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Beschreibung

Was Christentum und Kirche retten kann – prominente katholische und evangelische Stimmen fordern tiefgreifende Reformen und ein neues Selbstverständnis des Christentums. Mitgliederschwund, leere Gottesdienste, Missbrauchskrise, Säkularisierung: Nachrichten aus den Kirchen machen derzeit selten Freude. Es scheint, dass die christlichen Institutionen in einer Dauerkrise verharren, während sie gleichzeitig politisch und gesellschaftlich an Relevanz verlieren. Gegen diese Tendenzen setzt die prominente Katholikin Annette Schavan ein Zeichen des Aufbruchs und der inneren Reform. Sie hat zahlreiche Beiträge von Kirchen- und Ordensangehörigen, Publizisten, Schriftstellern und Wissenschaftlern gesammelt, die zu einem Neuanfang aufrufen. Aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben und erklären sie, was notwendig ist, damit die christliche Kirche eine Zukunft hat. Im Zentrum aller Beiträge steht das Phänomen Pfingsten: Ein Ereignis, das Sprachlosigkeit überwindet, zum Staunen auffordert und Gemeinschaft erzeugt. Nicht zuletzt ist Pfingsten ein Symbol für die Vielfalt des christlichen Glaubens. »Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, das Christentum mit seinen provozierenden und kultivierenden Impulsen, mit seiner Betonung von Barmherzigkeit und Freiheit, mit seiner Aufforderung, die Frage nach Gott wachzuhalten, im Gedächtnis zu halten und als Art eines interessanten Lebens heute zu begreifen.« Annette Schavan Mit Beiträgen von Thomas Arnold, Aleida Assmann, Markus Barth, Andreas Batlogg SJ, Jacqueline Boysen , Heinz Bude, Thomas de Maizière, Ottmar Edenhofer, Evelyn Finger, Stephanie Geiger, Waltraud Klasnic, Alfons Kloos, Charlotte Kreuter-Kirchhof, Jens-Martin Kruse, Nathanael Liminski, Walid Nakschbandi, Christian Nürnberger, Heribert Prantl, Henriette Reker, Volker Resing, Philipp Rösler, Nikodemus Schnabel OSB, Aurelia Spendel OP, Arnold Stadler, Bernd Stegmann, Jan Heiner Tück und Cesare Zucconi.

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Seitenzahl: 415

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Annette Schavan (Hg.)

Pfingsten!

Warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die ersten Christen wurden »Menschen des Neuen Weges« genannt. Was ist heute daraus geworden? Negative Nachrichten über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt erschüttern das Vertrauen in die Kirche. Es ist ein Verrat am Evangelium, so die prominente Katholikin Annette Schavan, der infrage stellt, was an Pfingsten vor über 2000 Jahren begonnen hat. Sie setzt dagegen ein Zeichen des Aufbruchs und der inneren Reform und hat zahlreiche Beiträge aus Publizistik, Wissenschaft, Kultur, Politik, christlichen Orden und von Schriftstellern versammelt. Die persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Analysen inspirieren dazu, unbeschrittene Wege zu gehen und die Vielfalt des Christentums neu zu erleben.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Vorwort

Annette Schavan: Worum geht es?

Thomas Arnold: Zeit für Hoffnungsmacher

Aleida Assmann: Salz der Erde, Licht der Welt

Markus Barth: Schiffbruch als Glücksfall

Andreas R. Batlogg SJ: Der Heilige Geist als »Protagonist« der Kirche

Jacqueline Boysen: Ein froher Satz nach vorn

Heinz Bude: Die kommende Zeit

Ottmar Edenhofer: Grund meiner Hoffnung

Stephanie Geiger: Die Rückkehr des Glaubens

Tomáš Halík: Fortwährende Offenheit

Waltraud Klasnic: Unsere Christenpflicht und die Würde des Menschen

Alfons Kloss: Gelebte Vielfalt auf der Suche nach Einheit

Charlotte Kreuter-Kirchhof: Bewahrung der Schöpfung

Jens-Martin Kruse: Die Zaudereien beiseiteschieben

Hanna Leitgeb: Die Anwesenheit von Transzendenz

Nathanael Liminski: Gemeinschaft in Freiheit – Freiheit in Gemeinschaft

Thomas de Maizière: Vom Glück des Risikos

Walid Nakschbandi: Echt gute Ideen

Christian Nürnberger: Pfingsten – die Standleitung zwischen Himmel und Erde

Heribert Prantl: Heilig ist jeder Geist, der Frieden stiftet

Henriette Reker: Für den Zusammenhalt braucht es Kölner Geisteskraft

Volker Resing: Mai-Altärchen und die Krisen der Spätmoderne

Philip Rösler: Heimat Kirche

Nikodemus C. Schnabel OSB: Am Pfingstort zu Hause

Aurelia Spendel OP: Am Anfang war alles ganz anders

Arnold Stadler: Sky und Heaven

Bernd Stegemann: Zwischen den Stühlen

Jan-Heiner Tück: Kirchenschmelze?

Cesare Zucconi: Der Geist macht alles möglich

Die Autorinnen und Autoren

Pfingsten ist – wie die Taufe eines jeden von uns –

keine Sache der Vergangenheit, sondern ein schöpferischer Akt, den Gott ständig erneuert.

Papst Franziskus

 

 

Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein?

Helmuth James Graf von Moltke

 

 

Die Zeit eilt Gott und seiner Ewigkeit entgegen,

nicht der Vergangenheit und dem Untergang.

Karl Rahner

Vorwort

Pfingsten ist ein Ereignis, das nach einem Bericht in der Apostelgeschichte zu den Anfängen der Christenheit gehört. Von einem Sturm ist da die Rede und davon, dass denen, die ihn erlebten, deutlich wurde, Verständigung geht selbst dort, wo wir sie für unmöglich halten. Menschen redeten in vielen Sprachen und konnten einander dennoch verstehen. Für die ersten Christen war das ein Impuls zum Aufbruch, eine Ermutigung, diesen Aufbruch zu wagen und ihre Erinnerungen an das Leben mit Jesus von Nazaret und seine Lehre mit einem neuen Blick auf den Menschen, auf Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit zum Grundstein einer neuen Bewegung zu erklären.

»Pfingsten« ist der Titel dieses Buches, versehen mit einem Ausrufezeichen, weil in unseren Tagen Ermutigung und ein Aufbruch der Christenheit so dringlich sind. Verständigung suchen, wo sie unmöglich scheint, eine lähmende Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott überwinden, Leidenschaft für Gerechtigkeit und Freiheit entwickeln, Taten der Barmherzigkeit wagen – das können Impulse zum Aufbruch heute sein. Sie klingen sehr anders als die Nachrichten aus den christlichen Kirchen, die immer häufiger einem Verrat der christlichen Botschaft gleichkommen. Der Niedergang der Kirchen, beschrieben in vielen Sprachen, überdeckt die Kraft, die im Christentum immer noch und gerade heute steckt.

Von dieser Kraft und vom Ringen mit dem Glauben im eigenen Leben ist in diesem Buch die Rede. Es sind persönliche Texte, die eine große Vielfalt von Erfahrungen und Erkenntnissen zeigen. Es sind Texte voller Leidenschaft, die unsere Existenz als Christinnen und Christen berühren. Es ist kein Buch mit einem schlüssigen Reformkonzept, weil es das vermutlich nicht gibt. Die Christenheit, auf allen Kontinenten, lebt in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Niedergang in Deutschland und Europa bedeutet nicht den Niedergang der Weltkirche. Gleichwohl wachsen global harte innerkirchliche Auseinandersetzungen heran. Deshalb ist eine Geistesgegenwart gefragt, die versteht, wie zerbrechlich die Zivilisationen und der Status der bislang erreichten Weltgemeinschaft heute sind und wie gefährdet Leben und Wohlergehen so vieler Menschen in immer mehr Regionen der Welt ist. Das kann Christinnen und Christen nicht gleichgültig lassen.

Daraus ergibt sich ein starker Impuls für einen Aufbruch der Christenheit und die Suche nach einer neuen, pfingstlichen Professionalität in den christlichen Kirchen. Damit sind nicht vor allem andere gemeint, sondern wir selbst: Die Frage, wie uns die Frohe Botschaft inspiriert und warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden, richtet sich an jeden Einzelnen von uns. Vielleicht gelingt dann auch ein Blickwechsel: von der nostalgischen Betrachtung der Vergangenheit zu einem neugierigen Blick in die Zukunft. Das könnte den christlichen Kirchen helfen, hinter sich zu lassen, was nie tragfähig gewesen ist, und ihren Ort wirklich an den Peripherien dieser Welt zu finden, die neue Sicht auf den Menschen ernst zu nehmen und der Vielfalt der Sprachen – auch der Sprachen des Glaubens – zu trauen.

 

Den Autorinnen und Autoren danke ich von Herzen für großartige Texte und Impulse, dem Droemer Verlag und seiner Verlagsleiterin Margit Ketterle für das Interesse an diesem Buch und Jürgen Bolz für das einfühlsame und ermutigende Lektorat.

 

Ulm am 1. Dezember 2023

Annette Schavan

Worum geht es?

Annette Schavan

I. Zeugnis

Als sich vor 2000 Jahren Jesu Frohe Botschaft unter den Menschen herumsprach, bekam es das mächtige Römische Reich mit der Angst zu tun. Er predigte Nächstenliebe und verhieß ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. Zuerst machten sich ein paar Fischer vom See Gennesaret und einige Frauen mit ihm auf den Weg.

Die Apostelgeschichte berichtet, wie es nach Jesu Tod und Auferstehung weiterging: Aus der kleinen Gemeinschaft wurde eine die damalige Welt des Mittelmeeres umspannende Bewegung.

Ausgangspunkt war ein Ereignis in Jerusalem während des jüdischen Wochenfestes, das 50 Tage nach Pessach gefeiert wurde: Die Jünger hören ein Brausen vom Himmel her und machen danach die Erfahrung, dass sie, die aus Galiläa kommen, von den anwesenden Parthern, Medern, Phrygiern und all den anderen Ethnien verstanden werden.

Dieses Ereignis gilt in der Tradition der Christenheit als das Gründungsdatum der Kirche: Pfingsten. Papst Franziskus sagt es so: »Die Kirche hat am Pfingsttag begonnen. An diesem Tag hat sie sich für kulturelle Vielfalt entschieden.«1

Von Anfang an stand Jesus von Nazaret im Zentrum der neuen Religion. Die Evangelien berichten, wie sich der Mensch gewordene Gott auf eine bislang nicht vorstellbare Weise auf den Menschen und auf menschliches Leben einlässt. Er verändert das Leben und Denken der ersten Christen, ihr Selbstwertgefühl und ihren Blick auf die Zukunft. Sie reden darüber auf vielfältige Weise. Die Antwort auf die Frage, worin die gänzlich neue Perspektive bestand, die vom Christentum ausging, geben die Texte im Neuen Testament. In diesen Texten steckt eine große Dynamik. Sie berichten, wie sich das Leben derer verändert, die Jesus begegnen – sei es die Samariterin am Jakobsbrunnen, der reiche junge Mann, die Ehebrecherin, die Fischer am See oder der Zöllner Zachäus. Immer steckt in dem, wie sich Jesus verhält und was er sagt, eine Überraschung für die, die mit ihm unterwegs sind. Warum ist das so? Weil er Menschen anders sieht, als sie es gewohnt sind. Das eben ist neu: der Blick auf den Menschen jenseits von Zwecken und Leistungen, jenseits von Herkunft und Rollen. Das hat damals provoziert und provoziert noch heute, wirbelt unser Denken durcheinander, zeigt neue Perspektiven und weitet Horizonte.

Die Gemeinden, die nach Pfingsten gegründet wurden, sind der Nukleus für diese neue Perspektive. Sie schreiben keine Harmoniegeschichten; sie streiten darüber, was richtig und falsch, was gut und was böse ist. Die Briefe des Apostels Paulus an diese Gemeinden, aber auch die sieben Sendschreiben im Buch der Offenbarung, mit dem das Neue Testament abgeschlossen wird, sind zeitlose Texte, in denen den Gemeinden geholfen wird, ihr Verhältnis zur Welt zu klären, die Beziehung von Religion und Politik zu bestimmen und die Kraft zur Weltgestaltung zu entwickeln.2

Was ist von dieser provozierenden Perspektive geblieben?

Das Christentum hat die bildende Kunst, die Literatur und die Musik inspiriert und ist für die abendländische Kultur grundlegend. Es prägt unser Verständnis von Recht und Gerechtigkeit und gehört zum Ursprung ethischer Normen. Die Idee der Menschenrechte geht ebenso auf das Christentum zurück wie die Überzeugung, dass alle Menschen eine unveräußerliche Würde besitzen.

Heute bekennen sich weltweit 2,26 Milliarden Menschen – nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung – zum Christentum. Doch während die Zahl der Christen in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst, ist sie in Europa in einem beängstigenden Ausmaß rückläufig.

Warum? Neben der Irrelevanz für die eigene Lebensgestaltung werden in Befragungen immer wieder genannt: geistlicher Missbrauch und sexualisierte Gewalt, eine Sexualmoral, die menschlichen Beziehungen nicht gerecht wird, der Ausschluss der Frauen vom Weiheamt in der katholischen Kirche und eine Art der Hierarchie, die zunehmend nicht professionell im Umgang mit Konflikten wie mit Zukunftsperspektiven ist. Auch die Kirchensteuer ist ein genannter Grund, der in Deutschland möglich macht, was es ansonsten weltweit nicht gibt – aus der Kirche auszutreten.

Der Rückblick auf angeblich bessere Zeiten verstellt indes den Blick auf die Zukunft. Das Christentum »ist eine Perspektive, keine Retrospektive« – so sagt es Andrea Riccardi, der 1968 die Laiengemeinschaft Sant’Egidio gegründet hat.3 Die heute weltweit tätige Gemeinschaft im Dienst der Armen und des Friedens ist eine Frucht des II. Vatikanischen Konzils. Damals war Aufbruchstimmung im Christentum. Ein bedeutender Theologe des Konzils, der Jesuit Karl Rahner, hat die Zukunft als die eigentliche Provokation für Christinnen und Christen bezeichnet. Die Vitalität und Überzeugungskraft des Christentums und der Kirchen schwänden in dem Maße, in dem Zukünftiges gefürchtet werde. Er hat ebenso klar gesagt, dass die Tradition abbreche, wo der Eindruck entstehe, dass nichts Neues zugelassen werden kann.4 So weit ist es nun gekommen, und deshalb ist es Zeit, Quellen wieder zu entdecken, die auf neue Weise das Christentum als eine vitale Perspektive zeigen und die eine Atmosphäre des Aufbruchs ermöglichen. Will Kirche Zukunft, braucht es diesen Aufbruch und braucht es pfingstliche Erfahrungen. Darum soll es in diesem Buch gehen.

II. Erneuerung

Wird die Weltsynode einen Aufbruch der Weltkirche ermöglichen, wie ihn Pfingsten für die ersten Christen brachte? Kommt Schwung in die Ökumene und gelingt ein spirituell überzeugender Umgang mit dem Dissens in der Christenheit? Gewinnt die katholische Rede von der Synodalität Konturen, mit denen anerkannt wird, dass zu Fragen von Teilhabe und Herrschaft, zur institutionellen Verfasstheit der Kirche und zum Verständnis von Tradition in der Weltkirche verschiedene Ansichten, Erfahrungen und Erwartungen bestehen? Gelingt es, den gemeinsamen Schatz des Glaubens zu stärken und die Vielfalt von Zeugnissen des Glaubens ebenso? – Das jedenfalls wäre eine wichtige Weichenstellung in einer Lage, die beklemmend ist!

Die Gute Nachricht droht hinter vielen schlechten Nachrichten verloren zu gehen! Noch wissen wir nicht, zu welchen Ergebnissen die Weltsynode führen, und auch nicht, wie Papst Franziskus damit umgehen wird. Er scheint einen Bedarf an Veränderung und Erneuerung zu sehen. Ansonsten ist schwer erklärbar, warum eine so anspruchsvolle Synode der Vergewisserung und des Gesprächs in Rom arrangiert wird. Manche meinen, es sei ein großes Palaver mit ungewissem Ausgang, das da organisiert werde. Möglicherweise ist eine Absicht von Papst Franziskus auch, den Mitgliedern der Weltsynode vor Augen zu führen, was alles so gedacht und geglaubt wird in der Weltkirche. Die Prioritäten sind verschieden und kulturelle Prägungen auf allen Kontinenten sind es auch. Die tatsächliche Vielfalt ist nicht nur eine Stärke, sie kann auch ein erhebliches Hindernis für Erneuerung sein. Immer schwingt die Frage mit, aus welchem Geist soll die Erneuerung sein? Aus Stellungnahmen im Vorfeld der Weltsynode wird deutlich: Es gibt jene, die jede Veränderung als Angriff auf die »römisch-katholische Kirche« ablehnen. Das prominente Beispiel dafür sind die Kardinäle, die einen Brief mit Dubia, also Zweifeln, an den Papst geschrieben haben. Die Namen sind bekannt; es ist nicht ihr erster Brief. Immer ist mit Walter Kardinal Brandmüller mindestens ein Kardinal deutscher Herkunft dabei. Der andere Kandidat aus Deutschland für solche Briefe, in denen das umfassende Unverständnis für diesen Papst und sein Pontifikat zum Ausdruck kommt, Gerhard Ludwig Kardinal Müller, wurde in die Weltsynode berufen, nennt das aber bereits im ersten Interview einen »Schachzug« des Papstes, was vielleicht auch stimmt. Aus Deutschland kommen also keineswegs nur Reformkräfte, wie gemeinhin gesagt wird.

Es gibt dann jene, die davon überzeugt sind, dass eine Erneuerung der Kirche auch kirchenrechtliche Konsequenzen haben muss. Die Ordnung kann nicht bleiben, wie sie ist, wenn es in der Praxis komplett anders zugeht. Das als Pastoral zu bezeichnen, hat Grenzen, die erreicht sind. Über die große Bedeutung von Frauen in der Weltkirche zu sprechen und an das marianische Prinzip zu erinnern, wenn es um den Zugang der Frauen zu allen Sakramenten geht, also auch zum Weihesakrament, überzeugt nicht.

Die Antworten von Papst Franziskus auf die Dubia einiger Kardinäle zeigen gleichwohl, dass in diesem Pontifikat Steine aus dem Weg geräumt werden könnten, die in Zukunft eine »befreite« Diskussionslage ermöglichen.

Das Dokument zum Abschluss der ersten vierwöchigen Sitzungsperiode im Oktober 2023 gibt darauf ebenfalls zahlreiche Hinweise. Es sind bislang keine konkreten Reformen beschlossen. Das war auch nicht zu erwarten. Es werden aber zu einer Reihe »schwieriger Themen« die Grenzen und die Unzulänglichkeit der bisherigen Verkündigung genannt. Das ist neu und ein großer Schritt. Es ist ein Dokument, das nicht – wie so häufig in Dokumenten des Heiligen Stuhls – vor allem aus Papstzitaten oder Textpassagen der Kirchenväter besteht.

Schließlich gibt es jene, die Erneuerung in der bisherigen kirchenrechtlichen Verfassung als eine vor allem geistliche Erneuerung wünschen. Sie verstehen sich als Brückenbauer, übersehen aber, wie problematisch manche Situation ist, die nur mit der Änderung des bestehenden Rechts verbessert werden kann. Erinnert sei nur an die Amazonassynode und das überwältigende Votum für die Weihe verheirateter Männer, das der Papst nicht umgesetzt hat. Eine Rolle spielt wohl auch, dass es nie eine wirklich vergleichbare Rezeption des II. Vatikanischen Konzils in der Weltkirche gegeben hat.

Es ist bemerkenswert, dass die Forschung zu den verschiedenen Rezeptionsgeschichten des II. Vatikanischen Konzils erst vor Kurzem mit einem Abstand von 50 Jahren zu diesem Ereignis begonnen hat. Die Skepsis unter den Kontinentalkirchen ist dabei unübersehbar. Vertreter aus Afrika, Asien und Lateinamerika scheinen sich einig zu sein, dass es nicht die Europäer sein sollen, die über den Geist der Erneuerung entscheiden.

Skepsis spielt auch in der Beziehung zwischen Deutschland und Rom eine große Rolle. Das »Land der Reformation« hat aus römischer Perspektive Licht- und Schattenseiten – für die deutsche Sichtweise gilt dies ebenso.

In Rom wurde immer schon sehr anerkannt, dass die Katholiken in Deutschland mit den Hilfswerken auf allen Kontinenten, also wirklich international, tätig sind und über viel Expertise in allen internationalen Fragen verfügen. Theologisch interessierte »Römer« wissen auch, dass die wissenschaftliche Theologie an den Fakultäten in Deutschland über Jahrzehnte eine Art Goldstandard für Qualität und Internationalität gewesen ist. Wer sich, aus Afrika, Asien oder Lateinamerika kommend, theologisch qualifizieren wollte, musste zunächst die deutsche Sprache lernen und wurde an den wissenschaftlichen Maßstäben in Deutschland geschult. Das lässt in dem Maße nach, in dem nun auch in Afrika, Asien und Lateinamerika selbstbewusst theologische Forschung etabliert und damit die Aufforderung an Deutschland und Europa verbunden ist, nun auch ihnen zuzuhören.

Katholiken in Deutschland haben schließlich – beginnend mit der Würzburger Synode im Jahr 1976 – mehrfach Eingaben in Rom gemacht, die ohne Antwort von dort geblieben sind. Die Deutschen gelten als diejenigen, die wollen, dass Regelungen getroffen werden, die die Paraphe des Papstes tragen, bevor eine Veränderung möglich wird. Das ist dem italienischen und vatikanischen Naturell gleichermaßen fremd. Unberechtigt ist diese Erwartung aber nicht immer. Ein Schlüssel in diesem Zusammenhang wird die Bedeutung dessen sein, was mit Synodalität gemeint ist. Die Verfassung der Kirche ist zu klären, nicht mehr und nicht weniger.

Zuletzt sei daran erinnert, dass Papst Franziskus im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 den Protestanten dafür gedankt hat, was Martin Luther für die Christenheit geleistet hat. Niemand sollte daraus aber den Schluss ziehen, dass es auch viele »Römer« im Vatikan so sehen.

Die Beziehung also bleibt ambivalent, zumal Papst Franziskus erwartet, dass andere Perspektiven als die aus Deutschland und Europa stärker in das Zentrum der Weltkirche rücken. Das wiederum hat mit seiner Theologie der Peripherie zu tun.

Möglicherweise ist diese Theologie ein geeigneter Impuls für einen Aufbruch in der Weltkirche. Noch aber wehrt die europäisch geprägte Theologie eher ab und erklärt, dass seine Schriften wenig mit Theologie zu tun hätten. »Franziskus ist eben kein Theologe« – so ist dann zu hören. Möglicherweise ist das ziemlich falsch. Warum finden angesehene Theologen, der Papst sei eher kein Theologe und interessiere sich dafür auch nicht? Papst Franziskus macht es wiederum den Bücherfreunden nicht leicht, wenn er Sätze sagt wie den, dass man Jesus nicht in Bibliotheken findet. Es gibt also noch viel Gesprächsbedarf, und der Aufbau von wechselseitiger Wertschätzung wird notwendig sein, um miteinander an der Erneuerung der Weltkirche erfolgreich zu arbeiten. Europa wird, das lässt sich schon jetzt sagen, wohl nicht mehr im Zentrum stehen, obgleich der Vatikan seine Heimat in Rom hat.

III. Frieden

Zu den Prioritäten des Pontifikates von Papst Franziskus gehört, die Religionen zu einem aktiven Dienst für den Frieden in der Welt zu bewegen.

Spannungen zwischen Politik und Religion wie auch zwischen den Religionen führten und führen zu Verfolgung, Gewalt und Terror. Wer durch die ehemaligen jüdischen Gettos in europäischen Städten wie Prag, Venedig oder Rom geht, wird an die Pogrome und gesellschaftlichen Exklusionen gegenüber der jüdischen Bürgerschaft erinnert. In der Sala Regia im Apostolischen Haus in Rom, in der der Papst das diplomatische Korps zum Neujahrsempfang begrüßt, sind Gemälde vom Massenmord an den Protestanten in der Bartholomäusnacht 1572 in Frankreich und von der Schlacht von Lepanto zu sehen, in der 1571 die christlichen Mittelmeerstaaten die Flotte des Osmanischen Reichs besiegten. Die Kreuzzüge und die Begegnungen christlicher Missionare mit indigenen Völkern stehen für Fanatismus und Gewalt. Heute ist es der islamistische Terror, der die Welt erschüttert. So stehen Hamas und Hisbollah in ihrem Kampf gegen die Existenz des Staates Israel für Barbarei, Terror und Menschenverachtung. Bis in unsere Tage hinein gibt es die fatale Vereinnahmung von Religion – auch im Christentum – durch die Kriegstreiber dieser Welt. So nennt der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill Putins Angriffskrieg auf die Ukraine einen »heiligen Krieg«, den Putin gegen »das Böse« und gegen den Westen führe. Der Westen verkörpert nach Kyrills Auffassung das Böse und die Abkehr vom Heiligen sowie den Verfall christlicher Werte.

Vom Frieden der Religionen und einem wirksamen Dienst der Religionen für den Frieden sind wir weit entfernt. Wohl auch deshalb ist für Papst Franziskus der aktive Dienst für den Frieden eine Signatur seines Pontifikates, und das aus gutem Grund. Er weiß, dass es keinen Frieden in der Welt ohne den Frieden der Religionen geben wird. Hans Küng hat darauf bereits vor Jahrzehnten hingewiesen. Der Papst kennt das Versagen der Religionen in unseren Tagen. Die verheerenden Konsequenzen der afghanischen Talibanherrschaft, speziell für die Frauen, stehen ebenso für den Missbrauch von Religion wie der Angriff auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021. Da waren Kreuze zu sehen und Bibelzitate zu hören. Eine extreme politische Rechte kaperte gleichsam christliche Zeichen und Worte der Bibel für Gewalt und Aufruhr gegen einen demokratisch legitimierten Regierungswechsel.

Können Religionen angesichts solcher aktueller Entwicklungen als überzeugende Kräfte für den Frieden und für gute Zukunftsperspektiven gesehen werden?

Die Friedensnobelpreisträgerin, Menschenrechtsaktivistin, Politikerin und gläubige Muslima Tawakkol Karmann aus dem Jemen sagte 2016 beim Friedenstreffen in Assisi: »Es gibt keine Verbindung zwischen Terror und Religion. Aber: Es gibt eine Verbindung zwischen Terror und Ungerechtigkeit, Terror und Korruption, Terror und Unterentwicklung und fehlenden religiösen Reformen. Gott und alle Werte, die uns die Religionen lehren, haben mit Frieden zu tun und Liebe. Es gibt keine Verbindung zwischen Gott und Gewalt, zwischen Religion und Gewalt.«5

Ihre Worte erinnern an das Buch Jesaja (32, 17), in dem es heißt, dass der Friede ein Werk der Gerechtigkeit ist. Darauf nahm der frühere Kardinalstaatssekretär Casaroli Bezug, als er erklärte: »In Wirklichkeit sieht die Kirche den Frieden vor allem als Problem der Sozialethik, d.h. als moralische Verpflichtung und Verantwortung.«6

Eine heutige Friedensethik handelt deshalb nicht allein vom Verzicht auf Waffen. Eberhard Schockenhoff nennt in seiner Friedensethik für eine globalisierte Welt als Säulen eines gerechten Friedens den weltweiten Schutz der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Ausbau supranationaler Verflechtung.7

Diese Wege zum Frieden zeigen eine anspruchsvolle, vielgestaltige Aufgabe, die sich mit dem Rückfall in Nationalismen und Konzepten einer Entkoppelung von Staaten schwerlich vereinbaren lässt. Nationale und kulturelle Egoismen führen dazu, dass die Zahl regionaler Konflikte zunimmt und der Weltfrieden immer brüchiger wird.

Die Weltkirche hat im 20. Jahrhundert bemerkenswerte Impulse für Frieden und Solidarität gesetzt. Dafür stehen die Reden der Päpste vor nationalen und internationalen Parlamenten ebenso wie konkrete Initiativen zur Völkerverständigung.

Herausragend ist die Entscheidung von Papst Paul VI. 1965, zunächst nach Israel und dann, in der Schlussphase des II. Vatikanischen Konzils, nach New York zu reisen und dort eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu halten. Diese Rede, wie alle Auftritte der nachfolgenden Päpste vor der UN, zeigt die Weltkirche als global ausgerichtet, ein besonderer Status, jenseits von politischen Bündnissen und deshalb auch ohne Bündnispflichten. Die Päpste formulieren programmatische Perspektiven, die weltweit Fortschritte ermöglichen. Sie plädieren für Frieden und Solidarität und eine anthropologische Wende in der Weltpolitik.

Papst Franziskus schließlich verbindet eine neue anthropologische Perspektive mit einem Verständnis von Gemeinwohl, das der ökologischen Krise Rechnung trägt und mit einem langen Atem anzustreben sei. Das ist dann auch der Grundgedanke in seiner Enzyklika Laudato si’, die der Klimaökonom Ottmar Edenhofer als ein neues Kapitel in der katholischen Soziallehre bewertet.

Die wenigen Hinweise zeigen, dass zu unterscheiden ist zwischen einem Bedeutungsverlust der Kirchen und Religionsgemeinschaften in jenen Regionen der Welt, in denen die Individualisierung das Bindungsverhalten der Menschen stark verändert hat, und der Weltkirche als Partner der politischen und kulturellen Eliten weltweit. Ansonsten gäbe es wohl auch nicht 189 Staaten in der Welt, die diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl pflegen. Es ist ebenso zu differenzieren zwischen den Schwächen von Religionsgemeinschaften aufgrund unterbleibender Reformen und ihrer politischen Präsenz, die Licht und Schatten zeigt. Es ist jenseits von Heils- und Unheilsgeschichten, die in den Religionen geschrieben werden, von überragender Bedeutung, dass sich alle Religionen in den Dienst von Friedensstiftern nehmen lassen.

Einen Frieden der Welt ohne den Frieden der Religionen wird es auch in Zukunft nicht geben. Eine solidarische Weltgemeinschaft ohne die Solidarität der Religionen kann nicht entwickelt werden. Schließlich ist schwer vorstellbar, dass ohne den Beitrag der Religionen ein umfassendes Verständnis von Gemeinwohl politisch durchsetzbar ist. Das aber ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, die großen Zukunftsaufgaben der globalen Welt gemeinsam zu bewältigen.

IV. Geistesgegenwart

In den Jahren der jungen Bundesrepublik gehörten über 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger einer der beiden christlichen Kirchen an. Diese Prägungen waren spürbar, sie galten als politisch relevant und haben sich auch in konkreten politischen Entscheidungen gezeigt. Es war so gesehen eine homogene Gesellschaft – im Vergleich zu späteren Jahrzehnten.

Auch deshalb, weil neben den kirchlichen Bindungen gemeinsame Erfahrungen von Kriegs- und Nachkriegszeit prägend waren. Es war eine besondere, vermutlich eine Ausnahmesituation. Die Prinzipien der katholischen Sozialethik waren ein Schlüssel für den Aufbau der Bundesrepublik: Ihre föderale Ordnung, der Vorrang der kleinen Einheit vor der großen Einheit und der freien Träger vor dem Staat wurden zu einer großen Chance für Verbände und Organisationen der Kirchen in vielen Bereichen der Gesellschaft. Sie wirkten freiheitsstiftend und haben Vielfalt zu einem Merkmal der bundesrepublikanischen Gesellschaft werden lassen. Das hat das Ansehen des Landes gestärkt – auf seinem Weg zurück in die Völkergemeinschaft.

Heute ist weniger als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger Mitglied in einer der christlichen Kirchen. Der Rückgang der Mitgliederzahlen wird in der römisch-katholischen Kirche und in den evangelischen Landeskirchen weitergehen. Der Autoritätsverlust der Kirchen hat vielfältige Ursachen. Er ist in hohem Maße selbst verschuldet. Die Fälle von sexualisierter Gewalt sowie deren Vertuschung einerseits und die mangelnde Professionalität bei der Aufklärung andererseits tragen dazu ebenso bei wie interne Orientierungslosigkeit und Zerstrittenheit. Es scheint, als könnten die Kirchen mit den Umwälzungen, in denen die Welt und auch sie selbst stecken, nichts anfangen. Ihr Blick ist allzu oft rückwärtsgewandt. Ihre Kriterien für Gelingen und Misslingen liegen in der Vergangenheit. So schwindet die Präsenz hier und heute. Die Sprache in den Kathedralen wird nicht mehr verstanden. Große Werke der Kunstgeschichte können nicht mehr entziffert werden. Wer Kunstgeschichte studiert, braucht eine Einführung in das Christentum, seine Geschichten und Bilder, um verstehen zu können. Das alles ist kein Drama, muss aber wahrgenommen und gedeutet werden. Es steckt Verfallsgeschichte dahinter. Es entsteht aber auch Raum für Aufbruch und Perspektive. Bekanntlich liegen Krise und Kairos nahe beieinander. Es gilt, die Sprachen des Glaubens neu zu entdecken. Es braucht einen Sinn für Stille und Schönheit, in denen sich erschließt, was im Getümmel des Alltags verschlossen bleibt. Die Priorität von kirchlicher Verwaltung sollte durch die Solidarität mit den Peripherien unseres Lebens und der Welt ersetzt werden.

Ein bewegendes Beispiel für die Solidarität der Weltkirche in Zeiten der Ungewissheit waren die Bilder am 27. März 2020, die Papst Franziskus beim Gebet vor einem Kreuz zeigen, das eigens aus der Kirche San Marcello al Corso auf den Petersplatz gebracht worden war. Dieses Kreuz war in Rom zu Zeiten der Pest 1522 bei Prozessionen durch die Stadt getragen worden. Der Papst hatte einige Tage zuvor die Kirche aufgesucht, um vor dem Kreuz zu beten. Er ging über den menschenleeren Corso, der in anderen Zeiten zu den belebtesten Straßen Roms gehört. Schon diese Bilder gingen um die Welt. An dem Abend stand er alleine auf dem regennassen Petersplatz und spendete den Segen Urbi et orbi – der Stadt (Rom) und dem Erdkreis. Im Kirchenjahr wird dieser Segen Weihnachten und Ostern gespendet.

An diesem Abend waren die Katholiken nicht unter sich; vielmehr wurde deutlich, dass die Christenheit, die in allen Teilen der Welt präsent ist, der Menschheit in dieser zerbrechlichen Welt den leidenden Christus am Kreuz zeigt. Es ist eine Botschaft der Solidarität im Leiden. In einer Zeit, in der Menschen ein tiefes Gefühl der Ungewissheit erleben, zeigt die Weltkirche den Gekreuzigten. Die Botschaft, die damit verbunden wird, ist skandalös und strahlt zugleich eine besondere Festigkeit aus.

Die Bilder waren auch ein Zeichen der Geistesgegenwart. Sie gehört zu den Haltungen, die stark an Bedeutung gewinnen. Es geschieht nichts mehr aus Gewohnheit. Von Christinnen und Christen werden heute Entscheidungen erwartet. Eine Tradition und Institution, die sich wünscht, dass Entscheidungen zu ihren Gunsten getroffen werden, braucht eine Haltung der Geistesgegenwart. Praxis aus Gewohnheit hat keinen Qualitätsvorsprung gegenüber der Suche von heutigen Menschen und ihren Wegen, Entscheidungen zu treffen. Zu den Gewohnheiten gehörten nicht selten auch Erfahrungen der geistlichen Bevormundung bis hin zum geistlichen Missbrauch. Es gehörte dazu die Verherrlichung der Missachtung unserer Welt und einer Abwendung von der Welt, die ein Weg, aber nicht der bessere Weg sein kann. Geistesgegenwart ist demgegenüber die Voraussetzung, um zu verstehen, wo die Peripherien sind. Schon deshalb werden wir am Christentum festhalten, weil damit der Sinn für die Peripherien auf eine bemerkenswerte Weise – ausgehend vom barmherzigen Samariter – verbunden ist. Im Schlussdokument der Weltsynode ist von einer Kirche die Rede, die »den Wunden der Welt nahe ist«.

V. Pfingsten!

Das Pfingstgeschehen wird im 2. Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben, außerdem im Evangelium nach Johannes, das vermutlich um das Jahr 100 nach Christus in Ephesus verfasst wurde. In den drei synoptischen Evangelien taucht es nicht auf. Es ist eine Geschichte, die von der überraschenden Erfahrung handelt, Sprachen zu verstehen, die eigentlich fremd sind.

Es vermag ein Brausen am Himmel Bewegung in eine eher ratlos wirkende Schar der Anhänger Jesu zu bringen. Aus der Ratlosigkeit entsteht Dynamik. Petrus und die übrigen elf Jünger treten auf, er hält eine Pfingstpredigt, in der er dazu aufruft, sich zum Christentum zu bekennen und taufen zu lassen.

In der Apostelgeschichte ist von 3000 Taufen die Rede.

Pfingsten ereignet sich in einer Situation, in der es nicht so recht vorangeht mit den Christen, die Jünger eher verängstigt und jedenfalls ratlos beieinander in einem Haus sind. Es braucht ein Signal des Aufbruchs, eine stimulierende Kraft. Was dann geschieht, ist ermutigend.

Deshalb ist Pfingsten! als Titel für dieses Buch gewählt. Es braucht auch heute eine stimulierende Kraft – eine Aufbruchsgeschichte in fragiler Zeit.

Vom Wachstum an weltweiter Verständigung ist schon seit geraumer Zeit kaum mehr die Rede. Stattdessen wird eine bereits erreichte Weltgemeinschaft aufgekündigt. Der Rückfall in nationale Egoismen und aggressive Interventionen, Kriege und Terror haben eine unheilvolle Dominanz gegenüber den Bemühungen um globale Gerechtigkeit und Solidarität gewonnen.

Es ist ebenso und vor allem eine Aufbruchsgeschichte für die Christenheit und die Weltkirche. Da zeigen sich höchst verschiedene, ungleichzeitige Entwicklungen. In Ländern Europas, in denen das Christentum besonders stark war, hat sich der Niedergang rasant vollzogen. Sogenannte katholische Länder wie Irland und Spanien sind weit fortgeschritten dabei, sich von kirchlichen Positionen zu entfernen. Der Zusammenhalt in der Weltkirche ist durch das Papstamt als Amt der Einheit gewahrt und zugleich brüchig.

Die Weltsynode, die im Oktober 2023 in Rom getagt hat und im Oktober 2024 erneut zusammentritt, hat gezeigt, wie groß die Bandbreite der Positionen ist, wie viel Skepsis untereinander besteht und wie schwer ein Konsens über das Verständnis von Erneuerung zu erreichen sein wird.

Mancher Bischof in Deutschland ruft da gleich wieder nach einer Order des Papstes. So, als lägen darin das Heil und zugleich ein geeigneter Dispens für die fehlende eigene Gestaltungskraft. Manche Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wiederum erweckt den Eindruck, als verstehe sie sich zunehmend als eine zivilgesellschaftliche Gruppe (NGO), die bestrebt sein will, möglichst gut der vorherrschenden Meinung, dem Mainstream zu folgen. Auch eine solche Haltung führt nicht zu mehr Relevanz, eher zur Selbstverzwergung.

Es ist die Zeit für Aufbruchsgeschichten und dafür, sich der Relevanz zu vergewissern, die im Christentum für heute und in Zukunft steckt.

Davon handeln die Beiträge in diesem Buch: von selbstbewussten Großmüttern, die ihren Enkeln für deren Leben eine bleibend inspirierende christliche Erfahrung mitgegeben haben; von kraftvollen Impulsen der Weltkirche zum Frieden und zur Bewahrung der Schöpfung; von der Zeitenwende vor über 2000 Jahren, die eine neue Sicht auf den Menschen und die Zeit ermöglicht hat; von der Dunkelheit im Raum der Kirche, die zu verzweifeltem Leben und Sterben führt; vom Verlust der Relevanz und von der Erfahrung, hin- und hergerissen zu sein in der Beziehung zur Kirche; vom pfingstlichen Geist in einer Verwaltung; vom neuen Schwung in der Ökumene und von notwendigen Dialogen mit den orthodoxen Kirchen; vom Glück des Risikos; von Diensten an der Peripherie und an der Seite von Opfern.8

 

Krise und Kairos sind im besten Fall die zwei Seiten einer Erfahrung. Allerdings nur dann, wenn der Wille zur Erneuerung vorhanden ist, wir auf das Christentum nicht verzichten und darin eine Perspektive wieder entdecken, die lebens- und friedensförderlich ist.

Zeit für Hoffnungsmacher

Über Heilige, Hoffnung und das Christentum in Zeiten der Krise

Thomas Arnold

 

 

Václav Havel war nie ein Träumer, vielmehr ein Skeptiker: Die Philosophie des Happy Ends blieb ihm fremd. Er ging nicht davon aus, dass etwas gut ausgehen würde, auch wenn er sich trotzdem dafür einsetzte. Heiterkeit und Hoffnung machten ihn zum Helden für die Demokratie. Es ist die Biografie eines Heiligen unserer Zeit, weil sein Leben davon zeugt, wozu Menschen fähig sind. Wenn wir heute – 35 Jahre nach dem Mauerfall – Freiheit und Versöhnung auf unserem Kontinent denken, braucht es Menschen, die Mut, Kraft, Energie und die Bereitschaft haben, dazuzulernen. Der christliche Glaube kann sie dazu befähigen.

Einer von ihnen ist Jürgen Opitz. Der Bürgermeister der sächsischen Stadt Heidenau erlebte im Jahr 2015, was heute viele erneut erwarten. Aufgebrachte Bürger in einer krisenhaften Situation, bei der die Eskalation kaum mehr beherrschbar bleibt. Als dann der aus Niedersachsen stammende Bundesminister Sigmar Gabriel vor Ort vom »Pack« sprach, mobilisierte seine Person viele, die eigentlich bisher nicht vor der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Baumarkt demonstrierten. Gabriel stieg ins Auto und fuhr davon. Jürgen Opitz blieb und versuchte Lösungen zu finden. Manche arbeiteten sich in der Folge an ihm ab, manche bezeichneten ihn als Heiligen. Er selbst würde das nicht von sich sagen. Aber er weiß zwischen Sünde und Sünder zu unterscheiden. Opitz hat dazugelernt. Während seines Theologiestudiums, während der friedlichen Revolution und während seiner 30 Jahre in der Stadtverwaltung. Er hat keine Revolution angezettelt, aber versöhnt, wo die Fronten schon verhärtet waren.

Danach sehnen sich die Menschen. Sie suchen dabei nicht nur den Einzelnen, sondern jene Institutionen, die dafür Strukturen bieten. Der Staat wird es nicht sein. Die Kirchen könnten es sein. Doch fordern viele von der Kirche, erst einmal eigene Schuld aufzuarbeiten, um dann wieder sprachfähig zu sein. Diese Zeit innerer Einkehr mag für die Kirchen wichtig sein. Weil sich aber die Welt weiterdreht, kann es sich das Christliche nicht erlauben, dauerhaft in Klausur zu gehen. Die Kultur Europas vertraut auf eine Wirkmacht des Christlichen in unserer Zeit, die weder durch nicht kirchliche Spiritualität ersetzt noch als politische Ideologie missbraucht werden darf. Vielmehr sollte es zur Aufgabe des Christentums in unserem Jahrhundert werden, als Quelle moralischer Inspiration für eine Kultur der Freiheit und der Demokratie zu dienen.

Für die Menschen in Sachsen ist diese Prägung zwar in Gesetzestexten und Folklore verortet, aber im reflektierten Lebensvollzug kaum noch vorhanden. Sie leben ganz anders, ganz unchristlich. Es ist keine bewusste Entscheidung gegen eine Religion oder Institution wie die Kirche, sondern es ist die zweite bis dritte Generation, die nicht mehr zur Gottesfrage Stellung bezieht. Der Erfurter Religionsphilosoph Eberhard Tiefensee bezeichnet sie als religiös indifferent. Es sind eben nicht jene, die noch getauft, aber eigentlich desinteressiert am Wirken der Kirche sind. Es sind auch nicht jene Atheisten, die sich bewusst gegen Gott entscheiden. Und es sind auch nicht die Agnostiker, die sich einer Stellungnahme enthalten. Sondern es sind jene Menschen, für die Gott als sinnstiftendes Element in ihrem alltäglichen Entscheiden irrelevant ist. Das meint nicht, dass Religion und religiöse Fragen nicht im Alltag vorkommen würden. Aber sie werden »überlesen« oder als Informationen aus dem Reich der Zurückgebliebenen abgetan.

Unsere Gesellschaft sollte das nicht als defizitär abtun. Für die Art und Weise, wie wir in den kommenden Jahrzehnten in der Bundesrepublik das Christsein leben, wird Mitteldeutschland ein Lernort sein. Die Ausgangsbedingungen und der Umgang damit werden unterschiedlich bleiben. Aber das Phänomen wird sich flächendeckend ausbreiten. Noch sind in weiten Teilen der alten Bundesrepublik die Menschen vom Christentum lediglich entfremdet. In der nächsten Generation werden sie davon unberührt sein. Stadt und Land sind davon betroffen, es wird über Generationen gewachsen sein. Noch nie in der 2000-jährigen Geschichte unseres Christentums war die Religionsgemeinschaft vor die Herausforderung gestellt, Christus in Kontakt mit Menschen zu bringen, wo kein Gottesglaube mehr existiert. Die dafür bewährten Strategien werden nicht mehr funktionieren. Was heute im Osten der Republik mehrheitlich gelebt wird und sich im Westen ausbreitet, ist eine »ganz solide Lebensoption unter vielen anderen«9 (Eberhard Tiefensee). Drei Charakteristika einer solch eigenen existenziellen Kultur sind zu nennen:10

Erstens: Auch ohne Gott kommt es zwar zum Entzug eines transzendenten Begründungszusammenhangs, nicht aber zum außergewöhnlichen Verfall der Wertvorstellungen. »Gottlosigkeit« bedeutet nicht »Sittenlosigkeit«. Natürlich haben Menschen ohne Gottesglauben auch Wertvorstellungen. »Sie speisen sich aus einer Vielzahl von Traditionen und haben eine pragmatische Seite, die natürlich zweifellos christliche Inhalte aufgenommen hat, aber für die meisten ist es gleichgültig, woher diese Werte gekommen sind (…). Wertvorstellungen werden als vernünftig bzw. praktikabel angenommen oder abgelehnt, mit Religion hat das in der Regel wenig zu tun.«11 So gern sie es wären: Kirchen sind weder die einzigen noch die zentralen Werteagenturen einer demokratischen Gesellschaft. Wenn die Relevanz der Kirchen zu sinken droht, ist die Versuchung groß, sie für das Gemeinwesen zu funktionalisieren. Das wäre eine verkürzte Verzweckung des christlichen Glaubens! Dazu gehört auch eine Einsicht aus der jüngeren Vergangenheit: Wer meint, die aktuell medial sichtbaren Polarisierungen in der Bevölkerung Ostdeutschlands und der Erfolg der Rechtsextremisten seien ein Ausdruck der Gottferne, der muss stärker auf die gemeinsame deutsche Vor- und Nachwendegeschichte schauen als auf die Gottesabwesenheit. Wenn aber das Fehlen Gottes nicht zum Sittenverfall führt, dann sollten Christen kritisch gegenüber jenen Politiker:innen sein, die für Mehrheiten diese Erzählung bemühen. Zugleich sollten sie nicht die »christliche Zivilisation« umzäunen, um sie möglichst zu erhalten. Aus der DDR wissen wir: Jede Mauer, die vorgibt zu beschützen, aber stattdessen einengt, wird früher oder später fallen. Christinnen und Christen sollten anerkennen, dass »die neuzeitliche Gestalt der Religion nicht die erste und offensichtlich auch nicht die letzte gesellschaftlich-kulturelle Inkarnation des christlichen Glaubens in der Geschichte bleiben wird« (Tomáš Halík).

Zweitens: Auch Areligiöse können feiern, vor allem an den Höhe- und Tiefpunkten ihres Lebens. Schulaufnahme, freie Trauung und die Ansprache bei der Bestattung sind die säkularen Sakramente des 21. Jahrhunderts. Dabei darf man sich nicht täuschen: Weil das kirchliche Ritual qualitativ schlecht oder nicht verfügbar ist, weil beispielsweise der Ortspfarrer gerade im Urlaub ist oder Homosexuelle keine Segnung erhalten dürfen, wird rasch und ohne weitere Begründung das säkulare Ritual in Anspruch genommen. Umgekehrt ist es aber begründungspflichtig. Oder anders formuliert: Wer einmal säkulare Riten in Anspruch genommen hat, wird kaum mehr zu kirchlichen Ritualen zurückkehren. Die Kirchen sollten Menschen so qualifizieren, dass sie bedarfsgerecht und mit mühevoller Kleinarbeit andere durch die Sakramente und Sakramentalien an der Liebe Gottes teilhaftig werden lassen. In der Zeit des Übergangs, wo in Teilen der Bundesrepublik Menschen noch einen Bezug zum Christlichen haben, könnten Begleitungen mit persönlicher Nähe, authentischem Leben und einem der Nachfrage entsprechenden Angebot die Dynamik der Säkularisierung abfedern.

Drittens: Die wohl größte Provokation ist, dass selbst existenzielle Grenzsituationen nicht zu religiöser Ein- und Umkehr führen. Die areligiöse Gesellschaft stellt nicht mehr die Frage nach dem Warum, sondern nach dem Wie. Das verändert aber die Perspektive auf die Analyse der Situation. Wenn der Mensch stirbt, wendet sich der Mensch heute an Mediziner und Psychologen, um das Wie zu erfahren. Wenn die Gesellschaft oder Völker in Krisen geraten, werden Politikwissenschaftler:innen nach dem Wie gefragt. »Wie ist es dazu gekommen?«, ist in der Breite der Bevölkerung der Versuch unserer Zeit, mit empirischen Wissenschaften kausale Mechanismen zu finden, die nicht nur erklären, sondern in Zukunft solche Geschehnisse vermeiden helfen. Eine solche Fragestellung bietet aber keinen Anknüpfungspunkt mehr für religiöse oder metaphysische Überlegungen. Zugleich kann festgestellt werden: Wer das schafft, kann bestenfalls praktische Probleme besser bewältigen. Wenn die Warum-Frage aufkommt, wäre sie nur ein Krisenphänomen, dem ich selbst oder mithilfe meines sozialen Umfelds entkommen muss, um die Frage verstummen zu lassen. Die entscheidende Frage christlichen Agierens in den kommenden Jahrzehnten wird sein, wie Christen akzeptieren, dass die Menschen nach dem Wie fragen und sie dabei trotzdem ihre Fragen nach dem Warum im Spiel behalten.

Zuversicht ohne Gott ist denkbar. Und sie wird für immer mehr Menschen in Deutschland denkbar. Will das Christentum in dieser Zeit einen Beitrag zur Heilung der Welt leisten, muss es seine inspirierende geistige Kraft in gesellschaftliche Fragen einbringen. Dafür muss es die eigenen Quellen neu lesen lernen, aber auch den Mut aufbringen, die Zeichen der Zeit ernst zu nehmen. Die Wände eines solchen Feldlazarettes wären weder die nostalgischen Tapeten der Vergangenheit noch wären sie kulturell einfarbig gestrichen. Stattdessen nehmen sie die Buntheit der Welt auf und lassen radikal die Pluralität in der Einheit zu. Das schützt vor Tyrannei ebenso wie vor Anarchie. Die Kirche als Feldlazarett in dieser Zeit sollte von besorgter Besonnenheit bestimmt sein.

Mag das höchste Gut einer liberalen Gesellschaft, wie wir sie in Europa kennen, die Freiheit sein, so muss das Christliche diese Liberalität mit der Frage bereichern, wie es gelingen kann, so zu handeln, dass man Hoffnungsmacher für die Gesellschaft ausbildet. Hoffnungsmacher müssen nicht zwangsweise an Christus glauben, aber Christen qualifizieren Menschen dazu, mit Zuversicht in diese Welt zu gehen, weil ihre Zuversicht in der Hoffnung auf das Leben nach dem Tod gründet. Ein Beispiel für eine solche Haltung kennt die Bundesrepublik aus den Jahren ihrer Wiedervereinigung. Die Demokratie in Ostdeutschland ist nach 1989 mit Leben gefüllt worden, weil überproportional hoch im Vergleich zum Bevölkerungsanteil in den Kirchengemeinden der eine zum anderen sagte: »Du hast ein christliches Bild vom Menschen, wir haben endlich die Freiheit – bring dich ein, damit unser Bild vom Menschen Mehrheiten findet.« Das fixiert nicht auf eine Partei, aber auf die Parteien im demokratischen Spektrum, die es gut meinen mit allen Menschen. Eine solche Haltung brauchen wir wieder. Gerade in Zeiten großer Unsicherheit ist sie ein Wert. Wir brauchen sie für unseren Kontinent. Für unsere Kirche. Und für unseren Glauben. Denn sowohl der Kontinent als auch die Kirche und der Glaube unterliegen einem tiefgreifenden Wandel. Nichts davon wird in zehn Jahren noch so aussehen wie heute. Dabei sind Christen nicht die Ersten, die handeln, und nicht die Ersten, die vor solchen Herausforderungen stehen. Wer sich zum Volk Gottes zählt, der weiß sich verwurzelt in eine Heilsgeschichte mit Gott. Es geht darum, so gut wie möglich das Jetzt zu gestalten. Der dem innewohnende Gedanke ist das Wissen, dass das Leben nach dem Tod mit der visio beatifica die vollendete Sicht des Wahren, Guten und Schönen ist. Das ist Neuanfang, den man jetzt schon dem Christlichen anmerken sollte. »Die schönsten Früchte des Christentums sind Empathie, Demut und Gelassenheit. Die Rechtspopulisten kennzeichnet das Gegenteil: Empathielosigkeit, Hybris und Daueraufgeregtheit.«12

Angesichts der zahlreichen Krisen scheint eine auf sich (und naturwissenschaftliche Expertise) gestellte Politik überfordert zu sein. Beide, Regierung und Opposition, verantworten das sensible Gefühl der Bürgerinnen und Bürger für das Vertrauen in die Politik. Schnell ist es zerstört, langsam nur wieder aufzubauen. Die Regierung trägt die hohe Verantwortung, ihr Handeln so zu erklären, dass es für Menschen nachvollziehbar wird. Ein Fehler und dessen Korrekturen werden akzeptiert, willkürliche Entscheidungen nicht. Die Opposition muss die Alternativen aufzeigen. Das verlangt Antworten statt einer Polemik, die den Protest verstärkt, aber die Bereitschaft zur Konsensfindung im Land dauerhaft verletzt. Keiner darf die ohnehin schwierige Lage weiter dramatisieren, nur weil er sich selbst dadurch profilieren kann. Dies gilt für Parteien ebenso wie für Mandatsträger und Verantwortungsträger, bis in die Bundesländer und Kommunen. Bei aller Stärke des Einzelnen lebt der Staat nicht nur von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, sondern ist mit seiner säkularen Sprache angesichts starker Emotionen regelmäßig überfordert. Religiöse Sprache, Symbole und Rituale hingegen sind in der Lage, konstruktiv Angst und Trauer, aber auch Hoffnung und Freude der Menschen in der Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen. Die Psalmen zeugen ebenso davon wie die Gebete, die zur friedlichen Revolution unseres Landes führten. Liturgie ist verdichtete Erfahrung des geteilten menschlichen Schicksals. Das Licht der Kerzen gehört in unserer Zeit nicht nur auf die Gräber der Toten, sondern in die Hände der Lebenden. Die erste Aufgabe der Kirche als »Feldlazarett« sollte es sein, der individuellen Wucht von Verunsicherung, vielleicht sogar Not, einen Ort zu bieten, wo sie gemeinsam ausgehalten wird.

Die Kirche tut sich stattdessen zu oft zu viel leid. Sentimentalität kann sie, Sensibilität für die Krisen unserer Zeit fehlt ihr. Selbst wohlwollende Beobachter sehen ihr die Leidensgeschichte der letzten Jahre an, wo vom Pfarreileben bis zur gesellschaftlichen Relevanz alles implodiert. Aber wo war das Mitleiden in Corona, als die Urgroßmutter das kleine Kind im Altersheim nur noch sehen konnte, weil es die Eltern unerlaubt am Fenster hochhielten? Wo ist das Mitleiden mit denen, die allein sterben mussten, weil wir am Beginn der Pandemie selbst die Todeskandidaten von ihren Mitmenschen abriegelten? Oder das Beispiel »Chemnitz 2018«, als der Mob durch die Straße zog, aber Wut und Angst und Trauer keinen Ort in den (leeren) Kathedralen der Stadt fanden. Nicht, weil man danach nicht suchte. Sondern weil die Kirchen zu spät waren und nicht in der Lage, mit ihrer in der Liturgie verdichteten Erfahrung darauf zu antworten.

Dass sie keine Kraft der Zuversicht mehr entwickeln kann, hat zahlreiche Ursachen. Die Zeitdiagnose für die Kirche ist dabei fast durchweg fatal: Die Austrittszahlen erreichen Jahr für Jahr Höchststände, die Teilnahme am kirchlichen Leben sinkt auf ein beschämendes Minimum. Und wer ruft, dies sei ein westeuropäisches Problem einer materiell gesättigten Gesellschaft, hat damit recht. Blendet aber aus, dass andere Erdteile genau danach streben und noch nicht ausgemacht ist, ob gleiche Entwicklungen nicht nur deutlich zeitverzögert einsetzen. Der Katholizismus in Polen ist ein nahes Beispiel dafür.

Als ein Mensch, der aus einem Landstrich mit »Bruch-Erfahrung« kommt, der also – mindestens aus den Erzählungen – weiß, wie sich ein System anfühlt, das inhaltlich ausgehöhlt ist, durch eine Funktionärselite beatmet wird und in dem die Mehrheit der Menschen weiß, dass das Korsett nicht mehr zum Leben passt, will ich warnen: Es gibt zu viele Analogien der Kirche unserer Zeit zur DDR kurz vor 1989. Ob Franziskus der neue Gorbatschow und der Synodale Weg der Leipziger Ring ist, wäre als anmaßende Vergleiche zu vermeiden. Aber das Empfinden der Menschen, dass Verantwortliche, in die sie bisher so großes Vertrauen gegeben haben, sie belogen haben, ist so schmerzhaft und tiefgehend, dass etwas Entscheidendes verloren gegangen ist, nämlich Vertrauen. Wenn dann noch wie eine klaffende Wunde sichtbar wird, dass die Regel nicht mehr zur Realität passt, sie aber über Denunziation und Doppelbödigkeit gehalten wird, verabschieden sich immer mehr Menschen aus dem innersten Zirkel institutionell gefasster Kirchlichkeit.

Dabei dürfte es nicht ein Automatismus sein, ob ein Change gelingt. Es ist ekklesiologisches Wissen, dass die Kirche nicht untergehen wird. Aber das heißt weder, dass sie nicht in Deutschland untergehen könnte, noch heißt es, dass sie nicht in der uns heute gewohnten Form untergehen könnte. Vielleicht ist die zu erwartende Implosion genau auf jene kulturelle Obdachlosigkeit zurückzuführen, in die das Christentum der Spätmoderne geraten ist. Die neue Form, das neue Zuhause, die neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die neuen gesellschaftlichen und kulturellen Aufgaben und neuen Verbündeten sind da. Aber noch nicht erkannt. Die Frage ist: Erschrecken die Christen vor dieser Implosion und dem daraus zu erwartenden Durcheinander? Oder verwandeln sie diese Situation in eine »Inkubationsphase des Christentums der Zukunft«?13 Der Karsamstag des Christentums ist schwer auszuhalten. Nach innen wäre es folglich die Aufgabe der Christen, die Kirche mit der Moderne zu versöhnen, voranzutreiben und infolge des II. Vatikanums zu vollenden, selbst wenn die Postmoderne schon die Türen zum 21. Jahrhundert aufgetreten hat. Es wird voraussichtlich ein »betreutes Lernen« (Christiane Florin) für Bischöfe, Priester und Laien sein. Doch es wäre zu wenig, deformierte Strukturen lediglich zurechtzubiegen. Ein solcher Dienst nach innen wird auch die Verortung in der Gesellschaft neu bestimmen. Das Christentum der Zukunft wird aus Mystikern bestehen. Aber noch viel mehr: Das Christentum dieses Jahrhunderts wird Räume für Heilige entwickeln. Oder es wird nicht sein.

Diese Räume sind spirituelle Zentren, die aber die Vernunft nicht außer Acht lassen. Die dem Einzelnen Freiheit lassen, aber um ihre Verantwortung wissen, dass das Religiöse eine kulturelle Aneignung über Beziehung braucht. Es sind jene Orte, die die Tiefendimensionen des Glaubens systematisch kultivieren. Es sind jene Orte, an denen Menschen die Chance bekommen, ihr Leben aus einer Hoffnungsperspektive zu deuten, wo sich Religiosität in einen persönlichen Glauben wandelt, um nicht zur »Kulturreligion« zu verkommen. Das nächste Jahrzehnt kann für das Christentum zu einem Jahrzehnt der Hoffnung werden, wenn es ihm gelingt, Räume zu schaffen, die es anderen ermöglichen, zu Heiligen zu werden. Die Dynamik künftigen Christseins wird leben aus kraftvollen spirituellen Impulsen, gründlicher theologischer Reflexion und Mut zu Experimenten. Das meint nicht blinden Aktionismus. Es braucht vielmehr eine Nachdenklichkeit, die dem Christlichen einen Dienst erweist.

Am Beispiel des nachhaltigen Umgangs zeigt sich die gestalterische und zugleich solidarische Kraft des Christlichen. Es ist die Zeit schöpferischer Kreativität. Steigende Energiepreise werden notwendig sein, um die breite Einführung von Einspartechnologien und Mechanismen der regenerativen Energieerzeugung zu fördern. Wir müssen das Zusammenspiel von Ökologie und Ökonomie neu austarieren. Die Energiepolitik der kommenden Jahre wird die soziale Frage des 21. Jahrhunderts erzeugen. Sie wird nicht ausschließlich mit Sozialtransfers und technischen Innovationen zu lösen sein. Erst recht nicht mit dem Blick bis zum eigenen Tellerrand. Es wäre zynisch, dem globalen Süden durch eine Kürzung der Bundesmittel den Gürtel enger zu schnallen, nur weil Deutschland auf Sparkurs ist. Die Verantwortung für die Zukunft verlangt von uns jetzt das aufmerksame Handeln. Denn die Armen von heute sind die Migranten von morgen. Deswegen braucht es einen Wandel im Denken, der die internationalen Konsequenzen im Blick behält, aber das eigene Handeln zuerst verändert.

Es geht um nichts Geringeres, als ein neues Kapitel der Geschichte zu gestalten. So einen wie Jürgen Opitz braucht es dafür in vielen Städten unseres Landes. Denn er weiß, wozu sein eigener Glaube ihm Kraft gibt und wo die Grenzen seiner Glaubensgemeinschaft sind. Über Jahrzehnte hinweg hat der Pfarrer von Heidenau Menschen sexuell missbraucht. Aufgedeckt ist es inzwischen, vollständig aufgearbeitet noch lange nicht. Opitz spricht offen darüber, selbst weiter katholisch zu sein. Zum Vorwurf machen es die Menschen ihm nicht. Es kann gelingen, auf die Schuldgeschichte der Kirche mit einem dennoch eigener Christlichkeit zu antworten. Das heißt, in Demut der Welt einen Raum zu bieten, in dem Menschen ihr Streben nach dem Guten verwirklichen können. »Zuversicht ist keine Illusion, wenn sie halten soll, und Hoffnung ist keine Utopie, wenn sie verändern will. Daher muss ich Illusionen vermeiden, um Zuversicht zu wecken, und werde ich vor Utopien warnen, um Hoffnung zu erschließen.«14 Denn jetzt gilt, was Václav Havel wusste: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.«

Salz der Erde, Licht der Welt

Aleida Assmann

 

 

Warum ich auf das Christentum nicht verzichte? Ganz einfach: Weil zu viel davon in mir steckt, unbewusst angelegt und aufgebaut ist. Ich komme aus einem Elternhaus mit Tischgebet, Losungen, Abendliedern, Sonntagsgottesdienst und viel Musik von Bach. Beide Eltern waren zudem Theologen, die von ihrem Beruf erfüllt waren. Dass sie dieses Bekenntnis in der NS