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Im wilden Kanada steht ein weißes Schloss: Snowfields. Auf dem Internat werden die weltbesten Reiter ausgebildet und verletzte Pferdeseelen geheilt. Zwei Neue in Snowfields sorgen für Liebeschaos pur. Der attraktive Schüler Petter, zu dem sich Zoes Freundin Isabelle stark hingezogen fühlt. Und die junge Lehrerin, die bei einigen Lehrkräften heftigste Gefühle auslöst. Doch auch auf anderer Ebene herrscht Chaos. Im Internet kursieren schlimme Gerüchte über den Pferdeflüsterer Caleb. Und so langsam beschleicht Zoe das Gefühl, dass das nicht alles nur Lügen sind … Entdecke alle Abenteuer in der "Pferdeflüsterer-Academy": Band 1: Reise nach Snowfields Band 2: Ein geheimes Versprechen Band 3: Eine gefährliche Schönheit Band 4: Verletztes Vertrauen Band 5: Zerbrechliche Träume Band 6: Calypsos Fohlen Band 7: Flammendes Herz Band 8: Zoes größter Sieg Band 9: Cyprians Rückkehr Band 10: Die dunkle Wahrheit Band 11: Verborgene Gefühle Band 12: Wild und verwundbar Band 13: Taminos Entführung Band 14: Glück und Hoffnung
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2023
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2023 Ravensburger Verlag
Text: Gina Mayer
Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, Berlin
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildern von
© Nikolay Zaborskikh / Shutterstock (Bach im Wald),
© JaneJJ / Shutterstock (Gesicht Mädchen),
© Krakenimages.com / Shutterstock (Körper Mädchen),
© Langtima / iStock (Pferd)
Pferdevignette: © typau / 123RF
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51179-2
ravensburger.com
Trapp dachte oft daran, wie er Bobby das erste Mal gesehen hatte. Sie war am späten Abend angekommen. Man hatte sie in den dunkelgrünen Ohrensessel am Kamin gesetzt. Ihre blonden Haare lagen auf dem Samtpolster wie goldenes Geschmeide.
Obwohl sie ein Jahr älter war, war sie viel kleiner als er. Zart und zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. Erschöpft von der Reise, angsterfüllt.
Sie sah ihn an.
Er hielt ihren Blick fest und beschloss, sie für immer zu beschützen.
Über dem Bach tanzten die Mücken in der schräg stehenden Sonne. Eine Hummel brummte wie ein Helikopter von einem Baum herab, ließ sich schwerfällig auf einem der flachen Steine nieder, trank Wasser und summte wieder davon.
Zoe schmierte sich Antimückenmittel in den Nacken und auf die bloßen Oberarme. Das Zeug hatte ihr Isabelle aus den Ferien mitgebracht, es wirkte echt gut, allerdings verbreitete es einen durchdringenden, ziemlich sauren Geruch.
„Mmh!“ Isaac, der auf der Waldwiese lag und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, schnupperte begierig. „Du riechst wie eine Essiggurke. Köstlich.“
„Danke, gleichfalls.“ Zoe schüttete einen großzügigen Schuss in ihre offene Handfläche und rieb Isaacs Oberarme damit ein. „Aber zumindest kommen wir so wieder lebend nach Hause.“
Die Mückenplage war in diesem Jahr besonders schlimm. Im Nordwesten Kanadas, wo die Snowfields Academy lag, die sie beide besuchten, hatte es im Sommer viel geregnet. Vor zwei Wochen hatte der Regen aufgehört, jetzt strahlte die Sonne vom Himmel. Ein ideales Wetter, um auszureiten – wenn die zahllosen frisch geschlüpften Mücken im Wald nicht gewesen wären.
Um den Stechattacken zu entgehen, mieden die meisten Schülerinnen und Schüler im Sommer den Wald. Sie trainierten auf einem der Reitplätze oder gleich in der Halle. Aber Zoe und Isaac liebten die Wildnis zu sehr, um auf Ausritte zu verzichten. Vor jeder Tour rieben sie sich von Kopf bis Fuß mit Isabelles Wundermittel ein und zwischendurch legten sie noch mal nach. Dennoch sahen sie abends immer aus wie frisch gebackene Streuselschnecken.
„Wie das summt“, sagte Isaac verträumt, ohne dabei die Augen zu öffnen. „Ein Mückensymphoniekonzert – nur für uns.“
„Meinetwegen könnten sie ruhig woanders auftreten.“ Zoe wedelte eine besonders hartnäckige Stechmücke weg.
Sie spürte eine sanfte Berührung am Rücken und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Nadir näher getreten war. Der schokoladenbraune Hengst musterte sie auffordernd mit seinen leuchtend blauen Augen.
„Ich glaube, Nadir will uns was sagen“, erklärte sie.
Isaac blinzelte in die Sonne, die über Zoes Schulter in sein Gesicht fiel. Der Araberhengst stieß ein tiefes rollendes Geräusch aus.
„Er hat keinen Bock mehr“, übersetzte Isaac und richtete sich auf.
„Es ist ohnehin Zeit“, sagte Zoe mit einem Blick auf ihre Uhr. „Ich hab Caleb versprochen, ihm vor dem Abendessen im Round-Pen zu helfen.“
„Was musst du denn machen?“ Isaac stand auf und wischte Blätter und Grashalme von seiner Reithose.
„Keine Ahnung.“ Zoe streckte ihrem Freund die Hand hin, der sie mit Schwung auf die Beine zog.
Isaac war sehr groß und seine kurzen blonden Haare sahen wie immer total verstrubbelt aus. Jetzt bückte er sich und hob die beiden Reithelme auf, die im Gras lagen. Er reichte Zoe ihren und stülpte seinen eigenen Helm über die zerzausten Haare.
Als Zoe den Gurt ihres Helms schloss, spürte sie warmen Pferdeatem im Nacken. Shaman schmiegte seinen schwarzen Kopf an ihre Schulter.
Der Mustang war der Grund, warum Zoe überhaupt in Snowfields und auf dem Reitinternat gelandet war. Im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden hatte sie vor ihrer Aufnahme in die Schule keine Ahnung vom Reiten gehabt. In eine der Profireiter-Klassen, in der die Schülerinnen und Schüler auf eine Karriere im internationalen Turniersport vorbereitet wurden, wäre sie niemals aufgenommen worden. Aber Isaac und sie gingen in die Pferdeflüsterer-Klasse von Caleb Cole, der seine Schüler nach besonderen Kriterien auswählte.
Caleb war der offizielle Eigentümer von Shaman, doch seit Zoe in Snowfields wohnte, durfte sie ihn reiten. Der scheue schwarze Mustang und sie hatten sich von Anfang an auf eine rätselhafte Weise verstanden. Shaman hatte Zoe vertraut, nachdem er sich vom Rest der Welt zurückgezogen und keinen Menschen – noch nicht einmal Caleb – an sich herangelassen hatte.
Die intuitive Verständigung gelang Zoe leider nur mit Shaman und keinem anderen Pferd.
Deshalb war sie ja auch so ungeheuer stolz darauf, dass Caleb ausgerechnet sie gebeten hatte, ihm bei seiner Arbeit mit einem Therapiepferd zu assistieren. Normalerweise holte er Isabelle, Cyprian oder Cathy, wenn er Unterstützung im Round-Pen benötigte. In letzter Zeit hatte er sogar Isaac schon ein paarmal hinzugezogen, obwohl der erst seit einem halben Jahr in die Pferdeflüsterer-Klasse ging und Zoe schon seit zwei Jahren bei Caleb in der Ausbildung war.
In der ersten Zeit war es ihr unglaublich schwergefallen, sich allein mit ihrer Körpersprache mit den Pferden zu verständigen. Sie war an den einfachsten Vertrauensübungen gescheitert, die Isabelle, Cathy, Cyprian und Isaac wie im Schlaf beherrschten. Ein Pferd ohne Hilfsmittel und Lautsignale zu sich zu rufen oder wegzuschicken. Oder ein Tier davon zu überzeugen, ihr ohne Halfterstrick zu folgen.
Aber nach einem mühsamen Start hatte Zoe große Fortschritte gemacht und heute konnte sie in fast jeder Hinsicht mit ihren Klassenkameraden mithalten. Und das schien Caleb jetzt auch endlich mal aufgefallen zu sein, sonst hätte er sie ja wohl kaum gebeten, ihm zu assistieren.
Isaac kontrollierte Nadirs Sattelgurt und schwang sich auf seinen Rücken. Der Araber war erst vor Kurzem aus Isaacs Heimat Neuseeland nach Snowfields gekommen. Seitdem hatte er sich hervorragend eingelebt. Zu Zoes Erleichterung verstand Nadir sich auch gut mit Shaman, obwohl beide Hengste waren.
Zoe stieg ebenfalls auf und lenkte den Mustang zu dem Pfad, der sich hinter der Wiese durch die Wildnis schlängelte. Shaman war ungesattelt und trug auch kein Zaumzeug, Zoe ritt ihn einfach nur mit einem Halsring.
Die Pferde trabten hintereinander unter den alten Bäumen hindurch. Einige Stämme waren so dick, dass Zoe und Isaac sie auch zu zweit nicht hätten umfassen können. Der Pfad war kaum zu erkennen, weil er an vielen Stellen von Sträuchern oder wilden Trieben zugewuchert wurde. Aber Shaman hätte den Weg zurück zum Internat von jeder beliebigen Stelle aus gefunden und Nadir folgte ihm einfach.
Zoe sog genießerisch die frische Waldluft ein. Die Kronen der Buchen und Kastanien bildeten viele Meter über ihnen ein undurchdringliches Blätterdach. Grünlich goldenes Sonnenlicht sickerte zu ihnen herunter wie in eine Unterwasserwelt. Es gab keinen Ort, an dem Zoe sich so zu Hause fühlte wie hier in der Wildnis.
In den Sommerferien war sie mehrere Wochen lang mit Isaac in Neuseeland gewesen. Auch dort gab es wilde, unberührte Natur, aber die Freiheit, die sie in Snowfields empfand, war noch größer. Sie summte leise vor Glück, doch dann zerplatzte ihr Wohlbehagen wie eine Seifenblase.
Auf dem schmalen Waldpfad kam ihnen eine silberblonde Frau entgegen, die ein junges Pferd am Halfter führte. Sie trug einen hellen Blazer und weiße Breeches, die grell durch das grüne Halbdunkel des Waldes leuchteten. Zoe hatte das Gefühl, dass sich vor ihr eine Kühlschranktür geöffnet hatte, aus der ihr eisige Luft entgegenwehte.
„Oh nee“, hörte sie Isaac hinter sich murmeln.
Auch er hatte Mrs. de Cesco bemerkt, die mit forschen Schritten auf sie zukam. Sie war gleichzeitig die erfolgreichste und die meistgehasste Lehrerin in der Snowfields Academy. Keiner ihrer Kollegen hatte so viele berühmte Turniersieger und Olympiagewinnerinnen ausgebildet wie die stellvertretende Direktorin, die in ihrer Zeit als Profireiterin selbst schon unzählige Pokale und Medaillen errungen hatte. Und kein anderer Lehrer hatte so viele Schülerinnen und Schüler auf dem Gewissen. Mrs. de Cescos Ansprüche waren unendlich hoch und wer sie nicht erfüllte, flog umgehend aus ihrer Klasse und von der Schule.
Die Lehrerin hatte Zoe und Isaac natürlich ebenfalls bemerkt. Ihre eisgrauen Augen wurden noch eine Spur kälter und ihre Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen. Mrs. de Cesco verabscheute die gesamte Pferdeflüsterer-Klasse. Ihrer Meinung nach hatte Natural Horsemanship – wie das Pferdeflüstern offiziell genannt wurde – an einer Eliteschule wie der Snowfields Academy nichts zu suchen. Und Zoe hatte sie ganz besonders auf dem Kieker, seit diese schon mehrmals ihre Pläne durchkreuzt hatte.
„Wir müssen hier durch“, erklärte sie anstelle eines Grußes.
Das Fohlen, das sie am Halfter führte, war der Sohn von Mrs. de Cescos Stute Calypso. Der kleine Caspar war fast ein Jahr alt und die stellvertretende Direktorin ging häufig mit ihm spazieren, um ihn an das Halfter und einfache Signale zu gewöhnen. Als das Pferd auf Shaman zutraben wollte, zog sie es mit Nachdruck zurück.
„Hallo, ihr beiden!“, rief eine zweite Frauenstimme. Und jetzt erst sah Zoe Siri Goldberg, die hinter Mrs. de Cesco ging und ein aufgetrenstes Pferd am Zügel führte.
„Geh mal mit Caspar zur Seite und lass die beiden vorbeireiten“, sagte Siri zu Mrs. de Cesco. „Das ist doch viel einfacher.“
Mrs. de Cesco machte ein Gesicht, als ob ihr jemand gegen ihren Willen ein Stück Zitrone in den Mund geschoben hätte. Einem Schüler auszuweichen, so etwas war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Aber Siri Goldberg hatte einen wundersamen Einfluss auf die stellvertretende Direktorin. Nachdem Ellen de Cesco ein paar Sekunden lang mit sich gerungen hatte, zog sie Caspar in den Freiraum zwischen zwei Büschen und gab den Weg frei.
„Danke schön!“, rief Zoe und ließ Shaman losgehen.
Nun konnte sie auch das Pferd sehen, das Siri Goldberg spazieren führte. Es war ebenfalls noch jung und tänzelte nervös, als Siri es an den Wegrand führte, um Shaman vorbeizulassen. Ein schlanker, langbeiniger Rappe mit einer zickzackförmigen Blesse auf der Stirn. Auch seine Füße waren weiß, es sah aus, als trüge er helle Socken.
„Wen haben wir denn da?“, fragte sie. „Dich hab ich hier ja noch nie gesehen.“
„Tamino gehört Ellen“, erwiderte Siri anstelle des Pferdes. „Er wurde gestern hierhergebracht.“
Ellen. Außer Siri Goldberg nannte niemand in der Snowfields Academy die Lehrerin beim Vornamen. Siri und Ellen de Cesco waren vor einigen Jahren ein Paar gewesen, das hatte Zoe zufällig herausgefunden. Die Beziehung war krachend gescheitert – Zoe wunderte sich kein bisschen darüber. Sie fragte sich, wie sich die sympathische Siri überhaupt jemals auf Mrs. de Cesco hatte einlassen können.
„Es ist alles schrecklich aufregend für Tamino.“ Siri tätschelte zärtlich die schwarze Flanke des Jungpferdes.
„Ein wunderschönes Tier“, stellte Isaac fest, der ebenfalls näher geritten war.
„Nicht wahr?“ Siri klang so stolz, als wäre sie selbst die Besitzerin. „Tamino ist der Sohn von Halifax of Chesterton. Und ich habe die Ehre, ihn zureiten zu dürfen.“
„Was, echt?“ Isaac lenkte Nadir noch weiter an das Jungtier heran. „Das ist ja krass!“
„Allerdings.“ Siri Goldberg warf ihre glänzenden dunklen Haare zurück. Sie hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und schräg stehende braune Augen, die jetzt fröhlich funkelten. „Ich freue mich unheimlich auf die Arbeit.“
Zoe nagte ratlos an der Innenseite ihrer Wange. Im Gegensatz zu Isaac hatte sie keine Ahnung, wer Halifax of Chesterton war.
Für Pferde und den Reitsport interessierte sie sich erst, seit sie hier im Internat lebte. Vorher war sie Profimusikerin gewesen und mit ihrer Querflöte durch die Welt gereist, um in ausverkauften Konzerthäusern zu spielen. Mit dreizehn hatte sie ein Burn-out gehabt und kurz danach war sie Shaman begegnet, der beschlossen hatte, dass Zoe und er zusammengehörten. Darum war Zoe jetzt in Calebs Pferdeflüsterer-Klasse.
„Halifax of Chesterton hat zweimal hintereinander Gold bei den Olympischen Spielen geholt“, erklärte Isaac ihr.
„Und er hat viermal die Dressur-Weltmeisterschaften gewonnen“, ergänzte Siri. „Auf Tamino ruhen große Erwartungen.“ Sie strich zärtlich über den Hals des Pferdes. Ein Sonnenstrahl, der durch das Blätterdach zu ihnen herunterfiel, brach sich in dem Rubin auf ihrem Ring und warf einen Lichtpunkt vor Zoes Füße.
„Aha“, sagte Zoe. „Wann fangen Sie denn an, mit ihm zu arbeiten?“
„Mal schauen“, sagte Siri. „Erst mal muss er richtig hier ankommen.“
„Und Sie auch“, bemerkte Isaac.
Siri Goldberg lachte. Im neuen Schuljahr, das morgen anfing, würde sie ihre Arbeit als Lehrerin für Dressurreiten beginnen. Sie bekam eine eigene Klasse und unterrichtete auch in den anderen Jahrgangsstufen. Außerdem – und das hatte für große Aufregung in der Pferdeflüsterer-Klasse gesorgt – würde sie einen Kurs in Natural Horsemanship geben. Obwohl die Pferdeflüsterei bisher einzig und allein Caleb Coles Bereich gewesen war.
Zoe und ihre Freunde waren überzeugt, dass Mrs. de Cesco das Ganze eingefädelt hatte, weil sie Caleb und Siri gegeneinander ausspielen wollte.
„Jetzt wird es aber wirklich Zeit“, mischte sich die stellvertretende Direktorin ungeduldig in das Gespräch ein. „Wenn wir noch länger hier rumstehen, wird es dunkel, bis wir zurück in die Schule kommen.“ Sie blies ihre Backen auf und schlug mit der freien Hand nach einer Stechmücke, die ihren Kopf umschwirrte.
„Ja, wir müssen wirklich weiter.“ Siri zwinkerte Isaac und Zoe zu. „Wir sehen uns.“
Caleb Cole stand bereits im Round-Pen, als Zoe dort ankam. Der Pferdeflüsterer war wie immer schwarz gekleidet und hatte seine langen dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Er hatte eine sandfarbene Stute an der Longe, deren Mähne und Schweif schwarz waren. Auch die Füße, die Nase und die Ohren des Pferdes waren dunkel gefärbt. Das Tier sah ein bisschen so aus wie die Siamkatze von Zoes Nachbarn in Vancouver.
Caleb hatte nur eine halbe Stelle als Lehrer an der Snowfields Academy. In der übrigen Zeit arbeitete er als Therapeut mit traumatisierten und schwierigen Pferden. Manchmal dauerte es Wochen, bis er es schaffte, das Vertrauen eines Pferdes zu gewinnen. Aber am Ende schaffte er es eigentlich immer. Deshalb hatte sich sein Name in der internationalen Pferdewelt auch herumgesprochen, er bekam Anfragen aus allen Kontinenten. Die Leute rissen sich darum, dass er ihre Problempferde therapierte. Obwohl die Schule so abgelegen war, brachten viele ihre verstörten Tiere hierher, damit Caleb sie von ihren Ticks und Ängsten befreite.
Zoe verlangsamte ihre Schritte, während sie an die hölzerne Absperrung des Round-Pens trat. Keine abrupten Bewegungen oder lauten Geräusche in Gegenwart eines Therapiepferdes, dieser Grundsatz war ihr nach zwei Jahren in der Pferdeflüsterer-Klasse in Fleisch und Blut übergegangen. Sie rief Caleb auch nicht beim Namen, sondern wartete, bis er auf sie aufmerksam wurde.
Der Lehrer drehte sich langsam um die eigene Achse, das Gesicht immer zu der galoppierenden Stute gewendet. Jetzt fiel sein Blick auf Zoe.
„Da bist du ja.“ Er machte eine Bewegung auf das Pferd zu und brachte es dadurch zum Stehen. Die Stute schnaubte leise und sah Zoe neugierig an. Sie wirkte weder verstört noch besonders nervös, aber der Eindruck konnte natürlich täuschen. Caleb trat zu ihr und strich ihr über die dunkle Mähne. „Das ist Jerewan.“
„Warum ist sie hier?“
„Sie hat ein massives Haltungsproblem“, sagte Caleb. „Ist dir das nicht aufgefallen?“
„Ich hab sie mir noch gar nicht so genau angesehen“, gab Zoe zu und ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht aufmerksamer gewesen war. Wie so oft mit Caleb hatte sie das Gefühl, dass er sie auf die Probe gestellt und sie mal wieder versagt hatte.
„Sie bricht in den Biegungen mit der Hinterhand aus und rennt über die äußere Schulter weg“, sagte Caleb, ohne den Blick von der Stute zu wenden, die jetzt an der Einstreu zu ihren Füßen schnupperte. „Daran müssen wir arbeiten.“
Wir. Das klang vielversprechend. Zoe straffte die Schultern.
„Ich dachte, du übernimmst kein Training.“ Eigentlich konzentrierte Caleb sich ausschließlich auf verhaltensauffällige oder verstörte Pferde. Die richtig schweren Fälle, bei denen normale Ausbilder und Trainer an ihre Grenzen stießen.
„Jerewan ist eine Ausnahme“, sagte Caleb. „Ich habe sie aufgenommen, weil ich sie im Unterricht vorstellen möchte. Wir werden in den nächsten Tagen ein Konzept für die Gymnastizierung entwickeln und es dann gemeinsam umsetzen.“
Aha, dachte Zoe. Und was genau war ihre Rolle bei diesem Projekt?
Caleb fischte sein Handy aus der Hosentasche, aktivierte das Display, ohne die Longe dabei loszulassen, und reichte es Zoe über die Absperrung.
„Kannst du mich ein paar Runden lang filmen?“, fragte er. „Erst im Schritt, dann im Trab und Galopp. Ich hab das gestern schon mit Isabelle versucht, aber das ist total misslungen.“
„Was ist misslungen?“, fragte Zoe.
„Ich hab das Handy so bescheuert gehalten, dass hinterher nur die Hälfte drauf war. Außerdem war alles im Gegenlicht.“ Caleb schüttelte den Kopf über sich selbst. „Du kannst das mit Sicherheit viel besser als ich.“
Zoe schluckte schwer und hatte auf einmal einen dicken Kloß im Hals. Gestern hatte Caleb Isabelle reiten lassen, heute stieg er selbst in den Sattel und Zoe sollte ihn dabei filmen. Darum ging es, mehr als das traute er ihr offensichtlich nicht zu.
„Ist das okay für dich?“ Calebs dunkle Augen musterten sie eindringlich. Normalerweise machte sie sein Blick nervös. Aber gerade musste sie mit sich kämpfen, um sich nicht wortlos umzudrehen und wegzulaufen.
„Klar.“ Sie zwang sich dazu, ihn anzulächeln. „Dann mal los!“ Sie machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf.
„Ich danke dir“, sagte Caleb, als er wieder aus dem Sattel sprang. „Das war eine große Hilfe für mich.“
„Willst du es dir mal angucken?“, fragte Zoe, während sie das Video anklickte. Die Kamera von Calebs Handy war echt nicht die beste, aber man konnte alles gut erkennen und das war ja wohl entscheidend.
„Nee, lass mal.“ Er winkte ab. „Ich vertrau dir da komplett.“
Beim Filmen vertraust du mir, dachte sie bitter. Alles andere überlässt du lieber den Profis.
„Dann verschwinde ich mal zum Abendessen“, sagte sie. Ihre Mundwinkel taten auch langsam weh von dem angestrengten Grinsen.
„Okay.“ Caleb hatte sich bereits wieder der Stute zugewandt. Er strich gedankenverloren über ihre linke Flanke. Wahrscheinlich stellte er im Geist schon die Übungen zusammen, mit denen man ihre Haltung verbessern konnte. „Ach, da ist noch was“, rief er, als Zoe sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.
„Ja?“ Noch ein Video, diesmal vielleicht von der stehenden Stute? Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Isaac und die anderen waren inzwischen bestimmt schon fertig in der Mensa und Zoe konnte allein essen. Aber ihr war eh der Appetit vergangen.
„Wir haben einen neuen Schüler in der Klasse“, sagte Caleb. „Petter. Vielleicht könnt ihr euch ein bisschen um ihn kümmern, damit er sich gut einlebt.“
„Ein Neuer?“ Zoe war überrascht. Am Anfang waren sie zu neunt in der Pferdeflüsterer-Klasse gewesen. Dann hatte Caleb im letzten Halbjahr auch noch Isaac aufgenommen – und jetzt noch ein Neuer. „Das wird aber voll im Klassenzimmer.“
„Wir sind wieder neun.“ Caleb fuhr Jerewan mit sanftem Druck über die Kruppe, woraufhin die Stute einen Schritt nach rechts machte.
„Wie jetzt?“ Zoe runzelte verwirrt die Stirn.
„Alejandra und Matthew haben die Klasse gewechselt“, sagte Caleb, ohne den Blick von Jerewan zu wenden. „Sie sind ab morgen bei Mrs. Goldberg.“
Mrs. Goldberg. Caleb nannte Siri beim Nachnamen – wie lächerlich war das denn?
Dabei hatte er Zoe selbst erzählt, dass er und die Pferdetrainerin vor Jahren eine leidenschaftliche Beziehung gehabt hatten. Das Ganze hatte stattgefunden, nachdem Siri sich von Ellen de Cesco getrennt hatte, dennoch war Zoe sich sehr sicher, dass Mrs. de Cescos Hass auf Caleb mit dieser Sache zusammenhing. Sie konnte es einfach nicht verwinden, dass Siri sich Caleb zugewandt hatte, nachdem sie Mrs. de Cesco den Laufpass gegeben hatte.
Siris Verhältnis mit Caleb war nicht von Dauer gewesen. Nach einem schlimmen Reitunfall, der Calebs Leben auf den Kopf gestellt hatte, hatten sich die beiden wieder getrennt. Siri hatte Caleb verlassen, aber im Grunde hatte Caleb sich schon vorher von ihr distanziert.
Und nun tat er so, als ob Siri ihm total fremd wäre.
Caleb zuckte mit den Schultern. „Für mich ist es in Ordnung“, sagte er gleichmütig. „Ich hab Petter schon länger im Auge, aber ich konnte ihn ja nicht aufnehmen. Und ich will auch niemanden halten, der weg möchte. Alles gut.“
Alles gut. Das glaubst du ja wohl selbst nicht, dachte Zoe.
Der erste Unterrichtstag nach den Sommerferien begann immer mit einer Schulversammlung in der großen Reithalle, die auch als Aula diente. Sämtliche Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Mitarbeiter kamen hier am Morgen zusammen.
Zur Begrüßung hielt die Direktorin eine kurze Ansprache. Mrs. Fitzgerald hatte kurz geschnittene graue Haare und rote Wangen und war selbst eine begeisterte Reiterin, wie fast alle in der Snowfields Academy.
„Zum Abschluss möchte ich euch noch zwei neue Kollegen vorstellen“, fuhr sie dann fort. „Mrs. Goldberg kennen viele von euch bereits. Sie übernimmt die Klasse von Mr. McClain, der uns ja leider verlassen hat. Herzlich willkommen in Snowfields, Siri!“
Sie streckte Siri Goldberg das Mikrofon hin, die von ihrem Platz in der ersten Reihe aufstand und zu der Direktorin trat. Siri wartete ab, bis sich der Applaus in der Halle gelegt hatte. Ihr Zeigefinger fuhr über das herzförmige Muttermal an ihrer Schläfe. Der kleine Makel machte ihre Schönheit perfekt.
„Hallo“, sagte sie dann und winkte in Richtung der Zuschauerränge, die sich nach hinten erhoben, sodass man von jedem Platz aus einen guten Blick auf die Reitbahn hatte. „Ich freu mich, dass ich hier bin! Und ich bin ein bisschen aufgeregt, aber das bleibt unter uns, ja?“
Großes Gelächter auf den Bänken.