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Die Heilkraft der Pflanzen – das Erbe der Kelten Die Kelten prägten fast tausend Jahre lang die Kultur in weiten Teilen Europas. Ihr Druidentum mag untergegangen sein, doch ihr Wissen über Pflanzen, Rituale und die Kräfte der Natur lebt weiter: in Bauernregeln, Märchen, Sagen, Jahreszeitenritualen und vor allem in der Volksheilkunde. Wolf-Dieter Storl führt uns ein in diese Heilkunde, in der Pflanzen mehr sind als bloße Wirkstoffe – sie sind Verbündete mit eigener Seele und Zauberkraft. Storl stellt die wichtigsten Heil- und Zauberpflanzen sowie die Jahresfeste der Kelten vor und entschlüsselt die Bedeutung ihres Baumkalenders. Das tiefgründige Wissen von Wolf-Dieter Storl über die keltische Kultur und ihre Pflanzen in einer überarbeiteten Fassung. Mit zahlreichen praktischen Rezepten für altüberlieferte Heilmittel und Heilanwendungen.
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Seitenzahl: 573
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wolf Dieter Storl
Heilkunde Pflanzenzauber Baumkalender
»Wie Merlin
Möcht’ ich durch die Wälder ziehn;
Was die Stürme wehen,
Was die Donner rollen,
Und die Blitze wollen,
Was die Bäume sprechen,
Wenn sie brechen,
möcht’ ich wie Merlin verstehen.«
Nikolaus Lenau, Wanderlieder
Auch wir waren einmal Indianer
Einführende Worte von Großvater Goethe
Die Quellen
Schrifttum der Antike
Archäologisches Material
Irische und andere britische Überlieferungen aus dem Mittelalter
Europäische Folklore: Brauchtum, Volksmedizin, Volkskunde, Märchen, Bauernrätsel und Bauernregeln
Das »morphogenetische Feld«: Die Sprache des Landes, des Waldes, der Flüsse und Berge
Waldbauern und Steppenkrieger
Die Wandlung: Geburt der europäischen Bauernkultur
Keltische Landschaft
Materielle Kultur der Kelten
Gesellschaftliche Organisation
Tänze
Bauernregeln, Rätsel und Sprüche
Märchen, Sagen, Legenden
Germanen
Keltisches Erbe heute
Keltische Heilkunde
Die Waldweisen
Druidische Sammelrituale
Die richtige Zeit
Das Ritual
Opfergaben
Feuer und Wasser
Der Kessel der Heilung
Erbe des Heilkessels: Kräutertees und Bäder
Kräuterbäder
Der gute
spell
der Kräuter
Signaturen
Signaturen einheimischer Pflanzen
Ursprungsmythe der Meddygion Myddfai
Hirtenweisheit
Kräuterkunde als weibliches Wissen
Die ätherische Welt der Elfen
Übergänge und Zwischenräume
Die klaren Sinne
Rezepte der Myddfai-Heiler
Diod Anfarwoldeb
Physig Cryd Cymalau
Bedydd Ceridwen
Wasser der Großzügigkeit
Der keltische Jahreskreis und Baumkalender
Die keltische Geistesart
Das achtspeichige Rad
Allerheiligen, Halloween, Samain
Wintersonnenwende, Alban Arthuan
Lichtmess, Imbolc, L’fheill Brighde
Frühlingstagundnachtgleiche, Alban Eilir
Maifest, Walpurgis, Beltane, Lá Bealtaine (Feuer des Bel)
Mittsommer, Sommersonnenwende, Johanniszeit, Alban Hevin
Augustfeuer, Lugnasad, Lammas
Herbsttagundnachtgleiche, Alban Elved
Das Medizinrad der Europäer
Das Medizinrad des Sun Bear
Wahre und falsche keltische Baumkalender
Die Häuptlingsbäume
Weißdorn, Hagedorn
Schlafdorn
Der Wanderstab
Botanik und Heilkraft des Weißdorns
Haselnuss
Kontakt mit Elementargeistern: Die Kräfte der Erde
Die Wünschelrute
Der Haselwurm
Kontakt mit den Toten: Die Kräfte der Fruchtbarkeit
Kontakt mit den Gottheiten: Kräfte der Weisheit
Rutenzauber und Heilkunde
Holunder
Baum des Todes
Baum des Lebens
Holunder im keltischen Jahreskreis
Des Bauern Apotheke
Botanik und verwandte Pflanzen
Attich
Hirschholunder
Weide, Felber
Hexenbaum
Zauberpfeifen
Tod und Trauer
Die kalte Medizin
Eiche
Thingbaum
Orakelbaum, Opferbaum
Die Mistel
Heldenbaum
Baum der göttlichen Sau
Heilige Schweine
Heilkunde
Jeder Baum eine Gottheit
Der Apfelbaum
Die Buche
Eberesche oder Vogelbeere
Die Eibe
Die Erle
Die Esche
Die Kiefer
Die Linde
Die Pappel
Schlehe oder Schwarzdorn
Stechpalme oder Hülsen
Die Blütenfrau
Schlüsselblume, Himmelsschlüssel, Primel, Maginke
Besenginster, Basom
Mädesüß, Geißbart, Spierblume
Kornrade, Rade, rote Kornblume
Brennnessel
Klee
Sauerklee, Kuckucksbrot, Hasenbrot
Kuckuck und Hase
Keridwens Kessel der Transformation
Efeu
Nieswurz, Christrose
Bärlapp
Bachbunge, Bachehrenpreis
Bilsenkraut
Eisenkraut
Ein kurzes Nachwort
Danksagung
Bibliografie
Zum Autor
Gegen Ende der Bronzezeit, um anderthalbtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, drangen viehzüchtende Reiterkrieger auf der Suche nach Weidegründen aus den westasiatischen Steppen nach Westen vor. Sie stießen dabei auf eine archaische Kultur von Brandrodern und Wanderfeldbauern, die in gerodeten Lichtungen des schier endlosen europäischen Urwaldes mit ihren primitiven Hackpflügen Weizen, Gerste, Hirse und einige Leguminosen anbauten, Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder züchteten, sakrale Steine (Megalithen) aufstellten, ihre Toten in Hügelgräbern bestatteten und einer Fruchtbarkeit bringenden Erdgöttin opferten. Die wilden Eindringlinge waren dank ihrer Pferde beweglicher als diese Bauern, und sie hatten die besseren Waffen. So gelang es den Indoeuropäisch (früher »Indogermanisch«) sprechenden Scharen, überall die bronzezeitlichen und megalithischen Bauern zu überrumpeln und zu unterjochen: Dorische Krieger legten die minoisch-mykenische Kultur in Schutt und Asche; latinische Stämme besetzten Italien und machten den »Rinderberg« (Capitolinum in Rom) zu ihrem Kultzentrum, andere wiederum eroberten Kleinasien, und die Protokelten (Urnenfeld-Kulturen) nisteten sich in Böhmen und Mitteleuropa ein. Auch die rückständigen Megalithvölker Skandinaviens, die Urgermanen, bekommen das neue Zeitalter zu spüren.
Wie sesshafte Pflanzervölker und Hackbauernkulturen anderswo in der Welt waren auch die vorindoeuropäischen Kulturen eher mutterrechtlich organisiert. Das bebaute Land wurde von den matrilinearen Clans betreut und bearbeitet. Die Erde selbst galt als heilig, als identisch mit der Großen Göttin. Miteinander blutsverwandte Frauen – Schwestern, Basen, Mütter, Töchter – bestellten in gemeinsamer Arbeit die Gärten und Äcker. Die Männer – das lassen ethnologische Studien von Stämmen auf vergleichbarer Organisationsstufe vermuten – kümmerten sich hauptsächlich um Krieg, Jagd und den Verkehr mit den Geistern und Göttern. Sie faulenzten in Männerhäusern und gaben sich psychedelischen Träumereien hin. Nach der Initiation verlassen die Männer das Dorf ihrer Mütter und Schwestern und ziehen in das Dorf ihrer Frau. Für die an den Erdboden gebundenen Gärtner- und Hackbauernvölker ist das die einfachste und ökonomischste Art und Weise, ihr Leben zu organisieren.
Hirtenvölker wie die Urkelten und ihre indoeuropäischen Verwandten sind dagegen fast durchwegs vaterrechtlich organisiert. Die Erbfolge geht durch die männliche Linie, Frauen ziehen ins Lager ihrer Ehegatten. Das hat nichts mit einer fiesen phallokratischen Verschwörung zu tun, wie Bachofen, Marx oder einige verbissene Feministinnen glauben, sondern ist eine ökologische Anpassung an die Bedürfnisse der Tierherden: Neue Weidegründe müssen ausgekundschaftet, erobert oder auch verteidigt werden. Rinderdiebstahl muss gerächt werden. Eine bewegliche, kampffähige Männergruppe, zusammengeschweißt durch patrilineare Blutsbande, kann diesen Erfordernissen am besten entsprechen.10
Frühkeltische Reiterkrieger, dargestellt auf einer Schwertscheide aus dem Hallstätter Gräberfeld
Die indoeuropäischen Reiterkrieger waren, wie Krieger fast überall, arrogant und eitel. Als die »Edlen«, »Aristokraten« (skr. aria, ir. aire; die Iraner, die Iren) oder »Helden« bezeichneten sie sich selbst. Das Wort Kelte bedeutet nichts anderes als »Held« (von altkelt. *kel, »treiben, antreiben«; verwandt mit altind. kaláyati, »Hirt, der sich gegen menschliche und tierische Räuber bewähren muss«). Wie ihre Verwandten, die wilden Skythen der südwestasiatischen Steppe, tätowierten die keltischen Krieger noch lange ihre Körper mit magisch-mythologischen Motiven, trugen Gold- und Silberschmuck, ließen sich buschige Schnurrbärte11 wachsen und stärkten ihren hellen Haarschopf mit Gipslauge, bis die Haare hart und strähnig waren und wie Hahnenkämme oder stachelige Pferdemähnen emporragten. Sie hielten – wie wir auch in den irischen Heldensagen nachlesen können – prahlerische Streit- und Reizreden und stritten sich bei Festmählern um das Recht auf die »Heldenportion« des Wildschweinbratens. Wer aber lauthals angab, musste seinen Worten auch Taten folgen lassen. Manches Saufgelage nahm ein blutiges Ende.
In der Schlacht packte diese Krieger oft die göttliche Wut, die kämpferische Ekstase, sodass sie sich die Kleider vom Leibe rissen und sich in Todesverachtung splitternackt auf ihre Feinde stürzten. Wie die Skythen waren die Kelten ebenfalls Kopfjäger. Voller Entsetzen schildert der Grieche Diodor Siculus den barbarischen Brauch: »Köpfe der gefallenen Feinde hauen sie ab und binden sie ihren Pferden um den Hals; die blutige Rüstung geben sie ihren Dienern und lassen sie unter Jubelgeschrei und Siegesliedern zur Schau tragen. Zuhause nageln sie diese Ehrenzeichen an die Wand, gerade als hätten sie auf der Jagd ein Wild erlegt.« Köpfe von vornehmen Feinden wurden in Zedern- oder Wacholderöl eingelegt und bei Bedarf Gästen vorgezeigt. Auch wurden Schädel in Gold gefasst und als Trinkbecher benutzt.
Für die Pflanzervölker ist die Sonne oft – aber nicht unbedingt – eine Frau, ein mütterliches Wesen. Für die Hirtenvölker dagegen ist die Sonne ein Krieger, für die Indoeuropäer ein strahlender Held, der auf seinem von vier edlen, weißen Rossen gezogenen Kampfwagen den Himmelsraum siegreich durchmisst. Für den Indoeuropäer war das Pferd, dem er seine Siege und Eroberungen zu verdanken hatte, das heiligste aller Tiere. Das war auch bei den Urkelten der Fall. Krieger und Pferd verbindet ein inniges Verhältnis. Das Pferd führt den Reiter in neue Länder, zu frischen grünen Weiden und nach dem Tod auch hinüber in die jenseitige Welt. Pferdeschädel, ganze Skelette oder auch nur Teile davon sowie Pferdegeschirr und -wagen sind überall im Keltengebiet als Opfer und Grabbeigaben bezeugt (Botheroyd 1995: 270). In den heiligen Hainen der Kelten und Germanen weissagten Pferde durch ihr Wiehern und das Scharren ihrer Hufe. Die Schädel geopferter Pferde konnten – wie wir auch im Märchen der Gänsemagd erfahren – von unsichtbaren Dingen Kunde geben. Bekannt sind die aufwendigen Pferdeopfer indisch-arischer Könige (Storl 2015:159). Beim Antritt seiner Herrschaft verkehrte der irische König sexuell mit einer weißen Stute. Das Tier symbolisierte die Göttin des Landes, von deren Gnade seine Herrschaft abhängig sein würde. Die Schimmelstute wurde anschließend geopfert, im großen Kessel des Häuptlings gekocht und als totemische Mahlzeit verzehrt. In beiden Fällen symbolisiert das sakrale Pferdeopfer den legitimen Herrschaftsanspruch der Könige oder Häuptlinge. (Papst Gregor III. musste im 8. Jahrhundert den Kelten ausdrücklich den Verzehr von Pferdefleisch verbieten.)
Die ersten Kelten in Europa trugen noch Schwerter und Rüstungen aus Bronze. Nachdem dann aber die Hethiter, ein indoeuropäisches Hirtenvolk am Schwarzen Meer, die Verhüttung des Eisenerzes entdeckt hatten, dauerte es nicht lange, bis sich auch die keltischen Stämme in Mitteleuropa mit Eisen wappneten. Über die Welt der bronzezeitlichen, matrilinear organisierten Nachbarn der Kelten brach ein neues, härteres Zeitalter, das Eisenzeitalter, herein. Die neuen Eisenwaffen (Langschwerter) und -werkzeuge trugen im 7./8. Jahrhundert v.u.Z. zur Vormachtstellung der Urkelten in Mitteleuropa bei. Es kommt in dieser Zeit zur ersten Blüte der keltischen Kultur in Mitteleuropa, der sogenannten Hallstattzeit.12 Das Wort Eisen geht auf das keltische *isaron zurück (verwandt mit sanskr. isira, »hart, stark«. Die Isar ist der »Eisenfluss«).
Für die Kelten ist Eisen absolut heilig. Es vertreibt Feinde und feindlichen Zauber. Auf den Britischen Inseln wird gelegentlich noch immer zum Schutz gegen Feen eine Eisenschere über der Wiege eines Neugeborenen aufgehängt (Botheroyd 1995:95); in den Türpfosten geschlagene Eisennägel vertreiben Wiedergänger (ruhelose Tote). Ein Hufeisen, über die Tür gehängt, fängt das Glück auf oder schüttet es herab. Eisen vertreibt auch die Pflanzengeister – Heilpflanzen wurden deswegen sine ferrum (ohne Eisenwerkzeuge) gesammelt.
Die wandernden Schmiede und Knappen galten als Zauberer, als Magier, die es wagten, die Eingeweide der Erde aufzureißen, die metallenen Embryonen aus dem Mutterschoß zu rauben und mit »Blitz und Donner« in der Schmiede zu bearbeiten. Sie mussten zaubern können, um die Wut der Erdmutter und der die Schätze hütenden Drachen abzuwenden. Auch mit den Gnomen und Kobolden im Gestein mussten sie zurechtkommen können. Es ist bemerkenswert, dass man sich noch immer überall im ehemals keltischen Europa die Heinzelmännchen in die Tracht der keltischen Knappen gekleidet, mit Kapuzen und Bauernkitteln, vorstellt.13
Auch der König galt bei den Kelten als mächtiger Magier, er war für das Gedeihen und die Fruchtbarkeit des Landes verantwortlich. Den wahren Thronanwärter – wie etwa den jungen Artus in der britischen Sage – erkannte man daran, dass er ähnlich dem Schmied als einziger Eisen – das Eisenschwert – aus einem Stein herausziehen kann.
Frühkeltische Reiterkrieger, dargestellt auf einer Schwertscheide aus dem Hallstätter Gräberfeld
Die urkeltische Gesellschaft war wie andere indoeuropäische Völker dreigeteilt, in den sogenannten Lehr-, den Wehr- und den Nährstand. Die später als Druiden bezeichneten Opferpriester, Magier und Barden hüteten die heiligen Überlieferungen des Stammes und regelten das Verhältnis zu den Göttern, den Ahnen und dem Übersinnlichen. Der Kriegeradel trug die politischen Institutionen, stellte Könige und Richter. Das »Volk« (ir. bó-aire, »die Kuhbesitzer«), die Hirten und Bauern, die Handwerker und Händler, stellte den dritten Stand dar.
Für diese Indoeuropäer war Besitz von Vieh gleichbedeutend mit Reichtum. Rinderdiebstahl war eines der größten Verbrechen, schwerwiegender noch als Totschlag und – wie auch aus den irischen Sagen hervorgeht – Anlass zu den meisten kriegerischen Auseinandersetzungen. Das Wort »Schatz« bedeutete ursprünglich Vieh. Das schlug sich auch in der Sprache nieder: Das englische Wort für Rinder, cattle, ist vom lateinischen capitale entlehnt, in der Bedeutung »Kopfzahl (capita) der Rinder« – ein Kapitalist ist also ein Rinderbesitzer. Das deutsche Wort »Vieh« ist im Englischen als fee (Gebühr, Bezahlung) vorhanden. Mit der Vergabe von Rindern ließen sich Friedensverträge besiegeln, die Götter günstig stimmen und als Wergeld sogar Mord und Totschlag sühnen (Hutterer 1987: 81).
Das mittlere und westliche Europa, in dem sich die indoeuropäischen Reiterkrieger niederließen, war größtenteils undurchdringlicher Urwald – Eichenwald, Buchenwald, sumpfiger Erlen- und Weidenbruch. Die dort ansässige Urbevölkerung, die Hackbauern und Megalithleute, bewohnten geschwendete (brandgerodete) Waldlichtungen. Sie lebten im Einklang mit dem Rhythmus des Waldes, eingebunden in den Wandel der Jahreszeiten. Diese grüne Welt, in der die große Göttin der Fruchtbarkeit, des Lebens und des Todes mit ihrem Gefährten, dem Begatter, dem Hirsch-, dem Eber- und dem Bärengott herrschte, war nicht wie das Grasland und die Steppe leicht zu erobern und zu besetzen. Der Wald und seine Götter ließen sich nicht unterjochen. Er »schluckte« die Eindringlinge, nahm sie und ihre Seelen allmählich in Besitz.
Die Priester und spirituellen Führer der ehemaligen Steppenvölker besetzten die Kraftorte, die Megalithheiligtümer, die henges (wie etwa Stonehenge), die heiligen Quellen und Höhlen der Ureinwohner, aber die Kraft dieser Orte bemächtigte sich der neuen Herren und verwandelte sie in Waldweisen, in Druiden. Diese zogen sich dann selbst in die dichten Wälder zurück und schöpften aus der Weisheit des Waldes. Sie trugen Hirschleder, huldigten dem Hirschgott Cernunnos, dem Herrn der Tiere, und deuteten ihn als eine Erscheinung ihres Sonnengottes in seiner unterirdischen Gestalt.
Auch ist nicht anzunehmen, dass die kühnen Reiterkrieger die Ureinwohner restlos auslöschten oder vertrieben. Wie die Aryas in Indien oder die Dorer in Griechenland unterjochten sie die Ureinwohner, machten sie zu Mägden und Knechten, waren aber dennoch auf ihren Rat und ihr Wissen angewiesen. Wie viele Märchen und Sagen der indoeuropäischen Völker andeuten, erlagen sie dem Charme der Eingeborenenfrauen, vermählten sich und zeugten Kinder mit ihnen. Die Eingeborenenfrauen kannten die Geheimnisse des Waldes und dessen Jahreszeiten; sie wussten um die Brunnen mit heilendem Wasser, um die Wildpflanzen und Heilkräuter. Auch kannten sie noch die ortsgebundenen Naturgeister, die Drachen, Erdmännlein und Lichtelfen, und wussten, wie man sie ruft, wie man sie um Hilfe bittet, wie man sie freundlich stimmt. Sie blieben die geheimen Herrinnen des Landes.
Nicht nur vermählten sich zwei Kulturen, auch die Gottheiten der Steppenhirten verbanden sich mit denen des Waldes und des Feldes. In aufwendigem Ritual vermählte sich der keltische König bei Amtsantritt mit der Göttin des Landes.14 Er musste gesund und potent sein, sonst würde das Land unfruchtbar werden, sein Volk müsste ihn dann töten und die Territorialgöttin würde sich einen anderen nehmen (Frazer 1991:386). Die ehemaligen Steppenkrieger begannen auch immer öfter ihre Toten wie Saatkorn in den Schoß der Erdenmutter zu betten, anstatt sie im Lichtglanz und Rauch des Scheiterhaufens zu den Himmelsgöttern emporzuschicken. Die Verstorbenen wurden in Grabhügeln, den Síde, bestattet. Die Fürstengräber der Kelten wurden immer prunkvoller.
Auf diese Weise entstand allmählich im Laufe der frühen Eisenzeit der Hallstattzeit zwischen 800 und 500 v.u.Z. – in Mitteleuropa und dann später im Balkan, in Frankreich, Nordspanien, Norditalien und Britannien jene Bauernkultur, die mehr oder weniger bis in die Neuzeit, bis zur industriellen Revolution, das Gesicht unserer Landschaft prägte. Erst von der Hallstattzeit an kann man von wirklichen Kelten sprechen. Erst durch die Synthese der matrifokalen Ureinwohner und der Indoeuropäer entsteht die ländliche europäische Volkskultur mit ihren unverkennbaren Zügen. Diese indigene keltische Bauernkultur wollen wir hier nun kurz skizzieren.
Typisch für die keltische Landschaft sind der Flickenteppich aus Wald, Wiese, Weide und Ackerland. Die Kelten lebten mit ihren patrilinearen Großfamilien auf Einzelhöfen oder in kleinen Weilern. Mit ihnen unter demselben Dach lebten die Haustiere – Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Schweine, Geflügel. Die Gebäude waren zumeist rechteckig, gelegentlich rund. Wie in den Alpenländern noch heute befand sich der Stall oft an der kühleren Nordseite, derweil die menschlichen Bewohner, durch eine geflochtene Wand davon abgetrennt, die freundlichere Südseite des Hauses bewohnten. Die Häuser waren meist mit Stroh gedeckte Fachwerkbauten auf einem Bruchsteinfundament. Die Wände bestanden aus Weidenflechtwerk, das mit Lehm verschmiert und dann mit Kalk weiß verputzt wurde. Die Arbeit des Zimmerns wurde durch keltische Erfindungen – Holzbögen, in die Sägeblätter eingespannt wurden, Holzschrauben, metallene Feilen, Hobel und so weiter – erleichtert. Die Feuerstelle war das Herz des Hauses. Der Rauchfang galt als Ein- und Ausgang der Geister. Im Hof befand sich, oft beim Brunnen, eine Linde oder eine Eiche, in welcher der Sippengeist wohnte.
Neben den Einzelhöfen gab es, meist auf Anhöhen, befestigte Fliehoder Wehrburgen (oppida), die ihren Zweck während kriegerischer Unruhen erfüllten.
Die keltische Landwirtschaft bestand aus einer ausgewogenen Mischung von Viehzucht und Ackerbau. Sie war dermaßen effizient, dass die gallischen Kelten Getreide und Vieh in größerem Ausmaß nach Rom exportieren konnten und dabei reich wurden. Die Römer bezahlten die wertvollen Güter aber auch mit einer überteuerten Droge, nach der die Gallier süchtig wurden – dem Wein.15 Der landwirtschaftliche Reichtum Galliens und Britanniens übte eine große Anziehungskraft auf die Römer aus (James 1996:124). Julius Caesar konnte seine Schulden bezahlen und die zerrütteten Staatsfinanzen Roms sanieren, nachdem er Gallien erobert und ausgeplündert hatte.
Der bis ins 20. Jahrhundert benutzte Räderpflug und die mit Eisen beschlagene Pflugschar sind keltische Erfindungen.
