olivia nickte mit zusammengekniffenen Lippen. „Aber nur, wenn es nicht anders geht.“

„Natürlich.“

„Und wenn er Sie nicht in die Akten sehen lässt?“ Olivias Augen schimmerten gequält und Kira schob entschlossen das Mitgefühl zur Seite.

„Dann kann ich Ihnen nicht helfen.“

3. Kapitel

„Der Dornfelder ist unglaublich gut. Bist du sicher, dass du nicht probieren willst?“ Sebastian hielt ihr das Glas hin.

„Nein, danke.“ Kira sah bedauernd auf den rot schimmernden Wein, wischte sich mit der Serviette den Mund ab und legte diese auf den leeren Teller. Sie saßen unter einem Sonnenschirm im Hof des Zehntkellers, einem über Leinsweiler hinaus bekannten Lokal mit feiner, gutbürgerlicher Küche.

„Ich finde, du übertreibst.“ Sebastian drehte das Glas in seiner Hand. „Kein Alkohol, kein Fleisch, dazu die Kopfstände und der Frauenchor …“

„Ich nutze meine Sabbatmonate, um etwas für Körper und Seele zu tun.“

„Gib einfach zu, dass du dich schrecklich langweilst.“ Er grinste.

„Blödsinn.“ Kira schnaubte. „Diese Frau, die gestern da war, ist ziemlich spannend.“

„Du meinst die, die dich vor Papa gerettet hat?“

„Genau die. Ich habe sie gegoogelt. In der lokalen Tageszeitung wird sie die Mutter Teresa der Südpfalz genannt. Olivia Jacobs Gemeinde scheint ein Sammelbecken für Menschen ohne Hoffnung zu sein. Aber vor knapp zwei Wochen hat sich eine Frau aus der Kirche das Leben genommen, seither wird die Pastorin von einem Schmierblatt regelrecht niedergemacht.“

„Schmierblatt? Du meinst eine zweite Zeitung?“

Kira nickte. „Der Pfalzblitz ist ein Onlinemagazin, das einmal die Woche auch eine kostenlose Printausgabe in die Briefkästen verteilt. Die leben von Anzeigen, der Rest widmet sich vermeintlichen Missständen im Raum Landau.“

Sebastian trank einen Schluck Wein und stellte das Glas dann auf den Tisch. „Du bist ja wieder voll drin in den Recherchen. Was hat das mit dir zu tun? Will diese Tante, dass du die Verantwortlichen vom Pfalzblitz verhaftest?“

„Innerhalb der Gemeinde gab es zwei Suizide und Olivia hat Angst, dass es sich in Wirklichkeit um Mord handelt.“

Sebastian verzog amüsiert den Mund. „Und da kommt sie ausgerechnet zu dir?“

„Was heißt ausgerechnet?“ Kira stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich nach vorne. „Immerhin habe ich den Mordfall vor ein paar Wochen fast allein gelöst.“

„Man hätte dich beinahe in diesem Weinkeller umgebracht.“ Das Grinsen in Sebastians Gesicht wurde breiter.

Energie und Friede. „So oder so.“ Kira lehnte sich zurück und schluckte den Ärger über ihren Sohn herunter. „Fakt ist, dass die Pastorin meine Hilfe wollte.“

„Und wirst du ihr helfen?“

„Diese Frau macht mich neugierig“, gab Kira zu. „Ich habe gelesen, dass sie ursprünglich Sozialpädagogik studiert hat und vor zwei Jahren aus reinem Idealismus die Kirche gegründet hat. Und ich glaube, dass sie mir etwas verheimlicht.“

„Und sie könnte ein Ausweg aus deinem schrecklichen Leben zwischen Frauenchor und Yogastunden sein.“

„Mein Leben ist alles andere als schrecklich.“ Abgesehen von der Tatsache, dass die verheilt geglaubte Wunde seit Jans Auftauchen wieder klaffte und Kira sich die ganze Nacht schlaflos hin und her gewälzt hatte.

„Du solltest ihr helfen.“ Sebastian lehnte sich zurück. „Schau dir die Akten über die Selbstmörder an. Selbst wenn du nichts findest, kannst du wenigstens Polizeiluft schnuppern.“ Er klang wie ein Vater, der sein Kind überredete, an die frische Luft zu gehen.

„Ich habe aktuell keinen Zugang zu den Polizeiakten und ich bin froh darüber“, beharrte sie.

Sebastian zwinkerte. „Der fehlende Zugang sollte kein Problem sein. Dafür hast du deinen BastiLeaks.“

„Vergiss es.“ Kira wurde jetzt noch übel, als sie daran dachte, wie sie vor ein paar Wochen zugelassen hatte, dass Sebastian den Computer von Hauptkommissar Steinbach hackte.

„Wie du meinst.“ Er sah auf die Uhr. „Tut mir voll leid, aber wir sollten los, sonst komme ich nicht rechtzeitig zum Spiel.“

„Klar.“ Kira winkte die Kellnerin zu sich und bezahlte die Rechnung.

Zu Fuß legten die beiden den Weg zu Kiras Wohnung zurück. Es waren kaum hundert Meter, doch es reichte aus, um ihnen den Schweiß aus den Poren zu treiben. Sebastians Fiat parkte vor dem Haus im Schatten eines Ahornbaums.

Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche. „Du bist sicher, dass es okay ist, wenn ich bei deiner Party nicht dabei bin?“

„Absolut!“, gab Kira entschlossen zurück. Sebastian hatte sich einem Footballclub angeschlossen und trainierte seither mehrmals die Woche. Heute Abend war ein wichtiges Spiel, auf das er angeboten hatte, zu verzichten. Doch sie war froh, dass er endlich einen Ausgleich zu seinem Studium gefunden hatte. Die Party, zu der sie angeblich ein paar Frauen eingeladen hatte, war erfunden. Eine gnädige Lüge, weil Sebastian niemals zugelassen hätte, dass Kira ihren Geburtstag allein verbrachte. „Was sollst du auch mit einer Handvoll Frauen im mittleren Alter?“ Sie zwinkerte.

„Ich kenne dich, Mom.“ Sebastian öffnete den Kofferraum und holte eine Schüssel hervor. „Und da ich weiß, wie sehr du langweilige Feiern hasst, habe ich dir etwas mitgebracht.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Haschroulette.“ Er drückte ihr die Schüssel in die Hand.

„Wie bitte?“

„Haschroulette. Zwölf leckere Schokoladenkekse, in einem davon befindet sich eine Ladung Hasch. Wer immer das Zeug abbekommt, wird für Stimmung sorgen.“

Kira riss die Augen auf. „Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich jemandem heimlich Drogen verabreiche?“

„Wenn dir langweilig genug ist, wirst du es tun. Wenn nicht, iss die Kekse einfach selbst.“ Er zog sie zu sich und drückte sie. „Happy Birthday, Mom.“

Kira lachte auf. „Viel Erfolg heute Abend.“ Sie zögerte kurz. „Begleitet dich dein Vater?“

„Er begleitet mich überall hin.“ Sebastian verdrehte die Augen. „Du solltest mit ihm reden, denn vorher wird er nicht gehen. Und meine Wohnung ist zu klein für zwei.“

Kira nickte wenig begeistert. Als Sebastian in sein Auto gestiegen war und davonfuhr, winkte sie ihm und ging danach mit der Schüssel in der Hand ins Haus.

Haschroulette.

Lachend schüttelte sie den Kopf und stellte die Kekse auf den Tisch. Ihr Blick fiel auf den Strauß roter Rosen. Das Lachen gefror auf ihrem Gesicht. Jan hatte die Blumen Sebastian mitgegeben, dazu eine Flasche Miami Blossom, Kiras Lieblingsparfüm. Die Tatsache, dass er ihr Geschenke machte, war an sich schon dreist. Dass es sich dabei ausgerechnet um Rosen und Parfum handelte, trieb ihr bittere Galle in die Kehle.

Das erste Mal seit Wochen sehnte sie sich nach einem Glas Wein. Oder besser nach einer ganzen Flasche von dem göttlichen Grauburgunder ihrer Vermieterin. Doch sie wollte nicht zulassen, dass Jans Auftauchen ihren neuen Lebensrhythmus durcheinanderbrachte.

Kurz entschlossen ging Kira ins Bad, fuhr sich mit der Bürste durch die honigfarbenen Haare und verließ die Wohnung erneut.

Die Fahrt zur Dienststelle nach Landau dauerte keine zwanzig Minuten, und als sie vor dem rechteckigen Bau der Polizei parkte, hatte sie ihren Ex in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins gedrängt.

Am Empfang saß derselbe pausbäckige Mann wie bei ihrem letzten Besuch. Sie wartete, bis er die Scheibe aus Plexiglas zur Seite geschoben hatte. „Mein Name ist Kira Lilienfeld. Ich möchte mit Hauptkommissar Steinbach von der Kripo sprechen.“

Der Mann lächelte scheu. „Worum geht es bitte?“

„Sagen Sie ihm einfach, dass ich da bin.“

Pausbacke schob das Plexiglas wieder zu und griff zum Telefon. Kira betrachtete eingehend ein großes Poster an der Wand, das vor Onlinebetrug warnte. Nach kaum einer halben Minute wurde die Scheibe erneut zurückgeschoben.

„Frau Lilienfeld, Hauptkommissar Steinbach kommt gleich runter und holt Sie ab.“

„Danke schön.“ Kira lächelte dem Mann zu, der prompt errötete und schnell wieder die Scheibe schloss. Sie fuhr sich durch die Haare, zupfte die lange Bluse zurecht, die sie locker geknotet über einem weißen Top trug, und warf verstohlene Blicke zu der Treppe, die hinter einer Glastür nach oben führte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie Steinbachs hochgewachsene Gestalt die Stufen herunterkommen sah. Sein Gang war energisch, die Haare militärisch exakt geschnitten und das perfekt gebügelte Hemd mit den langen Ärmeln verströmte die vertraute Biederkeit.

Er öffnete die Glastür, blieb auf der Schwelle stehen und grinste schwach. „Was für eine Überraschung. Was führt Sie ausgerechnet an Ihrem Geburtstag zu mir?“

„Sie wissen, dass ich Geburtstag habe?“

„Ich hatte Zugriff auf Ihre Dienstakte, schon vergessen?“ Sein Blick hatte etwas Herablassendes.

Kira schnaubte. „Wenn Sie es wissen, hätten Sie wenigstens einen Gruß schicken können.“

Seine dichten Augenbrauen wanderten nach oben und bildeten dabei Pyramiden. „Sie hätten sich auch mal bei mir melden können, nach allem, was wir zusammen erlebt haben.“

Herrje! Sie hatte völlig vergessen, wie nervenaufreibend das Zusammensein mit Steinbach war. „Jetzt bin ich ja hier. Können wir in Ihrem Büro reden?“

„Natürlich.“

Er trat zur Seite und ließ sie die Tür passieren. Dann lief er voraus die Treppe hoch, sie folgte ihm in den ersten Stock, durch einen schmalen Flur bis in sein Büro. Obwohl der Raum klein und bis auf den letzten Zentimeter genutzt war, wirkte er erschreckend ordentlich. Akten und Handbücher standen in Reih und Glied in dem breiten Bücherregal, der Schreibtisch sah aus wie aus einer Werbebroschüre für Stifthalter.

„Nehmen Sie Platz.“ Steinbach zeigte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und ließ sich auf dem Drehstuhl gegenüber nieder.

Kira setzte sich ebenfalls. „Es geht um Olivia Jacob. Sie war gestern bei mir.“ Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen von Erkenntnis, fand aber keines. „Die junge Pastorin, die zwei Gemeindemitglieder durch vermeintlichen Suizid verloren hat.“

„Sie meinen den Star vom Pfalzblitz.“

„Genau die. Sie scheinen nicht überrascht, dass sie bei mir war.“

„Bei Ihnen überrascht mich gar nichts.“

Kira verdrehte die Augen. „Sie war es, die mich aufgesucht hat.“

„Schon klar.“ Steinbach lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Und jetzt wollen Sie von mir wissen, warum ich Olivia Jacobs Mordfantasien nicht ernst nehme.“

Kira stieß die Luft aus. „Nein, das weiß ich bereits. Natürlich vertrauen Sie dem Urteil der zuständigen Kollegen. Aber ich würde gerne einen Blick in die Akten werfen.“

Er lachte auf. „Sie wissen, dass das nicht geht.“

Kira richtete den Oberkörper auf. „Doch, ich weiß, dass es geht. Ein Mausklick von Ihnen, dazu fünf Minuten für mich. Mehr will ich nicht.“

Steinbach löste die Hände aus dem Nacken und legte sie vor sich auf den Tisch. „Haben Sie einen Grund, an meiner und der Urteilskraft der Staatsanwaltschaft zu zweifeln?“

Kira schluckte eine bissige Bemerkung herunter, immerhin war sie hier, weil sie etwas wollte. „Nein. Aber ich habe mich im Netz über die Toten schlau gemacht. Beide waren erfolgreich. Anna Rastätter besaß ein Maklerbüro für Luxusimmobilien, Tobias Simmet war Notfallmediziner in der Vinzentiusklinik Landau. Beide waren engagiert in der Kirche.“

Steinbach runzelte seine Augenbrauen. „Und Sie glauben, dass beruflich erfolgreiche und sozial engagierte Menschen keinen Suizid begehen?“

„Keiner der beiden gehörte zu einer Risikogruppe. Keiner war einsam, in therapeutischer Behandlung oder körperlich krank. Beide waren jung genug, um noch genug Kraft zu besitzen für ihre anstrengende Arbeit. Mir ist klar, dass das alles nichts beweist. Aber Sie müssen zugeben, dass es ein großer Zufall wäre, wenn sich ausgerechnet zwei Menschen aus demselben Umfeld und ohne ersichtliches Risiko für einen Suizid innerhalb einer Woche das Leben nehmen.“

Steinbach trommelte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie misstrauen meinem Urteil also doch.“

Kira verschränkte die Arme. „Klären Sie mich über Ihre Gründe auf.“

„Das darf ich nicht und das wissen Sie genau.“

„Verdammt, Steinbach, ich dachte, Sie hätten begriffen, dass das Einhalten von Regeln nicht immer Sinn ergibt.“ Kira lehnte sich ebenfalls nach vorne und taxierte ihn mit feurigen Blicken. „Erinnern Sie sich nicht, wie sehr ich Ihnen im Juli geholfen habe?“

„Sie haben sich in die Ermittlungen geschummelt. Und der einzige Grund für Ihre Hilfe war die Tatsache, dass die Mutter des Opfers Sie mochte.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Oder ist Olivia Jacob nun auch Ihre Freundin?“

Sein spöttischer Tonfall machte sie rasend. „Würde es etwas ändern, wenn sie es wäre?“

„Nein. Und falls Sie mir jetzt einen USB-Stick geben wollen, auf dem sich dubiose Bilder befinden, um heimlich Zugriff auf meinen PC zu bekommen, können Sie das gleich wieder vergessen.“

Zornig kniff sie die Augen zusammen. „Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Und nichts liegt mir ferner, als mich erneut in irgendwelche Ermittlungen zu schummeln. Aber Tatsache ist, dass Olivia Jacob Angst hat. Selbst wenn diese Angst unbegründet ist, sollte es doch unsere Berufspflicht sein, der Sache nachzugehen. Und wenn es nur deshalb ist, um Olivia zu beruhigen.“

„Ich bin kein Therapeut, sondern Kriminalbeamter. Falls Ihnen langweilig ist, können Sie Olivia Jacob gerne an die Hand nehmen und sie beschützen. Ich habe meine Pflicht erfüllt.“

„Warum glaubt jeder, dass mir langweilig ist?“, fauchte Kira. „Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich weder Zeit noch Lust habe, in einem Fall zu ermitteln, der möglicherweise gar keiner ist.“ Sie schlug die flache Hand auf den Tisch und stand auf. „Alles, was ich wollte, war ein Blick in die Akten, um diese Frau mit gutem Gewissen sich selbst zu überlassen.“ Sie drehte sich um und wollte das Büro verlassen.

„Kira?“, rief Steinbach ihr nach.

Sie wandte sich zu ihm. „Was?“

Sein Blick war hart. „Ich hoffe für Sie, dass Sie wirklich aus Ihren Fehlern gelernt haben.“

Kira schnaubte, trat aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Mit zusammengepressten Lippen marschierte sie durch den Flur, die Treppe hinunter, vorbei an dem pausbäckigen Mann in die heiße Luft hinaus. Sie hatte Olivia nur versprochen, mit Steinbach zu sprechen. Mehr nicht. Somit konnte sie sie sich erneut ihrem Kopfstandrekord widmen. Und genau das würde sie tun.

4. Kapitel

Seit einer Stunde saß Kira vor dem Laptop unter der Kastanie und scrollte durch die Social-Media-Auftritte der beiden Toten. Anna Raststätter und Tobias Simmet hatten zumindest eines gemeinsam: Sie konnten sich vermarkten.

Sie hatte es noch nicht übers Herz gebracht, Olivia anzurufen und ihr zu gestehen, dass der Besuch bei Steinbach für die Katz gewesen war. Morgen würde sie das tun, doch heute war ihr Geburtstag.

Und du bist allein.

Energisch schob sie diesen Gedanken weg, immerhin hatte sie sich bewusst entschieden, auf Gesellschaft zu verzichten. Richtige Freunde hatte sie hier in der Südpfalz nicht, dafür war sie erst zu kurz hier. Und die Frauen vom örtlichen Chor und der Yogagruppe waren zwar nett, doch mehr als oberflächliche Plaudereien hatte es noch nicht gegeben.

Sie trank einen Schluck Wasser und widmete sich wieder Anna Raststätter. Rastätter Immobilien nannte sie ihre Seite. Die zahlreichen Bilder bewiesen, dass Anna mit ihren langen braunen Haaren und den blauen Augen nicht nur sehr hübsch gewesen war, sondern auch, dass die Häuser, die sie zwischen Baden-Baden und Mannheim zum Verkauf anbot, für den normalen Geldbeutel unerschwinglich waren. Und so posierte Anna lächelnd und mit perfekt sitzendem, weißem Overall in einem parkähnlichen Garten. Im Hintergrund schimmerte ein riesiger Swimmingpool, in den ein Wasserfall mündete. Ein anderes Foto zeigte Anna im schwarzen Minikleid und goldglänzendem Gürtel auf einer breiten, geschwungenen Wendeltreppe, deren Stufen aus echtem Marmor bestanden. Zumindest konnte Kira das im Text unter den Bildern lesen. Hätte Kira nicht gewusst, dass sich Anna ehrenamtlich in einer Kirche engagierte, hätte sie die Frau in die Schublade rich bitch gepackt.

Tobias Simmet dagegen erzählte auf seiner Seite von dem Arbeitsalltag eines Notfallmediziners. Er war ein kleiner Mann mit ernsten Augen, die trotz dicker Brille nichts von ihrer Eindringlichkeit einbüßten. Mit weißem Kittel und Schutzmaske posierte er vor EKG-Monitoren und leeren Betten. Lasst uns nicht die Kranken vergessen, schien sein Blick zu sagen, und genau darum ging es in seinen Texten. Mit sensiblen Worten berichtete er vom Leid der Angehörigen, von todgeweihten Patienten, die mutig kämpften oder aufzugeben drohten. Von unerfüllten Hoffnungen oder plötzlichen Genesungen, die wie ein Wunder schienen.

War Tobias das viele Leid, das er täglich zu sehen bekam, über den Kopf gewachsen?

Kira klickte zurück auf Annas Seite und betrachtete nachdenklich die hübsche Maklerin. War sie zerbrochen an der Maske des Erfolgs, die sie tragen musste, um in den wohlhabenden Kreisen zu bestehen?

Draußen hielt ein Wagen vor dem Tor, eine Tür ging auf und wurde gleich darauf wieder zugeschlagen.

Bitte nicht Jan, flehte sie innerlich und erinnerte sich daran, dass der Sebastians Spiel ansah.

Die Tür öffnete sich und Steinbach trat in den Hof. Überrascht sprang Kira auf und sah aus den Augenwinkeln, wie die Gardine von Frau Nagels Fenster wackelte.

„Hauptkommissar Steinbach“, rief Kira eine Spur zu laut, um Frau Nagel keine Gelegenheit zu geben, sich anrüchige Gedanken zu machen. „Was führt Sie zu mir?“

Er kam auf sie zu und runzelte die Stirn. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ In gebührendem Abstand blieb er stehen.

„Klar.“

„Warum sind Sie ganz allein? Ich dachte schon, ich würde in eine Feier platzen.“ Seine Augenbrauen hoben sich.

„Ich bin gerne allein.“ Sie warf einen Blick zu dem Fenster. „Wollen Sie reinkommen? Hier ist es zu heiß.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zu ihrer Wohnung, ließ Steinbach zuerst eintreten und schloss dann die Tür hinter sich.

Er lächelte schwach. „Mir ist schon klar, was Sie da draußen an Ihrem Laptop tun.“

„Deswegen habe ich Sie nicht reingebeten.“

„Sie recherchieren also nicht über Olivia Jacob und die Toten?“ Sein Lächeln wurde spöttisch.

Kira stützte die Hände in die Hüften. „Was wollen Sie?“

„Ich komme in Frieden.“ Er sah sie einen Moment lang an und sie wusste nicht, ob er darauf wartete, einen Platz angeboten zu bekommen, doch ihr war nicht nach Gesellschaft.

„Reden Sie schon“, drängte sie.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so harsch zu Ihnen war.“

Wow! „Kein Problem, Sie machen nur Ihren Job.“

Er nickte. „Und Sie setzen sich für andere Menschen ein. Das finde ich nett. Außerdem ist heute Ihr Geburtstag, also tue ich Ihnen einen Gefallen und verrate Ihnen etwas, denn ich will nicht, dass Sie sich in einen Irrtum verrennen.“

Wow wow wow! Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf. „Und das wäre?“

Er lief ein paar Schritte bis zum Tisch und lehnte sich mit dem Hinterteil gegen die Platte. „Die beiden Suizide. Die Kollegen haben sie gründlich geprüft. Anna Raststätter war zweifellos allein, als sie sic‘‘h die Pulsadern aufgeschnitten hat. Die Tür musste von der Feuerwehr aufgebrochen werden, der Schlüssel steckte innen und die Fenster waren auch alle verschlossen. Was Tobias Simmet angeht, haben seine Kollegen ausgesagt, dass er rezeptpflichtige Medikamente aus der Klinik mitgehen ließ. Es gab bereits ein Disziplinarverfahren deshalb.“

Kira rieb sich die Nase. „Aber die Kirche war verschlossen, als Olivia Tobias fand. Darauf beharrt sie.“

„Jeder hat Zugang zu dem Schlüssel. Außerdem war Olivia Jacob völlig hysterisch, nachdem sie Tobias Simmet gefunden hatte. Aber da ist noch etwas.“ Steinbach stützte die Hände hinter sich auf den Tisch.

„In Tobias Simmets Schreibtischschublade lag ein von Hand geschriebener Abschiedsbrief. Darin bat er seine Eltern um Verzeihung, dass er nicht stark genug zum Leben war, und hat verfügt, dass sein Besitz an Ärzte ohne Grenzen gehen soll.“

Ein feiner Strom floss durch Kiras Glieder. „Einen Abschiedsbrief legt man offen hin, sodass er gleich gefunden wird, nicht in eine Schublade.“

Steinbach verdrehte die Augen. „Die Polizei sieht als Erstes in Schubladen.“

„Und woher sollte ein Arzt das wissen?“

„Sie wollen unbedingt, dass es Mord ist, oder?“

„Mir geht es nur um die Wahrheit“, beharrte Kira.

„Anna Raststätter und Tobias Simmet hatten bereits einen erfolglosen Suizidversuch hinter sich.“ Steinbachs Blick bekam etwas Gönnerhaftes.

„Oh.“ Mehr brachte Kira nicht raus.

„Beide in ihrer Jugend. Beide kamen damals für einige Wochen in die Jugendpsychiatrie Klingenmünster.“

„Tobias und Anna waren Patienten in derselben Einrichtung?“

Steinbach nickte. „Aber nicht zur selben Zeit. Annas Aufenthalt in der Klinik war Monate später.“

„Finden Sie das nicht seltsam?“

„Warum sollte es seltsam sein? Jeder, der versucht, sich umzubringen, kommt zuerst in die nächstliegende psychiatrische Einrichtung. Das müssten Sie wissen.“

Sein herablassender Tonfall machte Kira wütend. „Ich weiß aber auch, dass wir bei zu vielen Zufällen hellhörig werden sollten. Zwei Menschen, die sich in einem ähnlichen Zeitraum das Leben nehmen wollten, sich Jahre später in derselben Kirche engagieren und sich dann zeitnah endgültig umbringen? Das klingt seltsam.“

Steinbach hob die Augenbrauen. „Noch mal – Anna Raststätter war allein, als sie sich die Pulsadern aufschnitt. Und Tobias schrieb einen Abschiedsbrief. Wenn etwas aussieht wie eine Himbeere und auch so schmeckt und so riecht, kann man davon ausgehen, dass es eine Himbeere ist, selbst wenn sie zwischen Gurken wächst.“

„Himmel noch mal!“ Kira stieß die Luft aus. „Die Sache stinkt gewaltig!“

„Okay, ich sehe schon, Ihnen ist doch langweilig. Ich kam her, um Sie zu beruhigen. Wenn Sie trotzdem auf Verbrecherjagd gehen wollen, tun Sie das. Für die Kripo ist der Fall abgeschlossen, wir beide werden uns also nicht mehr in die Quere kommen.“ Er sah hinter sich, wo Jans Blumen sowie das Parfum und Sebastians Kekse standen. „Aber vielleicht nehmen Sie sich einfach Zeit für Ihren Verehrer